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Ortwin Pelc (Hg.) · 2013. 7. 19. · Ortwin Pelc (Hg.) Mythen der Vergangenheit Realität und Fiktion in der Geschichte Jörgen Bracker zum 75. Geburtstag Mit 92 Abbildungen V&R

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  • Ortwin Pelc (Hg.)

    Mythen der Vergangenheit

    Realität und Fiktion in der Geschichte

    Jörgen Bracker zum 75. Geburtstag

    Mit 92 Abbildungen

    V&R unipress

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    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

    Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-89971-934-5

    ISBN 978-3-86234-934-0 (E-Book)

    Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Seefahrtsgeschichtlichen Kommission,

    des Vereins der Freunde des Museums für Hamburgische Geschichte und der Inge Badenhoop-

    Stiftung Bergedorf.

    � 2012, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede

    Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen

    schriftlichen Einwilligung des Verlages.

    Printed in Germany.

    Titelbild: Karl der Große, der angebliche Gründer Hamburgs. Figur des 16. Jahrhunderts vom 1842

    abgebrannten Hamburger Rathaus, 1922 mit anderen Kaiserfiguren in die Fassade des Museums für

    Hamburgische Geschichte eingebaut (Foto: O. Pelc).

    Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach

    Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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  • Jörgen Bracker im Juni 2011 (Foto: Olaf Matthes)

  • Inhalt

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Ortwin PelcKarl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs . . . . . . 13

    Ralf WiechmannGomber, Jupiter Hammon und die Hammaburg. Ein gefälschterBodenfund und die Hamburger Gründungssage . . . . . . . . . . . . . . 41

    Manfred Gläser» … viel ärger geplagt … als die Kinder Israels unter Pharao …« DieDänenzeit in Lübeck 1201 – 1227. Mythen, Sagen und Forschungen . . . . 67

    Matthias PuhleDie politische Geschichte der Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

    Jürgen SarnowskyDer mächtige König von Java. Mythen über Südostasien in früheneuropäischen Reiseberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

    Gregor RohmannVeitstanzähnliche Bewegungen. Dimensionen eines Deutungsmusterszwischen Martin Luther und Ozzy Osbourne . . . . . . . . . . . . . . . . 111

    Antjekathrin GraßmannNordafrikanische Piraten – ein Dorn im Fleische der Hanseaten vom 16.bis 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

  • Tobias von ElsnerTilly und die Zerstörung Magdeburgs 1631 – Erzählungen vonHeldentum, Kriegsverbrechen und Opfertod . . . . . . . . . . . . . . . . 179

    Dirk Brietzke»Doch kniet – sei’s tausendfach geboten – vor keinem irdischenDespoten!« – Der Dichter Wilhelm Hocker (1812 – 1850) und die Machtder Zensur. Eine biographische und literarische Spurensuche imHamburger Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

    Wolf Karge»… als wir ihn schwimmen lehrten« – Mord oder Totschlag an einemgriechischen Matrosen auf der Rostocker Bark »Wilhelmine Pust«? . . . 231

    Norbert AngermannDie Deutschbalten – eine Oberschicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

    Peter Danker-CarstensenStör oder Lachs – aber auf keinen Fall mehr als zweimal in der Woche?Legendenbildung und Erzähltradition in einem Kapitel deutscherFischereigeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

    Olaf MatthesAus Albert Ballins Gästebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

    Arne Steinert»PICCOLO hilft der Hausfrau«. Der Hamburger Haushaltsmotor undseine großen Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

    Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt»Die Hebamme von Glückstadt« – Probleme historischer Romane . . . . 311

    Bärbel MendeSchriftenverzeichnis Jörgen Bracker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

    Orts- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

    Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

    Inhalt8

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  • Einleitung

    Besucher des Museums für Hamburgische Geschichte fragen oft als erstes nachdem Schädel eines Geköpften aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts, der hierausgestellt wird. Nun üben Totenschädel allein schon eine gewisse Faszinationaus, dieser soll aber sogar dem Seeräuber Klaus Störtebeker gehört haben; alsowird nach »Störtebeker« gefragt. Dabei gibt es über diesen nur wenige histori-sche Quellen, seine Hinrichtung in Hamburg ist gar nicht belegt, neuere For-schungen deuten sogar darauf hin, dass er noch jahrelang als Kaufmann wei-terlebte.1 Gleichwohl bildete sich bereits im 15. Jahrhundert ein Mythos umdiesen Seeräuber, der wohl aus antibürgerlichen, aus damaligen gesellschaftli-chen Normen ausbrechenden Wunschträumen gespeist wurde und bis heuteanhält.2 Als positiver Held taucht Störtebeker auf Festspielbühnen, in Romanenund Filmen immer wieder auf, kein Wunder, dass sein angeblicher Schädel imMuseum bestaunt werden will.

    Während Störtebeker fast schon den Sagengestalten zugerechnet werdenkann, so wurden und werden andere historische Personen, aber auch Ereignisseund Entwicklungen immer wieder zur Legitimation politischen Handelns, alsVorbilder und zur Identifikation benutzt, ohne dass ihre belegbare historischeExistenz hinterfragt wird. Zum Glück bemüht sich aber die historische For-schung – auch wenn sie immer von ihren Zeitumständen geprägt ist – durch dieErschließung und Interpretation der schriftlichen und materiellen Quellen umeine Annäherung an die Realität der Vergangenheit. In den letzten Jahren hatdarüber hinaus auch die Erforschung historischer Mythen, Stereotypen undVorurteile stark zugenommen, denn es gilt zu fragen, warum bestimmte Ge-schichtsbilder in Büchern und in Medien, in Schule und Studium, in Museen und

    1 Gregor Rohmann, Der Kaperfahrer Johann Stortebeker aus Danzig. Beobachtungen zur Ge-schichte der ›Vitalienbrüder‹, in: Hansische Geschichtsblätter 125, 2007, S. 77 – 119.

    2 Ortwin Pelc, Seeräuber an Nord- und Ostsee. Wirklichkeit und Mythos, Heide 2005, S. 77 – 84.

  • im öffentlichen Raum – z. B. als Denkmäler und Gedenkorte – erzeugt undverbreitet wurden und werden.3

    Diese Erinnerungskultur hat sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte, indenen einerseits Geschichte intensiver erforscht, andererseits auch vielfältiginstrumentalisiert wurde, stark verändert. Beispiele dafür ließen sich aus allenRegionen finden; nimmt man allein Hamburg, so gibt es aus fast allen Epochender Stadtgeschichte Themen, die eine ganz unterschiedliche Tradierung fanden,mythisch verklärt und auch politisch genutzt wurden. Nach 1871 wurde z. B. dieHanse als erfolgreicher Seehandelsverbund des Mittelalters gepriesen, einepassende Parallele zu den Seemachtsinteressen des wilhelminischen Kaiser-reichs. Dass mit der Hanse auch wirtschaftliches Profitstreben, Kriegsführungund aggressive christliche Missionierung verbunden waren, wurde wenigerbetont. Die Besetzung Hamburgs durch französische Truppen in den Jahren1806 bis 1814 wurde während des ganzen 19. Jahrhunderts als Trauma emp-funden und kumulierte 1913 in antifranzösischer Propaganda und Umzügen.Heute spielt dieses historische Ereignis im öffentlichen Bewusstsein keine Rollemehr, es wird sich allenfalls an die beliebten »Franzbrötchen« erinnert, die ausdieser Zeit stammen sollen. Ganz anders ist es mit der Herrschaft der Natio-nalsozialisten von 1933 bis 1945, die im öffentlichen Bewusstsein nach 1945 mitBezug auf die liberalen hanseatischen Traditionen in einem vergleichsweisemilden Licht erschien. Zur Verdrängung und Leugnung der damaligen Verbre-chen trug nicht zuletzt die gezielte Manipulation historischer Beschreibungendurch den ehemaligen Reichsstatthalter Karl Kaufmann bei; erst die historischeForschung der letzten Jahrzehnte, der Ausbau der KZ-Gedenkstätte Neuen-gamme mit mehreren Ausstellungen und die zunehmende Gedenkkultur habendieses Bild allmählich verändert.4 Dabei ist es oft ein weiter Weg von der wis-senschaftlichen Erforschung historischer Entwicklungen bis zu deren allge-meiner Verbreitung. Störtebeker ist da nur ein prominentes Beispiel. Ein wei-teres ist z. B. die Neubestimmung der Funde aus der Hammaburg-Grabung der1950er Jahre, die eine Neubewertung der hamburgischen Geschichte im 9. und10. Jahrhundert zulassen und die bisher vermutete Lage der Burg anzweifeln.5

    Wichtige Institutionen für die Hinterfragung historischer Legenden und

    3 Dazu mit weiterer Literatur : Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Reinbek2010. – Für Norddeutschland vgl. die Beiträge in: Bea Lund (Hg.), Nordlichter. Geschichts-bewusstsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe, Köln / Weimar / Wien 2004. – GiselaJaacks (Hg.), Hamburgs Geschichte. Mythos und Wirklichkeit, Hamburg 2008.

    4 Vgl. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), Hamburg im Dritten Reich,Göttingen 2005.

    5 Ole Harck, Anmerkungen zur Frühgeschichte Hamburgs, in: Ralf Busch u. Ole Harck (Hg.),Domplatzgrabung in Hamburg II. Veröffentlichungen des Hamburger Museums für Ar-chäologie und die Geschichte Harburgs – Helms-Museum 89, Neumünster 2002, S. 9 – 94.

    Einleitung10

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  • Mythen sind die Museen. Sie vermitteln einer breiten Öffentlichkeit Geschichteund bieten – neben der Schule und Universität – die Möglichkeit, Geschichts-bilder anhand der überlieferten schriftlichen und materiellen Quellen zu dis-kutieren und in Frage zu stellen. Die 15 Beiträge des vorliegenden Bandes ent-standen anlässlich des 75. Geburtstages von Jörgen Bracker am 19. De-zember 2011.

    Jörgen Bracker wurde am 19. Dezember 1936 in Braunschweig geboren,wuchs im Kreis Hameln und im Kreis Schleswig auf und studierte seit 1958Klassische Archäologie, Alte Geschichte sowie Vor- und Frühgeschichte inMarburg, Kiel und Münster, wo er 1965 promovierte. Von 1965 bis 1976 war erwissenschaftlicher Mitarbeiter am Römisch-Germanischen Museum in Köln;dort wirkte er an Ausgabungen, Ausstellungen und der Einrichtung des neuenMuseumsgebäudes mit. Von 1976 bis 2001 leitete er dann das Museum fürHamburgische Geschichte. Unter seiner Direktion setzte sich das Museumimmer wieder und mit breiter öffentlicher Wirkung durch Ausstellungen undVeröffentlichungen mit historischen Mythen auseinander. Dazu gehörten z. B.sowohl die Geschichte der Hanse6, die Seeräuber des Mittelalters und der FrühenNeuzeit7 und die Geschichte der Juden in Hamburg8, als besonders auch zeit-geschichtliche Themen, wie der erste Weltkrieg und die NS-Zeit.9

    Die folgenden Beiträge befassen sich mit dem vielfältigen und fast uner-schöpflichen Thema historischer Mythen, Vorurteile und Stereotypen, stellendiese an Beispielen in Frage, suchen nach deren Ursachen und haben zum Ziel,Geschichtsbilder durch neue Forschungsergebnisse zu korrigieren. Das Spek-trum der Themen reicht zeitlich vom Frühmittelalter bis in das 20. Jahrhundert,inhaltlich von Feindbildern und nationaler Symbolik, Bildern fremder Kulturenund Selbstbildern einer Bevölkerungsgruppe bis zu Speisegewohnheiten undzur Wirkung von Werbung. Da Jörgen Bracker in den letzten Jahren auch his-torische Romane verfasst hat, denen sorgfältige Recherchen vorausgingen, darfauch ein Beitrag zur Bedeutung solcher Romane nicht fehlen. Ein Verzeichnisder Veröffentlichungen Jörgen Brackers rundet den Band ab und gibt zugleicheinen Eindruck von seiner Wirkungsvielfalt als Wissenschaftler und Muse-umsmann. Allen Autoren sei herzlich für ihre Mitarbeit gedankt. Die historische

    6 Jörgen Bracker (Hg.), Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, 2. Bde., Hamburg 1989. DerTextband erschien in den folgenden Jahren in mehreren erweiterten Neuauflagen (s. dasSchriftenverzeichnis von Jörgen Bracker in diesem Band).

    7 Jörgen Bracker (Hg.), Gottes Freund – aller Welt Feind. Von Seeraub und Konvoifahrt. Stör-tebeker und die Folgen, Hamburg 2001.

    8 In den Jahren 1991 / 1992 als Sonderausstellung »400 Jahre Juden in Hamburg«, seit 1997 dannals Dauerausstellung im Haus.

    9 Jörgen Bracker (Hg.), Hamburgs Weg in den Feuersturm, Hamburg 1993.– Dazu ders.,Weltkrieg im Museum. Konzeption und Verwirklichung zweier Ausstellungen im Museum fürHamburgische Geschichte, in: Der Krieg und seine Museen, Frankfurt / M. 1997, S. 88 – 107.

    Einleitung 11

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  • Forschung wird sich weiterhin mit historischen Ereignissen und Entwicklungensowie deren gesicherter Überlieferung einerseits, und den über sie zu ver-schiedenen Zeiten existierenden Mythen andererseits befassen. Es bleibt einewichtige Aufgabe, diese neuen Erkenntnisse in Publikationen und Medien, inSchulen, Universitäten und Museen zu verbreiten und kritisch zu diskutieren.

    Ortwin PelcMuseum für Hamburgische Geschichte

    Einleitung12

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  • Ortwin Pelc

    Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs

    Wer direkt vor dem Hamburger Rathaus steht, entdeckt an zentraler Stelle überdem Portal zwei große Figuren, links Karl der Große, rechts Friedrich I. Bar-barossa. Sie sind der herausragende Teil einer Gruppe von 20 Figuren deutscherKaiser, die vor dem ersten Obergeschoss die Frontseite des Rathauses zieren.Warum waren diese beiden Kaiser für Hamburg so wichtig, dass sie einen soexponierten Platz erhielten? Mit ein wenig historischen Kenntnissen wird sichder Betrachter bei Barbarossa an das (verfälschte) Elbprivileg von 1189 erinnern,das Hamburgs Elbhoheit begründete und bis heute als Anlass für die alljährli-chen Feiern zum Hafengeburtstag dient. Die Rolle Karls des Großen in derhamburgischen Geschichte ist dagegen diffuser. Gilt er nicht als GründerHamburgs bzw. Erbauer der Hammaburg?

    In der historischen Überlieferung Hamburgs sowie im Stadtbild kommt Karlder Große relativ oft und an exponierter Stelle vor. Im Folgenden soll betrachtetwerden, welche Rolle er in der Frühgeschichte Hamburgs spielte und wie dieseRolle im Lauf der Jahrhunderte in der Stadt rezipiert wurde. Es geht also um diegesicherten historischen Kenntnisse einerseits sowie um das Bild der Ham-burger von Karl dem Großen bis ins 20. Jahrhundert andererseits, also umRealität und Mythen der Geschichte am Beispiel der GründungsgeschichteHamburgs. Dabei sei vorausgeschickt, dass dieses Nachleben Karls des Großendurchaus auch an zahlreichen anderen Orten stattfand.1

    1 Als grundlegende und einführende Biographien über Karls den Großen seien genannt:Wolfgang Braunfels u. a. (Hg.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, 5 Bde., Düssel-dorf 1967.– Matthias Becher, Karl der Große, 5. Aufl. München 2007. Wichtige neuere Studienfür sein Nachleben und die Mythenbildung um ihn sind: Bernd Schneidmüller, Sehnsuchtnach Karl dem Großen. Vom Nutzen eines toten Kaisers für die Nachgeborenen. Die politischeInstrumentalisierung Karls des Großen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wis-senschaft und Unterricht 51, 2000, S. 284 – 301.– Thomas Kraus / Klaus Pabst (Hg.), Karl derGroße und sein Nachleben in Geschichte, Kunst und Literatur, in: Zeitschrift des AachenerGeschichtsvereins 104 / 105, 2003, S. 421 – 461.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Braunfelshttp://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Braunfelshttp://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Braunfelshttp://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Braunfelshttp://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Braunfelshttp://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Braunfelshttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Becherhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCllerhttp://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Schneidm%C3%BCller

  • War Karl der Große in Hamburg?

    Welche gesicherten Nachrichten sind nun über Karl den Großen und die An-fänge Hamburgs vorhanden? An schriftlichen Quellen sind dies vor allem diefränkischen Reichsannalen, sodann die Lebensbeschreibung Ansgars, des erstenErzbischofs von Hamburg, zwischen 865 und 876 von dessen Nachfolger Rim-bert in Bremen verfasst, sowie die ebenfalls dort um 1074 angefertigte Ham-burgische Kirchengeschichte des Adam von Bremen.2 Unter den wenigen Ur-kunden aus der Frühzeit Hamburgs gibt es darüber hinaus Fälschungen oderVerfälschungen, die exakte Aussagen erschweren.3

    Im Verlauf der Expansion des Frankenreichs unter Karl dem Großen war dieUnterwerfung der Sachsen das langwierigste und wohl auch blutigste Unter-nehmen; die Sachsenkriege dauerten von 772 bis 804. Die fränkischen Kriegs-züge begannen an Diemel und Lippe 772 mit der Eroberung der Eresburg(Obermarsberg). 784 zog Karl mit seinem Heer erneut nach Sachsen und ver-brachte den Winter dort; 785 unterwarf sich ihm der sächsische StammesfürstWidukind. Ein erster fränkischer Kriegszug weit nach Norden, links der Elbe bisnach Hadeln, ist für das Jahr 797 nachgewiesen. Das fränkische Heer überwin-terte in Sachsen und 798 zog Karl erneut in das Gebiet zwischen Niederweserund Niederelbe, denn die nordelbischen Sachsen hatten einige fränkische Ge-sandte getötet, andere gefangen genommen. Im Bund mit den slawischenAbotriten besiegte ein von einem Gesandten Karls geführtes fränkisches Heerdie nordelbischen Sachsen, die zum wiederholten Mal Geiseln stellen mussten.Im folgenden Jahr wurden diese Geiseln von einem fränkische Heer im Bar-dengau übernommen; 799 traf sich Karl auch mit Papst Leo III. auf einemReichstag in Paderborn, der ein Symbol für die Stabilisierung der fränkischenHerrschaft in Sachsen sein sollte.4 Tatsächlich war die Region südlich undnördlich der Elbe aber noch nicht befriedet, denn die nordelbischen Sachsenerhielten Unterstützung von König Gottfried von Dänemark. Als Gegenmaß-nahme veranlasste Karl der Große 804 wiederum die Deportation sächsischeGeiseln aus Wigmodien und Nordelbingen mit ihren Familien in das Franken-reich. Zugleich überließ er die nordelbischen Gaue der Sachsen den Abotriten

    2 Annales regni Francorum, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Teil 1, bearb. vonReinhold Rau, Darmstadt 1974, S. 9 – 155.– Rimbert, Vita Anskarii und Magister Adam Bre-mensis, Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum, in: Quellen des 9. und 11. Jahrhundertszur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches, hg. von Werner Trillmich,Darmstadt 1978, S. 3 – 133 und 135 – 503.

    3 Zur Frühgeschichte Hamburgs vgl. Gerhard Theuerkauf, Die Hamburger Region von denSachsenkriegen Karls I. bis zur Gründung des Erzbistums (772 – 864), in: Domplatzgrabungin Hamburg, Bd. 1, hg. von Ralf Busch, Neumünster 1995, S. 9 – 19.

    4 Vgl. die Beiträge in Christoph Stiegemann / Matthias Wemhoff (Hg.), 799. Kunst und Kulturder Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, 3 Bde., Mainz 1999.

    Ortwin Pelc14

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  • und nahm Verhandlungen mit König Gottfried auf. Zu diesem Zweck lagerteKarl mit seinem Heer bei Hollenstedt westlich von Bardowick, das dänische Heerbefand sich 130 km Luftlinie weiter nördlich und durch die Elbe getrennt inHaithabu. Die Verhandlungen fanden mit Hilfe von Gesandten statt, ein Themawar zum Beispiel die Auslieferung von nach Dänemark geflohenen Sachsen.Hollenstedt ist der am dichtesten in der Nähe Hamburgs liegende Ort, an demein Aufenthalt Karls des Großen tatsächlich nachweisbar ist. Es ist nicht bekannt,ob Karl jemals die Elbe nach Norden überquerte und damit eventuell Hamburgbesucht haben könnte.

    Mit den Regelungen von 804 wurde die christliche Mission im Elberaumintensiviert. Sie ging von den Bistümern in Bremen und – für Nordelbingen – inVerden an der Aller aus. Bereits 808 brach ein offener Konflikt zwischen demFrankenreich und Dänemark aus, als König Gottfried die mit den Frankenverbündeten Abotriten in Nordelbingen angriff. Karl der Große gab darauf seinKonzept, die Abotriten als Puffer zu den Dänen zu nutzen, auf, und ließ durcheinen Graf Egbert sowie angeworbene Bewaffnete aus Gallien und Germanien810 an der Stör in Esesfeld (bei Itzehoe) – in sicherer Distanz zum dänischenHerrschaftsbereich – eine Burg errichten und mit einer fränkischen Besatzungbelegen. Im Jahr 814 verstarb Karl der Große, alle nordelbischen Aktivitäten derFranken fanden nun unter der Herrschaft seines Sohnes Ludwig dem Frommenstatt. Dazu zählten einzelne Kriegszüge (ohne den fränkischen König) gegenDänen oder Slawen und die Gründung des Missionsbistums in Hamburg unterAnsgar 831 / 832. Letzteres setzte voraus, dass sich dort bereits eine ausreichendgroße Siedlung und eine Befestigung befanden. Eine Kirche wird es hier frü-hestens zwischen 810 und 814 gegeben haben, vielleicht vom Priester Heridagnoch im Auftrag Karls gegründet; eine Burg entstand wahrscheinlich zwischen817 und 822, als die Konflikte mit den Abotriten zunahmen.5 Erst seit dieser Zeiterscheint Hamburg als ein Ort, von dem missionarische und politische Aktivi-täten ausgingen.

    Unzweifelhaft wurde die Umgebung Hamburgs unter Karl dem Großen bis804 in das Frankenreich integriert und es begann die Christianisierung; einenNachweis, dass Karl der Große sich in dem Ort Hamburg oder überhauptnördlich der Elbe aufhielt, gibt es nicht; er hat allenfalls – von wo auch immer –die politische und religiöse Einbeziehung Hamburgs in das Frankenreich an-geordnet.

    5 Theuerkauf (wie Anm. 2), S. 13.

    Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs 15

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  • Karl der Große in der Stadthistoriographie

    Bereits den Autoren der frühen Stadtgeschichten Hamburgs war bekannt, dassKarl der Große mit der frühen Entwicklung Hamburgs in Beziehung stand. ImFolgenden soll betrachtet werden, wie diese Beziehung Karls zu Hamburg im Laufder Jahrhunderte in den verschiedenen Stadtgeschichten dargestellt wurde, welcheEinschätzung mithin die jeweiligen Autoren von dieser Thematik hatten unddamit auf die Leser und ihre Kenntnis von der Frühgeschichte der Stadt ein-wirkten. Selbstverständlich war dies von der Quellen- und Literaturkenntnis derAutoren abhängig. Welche und wie viele Leser mit diesen historischen Werkenerreicht wurden, ist kaum mehr zu ermitteln, allein mehrere Auflagen und dieVerwendung von Büchern in Schulen lassen größere Leserkreise vermuten. Hiersoll nur eine Auswahl von Monographien aus mehreren Jahrhunderten näherbetrachtet werden, tatsächlich gibt es noch einige mehr, darüber hinaus auchSpezialuntersuchungen und die für ein verbreitetes Geschichtsbild sicher wich-tigen populären Heimatbücher. Es ist das Ziel, Beispiele unterschiedlicher Ein-schätzungen aus verschiedenen Zeiten vorzustellen und vielleicht Verschiebungenin der Betrachtung zu erkennen. Es wäre sicher lohnenswert, die Biographien unddas weitere literarische Wirken der einzelnen Autoren zu untersuchen; das würdeden Umfang dieses Beitrags allerdings sprengen.

    Bereits in den Chroniken und ersten Stadtgeschichten des 16. und 17. Jahr-hunderts wird wiederholt kurz Karl der Große erwähnt, vor allem als Initiatordes ersten Kirchenbaus in Hamburg.6 Adam Tratziger (um 1523 – 1584) dessenChronik erst 1740 gedruckt wurde, schrieb: »Als der große keiser Karl dieWestfahlen und die Sachsen … ihme gehorsam und untertenig gemachet … zuger uber die Elbe in die norderseiten, die sonst Stormarn und Holstein genennet,und fand an der Elbe die Stadt Hammenburg.« Er habe sie unter seinen Schutzgenommen, dort eine Besatzung unter dem Hauptmann Otto hinterlassen, eineKirche bauen lassen und den Priester Heridag eingesetzt.7 Zu ihrer Zeit weiterverbreitet war sicher die Chronik Wolfgang Heinrich Adelungs, gedruckt 1696.Er schrieb: »Wer der erste Erbauer der Stadt Hamburg, davon findet man keineNachricht, aber aller vernünfftigen Wahrheit ist gemäß, daß wir gedacht KayserCarolus Magnus diese Stadt An. Christi 808 habe befestiget gegen den Wendenund anderer ungläubiger Völcker Einfall und daselbst zwey Schlösser aufführenlassen.« Nachdem die Wenden die Stadt zerstört hätten, sei Karl erneut in Er-scheinung getreten: »Anno 811 eroberte der Kayser Carolus Magnus Hamburg

    6 Johann Martin Lappenberg (Hg.), Hamburgische Chroniken in niedersächsischer Sprache,Hamburg 1861.

    7 Adam Tratziger, Der alten weitberühmten stadt Hamburg chronica und jahrbücher von derzeit Caroli des Großen bis uf das keisertumb Caroli des Funften, Hamburg 1557, hg. vonJohann Martin Lappenberg, Hamburg 1865, S. 15 f.

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  • wieder und bauete es von neuen auff damahls hat es den Nahmen Hamburg undeiner Stadt Gestalt von ihrem Wiederaufbauer dem Kayser bekommen, daß manalso Hamburg mit recht eine KayserStadt nennen kann.«8 Adelung wie auch dieHumanisten vor ihm beschränkten sich auf das Sammeln und anschaulicheSchildern von Nachrichten und Episoden aus der hamburgischen Geschichte;erst im folgenden Jahrhundert begann auch eine Auseinandersetzung mit denQuellen, der dann im 19. Jahrhundert mit der sich entwickelnden Geschichts-wissenschaft verfeinerte Methoden folgten.

    Ein unbekannter Autor erörtert 1731 die schwierige Quellenlage für dieFrühgeschichte Hamburgs, Karls Kriegszüge, die Kirchengründung und denBurgenbau in Hamburg und kam zu dem Schluss: »Allein alles dieses ist wohlebenso wenig feste gegründet, als die Erzehlung, Hamburg sey erstlich von Carl

    8 Wolffgang Henrich Adelungk, Kurtze Historische Beschreibung Der Uhr = Alten Kæyserli-chen und des Heil. Rœmischen Reichs Freyen = An = See = Kauff = und Handels = StadtHamburg …., Hamburg 1696, S. 2 f.

    Abb. 1: Frontispiz der Stadtgeschichte von Adelung von 1696 mit Karl dem Großen.

    Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs 17

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  • dem Großen erbauet worden.«9 Der Professor und Hamburger BibliothekarGottfried Schütze bemerkte in der langen Einleitung zu seiner GeschichteHamburgs 1775 kategorisch: »Als Geschichtschreiber kennen wir weder Reli-gion noch Vaterland, sondern es werden auf gut deutsch zu sagen, Unparthey-lichkeit und Wahrheitsliebe unsre beständigen Gefährten sein«.10 Die Rolle Karlsdes Großen in der Frühgeschichte wird von ihm dann anhand verschiedenerQuellen intensiv diskutiert und er resümiert: »Hamburg verehret einen Kayserals seinen Stifter, den wir die Ehre und den Stolz der Deutschen nennen können,und darf sich folglich seines Ursprungs nicht schämen.« Karl der Große wird vonihm mehrfach erwähnt, u. a. , dass er z. B. einen Legaten mit dem Burgenbau inHamburg beauftragt hätte.

    Ausdrücklich an junge Leute wandte sich ein unbekannter Autor 1788 mit»Hamburgs Geschichte. Ein Lesebuch für Mädchen und Jünglinge«. Er formu-lierte dabei einen ausgesprochen pädagogischen Bildungsansatz der Zeit:»Mitten im Zeitalter der Romanenlectüre bricht, hell wie ein Lichtstrahl derMorgenröthe durch die Nacht, der Tag der Geschichte an. Schriftsteller, Großeund Kleine mühen sich, ihre Zeitgenossen abzulenken vom Sumpfpfade alltäg-licher Romane…«.11 Zur Frühgeschichte Hamburgs meint er, es sei ungewiss,wann Karl der Große die Hamburger Burg erbauen ließ, sie sei aber nach derZerstörung durch die Wilzen 810 wieder aufgebaut worden und er hätte eineKirche errichten lassen. So sei Hamburg entstanden. Kritisch ergänzt er : »Aberden Zeitpunkt wann sie entstanden, mit historischer Gewissenhafftigkeit zubestimmen, dies ist eben so schwer als in der Lavine die Schneeflocke wieder zufinden, die das Zentrum ihrer Masse ist und ihres Sturzes Ursache war, obgleichviele Alterthumsforscher diese Zeit mit solcher Gewißheit anzugeben wissen, alshätten sie selbst den Mörtel zum Bau angemacht.« Dennoch glaubte er : »Va-terfürsorge war jetzt Karl’s Sorge für die Sachsen worden, besonders schien sieauf Hamburg gerichtet zu sein.« Otto Gieseke bemerkte wenige Jahre späterverhältnismäßig ausführlich, Karl legte nach dem Ende der Kämpfe gegen dieSachsen »um diese besser im Zaum zu erhalten, an der Elbe zwo Gränzvestungenan.« 12 Eine davon sei die Hammaburg an einem wohl schon bewohnten Ort

    9 Versuch Einer zuverlässigen Nachricht Von dem Kirchlichen und Politischen Zustande DerStadt Hamburg in den älteren Zeiten, Nehmlich von Carolo Magno biß auf die Zeiten KayserFriedrichs des III, o. O. 1731, S. 5.

    10 Gottfried Schütze (Hg.), Die Geschichte von Hamburg für den Liebhaber der vaterländischenGeschichte, 1 Teil, (Aelteste Hamburgische Geschichte in dem Zeitraume von der Gründungder Stadt Hamburg im Jahr 808 bis zur Erlöschung des männlichen billingischen Stammesim Jahr 1106), Hamburg 1775, S. VI.

    11 Hamburgs Geschichte. Ein Lesebuch für Mädchen und Jünglinge, Lübeck 1788, S. 15 f.12 Otto Giseke, Geschichte Hamburgs, Tl. 1, Hamburg 1792, S. 5 – 6.

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  • gewesen; zuvor hätte er dort schon eine Kirche errichten lassen, Priester be-stimmt und dort deportierte Sachsen angesiedelt.

    Für einen weiteren unbekannten Autor waren um 1799 die Anfänge Ham-burgs eine relativ klare Sache, denn seine Stadtgeschichte fängt mit den Satz an:»Es hat der Kayser Carl der Große Anno Christi 808 an dem Elb-Flusse 2Casteelen oder Schlösser aufbauen lassen, und dieselben mit gebührender Be-satzung versehen, um denen Wenden das Einfallen und Plündern zu verweh-ren…«.13 Der kaiserliche Legat, der »das Schloß« bauen ließ, hieße Odo, Udooder Otto. Eine Anwesenheit Karls des Großen erwähnt er allerdings nicht. In dererweiterten Neuauflage von 1804 fügt er hinzu, dass, nachdem die Wenden das»Schloß« zwei Jahre später zerstört hätten, » sind von dem Kaiser die Wendenund Ungläubigen wieder zurückgetrieben, und auf dessen Anordnung diesesSchloß wiederum aufgebauet worden.« Johann Curio ist 1803 dagegen sehrvorsichtig in seinen Formulierungen: »Kaiser Karl der Große soll die Entstehungoder Vergrößerung der Stadt Hamburg veranlasst haben. Er ließ eine Burg da-selbst bauen…« sowie »… in oder neben der Burg eine Kirche…«.14

    Nach dem Ende der französischen Besatzungszeit 1814 und mit der Selb-ständigkeit Hamburgs im Deutschen Bund nahm die Zahl der gedrucktenHamburger Stadtgeschichten zu. In dieser Zeit entwickelte sich infolge deswachsenden Patriotismus auch das Bewusstsein für die eigene Geschichte.Wenige Jahrzehnte später suchte das Hamburger Bürgertum dann verstärktnach einer eigenen hamburgischen Identität und wollte parallel zu der sichrasant wandelnden Welt Traditionen vor dem Verschwinden bewahren. So wurde1839 der Verein für Hamburgische Geschichte gegründet und es entstandenhistorische Sammlungen.15

    In seiner Chronik Hamburgs schildert der Professor am Johanneum FriedrichZimmermann 1820 zwar die Sachsenkriege des »mit dem Adlerblick seinesGeistes weit über sein Zeitalter hinausschauenden, thatkräftigen Karl…« undauch dessen nordelbische Politik, bringt aber die Person des Kaisers nicht mitder Region direkt in Verbindung.16 Der Sprachlehrer und eifrige Autor NicolausBärmann formuliert in seiner hamburgischen Chronik 1820 anfangs neutral:»Kaiser Carl der Große…ist es, dem die Stadt Hamburg ihre Entstehung ver-

    13 Historischer Bericht der weltberühmten Kauf- und Handels-Stadt Hamburg, und was sichvom Ursprung und Aufnehmen selbiger Stadt bis Anno 1798 begeben hat, Hamburg o. J.(1799?) S. 3

    14 Johann Daniel Carl Curio, Hamburgische Chronik. Für die Freunde und besonders für dieJugend des Vaterlandes, Hamburg 1803, S. 5 f.

    15 Ortwin Pelc, Bürger erinnern sich ihrer Vergangenheit. Die Gründung des Museums fürHamburgische Geschichte, in: Dirk Hempel u. a. (Hg.), Andocken. Hamburgs Kulturge-schichte 1848 – 1933 (im Druck).

    16 Friedrich Gottlieb Zimmermann, Neue Chronik von Hamburg vom Entstehen der Stadt biszum Jahre 1819, Hamburg 1820, S. 7 f.

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  • dankt…«, was ja durchaus seine Berechtigung hatte. Dann fährt er kritisch fort:»Es sei dahin gestellt, ob dieser Kaiser wirklich die christliche Religion zumDeckmantel seiner Eroberungssucht brauchte…«, jedenfalls hätte er die Sachsenunterworfen und viele Burgen an der Elbe errichten lassen. »So entstand alsonach dem Willen Carls des Großen um das Jahr 803 mit ähnlichen Burgen auchdie Hamma-Burg…«.17 Zur Kirchengründung schreibt er weiter, dass Karl extraden Einfluss der benachbarten Bischöfe fern gehalten und damit »der wirklicheBegründer unserer guten Stadt auch zugleich den ersten Freiheitssegen überdieselbe ausgesprochen« hätte. Im übrigen hätte »ein ziemlich glaubwürdigscheinender Schriftsteller erzählt, daß Kaiser Carl… der Einweihung desKirchleins zur heil. Maria beiwohnte…«. Der Schullehrer Ropelius berichtet1832 nüchtern, »Kaiser Karl der Große ließ zuerst allhier eine Burg erbauen«,und 811 daneben eine Kirche, für die er den Priester Heridag ernannte. Der Plan,ein Erzbistum zu errichten, konnte durch seinen Tod nicht vollendet werden.18

    Nach Meinung von W. L. Meeder 1838 besaß Karl der Große eine ausgesprocheneWeitsicht: »Des großen Kaisers Scharfblick erkannte wohl schon in der unbe-deutenden Ansiedlung den Keim der werdenden Weltstadt; diese fester zu be-gründen, ihr Aufblühen zu befördern, war sein Streben.« Und: »So beschloß erin Hamburg eine Taufkirche bauen zu lassen…«.19 Friedrich Clemens schilderte1844 zwar die blutigen Sachsenkriege, dabei taucht die Person Karls des Großenaber im Norden gar nicht auf. Sein Legat Otho ließ allerdings Burgen (»festeSchlösser«) in Nordelbingen anlegen, u. a. eine in Hamburg, »und die Pfaffensäumten in gewohnter Weise nicht, sich zugleich mit einzunisten, um von hieraus ihre fernern Missionsbestrebungen leiten zu können.«20 Hier wie in weiterenStadtgeschichten tauchen wiederholt antiklerikale Einstellungen der Autorenauf, die offensichtlich von den aktuellen Diskussionen in der Mitte des 19.Jahrhunderts bestimmt sind.

    Einer der bedeutendsten hamburgischen Historiker des 19. Jahrhunderts,Johann Gustav Gallois21, schildert in der ersten Auflage seiner großen Stadtge-schichte von 1853 detailliert die Sachsenkriege sowie die betroffenen Orte undRegionen bis an die Elbe, erwähnt auch das Treffen in Hollenstedt. Er erläutet

    17 Nicolaus Bärmann, Hamburgische Chronik von Entstehung der Stadt bis auf unsere Tage, 1.Aufl. 1820, 2. Aufl. Hamburg 1822, S. 1 – 4.

    18 J. J. Ropelius, Chronik oder Geschichte von Hamburg, Hamburg 1832, S. 1 f.19 W. L. Meeder, Geschichte von Hamburg vom Entstehen der Stadt bis auf die neueste Zeit,

    Hamburg 1838, S. 11 f.20 Friedrich Clemens, Hamburgs’s Gedenkbuch, eine Chronik seiner Schicksale und Bege-

    benheiten vom Ursprung der Stadt bis zur letzten Feuersbrunst und Wiedererbauung,Hamburg 1844, S. 4.

    21 Joist Grolle, Das Hamburgbild in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: IngeStephan / Hans-Gerd Winter (Hg.): »Heil über dir, Hammonia«. Hamburg im 19. Jahrhun-dert. Kultur, Geschichte, Politik, Hamburg 1992, S. 17 – 46, hier S. 32 – 40.

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  • ausführlich die Stammesverfassung der Sachsen und die Wirtschaft der Region.Bei ihm ließ Karl der Große zwar 808 eine Burg an der Alster errichten und setzteden Priester Heridag ein, taucht persönlich aber nie auf. In der zweiten Auflagevon 1864 wird Gallois‹ Position schon deutlicher, als er die Lage beschreibt,

    »… nachdem Karl der Große in immer wiederholten Raubzügen das Land verheert undmit Hülfe der wendischen Nachbarstämme die besten Kräfte des Sachsenvolkes theilsaufgerieben, theils in andere Gegenden seines weiten Reiches verpflanzt hatte. Mit demSchwerte der Franken ging der Religionseifer der Mönche zusammen, die unter demKaiserschutze überall ihre Taufkirchlein und ihre Missionsanstalten, Klöster und derenSchulen, in der Regel in oder bei den fränkischen Burgen errichteten. Eine solche Burgnebst Taufkirchlein ließ nun auch Karl der Große 804 auf der alten Stätte Hammaburg… errichten…«.22

    Gallois vertritt hier eine Position, die im 19. Jahrhunderts in Deutschland eineweite Verbreitung hatte. Nicht zuletzt, weil sich Napoleon als Erbe Karls desGroßen sah, wurden Arminius und der Sachsenfürst Widukind nun zu denbedeutendsten deutschen Freiheitshelden stilisiert. Während die Sachsen dennationalen Freiheitskampf symbolisierten, waren die Franken und damit Karlder Große die Eroberer. Dagegen standen – besonders nach 1871 – Stimmen, diein Karl den Einiger der germanischen Stämme und sein hartes Vorgehen ge-genüber den Sachsen als berechtigt ansahen.23 In Hamburg waren diese nega-tiven Positionen gegenüber Karl eher selten.

    Recht vorsichtig erwähnt Hellmuth Elers 1868 in seiner Chronologie Ham-burgs: »808 wahrscheinliche Gründung Hamburgs durch Karl’s des GroßenErbauung einer Burg in der Gegend des jetzigen Fischmarkts…«.24 Der Pastor anSt. Nikolai, Carl Mönckeberg, bemerkte dann 1885: »Karl der Große errichtetedrei Burgen…«, Itzehoe, Hohbuchi und Hamburg. »Die Idee, eine Handelsstadthier zu gründen, kann Karl dem Großen nur fern gelegen haben, wohl aber weistes auf größere Pläne hin, die Karl mit dieser Burg verbunden hatte, daß er für dieKirche, die er in ihr gegründet, den Priester Heridag nicht, wie den für Itzehoe,vom Bischof von Verden, sondern vom Erzbischof Amalhar von Trier weihenließ.«25

    Auch in weiteren Stadtgeschichten mag der Leser den Eindruck bekommen,dass Karl der Große in Hamburg anwesend war und diesen Ort als militärischen

    22 Johann Gustav Gallois, Geschichte der Stadt Hamburg, erste Aufl. Hamburg 1853 / 56, zweiteAufl. 1867, S. 5.

    23 Vgl. dazu ausführlich Sabine Kuhlmann, Der Streit um Karl den Großen, Widukind und den›Tag von Verden‹ in der NS-Zeit (Beiträge zur Geschichte und Kultur des Elbe-Weser-Raumes4), Stade 2010, bes. S. 31 – 46.

    24 Hellmuth Elers, Chronologie und Calendarium der Geschichte Hamburg’s, Hamburg 1868,S. 3

    25 Carl Mönckeberg, Geschichte der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1885, S. 6 f.

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  • und kirchlichen Stützpunkt aktiv ausbaute. Ganz typisch ist die Formulierung inWilhelm Kollhoffs mehrfach aufgelegter Stadtgeschichte:»An diesem durchseine Lage ausgezeichneten Orte gründete Karl eine Kirche, welche er demPriester Heridag übergab (811).«26 Rudolf Nehlsen drückte es 1896 so aus: »Sowar das ganze Gebiet der ursprünglichen Ansiedlung an der Burg, welche Karlder Große hier über der Elbe zum Schutze wider die heidnischen Wendengründete, von Hammen umgeben, und mochte diese Burg daher wohl eineHammaburg, oder, wie Tratziger sagt, Hammenburg, genannt werden. ImSchutze der Hammaburg gründete Karl der Große im Jahre 811 eine Kirche aufdem ›Berge‹ an der Alster, der Höhe vor St. Peter, nach welcher noch die Berg-straße ihren Namen führt … Karl setzte hier einen Priester Heridac (Heridag)ein, dem er das ganze Nordelbingen zur Aufsicht übergab.«27

    Etwas kritischer war dagegen Ernst Wichmann 1889. Er meinte, die Sagewürde berichten, dass Karl der Große in Hamburg eine Burg habe errichtenlassen. Dies sei wohl nur durch Ansgar verbreitet worden, als er sich in Rom dieBestätigung für das Erzbistum holte. Karl hätte ein schlechter Stratege seinmüssen, da die Burg am rechten Ufer der Elbe von Nachschub aus dem Fran-kenreich abgeschnitten gewesen wäre. Dagegen sei wohl die Kirche von Karlgegründet worden, da er Kirchen in Sachsen oft an heidnischen Opferplätzenanlegen ließ.28

    Die wichtigste hamburgische Stadtgeschichte in der Zeit der Weimarer Re-publik war die des Archivars (seit 1933 Direktors) am Staatsarchiv und Pro-fessors an der Hamburger Universität Heinrich Reincke von 1925. Reincke wolltemit dieser Geschichte durchaus – wie sicher einige Autoren vor ihm – einenBeitrag zu aktuellen Gegenwartsfragen leisten.29 Zwar tauchen bei ihm auf denersten Seiten bereits Formulierungen wie »meerumschlungene Nordmark«,»Heldenzeiten« und »weltgeschichtlicher Sachsenkrieg der Heere des großenFrankenkaisers« auf, die Gründungszeit und Funktion der Hammaburg beurteilter jedoch vorsichtig. Zu Karl dem Großen schreibt er weiter :

    »Der Feldzug des Jahres 804 zwang die Nordelbinger zu bedingungsloser Unterwerfungunter den harten Willen des Kaisers und der christlichen Kirche, doch blieb die Ver-bindung mit dem fränkischen Reiche zunächst nur locker. Das Land stellte Karl unterden Schutz der mit ihm verbündeten Wenden, die inmitten der Volksburg 811 er-richtete bescheidenen Kirche unter den Missionssprengel des Erzbistums Trier«.30

    26 Wilhelm Kollhoff, Grundriß der Geschichte Hamburgs, Hamburg 1889 (u. weitere Aufl.), S. 2.27 Rudolf Nehlsen, Hamburgische Geschichte nach Quellen und Urkunden, Hamburg 1896, S. 8.28 Ernst Heinrich Wichmann, Hamburgische Geschichte in Darstellungen aus alter und neuer

    Zeit, Hamburg 1889, S. 2.29 Vgl. dazu ausführlich: Joist Grolle, Hamburg und seine Historiker, Hamburg 1997, S. 123–132.30 Heinrich Reincke, Hamburg. Ein kurzer Abriß der Stadtgeschichte von den Anfängen bis zur

    Gegenwart, Bremen 1925, S. 3 – 5.

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  • Bereits im ersten Jahr der NS-Herrschaft erschien eine neue, ausführlichereFassung dieser Stadtgeschichte mit einem Geleitwort des NS-BürgermeistersCarl Vincent Krogmann. Sie strotzt nun vor blutrünstigem Kampfgetümmel,Krieg und Germanentum. Die Hammaburg wurde zum Ort, von dem aus »derKampf um die Heimat geführt werden konnte«. Von allen Seiten wurde siebedroht, »von den Inseln und von Jütland her drohte das nordgermanischeBrudervolk der Dänen«. »In dreißigjährigem Heldenkampfe für die Freiheit unddie alten Götter wehrte sich Sachsen gegen den Herrscher des Abendlandes undmußte schließlich doch unterliegen. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts hatte Karlder Große nach wechselvollem Ringen endgiltig die Elbelinie gewonnen. ImJahre 804 wurde durch vereinten Angriff der Franken von Süden, der Obotritenvon Osten her auch Nordelbingen bezwungen, der letzte Rückhalt sächsischenWidersandes gebrochen, die staatliche Einheit des festländischen Germanen-tums unter fränkischem Szepter hergestellt … Furchtbar war die Strafe deskaiserlichen Zorns gegen die Besiegten«31 Karl erscheint in Formulierungen wie»Mit gewohnter Kraft und Umsicht baute der greise Herrscher nunmehr seineMacht im Norden auf« nur vage persönlich vor Ort. Er bestimmte aber Hamburgzum geistlichen Zentrum im Norden gemäß seinem Grundsatz: »Ein Reich, einGlauben, eine Kirche!« Diese Geschichte Hamburgs hatte nun einen offiziösen,für das NS-Regime werbenden Charakter und wurde als Sonderausgabe an alleHamburger Schulen verteilt.32

    Seit den 1950er Jahren kehrte wieder Sachlichkeit in die Stadtgeschichten einund die Autoren wurden zurückhaltend in der Beurteilung der Rolle Karls desGroßen bei der Gründung Hamburgs. Bernhard Studt und Hans Olsen be-schreiben 1951 die sächsische Siedlung und den Alsterübergang »bis schließlichdie anstürmenden Truppen des Frankenkaisers Karl die sächsische Hammaburgin Besitz nahmen«. Karl der Große selbst taucht bei ihnen nicht persönlich in derNähe Hamburgs auf. Zwar »legte er in dem eroberten Gebiet Kastelle an undgründete Kirchen«, dies ist aber immer so formuliert, dass seine Anordnungenauch fern von Hamburg getroffen sein konnten. In einer Fußnote setzen dieAutoren »den ersten Gründer« Hamburgs sogar in Anführungsstriche.33 Inseiner umfangreichen Stadtgeschichte von 1958, die 1967 erneut aufgelegt wurdeund ebenso wie die von Studt und Olsen weit verbreitet war, erwähnt Erich vonLehe Karl den Großen ebenfalls kaum, und wenn, dann nur distanziert; so wurdeder Platz »vom militärischen Befehlshaber eines fränkischen Heeres Kaiser Karls

    31 Heinrich Reincke, Hamburgs Geschichte, in: Hamburg einst und jetzt, hg. von dems. / WalterHävernick / Gustav Schlotterer, Hamburg 1933, S. 4 – 7.

    32 Grolle (wie Anm. 29), S. 123.33 Bernhard Studt / Hans Olsen, Hamburg. Die Geschichte einer Stadt, Hamburg 1951, S. 14.

    Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs 23

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  • des Großen für eine Befestigungsanlage ausgewählt.«34 In der populären, seit1981 ebenfalls mehrfach aufgelegten Geschichte von Eckart Kleßmann erscheintKarl nur als strategisch handelnder Herrscher, nicht als Person direkt vor Ort.35

    Differenziert betrachtet Klaus Richter in der Stadtgeschichte von 1982 die RolleKarls des Großen für Hamburg und lässt ihn von Lüne, Bardowick und Hol-lenstedt aus durch Untergebene in die nordelbischen Verhältnisse eingreifen.36

    Jörgen Bracker betont in seiner seit 1987 ebenfalls mehrfach aufgelegtenStadtgeschichte zuerst die fränkische Distanz zum nordelbischen Gebiet,schreibt dann aber : »Nichts hinderte mehr den Kaiser daran, jetzt (810) auf dem›Hammaburg‹ benannten Platz nahe der Abotritensiedlung eine erste Kirche zuerrichten, gewiß eine Petrikirche.«37 Auch in der Stadtgeschichte von MartinKrieger von 2006 nähert sich Karl der Große wieder Nordelbingen, nachdem 808die Dänen die Abotriten besiegt hatten: »Diese Entwicklung veranlaßte denFrankenherrscher, selbst die nördlich der Elbe gelegenen Gebiete zu besetzenund die Reichsgrenze von der Elbe an die Eider zu verlegen.«38 Bei MatthiasGretzschel agiert er dann 2008 nur als Eroberer Sachsens, mit Hamburg wird erin keinen direkten Bezug gebracht.39

    Den Autoren Hamburger Stadtgeschichten aus über drei Jahrhundertenstanden dieselben – wenigen – Quellen zur Verfügung, dennoch formulierten siedie Beteiligung Karls des Großen an der hamburgischen Gründungsgeschichterecht unterschiedlich, natürlich von ihren Interessen, historischen Kenntnissenund dem angesprochenen Leserkreis bestimmt. Dabei können auch sprachlicheUngenauigkeiten nicht ausgeschlossen werden. Der unbefangene Leser wirdnach der Lektüre der verschiedenen, vor allem älteren Stadtgeschichten über-wiegend den Eindruck bekommen, dass Karl der Große eng mit der Frühge-schichte der Stadt in Verbindung stand und wohl auch im damaligen Hamburganwesend war.40

    34 Erich von Lehe u. a. , Heimatchronik der Freien und Hansestadt Hamburg, 2. Aufl. Köln 1967,S. 29.

    35 Eckart Kleßmann, Geschichte der Stadt Hamburg, Hamburg 1981, S. 18 f.36 Klaus Richter, Hamburgs Frühzeit bis 1300, in: Hans-Dieter Loose (Hg.), Hamburg. Ge-

    schichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 1, Hamburg 1982, S. 17 – 100, hier S. 20 – 28.37 Jörgen Bracker, Hamburg. Wendemarken der Stadtgeschichte, 3. Aufl. Hamburg 1993, S. 15.38 Martin Krieger, Geschichte Hamburgs (Beck Wissen), München 2006, S. 14.39 Matthias Gretzschel, Kleine Hamburger Stadtgeschichte, Regensburg 2008.40 Zur Mythenbildung über das Hamburger Mittelalter s. auch: Ralf Wiechmann, Ansgar,

    Störtebeker und die Hanse. Geschichtsbilder und Geschichtsmythen, in: Gisela Jaacks (Hg.),Hamburgs Geschichte. Mythos und Wirklichkeit, Hamburg 2008, S. 62 – 89, zur Grün-dungsgeschichte bes. S. 70 – 73.

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  • Standbilder im Stadtbild

    Karl der Große taucht im Hamburger Stadtbild an prominenten Stellen auch alsFigur auf. Die Fassade des aus dem späten 13. Jahrhundert stammenden Rat-hauses an der Trostbrücke erhielt im Jahr 1470 eine Blendgalerie, in deren Ni-schen 17 römische Kaiserstatuen platziert wurden.41 Es kann nur vermutetwerden, dass diese Maßnahme einen Zusammenhang mit Hamburgs Anspruchauf Reichsunmittelbarkeit hatte, denn seit 1460 war der dänische König auchGraf von Holstein und konnte die Unabhängigkeit der Stadt in Frage stellen. DieKaiserstatuen könnten ein Hinweis auf die postulierte Treue der Stadt zu denKaisern des römisch-deutschen Reichs sein.42 Wesentlich deutlicher wird diesesPostulat in der wachsenden Handelsstadt, als 1649 an die Fassade der reprä-sentativen neuen Rathausanbauten an drei Etagen weitere 21 Statuen – diesmaldeutscher Kaiser – angebracht wurden. Sie wurden nach ihrer Bedeutung für diehamburgische Geschichte ausgewählt, Karl der Große war dabei. 1618 hatte dasReichskammergericht die reichsunmittelbare Stellung Hamburgs gegenüberDänemark anerkannt, nun wollten die Hamburger dies auch optisch demon-strieren. Die Sandsteinfigur hielt ein Schwert in der rechten Hand und denReichsapfel in der linken. So konnte sie fast 200 Jahre lang bewundert werden.Als das Rathaus während des großen Brandes in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai1842 vom Feuer erfasst wurde und gesprengt werden musste, konnten dieseKaiserstatuen gerettet werden. Sie wurden der neu gegründeten SammlungHamburgischer Altertümer übereignet und in deren Domizil, dem Johanneummit der Stadtbibliothek am Speersort, eingelagert; 1894 erhielten sie nach demhistorischen Vorbild einen neuen Platz an einer Fassade im Lichthof des Ge-bäudes. Nach der Gründung des Museums für Hamburgische Geschichte 1908wurden die Figuren vom Museumsdirektor Otto Lauffer und dem ArchitektenFritz Schumacher für den Neubau des Museums eingeplant, der 1922 eröffnetwurde. Bis heute ist auch die Figur Karls des Großen in einer Nische derNordwest-Fassade des Museums erhalten.

    41 Vgl. zum Folgenden Hans-Jürgen Brandt, Das Hamburger Rathaus, Hamburg 1957, S. 12,59 – 63, 100, 133, 156, 181, 183.

    42 Zu Hamburgs Stellung zum Reich in der Chronistik des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. Su-sanne Rau, Holsteinische Landstadt oder Reichsstadt? Hamburgs Erfindung seiner Ge-schichte als freie Reichsstadt, in: Bea Lund (Hg.), Nordlichter. Geschichtsbewußtsein undGeschichtsmythen nördlich der Elbe, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 159 – 177.

    Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs 25

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  • Abb. 2: Kaiserfiguren am alten Hamburger Rathaus, Stich von Koch, 1828 (Museum für Ham-burgische Geschichte).

    Abb. 3: Kaiserfiguren am alten Hamburger Rathaus, Stahlstich von Grey, 1841 (Museum fürHamburgische Geschichte).

    Ortwin Pelc26

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  • Abb. 4: Die Kaiserfiguren des alten Hamburger Rathauses im Depot der Sammlung Hambur-gischer Alterthümer (Museum für Hamburgische Geschichte).

    Abb. 5: Die Kaiserfiguren des alten Hamburger Rathauses im Lichthof des Johanneums, um 1895(Museum für Hamburgische Geschichte).

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  • In der zum großen Teil abgebrannten Hamburger Innenstadt wurden auf denTrümmergrundstücken nach 1842 in der Regel neue Häuser in klassizistischenBauformen errichtet. Eine stilistische Ausnahme ist das noch erhaltene Stadt-haus des Anwalts Johann Friedrich Voigt in der Ferdinandstraße 65. Der Ar-chitekt Theodor Bülau, ein Hauptverfechter der Neogotik in Hamburg, konnteden Bauherrn überzeugen, ein Haus im Stil der norddeutschen Backsteingotik inAuftrag zu geben. Es entsprach den Idealvorstellungen Bülaus und wurde durchzwei christlich-nationale Symbole in der Fassade gekrönt: einer Statue BischofAnsgars und einer Karls des Großen.43 Der Kaiser stützt sich auf ein mächtigesSchwert und trägt in der linken Hand den Reichsapfel.

    Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Denkmäler, auch in Hamburg;mit ihren Motiven konnte eine wesentlich größere Öffentlichkeit erreicht werdenals mit Büchern. Beim Beginn der Denkmalskultur in der zweiten Hälfte des18. Jahrhunderts wurden von der Stadtrepublik verdiente Bürger geehrt, in derMitte des 19. Jahrhunderts kamen dann nationale Symbole hinzu. Neue Denk-mäler bezogen sich nicht mehr nur auf die hamburgische, sondern auch auf dievaterländische, deutsche Geschichte.44 Seit der überwältigenden Hilfe aus vielen

    Abb. 6: Die Kaiserfiguren des alten Hamburger Rathauses am Museum für HamburgischeGeschichte, links oben Karl der Große, 2011 (Foto: Delf Gravert / MHG).

    43 Hermann Hipp, Freie und Hansestadt Hamburg (DuMont Kunst-Reiseführer), Köln 1989,S. 172.

    44 Vgl. Volker Plagemann, Hamburger Denkmäler als Medium der Geschichtsvermittlung, in:Zeitschrift für Hamburgische Geschichte 74 / 75, 1989, S. 131 – 160.

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  • Abb. 7: Ansgar und Karl der Große am Haus Ferdinandstraße 65, 2011(Foto: O. Pelc).

    Abb. 8: Karl der Große am Haus Ferdinandstraße 65, 2011(Foto: O. Pelc).

    Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs 29

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  • deutschen Ländern (und dem Ausland) nach dem großen Brand von 184245

    wuchs in Hamburg auch die nationale Begeisterung. Ein Beispiel dafür ist dieBenennung einer neuen Straße in der Innenstadt, der Hermannstraße, nach demgermanischen Nationaldenkmal für Hermann den Cherusker im TeutoburgerWald. Es verwundert nicht, dass in einer Zeit der Rückbesinnung auf die eigeneGeschichte, die einen Teil der vaterländischen und nationalen Identität stützte,auch an die längst vergangene hamburgische Geschichte mit Denkmälern anzentralen Orten erinnert wurde. Dabei standen nationalen und monarchischenSymbolen Darstellungen der bürgerlichen Vergangenheit gegenüber. So wurdeeine Vielzahl von Denkmälern geschaffen; vor allem Künstler, Unternehmer,Bürgermeister und Herrscher wie Wilhelm I. und Politiker wie Bismarck, be-sonders aber Krieger und Soldaten aus den Konflikten in der »Franzosenzeit«1806 / 14, dem schleswig-holsteinischen Krieg 1864 und dem deutsch-französi-schen Krieg von 1870 / 71 standen auf monumentalen Sockeln in Hamburg.46

    Zeitgleich zu diesen Symbolen der Selbstdarstellung entstanden in der wilhel-minischen Zeit repräsentative öffentliche Bauten, Plätze und Parkanlagen. ImHintergrund spielte sicher ein besonderes Element eine Rolle: Mit der Gründungdes Deutschen Reiches 1871 hatte Hamburg – trotz immenser wirtschaftlicherVorteile – seine Souveränität verloren. Neben dem Bekenntnis zu nationalerEinigkeit – die 1888 eingeweihte Brooksbrücke zierten Germania undHammonia – stand die Rückbesinnung auf die eigene Geschichte im Vorder-grund. »Die unterschiedlichsten bürgerlichen Gruppen hatten offenbar ein In-teresse daran, die Bedeutung der Stadtrepublik durch Hinweise auf bedeutendeGründerfiguren, auf bedeutende historische Ereignisse, auf bedeutende Ge-stalten der hamburgischen Geschichte zu unterstreichen.«47 Dass die hambur-gische Geschichte dabei im zeitgenössischen Sinne verklärt wurde, ist nichtweiter verwunderlich. Auf der Trostbrücke (1881) sind z. B. Bischof Ansgar undGraf Adolf III. zu sehen, an der Kersten-Miles-Brücke (1895 / 1897) Simon vonUtrecht und Ditmar Koel, die Sieger über die Seeräuber des 15. und 16. Jahr-hunderts.

    Die Besinnung auf die eigenständige Geschichte der Stadt findet sich auch inopulent geschmückten Brunnen wie dem Hansa-Brunnen auf dem Hansaplatz inSt. Georg. Dieser erste der öffentlichen Schmuckbrunnen, die nicht mehr dieFunktion von Wasserspendern hatten, wurde am 10. Juli 1878 enthüllt.48 Die

    45 Vgl. die Beiträge in: Claudia Horbas / Ortwin Pelc (Hg.), ›Es brannte an allen Ecken zu-gleich…‹. Hamburg 1842, Heide 2002.

    46 Vgl. Volker Plagemann, »Vaterstadt, Vaterland, schütz Dich Gott mit starker Hand«.Denkmäler in Hamburg, Hamburg 1986.

    47 Ebd., S. 77.48 Vgl. zum Folgenden Hamburg und seine Bauten, Hamburg 1890, S. 306 f. .– Plagemann (wie

    Anm. 46), S. 88 f. , 193.

    Ortwin Pelc30

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