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Aus Freude am Lesen

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Aus Freude am Lesen

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Lynn Zapatek putzt im Hotel Eden, und sie putzt gründlich.Wo andere Zimmermädchen nichts mehr sehen, fängt es beiLynn erst an. Immer länger bleibt sie in den Zimmern,gebannt von allem, was sie dort sieht und �ndet. Zunächst istLynn vorsichtig, dann wird sie immer dreister. Sie beschnup-pert nicht nur die fremden Kleider, sie zieht sie auch an. Aneinem Dienstag hört Lynn Schritte auf dem Flur. Sie hört denSchlüssel im Schlüsselloch, und ihr bleibt nur ein einzigerZu�uchtsort: Lynn kriecht unters Bett und verbringt dort dieNacht. Mit dem Gast über ihr. Den anderen auf den Leibrücken, ihrem Leben nachspüren: Lynn weiß schnell, dass siees wieder tun wird, wieder tun muss. Von nun an liegt siejeden Dienstag unter den Betten der Gäste und lauscht aufdas, was über ihr geschieht. »Das Zimmermädchen« istdas intensive Porträt einer eigenwilligen, obsessiven jungenFrau. Es ist die intime Geschichte einer Suchenden, diewissen will, wie den Menschen gelingt, was ihr selbst soschwerfällt – das Leben.

Markus Orths, 1969 in Viersen geboren, lebt in Karlsruhe.Er studierte Philosophie, Romanistik und Englisch. Für seineErzählungen und Romane wurde er mit zahlreichen Preisenund Stipendien ausgezeichnet, unter anderem mit dem openmike (2000), dem Förderpreis des Marburger Literaturpreises(2003), dem Heinrich-Heine-Stipendium (2006) und demWalter-Scott-Preis (2006). Zuletzt erhielt er das Literatur-stipendium des Landes Baden-Württemberg (2008) sowie inKlagenfurt den Telekom-Austria-Preis (2008).

Markus Orths bei btbFluchtversuche. Erzählungen (73799)

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Markus Orths

Das ZimmermädchenRoman

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Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100Das fsc-zerti�zierte Papier Munken Pocket für dieses Buchliefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. Au�ageGenehmigte Taschenbuchausgabe April 2010,btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2008 by Schö�ing & Co.Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main,Lizenzausgabe mit freundlicher GenehmigungUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagfoto: © Ryan McVay / Stone / Getty ImagesDruck und Einband: CPI – Clausen & Bosse, LeckUB · Herstellung: SKPrinted in Germanyisbn 978-3-442-74018-5

www.btb-verlag.de

MixProduktgruppe aus vorbildlich bewirtschaftetenWäldern und anderen kontrollierten Herkünftenwww.fsc.org Zert.-Nr. GFA-COC-001223© 1996 Forest Stewardship Council

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Das Zimmermädchen

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Sie hat die Tür geöffnet und den letzten Schrittgetan. Bleibt noch mal stehen, dreht sich um,

eine Bö bläst Haare ins Gesicht. Das Gebäudeliegt erdrückend dort, obwohl seine Front ausGlas ist. So viel Glas, hat Lynn gedacht, vor sechsMonaten, als sie das Gebäude zum ersten Malsah, so viel Glas und diese aufgeklebten Vogelsil-houetten: Warum nicht Mauer, Stein, Beton?Oder Gitter? Die Bushaltestelle liegt nicht weitentfernt. Ein Taxi wäre um einiges zu teuer. Undjetzt? Sie kennt das Ziel und kennt es nicht. Weiß,was zu tun ist, und weiß es nicht. Folgt dem Weg,der vorgegeben ist. Den Rucksack lässt sie aufden Schultern, muss sich an der Haltestelle aufdie Kante der Bank setzen, weil sonst der Platzim Rücken nicht reicht. Sie schaut auf ihre Turn-schuhe, verfranst, sie hebt den Blick, an der Hal-testelle warten Menschen, die sie nicht kennt.Einer nuckelt ab und zu an einer Zigarette. Ein

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anderer geht im Wiegetritt auf und ab. Alte Fraustudiert Fahrplan im Glaskasten und nutzt Fin-ger als Lesehilfe. An Bushaltestellen hat Lynngern ihr Spiel gespielt: Was wäre, wenn? Hat sichvorgestellt: Was wäre, wenn keiner mich wahr-nähme? Die Menschen sähen nicht an mir vorbei,sie sähen durch mich hindurch. Als existierte ichnicht. Das wäre ebenso schön wie schauerlich.Wenn niemand mich sieht, bin ich zu nichts mehrverpflichtet, wenn niemand mich sieht, gehe ichauf in einer Lösung aus Ruhe und lebe wie unterWasser. Doch wenn niemand mich sieht, bin ichauch nichts mehr, niemand mehr, nur noch Geist,nein, kein Geist, nur noch Stück Luft, das nichtmal mehr wehen kann, auf immer zum Stillstandverdonnert.

Als der Bus kommt, steht sie auf, ihr Rucksackschrammt an der Wand des Häuschens entlang,kaum hörbares Geräusch. In Bussen immer die-ser Gestank von Erbrochenem. Das steckt in denSitzen drin. Das lässt sich nicht rauskriegen. DerBus beschleunigt, eine Landstraße, die Kurve legtsich auf Lynns Magen. Rechts vor ihr liest jemandZeitung. Jede Minute blättert er um, indem er dieHände vor der Nase zusammenführt. Ohne Zei-

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tung sähe das aus wie eine gymnastische Übung.So schnell, denkt Lynn, kann er gar nicht lesen.Lynn hat seit Jahren keine Zeitung mehr ange-fasst, ihr Ekel vor Druckerschwärze ist zu groß.Sie wird allmählich unruhig, als der Bus sich derStadt nähert. Ein Mann, vier Reihen vor ihr,trinkt aus einer Büchse Bier und macht plötzlichohne Grund ein Victory-Zeichen. Aber Lynnschafft es nicht, sich abzulenken. Es nähert sichder Punkt in der Zeit, da sie aufstehen und denBus verlassen und vom Busbahnhof über dieStraße gehen und noch einmal abbiegen und dieHaustür aufschließen und die Treppe hoch-steigen, die Wohnungstür öffnen und ihre Woh-nung betreten muss, in der sie sechs Monate langnicht gewesen ist. Es wird dunkel sein in derWohnung. Dunkel und kalt. Die Rollläden wer-den geschlossen sein. Das war Lynns Schlusstatgewesen vorm Verlassen: Rollläden schließen. Eswird müffeln in der Wohnung. Es wird nachStaub riechen. Nach vertrockneten Pflanzen.Lynn wird niesen müssen. Vielleicht wird eintotes Insekt auf der Fensterbank liegen.

Der Bus biegt in die Remigiusstraße, fährt ander Kirche vorbei. Jeden Sonntag der Sturm der

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Glockenschläge. Jetzt bremst der Bus, ächzt,Lynn ist aufgestanden und zur Tür gegangen,der Bus knickt seitlich in die Knie, während dieTüren aufschmatzen, Lynn ist draußen, dieSonne leuchtet wie ein Spot genau dorthin, woLynn steht, der Rest liegt im Schatten derBäume. Lynn geht gleich los, beobachtet aus denAugenwinkeln ein kleines Mädchen, das inkreuzförmig angelegte Kästchen einen Steinwirft, einbeinig hinhopst und den Stein vomBoden klaubt. Dem Mädchen fallen lange,schwarze Haare ins Gesicht. Dann Hausnum-mer 7, Treppenstufen, Schlüssel, erste Etage,zweite, dritte, vierte, unterm Dach ihre Tür, Lynnöffnet, und alles ist so, wie sie es sich vorgestellthat. Aber Lynn zögert nicht. Es wird eine Seite inihr wach, die sie gut kennt und die sie mag. Lynnratscht Rollläden hoch, öffnet Fenster, lässt Luftherein und putzt, arbeitet ohne Pause, saugt,wischt, moppt, geht in die Knie, liegt auf demBoden, steckt Wedel in Ecken, steigt auf Stühle,wischt hohe Oberflächen, quietscht Fensterlederübers Glas, bringt schaumiges Wasser aus demBad ins Wohnzimmer und dreckiges zurück,schleppt Müllsäcke mit toten Pflanzen runter,

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stopft sie in Tonnen, geht zur Telefonzelle, ruftPizzadienst an, vertilgt hungrig die Pizza, lässtsich in den Sessel fallen, zündet Zigarette an, pafft,betrachtet vom Sessel aus ihr Werk.

Lynn hält die neue Ruhe nicht lange aus, siemuss weiter tun, es gibt noch unendlich viel, sieweiß genau, dass sich nichts geändert hat seitihrem Klinikaufenthalt, sie weiß genau, wie wich-tig es ist, eine Aufgabe zu haben und dass sie Ge-fahr läuft, einen Rückfall zu erleiden, wenn sienichts tut, wenn sie nur rumhängt, wenn die FülleFreizeit sie zum Nachdenken und das Nach-denken sie zum Gefühl der Sinnlosigkeit und dasGefühl der Sinnlosigkeit sie zur Suche nach demReiz und die Suche nach dem Reiz sie zum Ver-botenen treibt, so lange, bis sie nicht mehr anderskann, als loszuziehen und das Verbotene zu tun.Sie muss weiter ins Handeln flüchten, verlässt dieWohnung, die Treppe runter, ihre Turnschuhe hatsie nicht ausgezogen während des Putzens, dieHitze der Füße wird unangenehm, Lynn gehtschnell. Die Welt draußen, hat Lynn gedacht, alssie gestern noch in der Klinik saß und aus demFenster blickte, die Welt draußen, wenn sie michwiederhat, ob sie mich einsaugt und verschluckt,

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so, wie sie es immer getan hat? Ob sich was än-dert? Oder ob alles so weitergeht wie vor dem hal-ben Jahr? Ein halbes Jahr? Als ob das Jahr in derMitte durchtrennt wird, denkt Lynn. Mit einemHackbeil. Halbes Schwein, halbes Jahr. Blutet bei-des, wenn man’s trennt. Blutet auch in mir, wennich dran denke, ans halbe Jahr, man hat alles falschverstanden, man hat vor allem mich falsch verstan-den, als Patient bin ich nur wandelnde Akte, manhört mir nicht zu, es kommt alles daher, dass manmir nicht zuhört, und sage ich etwas, das nicht zuden Akten passt, heißt es gleich, Sie wollen esnicht wahrhaben, Sie wollen es verdrängen, Siewollen sich nicht stellen, Sie müssen den Blickschärfen, das ist nichts Schlimmes, das kriegen wirgeheilt, das hat einen Namen, Sie müssen’s zuge-ben, dazu stehen, es annehmen, und ich sage, dagibt’s nichts anzunehmen, das ist alles anders, alsSie denken, doch sie nicken nur bedächtig undmachen eine Notiz, wahrscheinlich: Widerstand.Aber ich hab ihn aufgegeben, den Widerstand,keinen Zweck, dem zu widerstehen, was man inmir sehen will, Widerstand bröckelt, bricht, Wi-derstand verliert Stand, steht nicht mehr, kommtzum Erliegen, hat sich gelegt, Widerstand liegt.

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Jetzt die Kontoauszüge. Lynn steht in derBank, zückt die Karte, schiebt sie ein, 1006,56Soll. Nichts mehr abhebbar. Keine Arbeit mehr,kein Geld mehr, Mutter will sie nicht fragen,denn die zahlt schon die Miete. Trotzdem zurTelefonzelle.

»Bin wieder zu Hause.«»Schön, dass du anrufst«, sagt Mutter.»Ja.«»Wie geht’s, ich meine, was . . .«»Gut, geht gut.«»Brauchst du was?«»Nein, nichts.«»Besuchst du mich mal?«»Ist ne lange Strecke, keine Ahnung, muss

mich erst wieder eingewöhnen, Arbeit suchen.«»Brauchst du Geld?«»Nein, nein.«»Kommst du klar?«»Und du? Alles in Ordnung?«»Mir geht’s gut so weit.«»Der Garten?«»Ja, das fängt jetzt an.«»Hör zu, ich muss auflegen, hab kein Klein-

geld mehr.«

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»Was ist mit dem Telefon?«»Das geht bald wieder.«»Du kannst ruhig sagen, wenn . . .«»Nein, ist gleich zu Ende, Mutter. Meld mich

am Donnerstag.«»Mach’s noch.«»Mach’s noch.«Immer dieses Mach’s noch, denkt Lynn und

legt auf. Was soll das Mach’s noch? Mach’s gut,müsste es heißen, Mutter sagt immer nur Mach’snoch, und Lynn auch, aber nur zur Mutter.

Und jetzt? Lynn könnte die nächsten Tage ver-suchen, was alle versuchen, könnte ihren Zei-tungsekel überwinden und Zeitungen wälzen,könnte mit Fingerkuppe Stellenanzeigen entlang-fahren, könnte Telefonnummern rausschreibenund von der Telefonzelle aus mit ihren Rest-kröten die Nummern wählen, könnte sich Ab-sagen einhandeln, könnte im Internetcafé surfen,könnte das Arbeitsamt aufsuchen, könnte Aus-hänge machen an den Schwarzen Brettern derStadt, könnte bei der Jobvermittlung vorbeige-hen, könnte dieses oder jenes tun, aber sie weiß,dass es nur Zappeln wäre, sie weiß, dass sie nureine einzige Chance hat: Früher oder später wird

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sie bei Heinz enden, sie wird Heinz aufsuchenmüssen, es ist unausweichlich, es lässt sich nichtumgehen, denkt Lynn. Ihr Entschluss steht fest.Sie zerquetscht die Zigarette.

Lynn weiß genau, was er will. Sie weiß genau,wie er funktioniert. Springt auf gewisse Sprachean, nur diese paar Worte, die sich mit seinerPhantasie decken. Ist nicht allzu schwer. 1748Schritte sind zu setzen. Sie ist den Weg zigmal ge-gangen. Heinz wird zu Hause sein, er wird nichtszu tun haben, er wird sich ausruhen vom Ge-schäftskrieg, er wird vorm Fernseher sitzen, erwird ihr die Tür aufmachen, so viel ist sicher. IhreSchritte fallen kürzer aus. Deswegen sind es mehrals sonst. Jeder Tag ist Verkürzung der Zeit, jederSchritt Verkürzung des Wegs. Noch ist das Lichtnicht ganz vom Himmel verschwunden, nochbleibt ein Dämmer, der alles bedeckt, noch kannnicht von Dunkelheit gesprochen werden, nochsind Leute auf dem Weg, unterwegs, untermWeg. Aber es ist kalt, der Sonne fehlt Kraft. Dieletzte Krümmung, einmal noch über die Schulterschauen, um das Fahrzeugnähern abzuschätzen,einmal die Straße überqueren und nicht unterRäder kommen, einmal Laterne, dann schon sein

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Haus. Es steht einzeln und allein, kein Reihen-haus, Lynn klingelt, das Licht im Flur knipst sichan, Heinz öffnet.

»Du?«»Ich.«Hör zu, es ist vorbei, will er sagen, sie weiß, es

ist schon lange vorbei, ich will nichts von dir,wird sie sagen, nicht das, was du denkst, das ichwill. Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, siedrängt ihn in die Wohnung, in den Flur, sie weißgenau, was sie tun muss, sie weiß genau, was erhören will, sie verwandelt sich in seine Phanta-sien, und gegen seine eigenen Phantasien ist jederMensch machtlos. Gelingt es, die Phantasien zuknacken, dann knackt man den Menschen, undniemand kennt Heinz’ Phantasien besser als sie,Lynn Zapatek. Wenn man eine Blume so schnellzum Wachsen brächte, denkt sie, wie das Halma-Männlein zwischen meinen Lippen. Lynn weiß,dass sie danach schnell verschwinden muss, siedarf ihn nicht mit ihrer Gegenwart belasten, siemuss dafür sorgen, dass sie nur Flüchtigkeitbleibt, Erinnerung, Traum, sie ist schon an derTür und sagt ihm, du weißt, wo du mich findenkannst, und dann ist sie draußen, sie wartet nicht

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ab, ob er noch was sagt und was er sagt, sie denkt,ich hab alles richtig gemacht, ich hab ihm gege-ben, was er haben will, Verfügbarkeit ist das, waser wünscht, er wird sich schon melden, da bin ichmir sicher.

Zu Hause steht Lynn lange im Bad. Vor Spie-geln kommt sie nie zu sich. Hat Spiegel schon im-mer gehasst. Wenn sie vor Spiegeln steht, sieht sienie sich selbst. Sieht nur große Augen, glatteHaut, Haare, die zurückgebunden sind, volleLippen, Schultern und ein paar Muttermale. Werist das?, denkt sie, verlässt das Bad und kramt ausder Handtasche ihren Ausweis. Linda MariaZapatek, liest sie, 1975 geboren, eins fünfund-sechzig groß, Haarfarbe braun, Augenfarbe grün.Das, denkt sie, bin ich?

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Ihr Leben läuft wie am Schnürchen. Lynn stehtauf, am Morgen, putzt sich, dann die Hotel-

zimmer, sie hat den Job bekommen, Heinz hatihn ihr besorgt, und der Therapeut warf ein Wortin den Raum, das alles enthielt: Konfrontations-therapie. Gutachten, Gespräche, Vertrag, Probe-zeit, Kündigung schon beim geringsten Verge-hen. Vergehen, denkt Lynn. Die Zeit begeht jedeMenge Vergehen. Jeder Tag ist ein Vergehen.Und Lynn tut die Dinge gleichmäßig. Gästetoi-letten reinigen, Halle saugen, Putzwagen richten,Bettwäsche wechseln, Betten aufschlagen, Staubwischen, Böden saugen, Bäder säubern, Spiegel,Fliesen, Wannen, loses Toilettenpapier zu Kra-watten knicken, Schokolade auf Kopfkissen le-gen, in der Pause eine Zigarette anzünden undverqualmen lassen, am Fenster stehen, daraufachten, die Fenster nicht anzupacken, keine Fett-flecken auf den Fensterscheiben, kein Asche-

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wind, der ins Zimmer weht, Mülleimer im Bad,Papierkorb im Zimmer, mit der Hand prüfen, obauch von innen sauber, Kampf den aus-gespuckten Kaugummis oder klebrigen Geträn-keresten oder abgebrochenen Bleistiftspitzen,letzter Kontrollblick durchs Zimmer, letzterKontrollgang, keine Putzmittel stehen lassen,keine abgeschraubten Deckel, keinen Lappen ir-gendwo in der Wanne. Lynn hat gelernt, aus denBadetüchern Schwäne zu falten. Bei Gästen, dielänger bleiben, gibt es schon mal Trinkgeld.

Dann Feierabend und Alltagsdinge. Die Stun-den verlaufen sich, die Abende versacken im Sofa,die Nächte sind traumlos. Lynn steht in Ein-kaufshallen und schaut den Menschen zu, dieWägelchen durch Gänge schieben und wissen,was sie zu kaufen haben. Lynn folgt einem vonihnen und nimmt dieselben Packungen aus denRegalen. Fast wie in diesem Film, Nikita. Lynnsteht an der Kasse hinter dem anderen und legtgenau dieselben Dinge aufs Laufband. Meistmerkt es niemand. Doch wenn man es merkt,schaut man misstrauisch. Lynn erfüllt die PflichtNahrungsaufnahme. Sie mag es, die Essensvor-bereitung absichtlich in die Länge zu ziehen.

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Dann tut sie Dinge, die an sich sinnlos sind, gernschält sie Radieschen. Das ist nicht einfach, weildie Radieschen so klein sind. Während Lynn dierote Schale von den Böllchen schnitzt, lächelt sie,weil sie an die Menschen denkt, die Radieschennur waschen und in den Mund stecken, und weilsie denkt, die sehen doch viel schöner aus, dieRadieschen, wenn sie nackt sind, ganz weiß, ganzbloß. Lynn geht spazieren ab und zu, dabei suchtsie Ziele, die alle suchen, Stadtpark zum Beispiel,dreht eine Runde, manchmal auch zwei, jetzt, imFrühjahr, wenn Sonne durchbricht, schwitzt sieleicht, weil sie noch den Mantel trägt und untermMantel einen dicken Pullover. Wenn sie einenStein sieht, der auf dem Weg liegt, handtellergroß,hebt sie ihn auf, nimmt ihn mit und wirft ihn inden Teich, der nicht viel Wasser führt im Augen-blick. Sie verfolgt die Kreise und freut sich, wennder größte von ihnen erst am Ufer zerbricht.

Abends schaut Lynn in den Fernseher. Sie leihtFilme aus, gern sieht sie Modern Times, Schafe,Menschen, Schafe, denkt Lynn, kommen nichtungeschoren davon, sie lässt die dvd aus demSchlitz gleiten und bringt den Film noch am sel-ben Abend zurück. So spart sie eins fünfzig.

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Draußen wird es nur langsam wärmer. DieNacht atmet flach. Manchmal sitzt sie auch nurda und lässt den Film vom dvd-Player fressen.Dann schaut sie aus den Augenwinkeln zu. Hörtnicht auf Worte. Weiß nicht, worum es geht. Al-lenfalls Kleinigkeiten springen ihr ab und zu insAuge. Wenn jemand eine Fluse wegbläst oderihm Haare in die Stirn fallen, oder wenn Lynn amBildrand etwas sieht, über das sie nachdenkenkann, ein Requisit, das scheinbar achtlos dorthingestellt wurde, die Kamera hält es nicht mal fürnötig, länger drauf zu verweilen, sie schwenktnur drüber weg, ein Tischfußballspiel, nicht auf-gebaut, hinter die Tür gelehnt, eine rosa Schleifeum den Henkel eines Mülleimers, ein umge-kipptes, trockenes Tintenfass, ein Parka an derGarderobe, eine eingeritzte Liebeserklärung imBaum, unlesbar, eine Schaukel im Hintergrund,die sich noch leise bewegt, als wäre gerade einKind abgesprungen und vom Spielplatz fortge-rannt, kurz bevor die Schauspieler an der Schau-kel vorbeigingen, und statt dem Film zu folgen,fragt sich Lynn, was für ein Kind könnte dort ge-schaukelt haben, und warum ist es so schnellfortgerannt, und hatte es Angst?

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Den Schlaf lässt Lynn über sich ergehen.Nächte sind neutral. Sie stellen keine Bedrohungdar. Auch keine Erleichterung. Nächte verschlu-cken mich, denkt Lynn, morgens werde ich ausge-spuckt. Heinz hat Lynn einen Vorschuss gegeben,die Rechnungen sind bezahlt, das Telefon gehtwieder. Lynn ruft ihre Mutter jeden Donnerstagan. Sie besucht sie aber nicht. Allein die Hinfahrtwürde vier Stunden dauern. Der Therapeut, sagtLynn der Mutter, hat es verboten, eine so langeReise. Die Mutter murmelt etwas, das Lynn nichtversteht, nichts Böses, nur Trauriges, denktLynn. Und der Therapeut nickt zu oft. JedenFreitag sucht Lynn ihn auf. Das ständige Nickenstört sie. Manchmal sagt Lynn absichtlich Dinge,die, wie sie denkt, nicht von einem Nicken be-gleitet werden können, trotzdem nickt derTherapeut. Das treibt sie regelmäßig auf diePalme. Lynn reißt sich am Riemen, und oftschaut sie ihn gar nicht an, den Therapeuten, aberdann denkt sie wieder, wenn ich schamvoll zuBoden blicke, zieht er die falschen Schlüsse. Lynnbekommt Tabletten, nimmt sie aber nicht oderselten. Einmal ist sie etwas lauter geworden, hö-ren Sie auf, hat Lynn gerufen, hören Sie endlich

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auf zu nicken. Aber der Therapeut hat nur gesagt,das ist gut, das ist gut, lassen Sie es raus, und dabeihat er immer wieder genickt. Jeden Freitag derTherapeut. Jeden Mittwoch ihr freier Tag. JedenDonnerstag der Anruf bei Mutter, immer amDonnerstag um halb acht abends vor der Tages-schau. Ihre Mutter hat ihr Leben lang um acht dieTagesschau gesehen, es ist kein Tag vergangen,ohne den Acht-Uhr-Gong aus dem Wohnzim-mer. Jeden Montag das Treffen mit Heinz, zwi-schen ein und zwei Uhr, ihr Eintrittspreis für dieShow der Normalität. Lynn sprüht Kalkent-ferner auf Toilettenränder, muss das Mittel ver-reiben, verstreichen, denkt sie, verstreichen wieStunden.

Und es beginnt schleichend.Lynn bleibt immer länger bei der Arbeit. In der

Arbeit kann sie sich verstecken wie in einerHöhle. Niemand sieht sie. Lynn putzt nicht nur,sie putzt gründlich. Wo andere Zimmermädchennichts mehr sehen, fängt es bei Lynn erst an. Derschwache Abdruck auf dem kleinen Holztischstammt von einer Wasserglasunterseite, ein Ab-druck, der nur zu erkennen ist, wenn man sichbückt und ein Auge zusammenkneift: Lynn greift

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Markus Orths

Das ZimmermädchenRoman

Taschenbuch, Broschur, 144 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-74018-5

btb

Erscheinungstermin: März 2010

Über die Sehnsucht nach einem anderen Leben Lynn putzt im Hotel Eden, und sie putzt gründlich. Immer länger bleibt sie in den Zimmern,gebannt von allem, was sie dort findet: Zettel, Bücher, Kulturbeutel. Zunächst ist Lynn vorsichtig,dann wird sie immer dreister. An einem Dienstag hört sie Schritte auf dem Flur und weiß sofort,sie werden haltmachen vor dem Zimmer, in dem sie längst nicht mehr stehen darf. Ihr bleibtnur ein Zufluchtsort: Lynn kriecht unters Bett und verbringt dort die Nacht. Mit dem Gast überihr. Von nun an liegt sie jeden Dienstag unter den Betten der Gäste. Den Menschen nah undzugleich fern, wie unsichtbar. 2008 beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet.