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Impulse: Sekundarstufe l Lesekompetenz Behörde für Bildung und Sport

PDF Lesekompetenz Sekundarstufe i

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  • Impulse: Sekundarstufe l

    Lesekompetenz

    Behrde frBildung und Sport

  • 3Inhaltsverzeichnis

    Astrid Mller Was wissen wir ber das Lesenlernen? ...................................... 4

    Mechthild Dehn Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule .......................... 8

    Helga Gravert-Gtter Lesefrderung als Aufgabe der Schule ...................................... 15

    Helga Gravert-Gtter Zum Lesen motivieren .............................................................. 17

    Astrid Mller Voneinander lernen geht das auch beim Lesenlernen? ......... 21

    Astrid Mller/ Verstehenshorizonte nutzen .................................................... 27Ingrid Rbbelen

    Wiebke Hoffmann Sachrechnen eine Unterrichtseinheit fr den Jahrgang 5 ....... 31

    Andreas Busse Lesekompetenz im Mathematikunterricht ................................ 35

    Insa Zahrt Lesen ben mit der Lesekiste ..................................................... 41

    Martina Burkhard/ Die Rolle der Familie beim Lesenlernen .................................... 45Manuela Mattwig

    Margarete Benzing/ Leselust statt Lesefrust bei Jungen ........................................ 51Uta Brose Was kann die Schule, was knnen Lehrerinnen und Lehrer dafr tun?

    Helga Gravert-Gtter/ Lesen beobachten in den Klassen 5 bis 7 .................................. 57Astrid Mller

  • 3LI-Impulse: Lesekompetenz Sek IVorwort

    Die Fhigkeit zu lesen ist im Schulleben eines Kindes von so einzigartiger Bedeutung, dass die Er-fahrung, die es dabei macht, oft ein fr allemal sein Schicksal in Bezug auf seine Schullaufbahn be-siegelt ... Macht ihm das Lesen Spa, dann ist alles gut. Wenn es dagegen nicht richtig lesen lernt, sind die Folgen gewhnlich nicht wieder gut zu machen.

    Diese These des amerikanischen Kinderpsychologen Bruno Bettelheim in seinem Buch Kinder brauchen Bcher (Stuttgart 1982) ist inzwischen vielfltig verifiziert. Laut PISA lesen 40 Prozent unserer 15-Jhrigen nach eigenen Angaben freiwillig und aus Vergngen gar nichts mehr. Bei ber der Hlfte von ihnen, der sogenannten Risikogruppe, kennen wir auch den banalen Grund: Sie kn-nen nicht oder kaum sinnentnehmend lesen.

    Seit die entsprechenden LAU- und PISA-Ergebnisse an die Schulen zurckgespiegelt wurden, hat das Thema Lesekompetenz in der Hamburger Schullandschaft insbesondere in den Grundschu-len vielfltige Aktivitten ausgelst bzw. verstrkt: schulinterne Kooperationen, gut angenomme-ne Fortbildungsangebote, Hospitationsreihen der Schulaufsicht, Verffentlichungen guter Praxis-beispiele (z.B. LI-Impulse Lesekompetenz in der Grundschule, Schwerpunkt LESEN! in HAMBURG MACHT SCHULE 1/2004).

    Zielgruppe der vorliegenden Publikation sind nun Lehrerinnen und Lehrer aller Fcher und Schul-formen der Sekundarstufe I. Das Heft enthlt sowohl Beitrge, die einen knappen theoretischen berblick geben als auch unterrichtspraktische Anregungen. Diese Beitrge thematisieren zwar be-sonders die Arbeit in den Fchern Deutsch und Mathematik, es gibt jedoch in den Hamburger Schu-len bereits vielfltige Erfahrungen, wie man solche Verfahren wie die Verstehenshorizonte und das reziproke Lehren und Lernen im Unterricht anderer Fcher (z.B. Politik, Geschichte, Geogra-phie, Physik) einsetzen kann. Bei beiden Verfahren spielt das Lesenlernen in dialogischen Lernfor-men eine entscheidende Rolle. Wir wissen aus der Leseforschung, dass das Lernen von Experten und das Lernen in kooperativen Lernformen eine wichtige Funktion fr die Lesefrderung haben.

    Einen besonderen Akzent markieren die Texte, die sich mit der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule beschftigen bzw. geschlechtsspezifische Aspekte dieser Zusammenarbeit thematisieren (Leselust statt Lesefrust ...).

    Ein Beispiel dafr, wie man das Lesen beobachten kann, bietet der Beitrag von H. Gravert-Gt-ter und A. Mller. Eine ausfhrliche Hinwendung zu diesem Thema findet sich in dem PRAXIS DEUTSCH-Heft Lesen beobachten und frdern (November 2005).

    Ich danke ganz herzlich Helga Gravert-Gtter und Astrid Mller, den Herausgeberinnen dieses Hef-tes, und den Autorinnen und dem Autor. Sie wrden sich besonders freuen, wenn ihre Texte Anlsse bten, die Zusammenarbeit von Kolleginnen und Kollegen und auch von Eltern einer Schule beim Thema Lesefrderung anzuregen und zu untersttzen. Vielleicht knnte es dann sogar gelingen, dass aus der neidvollen Klage von Kurt Tucholsky: Der Leser hat es gut, er kann sich seine Schrift-steller aussuchen, ein Leseanreiz wrde auch fr unsere 15-Jhrigen.

    Peter DaschnerDirektor des Landesinstituts

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    Forschungen zum Leseunterricht und seiner Verbesserung gibt es seit ber 100 Jahren. Aber erst in den letzten Jahren ist das Interesse an diesem Lern- und Forschungsbereich derart ge-wachsen, dass sich nicht nur Lehrende und For-schende, die mit dem Fach Deutsch zu tun ha-ben, mit dem Lesenlernen beschftigen, son-dern dass die Lesekompetenz zu einer wichtigen Gre im internationalen Vergleich nicht nur der Bildungssysteme geworden ist. Die groen empirischen Untersuchungen zu Schlerleistun-gen (PISA und IGLU) haben sicher entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen. Diesen Stu-dien, aber natrlich auch anderen Forschungen, verdanken wir eine gute theoretische Basis, um das zu beschreiben, was wir Lesekompetenz nennen und um zu zeigen, wie sich Lesekompe-tenz entwickeln kann. Auf grundlegende Ergeb-nisse und wichtige Anstze zu diesem Bereich wollen wir im Folgenden thesenartig noch ein-mal verweisen.

    1. Lesen als Leser-Text-InteraktionLesen wird verstanden als Interaktion zwischen Leser und Text: Texte und Leser verndern sich durch das Lesen. Das ist immer besonders dann zu merken, wenn wir dieselben Texte in unter-schiedlichen Zusammenhngen und zu ver-schiedenen Zeiten lesen.

    Man geht heute davon aus, dass beim Le-sen zwei Verarbeitungsrichtungen (siehe Ta-belle 1) interagieren. Bis heute ist ungeklrt, in

    Astrid Mller

    Was wissen wir ber das Lesenlernen?

    welchem Verhltnis beide Verarbeitungsrich-tungen zueinander stehen. Es ist anzunehmen, dass sie je nach Textschwierigkeit und Vorwis-sen unterschiedlich zusammenwirken. Kompe-tente Leser scheinen sich jedoch dadurch auszu-zeichnen, dass sie beide Verarbeitungsstrategien flexibel und zielorientiert einsetzen knnen.

    2. Wichtige Komponenten im LeseprozessAls wichtige Komponenten fr kognitive Verar-beitungsprozesse und die Weiterarbeit mit den Rezeptionsergebnissen werden in der Forschung das Ziel der Rezeption, die Erwartungen und Inte-ressen des Lesers und die spezifischen Textqualit-ten (wie z.B. inhaltliche Strukturierung und Or-ganisation von Informationen) angesehen. Da-neben kommt dem thematischen (Vor)Wissen als Grundlage fr kognitive Prozesse des Text-verstehens und verarbeitens eine nicht zu un-terschtzende Bedeutung zu: Ausgeprgtes Vor-wissen kann die Effekte mangelnder Fhigkeit bzw. Intelligenz bezglich des Textverstehens kompensieren (Schiefele 1996, 119). Themen-bezogenes Vorwissen frdert die Bildung von Inferenzen, hilft dem Lesenden, seine Aufmerk-samkeit auf wichtige Textinformationen zu len-ken und kann als Strukturierungshilfe beim Er-innern dienen (vgl. Schiefele 1996, 119). Vor-wissen ermglicht den Auf- und Ausbau einer kognitiven Struktur, da neue Informationen in vorhandene Wissensstrukturen integriert wer-den mssen. Je reichhaltiger die Vorwissensbasis ist, umso leichter ist in der Regel die Aufnahme, Verarbeitung, Weiterverwendung von neuen In-formationen, da zum einen die Aufmerksam-keitssteuerung bei der Informationsentnahme durch das Vorwissen erfolgt und zum anderen neue Informationen besser in einer gut struktu-rierten, hierarchisch geordneten Basis verankert werden knnen.

    Aber auch Wissen ber die Bedeutung von Wrtern (so genanntes Wortschatzwissen) hatsich als verstehensfrdernd erwiesen (vgl. Schie-fele 1996, 120). Im Gedchtnis knnen auf der Grundlage guter Wortschatzkenntnisse sehr schnell Begriffe abgefragt und Beziehungen zwi-schen Begriffen erklrt werden.

    Als verstehens- und behaltensfrdernd haben sich Texte mittlerer Schwierigkeitsgrade (Heck-hausen 1972, Rheinberg 2002) erwiesen: Der Arbeitscharakter des Lesens muss zu jeder Zeit fr den Rezipienten gegeben sein, da die fr das Verstehen und Behalten wichtige Integration von Vorwissen und Textinhalten nicht erfolgt, wenn das Lesen zu mhelos ist und keine An-forderungen an die Rezipient/innen mehr stellt (Christmann/Groeben 2002, 156).

    bottom-up (textgeleitet)

    Lesende erfassen einen Text von unten nach oben, beginnend mit den Elementareinheiten, also ber Buchstaben zu Wrtern zu Stzen zu Abstzen usw. Strategie des Erlesens. (Ein Schler las z.B. anstelle von Papyrus-staude Papyruss-tade. Da ihm das Wort unbekannt war, musste er sich auf die Strategiedes Erlesens konzentrieren. Bemer-kenswert ist, dass er in dieser Ver-lesung die Silbenstrukturgesetze deutscher Wrter eingesetzt hat, um zu einer Lsung zu gelangen.)

    top-down (wissensgeleitet)

    Lesende gehen auf der Grundlage von einzelnen Buchstaben, Wrtern,Einheiten von Vorwissen aus, auf dessen Basis Hypothesen ber den zu erwartenden Inhalt aufgestellt werden, Strategie des Erahnens.(Ein Schler las in einem Text ber den Staudamm am Nil anstelle von berflutung berflussung und zeigte mit dieser Wortneuschp-fung, dass er Textsinn konstruieren konnte, denn die Verlesung gibt den Aussagekern sehr genau wie-der.)

    Tabelle 1: Zwei Verarbeitungsrichtungen beim Verstehen:

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    3. Der Weg von der Mikrostruktur zur Makro-struktur beim LesenAus der Perspektive der kognitiv- und prozessori-entierten Verstehenspsychologie wird Verstehen als Makrostrukturbildung verstanden:

    Satz-bergreifende

    Integration von Stzen zu

    Bedeutungseinheiten

    Herstellung semantischer und syntaktischer

    Relationen zwischen Stzen

    Erkennen von Buchstaben und Wrtern

    Erfassung von Wortbedeutungen

    Schon auf Wortebene knnen sich Lesepro-bleme wie an der Verlesung Papyrus-staude gezeigt wurde ergeben. Wir wissen, dass erfahre-ne Leser die Probleme auf der Wortschatzebene ausgleichen knnen, indem sie den Textzusam-menhang beachten und auf dieser Grundlage durch Inferenzbildung Hypothesen ber den In-halt des zu erschlieenden Wortes bilden. Das heit, dass Wortschatzerweiterung allein kein Weg ist, um die Verstehensprobleme auf dieser Ebene zu lsen, sondern dass es ebenso wich-tig ist, den Kontext heranzuziehen (mgliche Impulse: berprfe, ob du im Text eine Erkl-rung fr das unbekannte Wort findest. berle-ge, ob du dir das Wort aus dem Sinn des Satzes oder Abschnittes erschlieen kannst. berpr-fe, ob du das Wort unbedingt brauchst, um den Sinn zu verstehen. Wenn nicht berlies es.). Damit wird bereits die zweite Ebene, das Her-stellen semantischer und syntaktischer Relati-onen, fr das Verstehen herangezogen. Fehlen-des textstrukturelles Wissen erweist sich hier als eine Hauptschwierigkeit, sodass Relatio-nen (z.B. kausale, konditionale, modale) zwi-schen Aussagen nicht erkannt werden knnen. Darber hinaus ist das Erkennen von Ober- und Unterbegriffsrelationen schwierig, sodass hufig das Einzelne oder Besondere nicht vom Allgemeinen unterschieden werden kann. Auf dieser textuellen Grundlage und auf der Basis des Vorwissens knnen kompetente Leser zur Makrostruktur des Textes vordringen. Von einer Makrostruktur sprechen wir dann, wenn durch solche Makroregeln wie Auslassen, Integrieren oder Generalisieren das globale Textthema zu-sammengefasst wurde.

    Die Darstellung der Abbildung darf nicht als ein hierarchisches Modell verstanden werden. Vielmehr gehen wir heute davon aus, dass Lesen ein interaktiver Prozess ist, in dem Mikroprozes-se auf Wort- und Satzebene, integrative Prozes-se (auf der Ebene eines Absatzes bzw. des ganzen Textes) mit elaborativen Prozessen (die auf der Grundlage von inhaltlichem und textstrukturel-lem Wissen mglich sind) so interagieren, dass Verstehen berhaupt mglich wird.

    Darber hinaus wissen wir heute um die Bedeutung von Lern- und Lesestrategien (vgl. Christmann/Groeben 1999, Artelt 2004).

    Eines der wesentlichen Ergebnisse der PISA-Studie besteht in der begrifflichen Klrung von Lesekompetenz. Darunter verstehen die PISA-Autoren die Fhigkeit, geschriebene Texte un-terschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu ver-stehen und in einen greren Zusammenhang einordnen zu knnen, sowie in der Lage zu sein, Texte fr verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen. Nach diesem Verstndnis ist Lesekompe-tenz nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel fr das Erreichen persnlicher Ziele, sondern eine Be-dingung fr die Weiterentwicklung der eigenen Fhigkeiten also jeder Art selbststndigen Ler-nens und eine Voraussetzung fr die Teilnah-me am gesellschaftlichen Leben. (Deutsches PISA-Konsortium 2001)

    Des Weiteren werden in der Studie drei Aspek-te der Lesekompetenz (Subskalen) unterschie-den, die sich in den fnf Stufen der Lesekompe-tenz wiederfinden. Informationen ermitteln Textbezogenes Interpretieren Reflektieren und Bewerten

    Teil 1: Was wissen wir ber das Lesenlernen?

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    Teil 1: Was wissen wir ber das Lesenlernen?

    Die in PISA zu unterscheidenden fnf Stufen der Lesekompetenz beschreiben die Fhigkeit, Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade lsen zu knnen. Der Schwierigkeitsgrad ist da-bei unter anderem bestimmt durch die Komple-xitt eines Textes und die Vertrautheit mit dem Kontext. Die Unterscheidung zwischen primr text-basierten bzw. wissensbasierten Verstehensleis-tungen ist besonders fr das Verstndnis von Anforderungen von Aufgaben zu Texten wich-tig. Es lassen sich, wie in Tabelle 2 deutlich wird, vier Aspekte der Verstehensleistung unterschei-den (vgl. Bos u.a. 2003):

    4. Was macht Lesenlernen so schwer?Um Unterschiede in der Lesekompetenz und beim Lernen aus Texten zu erklren, sind die

    Abbildung 2: Theoretische Struktur der Lesekompetenz in PISA

    Lesekompetenz

    Primr textinterne Informationen

    nutzen

    Externes Wissen

    heranziehen

    Text als Ganzes

    betrachten

    Sich auf bestimmte Textteile

    konzentrieren

    Unabhngige Einzel-

    informationen

    Ein allgemeines Verstndnis des

    Textes entwickeln

    Informationen ermitteln

    Beziehungen verstehen

    Eine textbezogene Interpretation

    entwickeln

    Inhalt Struktur

    ber die Form des Textes reflektieren

    ber den Inhalt des Textes reflektieren

    Faktoren Arbeitszeitgedchtniskapazitt, Intelli-genz, strategiebezogenes metakognitives Wissen und bereichsspezifisches Vorwissen von beson-derer Bedeutung. Gute und schwache Leser un-terscheiden sich darber hinaus bezglich der Dekodierfhigkeit, der verwendeten Lernstrate-gien, des verbalen Selbstkonzepts und der Lese-motivation (vgl. Streblow 2004, 278).Darber hinaus fllt es schwachen Lesern hu-fig schwer: syntaktische Regeln zu nutzen, um Stze in ihre grammatischen Einheiten zu gliedern und um die Beziehungen zwischen diesen Einheiten zu bestimmen die relative Bedeutung von Informationen in einem Text auszumachen, zu verwerten und Unstimmigkeiten oder undurchsichtige Stellen zu klren

    (nach Bos u.a., 2003)

    Informationen finden + wiedergeben

    Informationen sind explizit im Text genannt; je nach Aufgabe sind sie unterschiedlich schwer zu finden.

    Einfache Schluss-folgerungen ziehen

    Informationen sind immanent enthalten. Um sie zu erschlieen, mssen Inferenzen auf lokaler oder globaler Ebene gebildet werden.

    Komplexe Schluss-folgerungen ziehen

    Informationen sind nur mit externem Wissen durch Interpretieren zu erschlieen. Es kann Vorwissen oder Wissen aus anderen Quellen herangezogen werden.

    Kritisch prfen und bewerten

    Es ist Wissen ber Form und Inhalt erforderlich, um Textaussagen und qualitt zu reflektieren.

    Tabelle 2: Vier Aspekte der Verstehensleistung

    Primr textbasiert Wissensbasiert

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    Literatur:Artelt, Cordula 2004. Zur Bedeutung von Lernstrategien beim Textverstehen. In: Juliane Kster/Will Ltgert/Jrgen Creutzberg, hg.: Aufgabenkultur und Lesekompetenz. Deutschdidaktische Positionen. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 6075

    Blatt, Inge 2005. Konzept zur Frderung der Lesekompetenz. Hamburg. Manusskriptdruck

    Bos, Wilfried u.a. (Hg.) (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU. Schlerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Mnster u.a.: Waxmann

    Christmann, Ursula/Groeben, Norbert (2002): Anforderungen und Einflussfaktoren bei Sach- und Informationstexten. In: Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina (Hg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim und Mnchen, 173156, 150

    Christmann, Ursula/Groeben, Norbert (1999): Psychologie des Lesens. In: Franzmann, Bodo u. a. (Hg.): Handbuch Lesen. Mnchen, 145223

    Dehn, Mechthild (1990): Die Zugriffsweisen fortgeschrittener und langsamer Lese- und Schreibanfnger: Kritik am Konzept der Entwicklungsstufen? In: Muttersprache. 100

    Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) (2001): Pisa 2000. Basiskompetenzen von Schlerinnen und Schlern im internationalen Vergleich. Opladen

    Reitsma, Pieter (1995): Frderung des Textverstehens bei Kindern mit Leseschwierigkeiten. In: Brgelmann, Hans/Balhorn, Heiko/Fssenich, Iris (Hg.): Am Rande der Schrift. Zwischen Sprachenvielfalt und Analphabetismus. Lengwil, S. 160172

    Rosebrock, Cornelia 2004. Lesewelten von HauptschulabsolventInnen. In: Pieper, Irene, Rosebrock, Cornelia, Wirthwein, Heike, Volt, Steffen: Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten. Lektre und Mediengebrauch von Hauptschlern. Weinheim und Mnchen: Juventa, S. 927

    Schiefele, Ulrich (1996): Motivation und Lernen mit Texten. Gttingen

    Schmid-Barkow, Ingrid (2002): Bemerksamswerte verschmurmelte Artegenossen. Eine empirische Studie zur Diagnose von Lesestrategien und Leseschwierigkeiten bei Hauptschlern und Haupt-schlerinnen. In: Kammler, Clemens/Knapp, Werner (Hg.): Empirische Unterrichtsforschung und Deutschdidaktik. Baltmannsweiler, S.170185

    Streblow, Lilian (2004): Zur Frderung der Lesekompetenz. In: Schiefele u.a. (Hg.): Struktur, Ent-wicklung und Frderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden, S. 275306

    Wygotski, Lew S. (1934/1986): Denken und Sprechen. Frankfurt a. M.

    Hinweise aus dem Textzusammenhang zu nutzen, um Wrter zu erkennen oder vor- herzusagen, selektiv die Aufmerksamkeit auf wesentliche Gedanken in einem Text zu richten, berschriften und Untertitel zu nutzen, Schlsse zu ziehen (vgl. Reitsma 1995).

    Ingrid Schmid-Barkow (2002) stellt im Kontext von Leseverstndnisschwierigkeiten vor allem die folgenden drei Aspekte als problematisch fr schwache Leser beim Verstehen heraus: die Fhigkeit zur Bildung von Inferenzen, das Verstehen von Textstrukturen und das berprfen des eigenen Verstndnisses. Die Grnde fr diese Schwierigkeiten sind si-cher vielfltig. So verfgen weniger versierte Leserinnen und Leser ber andere konzeptuelle Vorstellungen vom Lesen als versierte Leser. Fr erstere ist Lesen eher Dekodieren denn eine sinn-stiftende Aktivitt. Sie knnen weniger bewusst eigene kognitive Fhigkeiten einschtzen und

    zur Problemlsung heranziehen (vgl. Christ-mann & Groeben 1999, 200 Rosebrock 2004). Darber hinaus bestehen Unterschiede zwi-schen guten und schwachen Leseanfngern u.a. in der Stringenz ihres Vorgehens und der Flexi-bilitt, mit der sie Hilfen annehmen knnen, ihrer Fhigkeit, verschiedene Zugriffsweisen zu integrieren und nicht zuletzt in ihrem Zutrau-en in die eigene Leistungsfhigkeit (vgl. Dehn 1990, 311).

    Die Autoren der PISA-Studie stellen zu diesem Problembereich fest: Schlechte Leser scheinen nicht zu merken, wenn sie etwas nicht verste-hen. Gute Leser hingegen gehen eher strategisch vor, indem sie zum Beispiel den Kontext heran-ziehen, um sich die Bedeutung zu erschlieen, aktiv das Gedchtnis nach relevantem Vorwis-sen absuchen und/oder versuchen, Zusammen-hnge zwischen verschiedenen Textteilen her-zustellen. (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 76)

    Teil 1: Was wissen wir ber das Lesenlernen?

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    Mechthild Dehn

    Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

    Was haben Sie in der letzten Woche gelesen? Welche Medien haben Sie dabei genutzt?

    Geschichten lesen wir in Bchern und Zeit-schriften, vielleicht auch im Internet. Wir h-ren sie im Radio oder als Hrbuch auf CD. Aber unser Bedrfnis nach Geschichten ist damit zu-meist noch nicht gestillt. Geschichten begegnen uns auch als Bilder, als bewegte Bilder vor allem. Im Film, im Fernsehen, im Video, als DVD oder vielleicht auch als Computerspiel.

    Informationen lesen wir in Zeitungen und Zeit-schriften, in Sach- und Fachbchern. Wir hren sie im Radio, sehen sie auch als Dokumentati-onen und Nachrichten im Fernsehen, suchen nach ihnen im Internet.

    Sicher bestehen bei Erwachsenen wie bei Ju-gendlichen groe Unterschiede in Art und Um-fang von Lektre und Mediengebrauch sie sind individuell bestimmt und sie sind bedingt durch Geschlechtszugehrigkeit, Altersgruppe und Bil-dungsgrad. Dem Bild von der ausgedehnten Buch-Lektre, das manchen Zielvorstellungen von Lesefrderung in der Schule zugrunde liegt, entspricht selbst der Mediengebrauch von uns Lehrenden nicht.

    Wir knnen festhalten:1. Lektre ist nicht auf Printmedien beschrnkt.2. Geschichten und Informationen sind uns nicht nur durch das Lesen zugnglich, son- dern auch durch Hren und Sehen.

    Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass die Art, wie audiovisuelle und neue Medien ge-braucht werden, in hohem Mae von der Lese-fhigkeit bestimmt ist (vgl. Bertschi-Kaufmann u.a. 2004; vgl. auch Hurrelmann 2003) und dass umgekehrt die Art des Mediengebrauchs das Le-sen befrdert (s. unten). Lesekompetenz wird nicht mehr als Gegensatz zur Medienkompetenz verstanden, sondern als Teil der Medienkompe-tenz (Hurrelmann 2002 a, S.127).

    Warum Lesen wichtig istLesen im umfassenden Verstndnis des Begriffs stellt eine kulturelle Ttigkeit dar. Ich mchte es unter zwei Aspekten betrachten: Literalitt und Literaritt (vgl. Dehn 1999). Die beiden Aspekte erhellen die groe kognitive Bedeutung des Le-sens und seine Verbindung zum Hren und Se-hen, also auch die zum Mediengebrauch.

    Literalitt, Schriftlichkeit, ist der Gegenbegriff zu Oralitt, zu Mndlichkeit. Mit der Erfindung der Schriftzeichen, in unserem Kulturkreis der Buchstaben des Alphabets, ist es mglich, sich vom Gegenstand des Sprechens (und Hrens) zu distanzieren, Autonomie zu gewinnen, weil das Gemeinte nicht mehr flchtig, sondern fixiert ist und damit im wrtlichen Sinn handhabbar wird. Es kann neu gegliedert, umgestellt, berar-beitet werden. Das setzt voraus, dass die Zeichen und der Zeichengebrauch normiert sind (s. Or-thografie). Die Aneignung dieses Normsystems ist zwar fr das Gedchtnis nicht so anspruchs-voll wie die von Begriffsschriften, aber doch sehr komplex. Lesen befrdert eine Haltung, die von der momentanen Situation abstrahieren und (durch wiederholtes Lesen) ber das Verstande-ne verfgen kann kognitiv ist das ein gewalti-ger Zugewinn.

    Der Begriff Literaritt ist auf die Inhalte, auf Texte bezogen. Der einzelne Text ist immer ein Text zwischen Texten. Von der Literaritt her gibt es flieende bergnge zum Mndlichen, zum Erzhlen zum Beispiel, vor allem auch zum Vi-suellen. Dieser Aspekt des Lesens betrifft das Ver-hltnis von Selbst und Welt. Beim Lesen und Zu-hren, beim Anschauen von Bildern (bewegten und unbewegten) stellen wir uns vor, was wir lesen, wir erinnern dabei Momente unserer Le-benswelt, erweitern unser Wissen und gewinnen so ebenfalls Abstand zur momentanen Situati-on. Das gilt fr Geschichten und fr Sachtexte. Indem wir ber andere und anderes etwas erfah-ren, erweitern wir die Mglichkeiten, unsere ei-gene Situation zu verstehen, Sinnzusammen-hnge zu erproben.

    Literaritt ist also nicht an Schrift gebunden. Zugnge zu Geschichten und zu Informationen gibt es auch ohne Schrift. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt fr Lesefrderung: Dass es ge-lingt, nicht das Trennende zu betonen (die Un-terschiede im Beherrschen der literalen Norm), sondern immer wieder anzuknpfen an kultu-reller Teilhabe. Alle Jugendlichen kennen Ge-schichten. Aufgabe der Schule ist es, ein Be-wusstsein zu schaffen fr die Vertrautheit von Bedeutungsmustern in Geschichten (der Sieg des Guten; die Suche nach ; Trennung und Wiederfinden) und fr die Verbindung von

    Lesen als kulturelle Ttigkeit

    LiteralittBuchstabe

    LiterarittIntertextualitt

    Autonomie Norm

    bergnge: zur Oralitt zum Erzhlen zum Bildsehen

    Selbst Welt

    Gegenbegriff: Oralitt

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    Lesen, Sehen und Hren beim Mediengebrauch und sich ber die Erfahrungen dabei auszutau-schen, sie zu bearbeiten, im Gesprch, beim Schreiben und auch multimedial. Das gilt fr Geschichten wie fr Informationen.

    Lesen als ProblemlsenLesen als Problemlsen betrifft den Aspekt der Literalitt. Lesen als Problemlsen steht seit PISA und IGLU im Vordergrund der Diskussion (vgl. dazu schon May 1986).

    Ein Problem in diesem Sinn stellt im Un-terschied zu Aufgaben, die sich als Routine l-sen lassen eine Barriere zwischen einem Aus-gangszustand (dem Geschriebenen) und dem Zielzustand (dem Verstehen des Geschriebe-nen) dar. Fr Lesegebte ist Lesen in der Regel nur eine Routine, kein Problem. Manchmal al-lerdings, wenn die Komplexitt des Textes so hoch ist, dass die Beziehung zwischen den Text-elementen fr den Leser unklar und eine Lese-haltung schwer zu gewinnen ist, kann es dazu werden; bei moderner Literatur zum Beispiel, aber auch bei Fachtexten. Manchmal trifft das auch schon auf einzelne Wrter zu, zum Beispiel bei Inhaltsangaben von Medikamenten. Fr Le-seanfnger (und gelegentlich auch fr -gebte) ist das Lesen ein Problemlsevorgang, wenn sie zwar die Buchstaben benennen knnen, aber nicht wissen, wie sie zu verknpfen sind, wie das Geschriebene zu strukturieren ist (s. das Bei-spiel Papyruss-taude in dem Beitrag von Astrid Mller).

    Wichtig fr Problemlsen ist, die Schwierig-keit der Aufgabe einschtzen und entsprechend Hilfestellungen und Informationen einholen zu knnen. Voraussetzung dafr ist, zu unter-scheiden zwischen dem, was bereits bekannt, und dem, was noch unverstndlich ist (vgl. dazu die Verstehenshorizonte in dem Beitrag von Astrid Mller und Ingrid Rbbelen: Das war neu fr mich. Das wusste ich schon. Das verste-he ich nicht. Das mchte ich fragen. ). Ein solches Wissen ber effektive Lernstrategien hat sich als der beste Prdiktor der Lesekompetenz erwiesen (Baumert u.a. 2001, S. 296). Je bes-ser Schlerinnen und Schler einschtzen kn-nen, worin die Schwierigkeit von Aufgaben und Anforderungen besteht, desto eher knnen sie ihr Vorgehen auf diese Besonderheiten abstim-men (ebd.).

    Fr den Unterricht bedeutet das, dass es da-rum geht, eine Lesemethode zu erarbeiten, die das Lesen vom Anfangsunterricht an als Pro-blemlseprozess auffasst , bei dem sich das Kind verschiedenster Vorgehensweisen bedie-nen muss , um den Sinn zu erschlieen. Lesen (wird) nicht mehr betrachtet als Gesamtheit von Fhigkeiten, die nacheinander vermittelt wer-den mssen, sondern als Integration all dieser Fhigkeiten im Dienste des Verstehens (Europ-ische Kommission 1999, 53).

    Schlerinnen und Schler knnen solche Strategien durchaus benennen. Wir haben ihnen (am Ende der Grundschulzeit) die folgenden Fra-gen gestellt (Dehn/Schler 2004). Daran sollten wir in der Sekundarstufe I anknpfen:

    Lesestrategien

    Was tust du, um einen Text zu verstehen? Ich lese ihn erst mal und mache mir im Kopf ein Bild daraus. Ich gucke, ob der Satz einen Zusammenhang hat. Ich beziehe den Text auch auf das, was vorher im Text passiert ist.

    Was tust du, wenn du einen Text nicht verstehst? Ich lese mir den Text noch einmal durch und berlege, was es bedeuten knnte. Ich berlege kurz, ob ich es doch schon mal gehrt habe. Ich frage nach oder denke selbst nach. Ich behalte die Wrter im Kopf und berlege.

    Wie merkst du, ob du einen Text verstanden hast? Wenn ich mir das Bild klar und deutlich vor- stellen kann. Wenn man den Text verstanden hat, gibt es einen Sinn, wenn man den Text nicht verstan- den hat, gibt es keinen Sinn. Wenn ich es mir vorstellen kann und es am nchsten Tag noch immer wei. Dass ich mir denke: ... das passt!

    Schauen wir uns den Begriff des Probleml-sens noch einmal von seinen Ursprngen an: Duncker hat ihn 1935 mit Bezug auf die Theorie des produktiven Denkens so definiert:

    Ein Problem liegt vor, wenn ein Lebewesen ein Ziel hat und nicht wei, wie es dieses Ziel er-reichen soll. Das heit, dass ein Problem nicht einfach etwas Vor-Gegebenes ist, sondern etwas, das ein Subjekt fr sich angenommen hat.

    Das im Unterricht zu erreichen, ist manch-mal sehr schwer. Aber wenn diese Bedingung nicht gegeben ist, gehen didaktische Bemhun-gen zum Problemlsen ins Leere. Dass die Ler-nenden Textverstehen als Ziel fr sich anneh-men, kann befrdert werden durch die Bedeut-samkeit des Inhalts, also durch Texte, die sie etwas angehen, sodass sie sich der kognitiven Herausforderung stellen (s. dazu den Kasten zu Springpunkten der Leseentwicklung). Didak-tisch einfacher ist, zum jeweiligen Thema Vorwissen der Sch- ler zu aktivieren, sodass sie Bilder, Vorstellun- gen zum Gelesenen entwickeln und ber die Stimmigkeit des Verstandenen urteilen kn- nen (s. den Kasten zu Lesestrategien)

    Teil 2: Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

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    ihnen fr die Lektre Auswahlmglichkeiten zu geben (inhaltlich und/oder medial), sodass sie selbst entscheiden mssen (auch in Be- zug auf die Schwierigkeit, die sie dann ja auch einschtzen mssen!) Formen fr Austausch von und ber die Lek- tre und fr die Prsentation der Ergebnisse zu kultivieren.

    Damit aber ist Lesen kein isolierter Vorgang, sondern an Kontexte gebunden.

    Lesen braucht soziale und mediale KontexteWir haben gesehen, dass schon die Betrachtung des Lesens als Problemlsen ber den Aspekt der Literalitt hinausgeht. Immer spielt das Subjekt des Lesens eine Rolle. Es ist das Verdienst von Bettina Hurrelmann (2002 b, S. 16), dass sie den vorrangig kognitiv bestimmten Begriff der Le-sekompetenz aus der PISA-Studie erweitert hat:

    Das Interesse an Texten, das heit, Texte (Ge-schichten und Informationen) als etwas Bedeu-tungsvolles fr sich selbst zu erkennen, entwi-ckelt sich in der Regel in der frhen literarischen Sozialisation im Elternhaus bereits lange vor der Schule. Dazu gehrt auch die emotionale Di-mension, die Fhigkeit, Texte bedrfnisbezogen auszuwhlen. Und vor allem gehrt dazu die An-schlusskommunikation, das heit, sich mit an-deren ber die Geschichten und Informationen auszutauschen, darber zu sprechen. Wie die-se Dimensionen schon die Qualitt von Vorle-sesituationen im Vorschulalter bestimmen, hat

    Dimensionen der Lesekompetenz

    Motivationen Kognitionen Emotionen Reflexionen Anschlusskommunikationen

    Petra Wieler (1997, vgl. auch 2005) eindrucks-voll belegt. Die Bedeutung der auerschulischen literarischen Sozialisation bleibt als Basis fr die Entwicklung der Lesekompetenz auch im Ju-gendalter erhalten:

    Das Interesse an Inhalten von Geschichten und Informationen ist nicht an geschriebene Texte gebunden. Literaritt speist sich auch aus Bildern und mndlichen Erzhlungen. Welche Rolle Schrift in der literarischen Sozialisati-on dafr spielt, ist, wie wir aus vielen Untersu-chungen wissen, auch aus den internationalen Studien PISA und IGLU, weitgehend von dem Bildungskapital des Elternhauses (ganz konkret sogar vom Buchbestand) abhngig.

    Ich sehe die Chance von Schule darin, die Literaritt der Lernenden, gleich aus welchem Medium sie sich speist, zuzulassen und in den sozialen Kontexten des Unterrichts behutsam auf die Schrift zu beziehen, auf sie hin zu ffnen. Oder andersherum formuliert: den Medienge-brauch der Jugendlichen nicht zu negieren, son-dern ihn aufzunehmen und ihn auf lernfr-derliche Perspektiven hin zu kultivieren. Das bedeutet vor allem, den Schlern und Schlerin-nen Gestaltungsmglichkeiten zu erffnen, so-dass sie sich nicht nur als passiv Rezipierende, sondern als selbst Ttige erleben; also Rezeption, Produktion und Reflexion zu integrieren.

    Dazu gehrt es, von Anfang an ein Bewusst-sein dafr zu schaffen, dass kulturelle Teilhabe auch heute mehr umfasst als die Schrift, dass die Schrift gleichwohl gerade die kognitive Ent-wicklung befrdert. Die Kenntnis von Geschich-tenstrukturen, von Bedeutungsmustern gilt es als etwas allen Gemeinsames erfahrbar zu ma-chen. Das kann, wie ich es nennen mchte, zu Springpunkten der Leseentwicklung fhren. Fr schwierige Lernentwicklungen in der Grund-schule konnte das an vielen Fallbeispielen gezeigt werden (vgl. Dehn/Httis-Graff/Kruse 1996). Fr die Sekundarstufe hat jngst sterreich in ei-nem Faltblatt zur Lesefrderung diesen Gedan-ken aufgenommen (www.klassezukunft.at); sie liegen in den Beispielen alle auerhalb des Un-terrichts, knnen aber in der Schule lernwirk-sam gemacht werden:

    Springpunkte der Leseentwicklung

    Seit Ronald Der Herr der Ringe im Kino gesehen hat, liest er gerne Heldensagen.Jens Bruckner ist auf sein erstes Buch aufmerksam geworden, als er in der Buchhandlung einen Roman entdeckte, den ein gewisser Jens Bruckner ge-schrieben hat.Seit Marco sein erstes Modell-Raumschiff gebaut hat, interessieren ihn Bcher, Zeitschriften, Videos und CDs zum Thema Science-Fiction.Romana hat letzten Sommer auf einem Bauernhof verbracht, dort fing sie an, sich fr Tierbcher zu interessieren. www.klassezukunft.at

    Teil 2: Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

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    Mehrere groe Studien haben die Funktion des medialen Kontextes belegt. Wenn im Unter-richt neben der Buch-Lektre zum Beispiel auch living-books als CD-ROMs zur Verfgung ste-hen, so wird damit insgesamt der Umgang mit Schrift strker angeregt (Bertschi-Kaufmann 2000, S. 223). Und umgekehrt kann fr das hus-liche Fernsehen, das gemeinhin als schdlich fr das Lesen gilt, ein einfacher Zusammen-hang von der hemmenden Wirkung dieses Kon-sums auf die Lesefhigkeiten nicht besttigt wer-den. Ennemoser und Schneider kommen zu dem Schluss, dass es mglicherweise sinnvol-ler sei, anstelle schlichter Verdrngungsannah-men die Ziele, Motive und Bedrfnisse in den Blick zu nehmen, die die Schlerinnen und Schler bei der Mediennutzung leiten und ihre Mediennutzungsmuster bzw. -typen genauer zu betrachten (2004, S. 397).

    Neuerdings liegen auch fr das Jugendalter detaillierte Untersuchungen vor:

    Fr Geschichten erleichtern Bekanntheit und Beliebtheit des literarischen Stoffs den Jugendli-chen den Einstieg ins Lesen. Dass sich Zugnge mit der Nhe zu einer literarischen Figur erff-nen, ist unmittelbar plausibel; dass sich der so-genannte Schwierigkeitsgrad der Lektre dem-gegenber als zweitrangig erwiesen hat, scheint mir bemerkenswert (Bertschi-Kaufmann u.a. 2004, S. 196ff.). Damit wird wiederum besttigt, welch zentrale Bedeutung fr Lernprozesse der Inhalt hat.

    Fr Sachtexte ist vor allem der Wunsch nach Information wichtig. Auch wenn es bereits bei Grundschulkindern manchmal Vorlieben fr Sachtexte gibt, so ist doch zwischen Kindheit und Jugend ein Genrewechsel zu beobachten; zu-dem ist das Lektreverhalten als Vorliebe fr Ge-schichten oder Sachtexte in hohem Mae ge-schlechtsspezifisch. Auch hier besteht darber Konsens, dass die Erwartungen und Interessen der Lesenden fr die kognitive Verarbeitung ent-scheidend sind nicht nur die Qualitten des Textes (Baurmann/Mller 2005, S. 8).

    Lesen braucht soziale Kontexte: Das kann die Schule allein nicht leisten. Zur Strkung der Le-sekompetenz ist die auerschulische literale Pra-xis unverzichtbar (Bertschi-Kaufmann u.a. 2004, S. 242). Der Einfluss der Schule darauf ist aber begrenzt (vgl. dazu das Projekt der Family Literacy Nickel 2004).

    Lesen braucht mediale Kontexte: Damit sind nicht nur die audiovisuellen und die neuen Me-dien gemeint. Dazu gehrt auch das Schreiben.

    Lesen und Schreiben gehren zusammenWer schreibt, hat immer schon gelesen, kennt Geschichten und Sachinformationen als vor-gelesene, gesehene oder gehrte. Der Schreiber ist stets der erste Leser seiner Texte. Und als Vor-lesen hat das Lesen eigener Texte eine wichtige Funktion fr Austausch und Prsentation. Auch das kann der Kultivierung von Lektre und Me-diengebrauch in der Sekundarstufe dienen. Das

    Vorlesen eigener Texte ist nichts, das sich von selbst versteht. Es bedarf der Vorbereitung und Schulung und eines unterrichtlichen Rahmens.

    Umgekehrt kann man Lesen durch Schrei-ben befrdern. Das ist zum einen der Name ei-nes Konzepts fr den Anfangsunterricht von Jr-gen Reichen, bei dem die Kinder mit Hilfe einer Buchstabentabelle zuerst eigene Texte aufs Pa-pier bringen und sich dabei gleichsam en pas-sant die Grundlagen der Synthese aneignen; sie fangen an zu lesen, ohne eigens darin unterrich-tet worden zu sein. Lesen durch Schreiben damit kann in weiten Teilen auch der Umgang mit Texten auf der Sekundarstufe gekennzeich-net werden: Fragen an Texte aufschreiben oder beantworten, Texte zusammenfassen, Texte im Deutschunterricht umschreiben, also produktiveVerfahren der Textrezeption. Durch das Schrei-ben zu einem Text setzt man sich intensiver mit ihm auseinander als durch bloe Lektre. (Feil-ke 2002, S. 58)

    Wie eng Lesen und Schreiben zusammengeh-

    ren, zeigt sich an den Spuren von Lektre und Me-diengebrauch in Schlertexten besonders deut-lich bei freien Aufgabenstellungen, zum Beispiel beim Schreiben zum Adventure (vgl. Dehn u.a. 2004) oder zu einem Bild. Die Achtsamkeit auf diese Bezge ist auch eine Form der Integration von Lektre und Mediengebrauch in der Schule. Indem wir Lehrenden beim Lesen Einblicke in die Zusammenhnge bercksichtigen knnen, die die Schler und Schlerinnen beim Textschrei-ben andeuten, knnen wir ihre Leistung besser wrdigen.

    Solche Zusammenhnge wurden krzlich in der Ludwigsburger Aufsatzstudie untersucht: 500 Texte zu Bildern aus 8. Klassen aller Schul-arten wurden analysiert. Bei einem Viertel da-von konnten Medienbezge festgestellt werden, explizite und implizite (Fix/Jost 2004, S. 161).

    Explizite und implizite Medienbezge nach Schul-arten (in % aller gefundenen Texte mit Medien-bezgen)

    9080706050403020100

    Anteil expliziterMedienbezge

    Anteil impliziterMedienbezge

    HauptschuleRealschuleGymnasium

    Teil 2: Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

  • Die Autoren zeigen, wie die Rezeption der Lehrenden sich ndert, je nachdem, ob diese Medienbezge beachtet und verstanden werden oder ob sie unbercksichtigt bleiben. Fix und Jost prgen zum Beispiel den Begriff des visua-lisierenden Erzhlens, um Strukturen zu kenn-zeichnen, die mit hufigen Schnitten und dem Wechsel von Totale und Zoom eher an Drehb-cher als an bisher vertraute Formen schulischen Schreibens erinnern. Die didaktische Auseinan-dersetzung mit den vielfltigen Bild-Text-Vernet-zungen ist notwendig, um den Schwierigkeiten der Schler zu begegnen, die Flut des erinner-ten Materials in Erzhlstrukturen zu bndigen (S. 172). Die Arbeit daran stellt gleichermaen Lese- wie Schreibfrderung dar. Wenn Lehrende und Lernende sich ber solche Bezge zwischen der Medienwelt und den Schlertexten verstn-digen, wenn Formen visualisierenden Erzh-lens beim Schreiben ausdrcklich erprobt wer-den knnen, gewinnen die Lernenden ein Stck Souvernitt gegenber der Flle der Bilder in den Medien, knnen sie Formen des produkti-ven Umgangs mit ihnen schulen. Wenn im Un-terricht ihr mediengetrnktes Herangehen an Lese- und Schreibaufgaben erkannt und gewr-digt wird, so kann das auch als Motivationspo-tenzial fr Lesefrderung produktiv werden.

    Dass intrinsisch motiviertes Lesen die Aus-differenzierung komplexer Schreibfhigkeiten untersttzt (Bertschi-Kaufmann u.a. 2004, S. 243), ist unmittelbar einleuchtend; ein Be-leg fr die vielschichtige Beziehung von Lek-tre und Mediengebrauch ist der Befund (aus vier 6. Klassen des Gymnasiums), dass sprach-liche Mittel in Schlertexten bei Vielnutzern von Medien und bei Wenignutzern differen-zierter sind als bei PC- und Gameboy-Orientier-ten sowie Bcher- und Hrkassetten-Orientier-ten und bei Hrkassetten- und PC-Orientierten

    Ursachenkomplex von Analphabetismus in Elternhaus, Schule und Erwachsenenbildung

    (Josting 2004, S. 264ff.). Dieser Befund mag zu-nchst verwirren, aber er weist in dieselbe Rich-tung wie schon Schneider/Ennemoser (2004, s. oben), nmlich dass anstelle einfacher Verdrn-gungsannahmen die Ziele und Motive genauer betrachtet werden mssen. Das leistet die Studie von Josting, die Rezeptionsformen beim Com-puterspiel von TKKG analysiert hat, noch nicht. Aber auch sie gibt einen Ansto fr grere Acht-samkeit auf den Mediengebrauch der Jugendli-chen und auf die Funktionen, die er fr Lese- und Schreibfrderung haben kann.

    Lesefrderung und Schriftkultur als Prvention von AnalphabetismusAnalphabetismus und Schule zusammen zu den-ken, war lange Zeit ein Tabu. Aber die etwa vier Millionen funktionalen Analphabeten haben (fast) alle neun oder zehn Jahre lang die Schule besucht (Hubertus/Nickel 2003, S. 720), vor al-lem die Sonderschule, aber auch die Haupt- und sogar die Realschule. Die Befunde der PISA-Stu-die, dass 9,9% der untersuchten 15-Jhrigen ei-nem Text nicht einmal einfache Informationen entnehmen knnen, weitere 12,7% nicht in der Lage sind, ein tieferes Textverstndnis zu ent-wickeln, zeigen, dass es derzeit in Deutschland nicht gelingt, die schwachen Schlerinnen und Schler so wie in anderen Lndern zu frdern.

    Der Begriff Analphabetismus wird in Relation zur gesellschaftlichen Norm bestimmt: wel-cher Grad an Schriftsprachbeherrschung inner-halb der konkreten Gesellschaft, in der diese Per-son lebt, erwartet wird (Hubertus/Nickel 2003, S. 719). Trotz groer individueller Unterschiede lsst sich ein vielschichtiger Ursachenkomplex ausmachen (Dbert/Nickel in Hubertus/Nickel 2003, S. 721):

    Teil 2: Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

    Negativerfahrungen in Elternhaus und Schule Vernachlssigung, Gleichgltigkeit, Ablehnung, erlebte Unsicherheit psychische Belastungssituationen durch Konflikte der Eltern Minimum konomischer Sicherheit untergeordnete Rolle der Schrift in der Familie psychische Belastungssituationen in der Schule (Aussonderung, soziale Blamage, Auenseiter, Angst bei Leistungsdruck) massive Strafen bei Schulversagen

    Geringes Zutrauen in die eigenen Fhigkeiten, negatives Selbstbild bezglich Schrift-sprache, oft auch generalisiert Emotionen Angst vor Versagen und Diskriminierung geringes Selbstwertgefhl Unterlegenheitsgefhl Wut gegen sich selbst Resignation, Mutlosigkeit

    Selbstentmutigende Kognitation Ich kann das nicht Ich bin zu dumm dazu Ich werde das nie lernen

    Diskriminierungserfahrungen im Erwachsenenalter auf Grund von Schriftsprachunkundigkeit Erschwernisse bei alltglichen Ttigkeiten: Einkaufen, Formulare, mter Benachteiligung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gesellschaftliche Auenseiterstellung Angst vor Entdeckung (Angst vor Verlust des Partners, der Freunde, des Arbeitsplatzes...)

    Leistungsprobleme in der Schule, Schwie-rigkeiten im Schriftspracherwerb keine individualisierten Angebote (Lernen im Gleichschritt) Motivationsverlust evtl. Sonderschulberweisung

    Fehlende, unzureichende oder unsichere Schrift-

    sprachkompetenz

    Vermeidung schriftsprach-licher Anforderungs- und Gebrauchssituationen

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  • Wir sehen vor allem die Wechselwirkung von unsicherer Kompetenz und Vermeidungsverhal-ten, was Lesen (und Schreiben) betrifft, und wir sehen, wie die Negativerfahrungen aus Eltern-haus und Schule sich gegenseitig verstrken. Es wre sicher zu einfach, Abhilfe durch die Inte-gration von Lektre und Mediengebrauch zu er-warten. Aber: ein Beitrag zur Prvention kann dadurch erreicht werden.

    Vielleicht haben Sie sich gewundert, warum bisher von Lesetraining nicht die Rede war. Der Erfolg von Lesetrainings wird unterschiedlich beurteilt. So konnte zum Beispiel Klauer (1996) einen nachhaltigen Erfolg eines auf sechs Stun-den begrenzten Trainings in kleinen Gruppen (5 Schler) zeigen. In einer Replikationsstudie fan-den Bremerich-Vos/Schlegel das allerdings nicht besttigt (2003). Wir sollten von Trainings nicht zu viel erwarten; was aber fr sie spricht, ist, dass sich mit jeder Erfahrung von Erfolg auch die Motivation erhht.

    Dieser Zusammenhang ist eine der didakti-schen Grundlagen des Projekts zur Alphabeti-sierung Erwachsener, das sich meines Erach-tens in seinen Strukturen (Selbstentscheidung ber Ziele, Dauer, sachliche Rckmeldung ber die erbrachte Leistung, vielfltige Orientierungs-mglichkeiten an Schrift) auch fr schulische Belange bertragen liee (www.ich-will-schreiben-lernen.de).

    Literatur: Baumert u.a. (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schlerinnen und Schlern im internationalen Vergleich. Opladen.

    Baurmann, Jrgen/Mller, Astrid. (2005): Sachbcher und Sachtexte lesen. Praxis Deutsch Heft 189, S. 613.

    Bertschi-Kaufmann, Andrea (2000): Lesen und Schreiben in einer Medienumgebung. Die literalen Aktivitten von Primarschlern. Aarau.

    Bertschi-Kaufmann, Andrea/Kassis, Wassilis/Sieber, Peter (2004): Mediennutzung und Schriftlernen. Analysen und Ergebnisse zur literalen und medialen Sozialisation. Mnchen.

    Bremerich-Vos, Albert/Schlegel, Sonja (2003): Zum Scheitern eines Lesestrategietrainings fr SchlerInnen der Orientierungsstufe. In: Ulf Abraham u.a. (Hrsg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg, S. 409430.

    Dehn, Mechthild (1999): Texte und Kontexte. Schreiben als kulturelle Ttigkeit in der Grundschule. Berlin.

    Dehn, Mechthild/Httis-Graff, Petra/Kruse, Norbert (Hrsg.) (1996): Elementare Schriftkultur. Schwierige Lernentwicklung und Unterrichtskonzept. Weinheim.

    Dehn, Mechthild/Hoffmann, Thomas/Lth, Oliver/Peters, Maria (2004): Zwischen Text und Bild. Schreiben und Gestalten mit neuen Medien. Freiburg.

    Fazit Lesefrderung sollte sich nicht auf Lektre beschrnken, sondern Lesen als kulturelle T- tigkeit im Medienverbund praktizieren. Auf diese Weise knnen die Interessen und Be- drfnisse von Schlerinnen und Schlern aus schriftferner Lebensumwelt besser integriert werden. Dabei gilt es, Springpunkte der Le- selernentwicklung wahrzunehmen oder auch anzustoen und an sie anzuknpfen. Lern- erfolge knnen zu positiven Erfahrungen besonders dann werden, wenn sie Teil von Anschlusskommunikationen und von Prsen- tationen (Buch- und Medienvorstellungen) in der Lerngruppe, der Schule und darber hin- aus werden. Schule ist fr eine effektive Lesefrderung auf Kooperation mit auerschulischen Insti- tutionen und mit den Familien (Family Literacy) angewiesen. Das knnen zum einen Bibliotheken, Theater, Kinos, Buchclubs sein, die mit der Schule kooperieren (vgl. Fritzsche 2004, Rosebrock 2004); dazu kann aber auch ein attraktives Freizeit- und Medienangebot fr Peergroups gehren. Ein Fazit der PISA- Studie: Lehrkrfte knnen und sollen nicht direkt in auerschulische soziale Strukturen eingreifen, aber die Schule kann gerade fr die Altersgruppe der 15-Jhrigen im Freizeit- und Medienbereich attraktive Angebote ma- chen. Dafr drften die Mglichkeiten einer Ganztagsschule besonders gnstig sein. (Tillmann/Meier 2001, S. 489).

    Teil 2: Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

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    Dehn, Mechthild/Schler, Lis (2004): Dem Rattenfnger auf der Spur. Entwicklung von Lesestrategien durch vergleichendes Lesen. Praxis Deutsch Heft 187, S. 1621.

    Duncker, Karl (1963): Zur Psychologie des produktiven Denkens. Berlin (zuerst 1935).

    Ennemoser, Marco/Schneider, Wolfgang (2004): Entwicklung von Lesekompetenz. Hemmende Einflsse des medialen Umfeldes. In: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Mnchen, S. 375401.

    Europische Kommission (1999): Lesenlernen in der Europischen Union. Studien. Luxemburg. Amt fr amtliche Verffentlichungen.

    Feilke, Helmuth (2002): Lesen durch Schreiben. Fachlich argumentierende Texte verstehen und verwenden. Praxis Deutsch Heft 176, S. 5866.

    Fix/Jost (2004): Spuren der Medienrezeption in Schlertexten. In: Marion Bnninghausen, Heidi Rsch (Hrsg.). Intermedialitt im Deutschunterricht. Hohengehren. S. 156173.

    Fritzsche, Joachim (2004): Formelle Sozialisationsinstanz Schule. In: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Mnchen, S. 202249.

    Hubertus, Peter/Nickel, Sven (2003): Sprachunterricht in der Erwachsenenbildung: Alphabetisie-rung von Erwachsenen. In: Ursula Bredel u.a. (Hrsg.). Didaktik der deutschen Sprache. Ein Hand-buch. Paderborn, S. 719728.

    Hurrelmann, Bettina (2002): Sozialhistorische Rahmenbedingungen von Lesekompetenz sowie soziale und personale Einflussfaktoren. In: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Mnchen, S. 123149 (=2002 a).

    Hurrelmann, Bettina (2002): Leseleistung Lesekompetenz. Praxis Deutsch Heft 176, S. 618 (=2002 b).

    Hurrelmann, Bettina (2003): Von der Integration schriftsprachlicher Fhigkeiten in den Erwerb der Medienkompetenz. Referat. Zrich. http://www.literalitaet.ch/ (Stichwort: Aktuelle Tagung, zuletzt gesehen 20.4. 2005).

    Josting, Petra (2004): Kinder und narrative Bildschirmspiele. Mnchen.

    Klauer, Karl Josef (1996): Denktraining oder Lesetraining? ber die Auswirkungen eines Trainings zum induktiven Denken sowie eines Lesetrainings auf Leseverstndnis und induktives Denken. Zeitschrift fr Entwicklungspsychologie und Pdagogische Psychologie H. 1, S. 6789

    May, Peter (1986): Schriftaneignung als Problemlsen. Analyse des Lesen(lernen)s mit Kategorien der Theorie des Problemlsens. Frankfurt.

    Nickel, Sven (2004): Family Literacy. Literalittsfrderung in der Familie eine Aufgabe fr die Schule? In: Landesinstitut fr Lehrerbildung und Schulentwicklung (Hrsg.). Lesekompetenz. Hamburg, S. 5560.

    Rosebrock, Cornelia (2004): Informelle Sozialisationsinstanz peer group. In: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.). Lesesozialisation in der Mediengesellschaft, S. 250279.

    Tillmann, Klaus-Jrgen/Meier, Ulrich (2001): Schule, Familie und Freunde Erfahrungen von Schlerinnen und Schlern in Deutschland. In: Baumert, Jrgen u.a. (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schlerinnen und Schlern im internationalen Vergleich. Opladen, S. 468509.

    Wieler, Petra (Hrsg.) (2005): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg.

    Wieler, Petra (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjhrigen. Mnchen.

    www.ich-will-schreiben-lernen.de (Portal der Alphabetisierung, seit 9/2004) www.klassezukunft.at/statisch/zukunft/de/lesen_ank250.pdf (seit 4/2005)

    Teil 2: Lesefrderung und Schriftkultur in der Schule

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    Helga Gravert-Gtter

    Lesefrderung als Aufgabe der Schule

    Grundlegende These: Frderung der Lesekompetenz das ist keine Aufgabe, die kurzfristig und schon gar nicht ne-benher abgeschlossen werden kann. Sie erfor-dert langen Atem, Fortbildung auf Lehrersei-te, langfristige konzeptionelle Arbeit und Ver-flechtung mit anderen Fragen von Schul- und Unterrichtsentwicklung. (aus dem Bericht von OSR Meyer ber die Hospitationen im GS-Be-reich im Schuljahr 2003/2004)

    Folgerungen:1. Zusammenarbeit zwischen Schule und El- ternhaus Thematisieren der Bedeutung des Elternhau- ses fr Motivation und Frderung der Le- sekompetenz auf Elternabenden besonders wichtig am Anfang von Jahrgang 5 (gutes Material dazu in: Jochen Korte, Ran an die Bcher!, Praxisbuch zur Lesefrderung in der Sekundarstufe I, Donauwrth 2004, S. 7795). Verabredungen in der Schule, wie man The- menabende mit Eltern zum Schwerpunkt Le- sekompetenz gestalten knnte. Einbeziehen von Eltern in die Lesefrderung als Vorlesende, als Frderer und Untersttzer von Schulbibliotheken und Klassenbibliothe- ken.

    2. Beobachten und Untersttzen der Leseent- wicklung durch Eingangsbeobachtung in Jahrgang 5 (durch die Deutsch-Lehrenden) Stolperwrtertest Tests analog zu IGLU- oder KESS-Aufgaben zum komplexeren Erschlieen von Texten Erstellen von individuellen Frderplnen in Rcksprache mit Schlern und Eltern, wobei frdern auch fordern meint (s. Problematik der zu wenig geforderten und gefrderten guten Schlerinnen und Schler). Sensibilisierung aller Fachkollegen (z. B. fr das Jahrgangskollegium 5 oder die einzelnen Klassenkollegien) dafr, dass Frderung der Lesekompetenz eine fcherbergreifende Auf- gabe ist, in der die fcherbergreifende Zu- und Zusammenarbeit wichtig ist. (Deutsch als Leitfach arbeitet zu, andere F- cher liefern auch, wie z. B. Mathematik fr diskontinuierliche Texte.)

    3. Methodencurriculum, in das ein Lesefrde- rungscurriculum eingeschrieben ist Es muss klar sein: Welche wichtigen Kompetenzen sollen vermittelt werden? (Strategie- und Metho- denkompetenz, Sozialkompetenz und

    Selbstkompetenz, s. Lern-Kompetenzmo- dell von Monique Boekaerts, Self-regulated learning: Where we are today. International Journal of Educational Research, 31, 445 457) Um welche wichtigen Lern- und Lese- strategien soll es gehen ? Festlegen von Basismethoden (nicht mehr als vier), die allen Kolleginnen und Kollegen nicht nur denen im Fach Deutsch gelufig sind und an bestimmte Fcher und Unter- richtsprojekte angedockt werden. Die Fachkonferenzen whlen fachspezifische Lesemethoden aus und integrieren sie in ihr Fachcurriculum. Zur bersicht fr alle knnte eine Methoden- partitur im Lehrerzimmer stehen. Erfolg und Funktionsfhigkeit des Lesecurri- culums (auch des Methodencurriculums ins- gesamt) mssten regelmig evaluiert wer- den. Ntige Revisionsprozesse werden ange- stoen und umgesetzt.

    4. Aufgabenkultur entwickeln, denn Aufgaben sind auch Texte Bewusstsein dafr schaffen, wie Aufgaben for- muliert sein mssen, um auf das Verstndnis der Lernenden zu treffen. Auswahl von Texten und Formulieren von Aufgaben unter Bercksichtigung von Schwie- rigkeitsgrad und von Standards (s. Rahmen- plne) s. Juliane Kster, Will Ltgert u. a. (Hrsg.), Aufgabenkultur und Lesekompetenz, deutschdidaktische Positionen, Frankfurt/Main 2004

    5. Frderung des kooperativen Lernens als einer Basis lesefrderlichen Unterrichts Erhhung der Anteile, in denen Lernende eigenaktiv und selbststndig arbeiten (For- schungsergebnisse zeigen, dass in Unterrichts- stunden, in denen eigentlich die Frderung der Lesekompetenz im Mittellpunkt steht, ber 60% der Zeit von den Lehrenden bestrit- ten wird.) Zusammenarbeit der Lernenden nachweis- lich motivationsfrdernd Zusammenarbeit der Lernenden (z. B. in einer Lesekonferenz) frdert Verstehen (s. Bettina Hurrelmann, Sozialisation der Lesekompetenz, in: Ulrich Schiefele u. a. (Hrsg.), Struktur, Ent- wicklung und Frderung von Lesekompetenz, vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wiesbaden 2004, S. 3761 vor allem S. 5558)

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    6. Lesen und Schreiben knnen nicht vonein- ander getrennt werden In der Schreibkonferenz findet die Lesekon- ferenz ihre Fortsetzung und Ergnzung (s. Punkt 5) Produktive Rckmeldungen ber geschrie be- ne und in die Schreibkonferenz eingebrach- te (vorgelesene) Texte sind Aufgabe der Sch- lerinnen und Schler (ber die vielfltigen Mglichkeiten im Rah- men des hier genannten Schwerpunktes in- formiert der Band: Gerd Bruer, Schreiben (d) lernen, Ideen und Projekte fr die Schule, Ham- burg 2004, edition krber)

    7. Lesen braucht Ruhe Vernderte Rhythmisierung des Schultages ausgehend von Doppelstunden , um mit anderen Methoden (s. kooperatives Lernen) und vor allem schlerzentriert zu arbeiten. Einfhrung von zweckfreien Lesestunden einmal pro Woche Frderung von Exzellenz im Textverstehen (und Schreiben), s. leistungsstarke Schlerin- nen und Schler, durch schulische oder regi- onale Angebote

    8. Klassenbibliothek und Schulbibliothek Schulbibliothek als Zentrum schulischen Le- bens begreifen Konzepte fr Schulbibliotheken entwi- ckeln (vor allem Gestaltung und ffnungs- zeiten, Umgang mit der Bibliothek usw. ) Anschaffungspraxis (hierzu gibt es viele Anregungen von den Hamburger ffent- lichen Bcherhallen bis hin zur Stiftung Lesen) Bcherbaum in die Bibliothek, an dem sich z. B. ablesen lsst, wie viel die einzel- nen Klassen gelesen haben Buchempfehlungen Preise ausschreiben usw. Klassenbibliothek und Leseecke auch in der Sekundarstufe I

    9. Lesemotivation schaffen und eine Lesekultur in der Klasse und der Schule etablieren Einfhrung des Lesepasses als ein motivati- onsfrderndes Instrument Ausfhrliche Stellungnahme zum Stichwort Lesekultur, s. Franz-Josef Payrhuber: Thesen zur Lesefrderung, in: Kurt Franz und Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.), Lesen heute. Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen und Lesefrde- rung im Kontext der PISA-Studie, Hohengehren 2002, S. 94111 Arbeitspapier von Hartmut Deutelmoser (April 2004): Manahmen zur Lesefrderung im (Deutsch-)Unterricht und im Schulleben

    10. Fortbildung der Kolleginnen und Kollegen Schulinterne und regionale Fortbildung Best-practice-Beispiele vermitteln Gegenseitige Hospitationen im Unterricht Fachkonferenzen nutzen Fortbildung begleiten und evaluieren

    Teil 3: Lesefrderung als Aufgabe der Schule

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    Helga Gravert-Gtter

    Zum Lesen motivieren

    In der Lernen-Beilage der Sddeutschen Zei-tung vom 20. Januar 2004 wird eine Berliner Lehrerin mit den Worten zitiert: Jedes Kind will lesen lernen. Aber wenn es das kann, muss es Spa daran haben.

    Dass der Spa am Lesen in Deutschland je-doch recht schnell abnimmt, zeigen nationale und internationale Studien. Nach Karin Rich-ter und Monika Plath (2002) nehmen nach der zweiten Klasse der Spa und das Interesse am Deutschunterricht kontinuierlich ab, wobei das Phnomen bei Jungen noch strker als bei Md-chen ausgeprgt ist. Dass sich daraus auch eine geringere Lesemotivation ergibt, liegt nahe. Bei den deutschen Schlerinnen und Schlern kul-miniert diese Entwicklung wie PISA 2000 ge-zeigt hat wenn ca. 42 Prozent der 15-Jhrigen angeben, nicht zum Vergngen zu lesen, wobei sich auch hier die Schere zwischen Jungen und

    Mdchen noch weiter geffnet hat. So lesen in Sachsen-Anhalt ber 60 % der Jungen nicht zu ihrem Vergngen (Deutsches PISA-Konsortium 2001).

    ber die Ursachen fr die nachlassende Le-semotivation machen sich vor allem Lehrende in Schulen und an der Universitt und Organi-sationen, die das Lesen frdern wollen, Gedan-ken1. Auf die vielfltigen und z. T. kontrovers dis-kutierten Ursachen werde ich hier nicht nher eingehen. Ich mchte vielmehr erprobte, aber weniger bekannte Beispiele zur Lesemotivation vorstellen.

    Der BcherbaumMit Hilfe eines Bcherbaums kann das Lesen in der Familie untersttzt werden. Folgendes Arbeitsblatt hat sich dabei bewhrt:

    Liebe Eltern,bitte tragen Sie die Bcher, die Sie Ihrem Kind vorgelesen haben oder gerade vorlesen, ein. Geben Sie das Blatt zurck, wenn Sie 10 Titel in die Bcherbltter eingetragen haben.

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    In welcher Sprache das vorgelesene Buch ge-schrieben ist, ist dabei unwichtig. Alle Spra-chen, die zu Hause oder im huslichen Umfeld des Kindes gesprochen und gelesen werden, kommen vor.

    Wird das Blatt mit dem Bcherbaum zu-rckgegeben, bekommen die Kinder ein neues. Die Lehrerin erhlt so einen berblick darber, was Eltern ihren Kindern zu Hause vorlesen. Sie kann aber auch untersttzend eingreifen, wenn sie die Bltter nicht oder nur wenig ausgefllt zurckbekommt. Die Kinder knnen sich in der tglichen Bchereistunde Bcher aussuchen, die ihnen zum Vorlesen nach Hause mitgege-ben werden. Von den Eltern wird eine wchent-liche Rckmeldung darber, wie den Kindern und ihnen selbst das Buch gefallen hat, erwar-tet Dazu knnen sie den Smiley mit seinen Va-rianten nutzen.

    Entscheidend an diesem Vorgehen ist, dass die Schule auf diese Weise der Bedeutung des huslichen Vorlesens und Lesens einen hohen Stellenwert verleiht und dies in einem Alter, in dem die Kinder fr die Ausbildung ihrer Lese-motivation und knftigen Lesekompetenz noch besonders empfnglich sind. Alle Untersuchun-gen zur familiren Lesesozialisation (vgl. z. B. Hurrelmann u.a. 1995) besttigen den groen Einfluss des Leseklimas in der Familie auf die Lesemotivation von Kindern.

    Ich kann mir vorstellen, dass der Bcher-baum auch ab Klasse 5 die Lesemotivation bei Eltern, Schlerinnen und Schlern frdert, wenn man ihn dazu nutzt, vorgelesene und aktuell gelesene Bcher einzutragen und sie dem Alter entsprechend nicht mit einem Smiley, sondern mit einigen Stzen kommentieren lsst.

    Der LesepassEin Lesepass ist eine weitere Form, die geeig-net ist, Lesemotivation zu erhalten oder zu ent-wickeln und Lesefhigkeiten aufzubauen. Der Lesepass wurde vor einigen Jahren in sterreich vom Institut fr Schulbuchforschung auf Initia-tive von Richard Bamberger eingefhrt und er-folgreich erprobt.

    Cornelia Rosebrock (2002) beschreibt die Le-sepass-Aktion:

    Inhalte der Aktion: Schlerinnen und Schler der 5. Klassen werden dazu verpflichtet, wchentlich ein Buch eigener Wahl zu lesen. Regelmig wird mit speziellen Test-Texten die Lesegeschwindigkeit (Wrter pro Minute) und das Leseverstndnis (ber inhaltliche Fra- gen) getestet. Die Ergebnisse dieser Tests werden in einen individuellen Lesepass eingetragen, der je- dem Kind seine Fortschritte dokumentiert. Jedes Kind trgt die gelesenen Bcher in den Lesepass ein und formuliert eine individuelle Bewertung.

    Ergebnisse: Der Lesepass hat sich als Wundermittel der Motivationssteigerung erwiesen. Rund 70% der beteiligten Kinder haben ein Buch wchentlich gelesen. Die Steigerung der Lesegeschwindigkeit ist nach kurzer Zeit sichtbar.

    In Hamburger Schulen wurde dieses Vorgehen erfolgreich in folgender Weise adaptiert:

    Beispiel eines Lesepasses aus der Gesamtschule Niendorf:

    Die Abbildungen zeigen den Umschlag des Lesepasses, den jedes Kind weiter ausgestalten kann, einen Stempel, mit dem die einzelnen Seiten abgezeichnet werden, und eine Seite aus dem Lesepass. Auf einer anderen Seite werden Autor, Titel, Erscheinungsjahr eingetragen, das Buch einer bestimmten Sparte zugeordnet undder Inhalt in etwa drei Stzen zusammen-gefasst. Auf diese Weise wird jedes gelesene Buch dokumentiert.

    Die Schule hat den Lesepass im Schuljahr 2003/2004 fr den Jahrgang 5 eingefhrt. Die Rckmeldungen der Kolleginnen und Kollegen sind berwiegend positiv. Wichtig ist sicher, dass die Unterrichtenden vom Erfolg des Lesepasses berzeugt sind, sodass sich ihre positive Einstel-lung auf die Schlerinnen und Schlern bertra-gen kann.

    Dies veranschaulicht der Bericht einer Kollegin: Jedes Kind der 5. Klasse erhielt zu Beginn des Schuljahres den Umschlag des Lesepasses zur in-dividuellen Gestaltung. Nach der ersten Klassen-lektre wurde der erste Eintrag in den Lesepass gemeinsam vorgenommen (Titel, Autor, Erschei-nungsjahr, Sparte, Inhalt zusammengefasst in ca. drei Stzen, Bewertung des Buches und Un-terschrift des Kindes). Die Eltern werden an ei-nem Elternabend ber den Lesepass und seine Nutzung informiert.

    Zwischen den Herbst- und Weihnachtsferien

    Teil 4: Zum Lesen motivieren

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    sollten die Kinder dann mindestens zwei Publika-tionen (Bcher, Zeitschriften oder auch Comics) lesen und die Eintragungen in den Lesepass selbststndig vornehmen. Die Deutschlehre-rin berprft die Eintragungen und versieht sie mit einem Stempel und ihrer Unterschrift. Dabei kann sich ein kleines literarisches Gesprch entwickeln, in dem man sich wechselseitig Tipps fr die weitere Lektre geben kann.

    Schon nach der Einfhrung lste der Pass bei den Kindern sehr groes Interesse aus. Die zunchst vorhandene Skepsis, ob wirklich alles, was sie gelesen haben, eingetragen werden drfe, wurde schnell abgelst durch den Wettbe-werb um die meisten Eintragungen. Nach vier Wochen drngten sie sich danach, ihren Mit-schlerinnen und Mitschlern den Pass zu zei-gen und ihnen die Bcher vorzustellen. Bis zu den Weihnachtsferien hatten bis auf zwei Kin-der alle mehr als zwei Publikationen gelesen, viele acht bis zehn und die eifrigen Leseratten sogar 15 und mehr.

    Der Lesepass hat sich als ein geeignetes In-strument zur Motivationssteigerung erwiesen. Er wird in der 6. Klasse erfolgreich weitergefhrt. Eine Kontrolle darber, ob die Bcher tatsch-lich gelesen werden, ist in der Regel nicht not-wendig, denn die Schlerinnen und Schler er-zhlen gern von ihren Bchern.

    VorbilderKarl Blml berichtet in seinem Aufsatz Es ist nicht alles eitel Wonne und Waschtrog mit PISA! Konsequenzen aus der Studie von einer Facette der PISA-Studie in sterreich, die sich wohl auch auf die deutsche Situation bertragen lsst.

    15-jhrige Schlerinnen und Schler wurden gefragt: Wodurch wurdest du am strksten zum Lesen motiviert, wenn du dich an deine Zeit in der Unterstufe (Klassen 57) zurckerinnerst?

    Dazu erhielten sie einen sieben Punkte um-fassenden Katalog zum Ankreuzen:1. Wir haben im Deutschunterricht viel mit Bchern gemacht, z. B. Teile von Geschichten nachgespielt.2. Manchmal haben uns Autorinnen und Au- toren in der Schule aus ihren Bchern vor- gelesen.3. Meine Deutschlehrerinnen/meine Deutsch- lehrer haben den Eindruck vermittelt, dass sie auch selbst gerne Bcher lesen.4. Wir waren mit der Klasse manchmal in einer ffentlichen Bcherei.5. Wir haben uns oft selbst Bcher oder Ge- schichten zum Lesen aussuchen drfen.6. Ich habe oft von meinen Lehrern oder Lehre- rinnen Hinweise und Tipps zu interessanten Bchern erhalten.7. Wir hatten in der Schule oft freie Lese- stunden, also Stunden, in denen wir lesen durften, was wir wollten.Es ist erfreulich, dass der dritte Punkt mehrheit-

    lich angekreuzt wurde. Untersuchungen weisen darauf hin, dass Lehrerinnen und Lehrer, die le-sen und die als Lesende von Schlerinnen und Schlern erlebt werden, fr die Lesemotivati-on der Lernenden von groer Bedeutung sind (vgl. z.B. Rosebrock 2004).Antolin: Lesemotivation ber das InternetWenn man im Internet die Adresse www.antolin.de anklickt, erscheint das Logo, ein schwarzes Federvieh mit roter, fnfzipfeliger Nar-renkappe, neben dem schwungvoll geschriebe-nen Wort Antolin und der Bemerkung Ermun-terung zum Lesen.

    Und Antolin ermuntert Schlerinnen und Schler vom Ende der Primarstufe bis in die 7./8. Klasse der Sekundarstufe wirklich zum Lesen. Wie stellt Antolin das an?

    Natrlich reizt allein schon das Medium. In-sofern kann Antolin von allen genutzt werden, die mit dem Computer umgehen knnen (also ab Klasse 3 oder 4) und ihn nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause nutzen.

    Lesen mit Antolin hat Wettbewerbscharakter und spricht damit die Altersgruppe der 8- bis 14-Jhrigen besonders an. Erwirbt eine Klasse fr 25 Euro oder die ganze Schule fr 150 Euro die Li-zenz fr ein Jahr, dann knnen die Schlerinnen und Schler, die sich mit Name oder Phantasie-name anmelden, die Titel der Bcher eingeben, die sie gelesen haben. Danach erhalten sie einen Fragenkatalog zum jeweiligen Inhalt. Fr jede richtige Antwort gibt es einen Plus- , fr jede fal-sche Antwort einen Minuspunkt. Die Klassen- oder Deutschlehrerinnen knnen mitverfolgen, wer wie viel liest und die Fragen richtig beant-wortet. Sie verteilen auch die Urkunden an die Viellesenden.

    Antolin ist aber auch noch aus anderen Grn-den so beliebt. Zum einen ist das Angebot auch an neuester Kinder- und Jugendliteratur so um-fassend, dass praktisch jede/r mit seinen Anfra-gen zum Zuge kommt. Zum anderen ermglicht das Programm den individuellen Umgang mit Li-teratur. Jedes Kind kann nach seinem Tempo und seinem Interesse arbeiten. Da die Frageb-gen auch zu Hause ausgefllt werden knnen, werden hufig Eltern oder Geschwister in den Lese- und Arbeitsprozess einbezogen.

    Besonders interessant ist aber, dass sich Jun-gen, die, wie bereits erwhnt, scheinbar weniger gern lesen als Mdchen, sowohl vom Medium als auch vom Angebot angesprochen fhlen und in Wettbewerb zueinander treten.

    Mit den Anregungen von Antolin lassen sich Klassenbibliotheken und Lesekisten zusammen-stellen. Auerdem lassen sich in Gruppen Lese-konferenzen ber die gelesenen Bcher abhal-ten, was zu neuen Leseanreizen fhrt.

    Teil 4: Zum Lesen motivieren

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    Lesekultur in Klasse und SchuleOptimale Lesefrderung findet dort statt, wo sie auf Mitwirkung der ganzen Schule rechnen kann. Diese These von Franz-Josef Payrhuberwird von Lehrerinnen und Lehrern sicher uneingeschrnkt bejaht, obgleich die Umsetzung manchmal schwierig ist.Als weitere Mglichkeiten fr die Lesefrderung in der Schule kann man: Lieblingsbcher vorstellen und empfehlen, Lesetagebcher schreiben, Portfolios entwickeln, Vorlesestunden durch Eltern, Lehrende und Lernende anbieten2, Lesewettbewerbe durchfhren, die ffentlichen Bcherhallen nutzen, einen Autor oder eine Autorin einladen.

    Eine Schule kann z.B. Lesenchte3 oder Lese-feste veranstalten, eine Bibliothek mit anregen-der Leseumgebung schaffen, freie Lesestunden einfhren, eine Literaturwerkstatt einrichten, in der man Bcher selbst schreiben, illustrieren, drucken und binden kann.

    Der Phantasie sind auch hier keine Grenzen gesetzt.

    Literatur: Blml, Karl (2002): Es ist nicht alles eitel Wonne und Waschtrog mit PISA! Konsequenzen aus der Studie. In: ide 4, S. 28 ff.

    Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000, Opladen

    Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2002): PISA 2000 Die Lnder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich

    Hurrelmann, Bettina; Hammer, Michael; Nie, Ferdinand (1995): Leseklima in der Familie. Gtersloh

    Payrhuber, Franz-Josef: (2002): Thesen zur Lesefrderung. In: Kurt Franz u. Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Lesen heute. Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen und Lesefrderung im Kontext der PISA-Studie, Hohengehren, S. 94111

    Richter, Karin/Plath, Monika (2002): Die Bedeutung der Entwicklung von Lesemotivation in der Grundschule. In: Kurt Franz u. Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Lesen heute. Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen und Lesefrderung im Kontext der PISA-Studie, Hohengehren, S. 4158

    Rosebrock, Cornelia (2002): Folgen aus PISA fr den Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch 174, S. 51 ff.

    Anmerkungen:1 U. a. Brsenverein des deutschen Buchhandels, www.boersenverein.de, Stiftung Lesen, www.stiftunglesen.de, Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (Ajum) der GEW, www.ajum.de

    2 S. a. Deutschland liest vor, ein Projekt der Krber-Stiftung, www.deutschland-liest-vor.de und dazu das Buch: Cem zdemir (Hrsg.) (2001): Abenteuer Vorlesen, Ein Wegweiser fr Initiativen, edition Krber-Stiftung

    3 Jrg Knobloch (Hrsg.) (2001): Tag des Buches, Lesenacht, Anregungen fr ein ganzes Lesejahr Grundschule und Bibliothek, Lichtenau

    Teil 4: Zum Lesen motivieren

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    Astrid Mller

    Voneinander lernen geht das auch beim Lesenlernen?

    Reziprokes Lehren und Lernen1

    Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen, dass gute Leser beim Lesen strategisch vorgehen, indem sie zum Beispiel den Kontext heranziehen, um sich die Bedeutung zu erschlieen, aktiv das Ge-dchtnis nach relevantem Vorwissen absuchen und/oder versuchen, Zusammenhnge zwischen verschiedenen Textteilen herzustellen (Baumertet l. 2001, 76). Wie knnen nun auch ungeb-te Leserinnen und Leser erfolgreich Strategien erwerben und in Verstehensprozessen einsetzen? Es gibt Anzeichen dafr, dass wechselseitiges Lehren und Lernen (reciprocal teaching nach Palincsar/Brown 1984) ein Erfolg versprechen-der Weg zur Entwicklung der Verstehenskompe-tenz sein kann. Diese Interventionsmethode bei massiven Leseschwierigkeiten ist ursprnglich fr den Frderunterricht entwickelt worden. Da-bei wurde vor allem mit Sachtexten gearbeitet. Dieses Verfahren kann jedoch mit einigen Varia-tionen (siehe letzter Abschnitt) auch erfolgreich im Klassenverband, besonders in der Sekundar-stufe I, eingesetzt werden.

    Das wechselseitige Lehren und Lernen geht davon aus, dass Lerner dann erfolgreich sind, wenn sie aktiv das eigene Lernen mitgestalten und wenn Lehrer und Schler (oder auch: Exper-ten und Anfnger) miteinander kooperieren. Der von Palincsar/Brown entwickelte Ansatz enthlt auf den ersten Blick wenig Neues, die Ergebnis-se dieser Lern- und Lehrform sind aber berzeu-gend. Das reziproke Lehren lsst sich als ein Gesprch in kleinen Gruppen zwischen Lehren-den und Schlern oder zwischen Schlern be-schreiben. Die Lehrerrolle bzw. die Gesprchs-fhrung wird dabei abwechselnd von den Gruppenmitgliedern bernommen. Grundlage des Gesprchs ist ein vorgelesener oder von je-dem still gelesener Textabschnitt eines Sachtex-tes und die folgenden vier Aktivitten, aus denen aber auch einzelne fr die Arbeit am Text ausge-whlt werden knnen. Die vier Aktivitten Fra-gen, Klren, Vorhersagen/Antizipieren und Zusam-menfassen knnen das Gesprch ber den Text strukturieren. Sie erfllen darber hinaus Funk-tionen, die sich in der Forschung immer wieder als bedeutsam fr das Verstehen von Texten er-wiesen haben:

    Fragen (mglicher Impuls: Was wrde der Leh-rer fragen?)

    strkt die Konzentration auf den greren in-haltlichen Zusammenhang und legt es dem Le-ser zudem nahe, einzelne Verstehenshandlun-gen zu berprfen und zu reflektieren.

    Klren (mglicher Impuls: Was verstehe ich noch nicht?)

    schliet ein, die Verlsslichkeit eines Textes prfen zu knnen und trgt dazu bei, Gelesenes kritisch zu bewerten etwa hinsichtlich der in-neren bereinstimmung des Mitgeteilten oder dessen Folgerichtigkeit.

    Vorhersagen (mglicher Impuls: Wie wird der Text weitergehen?)

    richtet die Aufmerksamkeit auf die Folgerun-gen und Ergebnisse, auch auf mgliche Deutun-gen und Annahmen, die der gelesene Text nahe legt.

    Zusammenfassen (mglicher Impuls: Was ist der Kern des Abschnitts?)

    begnstigt die Konzentration auf den gr-eren inhaltlichen Zusammenhang des Tex-tes und befhigt den Leser, Nebenschliches im Text nicht zu beachten. Zudem wird das Vorwis-sen aktiviert.

    Zur Vermittlung der beschriebenen vier Akti-vitten hat sich fr den Lesefrderunterricht ein Vorgehen bewhrt, das die folgenden drei Pha-sen umfasst. Das Entscheidende bei diesem Vor-gehen ist, dass die Experten zu Beginn Hilfen vor allem durch Vormachen geben, die Ler-nenden diese Aktivitten nachahmen knnen und zunehmend mehr Verantwortung fr den Lernprozess bernehmen. Die Hilfe des Ex-perten tritt dabei immer mehr in den Hinter-grund:

    Der Lerner ist Beobachter und nur fr einen kleinen Teil der Aktivitten verantwortlich. Der Lerner bernimmt einzelne Ttigkeiten und wiederholt sie auch.

    Der Lerner nimmt den Prozess zunehmend selbst in die Hand, einschlielich des Befragens; er verinnerlicht und reflektiert den gesamten Lernprozess.

    Aufgabe des Lerners Aufgabe des Experten(Lehrer, versierter Mitschler)

    Der Experte fhrt die Handlun-gen vor, er leitet insgesamt die notwendige geistige Ttigkeit. Der Experte tritt Verantwortung an den Lerner ab, teilt mit ihm die kognitive Ttigkeit, fhrt und korrigiert noch, wo der Ler-ner strauchelt. Der Experte tritt als Helfer in den Hintergrund und beschrnkt sichzunehmend auf die Rolle des inte-ressierten Zuschauers/Zuhrers.

    Phase

    1

    2

    3

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    Wie mit diesem Verfahren konkret gearbei-tet werden kann, zeigen die beiden folgenden Beispiele. Charles, ein schwacher Leser im sieb-ten Schuljahr, erhlt am vierten Tag des Frder-unterrichts also innerhalb der ersten Phase (siehe oben) folgenden Abschnitt, an dessen Lektre sich das Gesprch mit dem Experten an-schliet. Die uerungen 13 bis 21, in denen auf das Fragen hingearbeitet wird, werden hier do-kumentiert (Palincsar/Brown 1984, S. 138 f.):

    Textauszug: Das Spinnenmnnchen ist viel kleiner als sie, sein Krper ist mattbraun. Es verbringt die meiste Zeit damit, auf einer Seite ihres Netzes zu sitzen.

    13. Charles: (hat keine Frage) 14. Experte: Wovon handelt dieser Abschnitt?15. Charles: Spinnenmnnchen. Wie Spinnenmnnchen ...16. Experte: Gut so. Weiter.17. Charles: Wie das Spinnenmnnchen kleiner ist als ... Wie soll ich das sagen?18. Experte: Lass dir Zeit. Du willst eine Frage stellen zum Spinnenmnnchen und was es tut. Die Frage beginnt mit wie. 19. Charles: Wie verbringen sie ihre Zeit? Sitzend.20. Experte: Du bist nahe dran. Die Frage sollte sein: Wie verbringt das Spinnen- mnnchen die meiste Zeit? Nun fragst du.21. Charles: Wie verbringt das Spinnenmnnchen die meiste Zeit?

    Das folgende Beispiel zeigt, wie Teile des re-ziproken Lehrens und Lernens im normalen Unterricht vorkommen knnen. In dem Ge-sprch, das whrend einer Freiarbeitsstunde in einer sechsten Klasse gefhrt wurde, steht das Fragen und das Klren im Vordergrund der Text-arbeit. Es wird deutlich, wie die Lehrerin das wechselseitige Lehren und Lernen mittrgt, da-bei die Anlage des Buches (Inhaltsverzeichnis) und das eigene Vorwissen nutzt. In diesem Bei-spiel geht es jedoch nicht um eine so starke Ri-tualisierung wie in dem oben skizzierten, aber dem Lerner werden durch das laute Denken der Lehrerin Zugnge zum Text aufgezeigt.

    Dieses Beispiel zeigt ein hohes Ma an Ritua-lisierung. Gerade schwcheren Leserinnen und Lesern gibt diese Vorgehensweise jedoch Sicher-heit und Erfolgszuversicht, denn sie wissen, was jeweils zu tun ist und bekommen konkrete Ori-entierungen und inhaltliche und sprachliche Untersttzung.

    Das zweite Beispiel zeigt, dass zum Konzept des wechselseitigen Lehrens und Lernens im-mer auch eine Offenheit fr authentische Lern-situationen gehrt. Die Lehrerin nimmt an-fnglich die aus echtem Interesse am Thema resultierende Frageposition ein, indem sie ihr Vorwissen einbezieht, aber gleichzeitig einen Lernhorizont erffnet (Ich glaube, alle ken-ne ich nicht), und zeigt Wege zur Klrung der noch offenen Fragen auf.

    Fadih (14 Jahre) hat sich in einer Freiarbeitsstun-de aus der Bcherkiste ein Buch aus der Was ist Was Reihe genommen (Die sieben Weltwun-der). Er blttert das Buch durch, ohne eine Zeile zu lesen oder auf einer Seite zu verweilen. Danach legt er das Buch auf den Tisch.

    Die Lehrerin kommt dazu, sieht das Buch und fragt: Welches sind denn nun die sieben Welt-wunder? Ich glaube, alle kenne ich nicht.

    Fadih zuckt mit den Schultern.

    Die Lehrerin: Das ist ja ein tolles Thema, zeig doch mal das Buch.

    Dabei stellt sie sich selbst halblaut Fragen zum Thema: War da nicht dieser Koloss von Rhodos dabei? Gehrt nicht eine Pyramide dazu?

    Gemeinsam mit Fadih schaut sie das Buch an, indem sie mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses die sieben Weltwunder aufzhlt und dann an den Illustrationen entlang ihr aufgefrischtes Wissen mit Fadih vertieft (Da sind ja Pyramiden. Aber welche ist die Cheops-Pyramide? Vielleicht steht das neben dem Bild?). Fadih fngt an, Interesse zu zeigen, beide staunen ber den Koloss von Rhodos, ber die hngenden Grten, lachen ber den Namen Knig Mausolos usw. und lesen einige Informationen, vor allem die Bildunterschriften.

    Teil 5: Voneinander lernen

  • 22 23

    An zwei Beispielen soll jetzt gezeigt werden, wie im Unterricht mit diesem Verfahren gearbei-tet werden kann. Das erste Beispiel eignet sich fr den Deutschunterricht in den Klassen 6 oder 7. Der Text lsst sich z.B. im Zusammenhang mit einer Lektre, in der es um das Schreiben von Tagebucheintrgen geht (z.B. Myron Levoy Ein Schatten wie ein Leopard), bearbeiten.

    (nach Marion Sonnenmoser,

    PSYCHOLOGIE HEUTE,

    September 2001, S. 16 f.; hier

    verndert und gekrzt)

    Nach dem Lesen des Textes sollte auf jeden Fall Zeit fr ein kurzes, offenes Gesprch sein, in dem die Schlerinnen und Schler Gelegen-heit haben, sich zu allen mit dem Text und dem Lesen zusammenhngenden Sachverhalten (zum Textinhalt und -aufbau, zum Leseverhalten etc.) zu uern. Dieses Gesprch bietet die Mglich-keit, die weitere Arbeit in der Gruppe vorzustruk-turieren und am Erstverstndnis der Lesenden anzuknpfen. Das verhindert, dass die folgende Arbeit am Text zu einer rein formalen Prozedur verkmmert.

    FragenEs bietet sich an, vor allem mit schwachen Le-sern Fragen zu einzelnen Abschnitten und nicht gleich zum ganzen Text zu entwickeln. Besonders gut eignet sich dazu der Beginn des Textes (Zei-le 16), der przise gefasst ist und sich dank der konkreten Zahlenangaben gut einprgt. Fragen, die hier mit mehr oder minder groer Hilfe des

    Experten (Lehrer oder guter Leser) herausgear-beitet werden knnten, sind beispielsweise ... Um wen geht es in diesem Text? Wie viele Jugendliche schreiben zeitweise ein Tagebuch? Wann beginnen Jugendliche mit dem Tagebuchschreiben? Wen hat die Forscherin befragt?

    ZusammenfassenZwei unterschiedlich anspruchsvolle Aufgaben sind mglich: Entweder werden lediglich einzel-ne vorgegebene Abschnitte oder der inhaltliche Zusammenhang des gesamten Textes zusam-mengefasst (siehe Arbeitsblatt). Der Text lsst sich gut in fnf Abschnitte aufteilen. Auf dieser Grundlage knnte eine Lsung fr einzelne Ab-schnitte etwa so aussehen:

    2. Abschnitt (Zeile 711): Mdchen schreiben hufiger Tagebuch als Jungen. Tagebuchschreiber denken sich oft eine Figur aus, an die sie schreiben.

    Teil 5: Voneinander lernen

    Mein liebes Tagebuch Trotz neuer Medien Tagebuchschreiben ist nach wie vor beliebt

    Bis heute fhren unverndert 30 bis 60 Prozent der Kinder und Jugend-lichen eine Zeit lang ein Tagebuch. Die meisten Tagebcher werden um das 12. Lebensjahr herum begonnen, erklrt Inge Seiffge-Krenke, die als Forscherin Tagebuchschreiber zwischen 12 und 17 Jahren interviewt und 60 Jugendtagebcher ausgewertet hat.

    Mdchen vertrauen wesentlich hufiger als Jungen ihre geheimsten Gedanken und Gefhle dem Papier an. Sie denken sich auch eher eine Person aus, an die sie schreiben. Diese Figur ist bei Mdchen ebenso wie bei Jungen meistens weiblich und hat hnliche Eigenschaften wie die Schreiberin oder der Schreiber selbst.

    Das Schreiben von Tagebchern dient als Gedchtnishilfe und wird hufig durch einschneidende Erlebnisse wie Umzug, Trennung der Eltern oder erstes Verliebtsein ausgelst. Die Tagebucheintrge haben meistens alltgliche Aktivitten, einzelne Ereignisse und soziale Bezie-hungen (insbesondere enge Freundschaften) zum Inhalt.

    Das Tagebuch verliert ab dem Alter von 16 Jahren immer mehr an Bedeutung. Die Jugendlichen vernachlssigen das Schreiben dann oftmals aus Langeweile und Nachlssigkeit, meint Inge Seiffge-Krenke. Das Schreibbedrfnis lsst auch deshalb nach, weil Jugendliche dann andere gefunden haben, denen sie vertrauen. Im Erwachsenenalter er-innern sich die Tagebuchschreiber kaum noch an die Inhalte oder an die einst ausgedachte Person ihres Tagebuchs.

    Zwischen dem Schreiben von Tagebchern und dem Chatten im Internet sieht die Forscherin brigens einen Zusammenhang: Den Jugendlichen scheint es um den Austausch mit einer nicht zu konkreten Person zu ge-hen, bei dem sie Beginn, Ende und persnliche Ausgestaltung der Kom-munikation kontrollieren knnen.

    5

    10

    15

    20

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    3. Abschnitt (Zeile 1216): In Tagebcher wer-den vor allem alltgliche Aktivitten, einzelne Ereignisse und etwas zu engen Freundschaften aufgeschrieben. Auslser fr das Tagebuchschrei-ben sind hufig einschneidende Ereignisse wie Umzug, Trennung der Eltern oder erstes Ver-liebtsein.

    Eine Zusammenfassung fr den gesamten Text stellt eine bedeutend anspruchsvollere In-tegrationsleistung dar, auch wenn das Vorgehen im Ansatz hnlich ist.

    KlrenLeserinnen und Lesern werden einzelne Stze aus dem Text vorgelegt, die sie dann im Rckgriff auf weitere Textstellen erlutern. Das Gelesene wird dabei daraufhin bewertet, ob und in wel-chem Mae die Darstellung folgerichtig ist und mit dem (eigenen) Vorwissen bereinstimmt.

    Beispiele:A) Die meisten Tagebcher werden um das 12. Le-bensjahr herum begonnen ... (Zeile 4 f.)An diesen Satz knnen sich Fragen anschlieen wie ...Warum mag das Tagebuchschreiben gerade in diesem Alter wichtig werden? (Bezug zum Vor-wissen)Worauf sttzt Inge Seiffge-Krenke ihre Behaup-tung? (Folgerichtigkeit)

    B) Sie denken sich auch eher eine Person aus, an die sie schreiben (Zeile 9 und 10)Das Tagebuch verliert ab dem Alter von 16 Jahren immer mehr an Bedeutung ... Das Schreibbedrfnis lsst auch deshalb nach, weil Jugendliche dann an-dere gefunden haben, denen sie vertrauen. (Zeile 1821)Die Leser werden hier aufgefordert, die Bezge zwischen den beiden uerungen herauszufin-den. (Folgerichtigkeit)

    C) Es wird nochmals der fnfte Abschnitt (Zei-le 2427) herangezogen. Die Leser werden mit folgender Behauptung konfrontiert: Der Schluss hat mit dem brigen Text nichts zu tun. Nimm dazu Stellung. (Folgerichtigkeit; evtl. auch eige-nes Vorwissen zum Chatten im Internet)

    Vorhersagen/AntizipierenBei dieser Aktivitt wird gefordert, dass mgli-che Folgerungen zum Gelesenen bedacht wer-den. In diesem Sinne kann sich eine Frage an-schlieen wie ...

    Welche Vorteile hat das Schreiben eines Ta-gebuchs?

    Welche Vorzge hat das Chatten im Internet?

    Im Ausgangstext von Marion Sonnenmoser heit es dazu: Den Jugendlichen scheint es um den Austausch mit einer nicht zu konkreten Per-son zu gehen, bei dem sie Beginn, Ende und persnliche Ausgestaltung der Kommunikation kontrollieren knnen. Der Umgang mit anderen kann hierbei offenbar auf einer unverbindlichen Ebene ausprobiert und gebt werden.

    Das zweite Beispiel zeigt, wie fr einen relativ kurzen Sachtext in der Gruppe zu den zentralen Handlungen des Fragens und Zusammenfassens gearbeitet werden kann. Dieses sich auf zwei As-pekte beschrnkende Vorgehen hat sich fr die Arbeit in Gruppen im Klassenverband bewhrt und wurde bereits in verschiedenen Schulstufen ausprobiert.

    Grundlage fr dieses Vorgehen sind solche Texte, bei denen es vorrangig um das Lernen aus Texten geht. Wenn im Deutschunterricht z.B. zum Thema Sprachen vergleichen (Klas-se 7 oder 8) mit einem Sachtext gearbeitet wer-den soll, kann der neben stehende Text eine Rol-le spielen:

    Teil 5: Voneinander lernen

    (aus: Sprachwelt Deutsch.

    Sachbuch. 2003. Bern/ Zrich:

    Schulbuchverlag blmv und

    Lehrmittelverlag des Kantons

    Zrich, S. 200)

    Die Entdeckung der indoeuropischen Sprachfamilie

    Dass viele europische Sprachen zusammen eine Familie bilden, die so genannte indoeuropische Sprachfamilie, wurde entdeckt, als die Englnder Indien beherrschten. Dazu mussten sie sich mit der alten indischen Religionssprache Sanskrit auseinander setzen. Ein englischer Richter, William Jones, hielt 1786 einen Vortrag, in dem er darauf hinwies, dass Sanskrit eng verwandt sein msse mit Griechisch und Lateinisch. Jones vermutete, dass diese Sprachen von einer gemeinsamen Ursprache abstammten. Und er ging davon aus, dass auch andere Sprachen wie Deutsch, Englisch und die skandinavischen Sprachen zur gleichen Familie gehrten natrlich auch die romanischen Sprachen, die sich aus dem Latein entwickelt hatten.Diese These wurde im 19. Jahrhundert weiter erforscht und immer klarer besttigt. Von der gemeinsamen indogermanischen Ursprache gibt es allerdings keine schriftlichen Spuren. Die Gemeinsamkeiten zum Beispiel von Deutsch und Lateinisch oder Griechisch und Englisch sind nicht auf den ersten Blick sichtbar. Es brauchte also unendlich viel Forschungsarbeit, um zu beweisen, dass eine gemeinsame indogermanische Ursprache tatschlich existiert hatte.Diese Sprachfamilie wird sowohl indoeuropisch als auch indogermanisch genannt. Indogermanisch war im Deutschen lange gebruchlich, wird aber zum Teil als rassistisch abgelehnt. Der Begriff indoeuropisch weist auf das Verbreitungsgebiet dieser Sprachen hin (Indien und Europa). Aber in ehemaligen Kolonien werden indoeuropische Sprachen auch auerhalb Europas gesprochen (z.B. Englisch in Nordamerika, Spanisch in Lateinamerika). Auerdem gehren manche Sprachen in Europa rund ums Mittelmeer nicht zur indoeuropischen Familie. Man muss also immer unterscheiden, ob ein Begriff im sprachwissenschaftlichen oder im geographischen Sinn gemeint ist.

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    Der Auftrag fr die Klasse kann folgendermaen formuliert sein:1. Unterteilt den Text in Abschnitte (Abstze).2. Bildet Gruppen (ca. 4 bis 5 Mitglieder). 3. Legt fr jeden Absc