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Philosophische Bemerkungen Zu Sartres Roman Der Ekel

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Lebensekel, Sinnkrise und existenzielle Freiheit Philosophische Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres Roman „Der Ekel„

Ulrich Diehl Das Phänomen des Lebensekels wurde in der neueren Literatur zum ersten Mal von Jean Paul Sartre

in seinem 1938 erschienenen Erstlingsroman „La nauseé - Der Ekel„ beschrieben. Beim Lebensekel

handelt es sich weder um einen primär physiologisch bedingten Ekel, wie ihn z.B. Frauen in der

Schwangerschaft erleben können, noch handelt es sich primär um ein gewöhnliches Sich-Ekeln vor

etwas Bestimmten, wie z.B., wenn sich Erwachsene gewöhnlich vor Erbrochenem, verfaulten Speisen

oder geronnener Milch ekeln. Solche äußeren Anlässe unseres Sich-Ekelns sind mehr oder weniger

bestimmte Vorkommnisse von Ungenießbarem, die wir durch den Gesichts- und Tastsinn, vor allem

aber durch den Geruchs- und Geschmackssinn wahrnehmen. In einigen Situationen können wir durch

Wegschauen, Nicht-Berühren, Nicht-Einnehmen, Zuhalten der Nase oder Weggehen eine intensivere

Wahrnehmung der Sachverhalte vermeiden, die das leibhaftige Gefühl des Ekels erregen. In anderen

Situationen wollen oder müssen wir uns aber solchen Sachverhalten aussetzen, etwa weil es zu

unseren beruflichen, elterlichen oder mitmenschlichen Aufgaben gehört, solche Sachverhalte zu

untersuchen, zu bearbeiten oder zu beseitigen. In solchen Situationen mögen wir uns zunächst einmal

ekeln, bevor wir dann das Gefühl des Ekels, wie einen Brechreiz überwinden. In beiden Arten von

Situationen können wir jedoch eine willentliche Kontrolle über das Ausmaß behalten, in dem wir uns

diesem Ekel erregenden Etwas aussetzen wollen.

Keine Möglichkeit der Abkehr und keine Möglichkeit der Beseitigung des Anlasses des Ekels besteht

hingegen bei dem von Sartre beschriebenen Lebensekel. Das Wovor dieses Ekels bleibt weitgehend

unbestimmt und bezieht sich eher auf das eigene Leben als Ganzes, aber auch auf den eigenen Leib,

die eigene Person und gelegentlich auch auf den Raum oder die Gegend, in der man sich befindet. Nur

gelegentlich verbindet sich dieser Lebensekel auch mit einem Sich-Ekeln vor etwas Bestimmten, macht

sich an einem Ereignis, einem Gegenstand oder Körperteil fest. Deswegen verhält sich dieser diffuse

Lebensekel zu einem intentional gerichteten Sich-Ekeln vor etwas Bestimmten wie die ebenso diffuse

Lebensangst als eine existentielle Grundstimmung zu einer intentional gerichteten Furcht vor einem

bestimmten Menschen oder vor einem bestimmten Ereignis, das eintreten könnte. Da es sich eher um

eine sich ausbreitende Stimmung handelt, die der Melancholie zumindest verwandt ist, stellt sich die

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Frage, inwiefern es sich überhaupt noch um einen Ekel im geläufigen Sinne des Wortes handelt und

nicht vielmehr um das Erleben einer gewöhnlichen oder besonderen Spielart der Melancholie. Diese

Vermutung liegt schon alleine deswegen nahe, da Sartre seinen Roman ursprünglich in Anlehnung an

einen berühmten Kupferstich Albrecht Dürers Melancholia nennen wollte. Den Titel La nauseé - Der

Ekel hatte sein Verleger vorgeschlagen, da die Hauptfigur neben Angst und Sinnlosigkeit vor allem

immer wieder auch Ekel empfindet.

Was ist das nun aber für ein Ekel, dieser Lebensekel, den die Hauptfigur in Sartres Roman Antoine

Roquentin immer wieder empfindet? Nun könnte man versucht sein, vorschnell gewisse Kategorien der

Psychopathologie an das von Sartre dargestellte Phänomen heranzutragen. Dies um so mehr, wenn

man weiß, dass ein Vergleich mit bestimmten Formen der Depression und der Melancholie nahe liegt.

Eine solche Herangehensweise birgt jedoch die Gefahr, dass man die zum Verständnis der

beschriebenen Phänomene notwendige Offenheit als Grundeinstellung und Ausgangspunkt verliert.

Diese phänomenologische Offenheit scheint mir aber nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für die

Kunst der Interpretation eines philosophischen oder schriftstellerischen Werkes zu sein, sondern auch

für die mit ihr verwandte Kunst der psychiatrischen Diagnostik. Eine vorläufige Zurückhaltung in der

Anwendung psychopathologischer Kategorien zugunsten eines phänomenologischen Zuganges zu den

Menschen, ihren Lebensproblemen und inneren Konflikten eröffnet dann auch einen Zugang zu der

lebendigeren Sprache der Alltagspsychologie, die nicht zuletzt auch die Sprache des Patienten ist, und

der feinsinnigeren Sprache der Dichterpsychologie, die differenziertere Beschreibungen ermöglicht als

sie die Alltagspsychologie bereit stellen kann. Eine solche Zurückhaltung der Epoché, wie man das in

der phänomenologischen Tradition seit Husserl nennt, bedeutet nun aber keinen Verzicht auf

psychiatrische Kompetenz. Sie ermöglicht vielmehr sogar eine Steigerung der psychiatrischen

Urteilskraft in Diagnose und Therapie und dient damit nicht zuletzt der Gesundung der Patienten. Das

aber ist ihre eigentliche Aufgabe innerhalb des ärztlichen Ethos.

Hermeneutik als praktische Kunst der Interpretation erweist sich im persönlichen und

gemeinschaftlichen Verstehen und Auslegen eines ganz bestimmten vorliegenden Textes. Dieses

Verstehen und Auslegen setzt zunächst eine ganz persönliche Leseerfahrung voraus, zu der auch die

jeweils auftauchenden anfänglichen Deutungen des Geschriebenen und die durchgeführten

Reflexionen über das Gedachte gehören. Eine hermeneutische Vorgehensweise verlangt deswegen,

dass wir diesen ersten Roman Sartres selbst zu Wort kommen lassen. Hermeneutisch vorgehen, heißt

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nun aber auch, diesen Roman eigentlich erst einmal als Roman wahrzunehmen und zu verstehen, um

ihm nicht voreilig unsere eigenen Konzepte und Vorurteile aufzuzwingen. Dazu aber müssen wir aber

mit dem Roman in ein offenes Gespräch eintreten und ihn als Roman zu uns selbst sprechen lassen.

Damit wird die hermeneutische Vorgehensweise zur methodischen Voraussetzung der Kunst des

Verstehens und Interpretierens. Aus dieser Voraussetzung ergibt sich, dass die Methode der

textimmanenten Interpretation vor einer literaturgeschichtlichen, biographischen, psychoanalytischen

oder sonstigen Interpretation Vorrang genießen muß. Andernfalls verlören wir den Blick für das

Kunstwerk als einmaliges und autonomes Sinngefüge und betrachteten es nur noch als bloßes

Exemplar einer literaturgeschichtlichen Gattung, als lebensgeschichtliche Quelle für den Biographen

oder aber als zweckmäßiges Übungsfeld für psychoanalytische bzw. psychopathologische Diagnostik.

1. Sartres Roman La nauseé

Sartres Roman Der Ekel gilt zusammen mit Camus’ Der Fremde als der bedeutendste

existentialistische Roman und begründete damit ein ganz neues Genre philosophischer Literatur neben

den philosophischen Bekenntnisschriften, zu denen so unterschiedliche philosophische Werke wie die

Confessiones von Augustinus, die Essais Montaignes, der Émile Rousseaus, Nietzsches Zarathustra

und Kierkegaards Entweder-Oder gehören. Aber auch wenn dieses Buch im Untertitel als Roman

bezeichnet wird, haben wir es der Form nach eigentlich mit einem Tagebuch zu tun. Vor uns liegt

nämlich das Tagebuch eines gewissen Antoine Roquentin. Roquentin ist ein an seiner

Forschungsarbeit ins Stocken geratener Historiker. Sein Tagebuch umfasst aufgrund seiner teilweise

mehrfachen täglichen Eintragungen etwa nur zwei Monate. Berichtet werden seine Erfahrungen,

Begegnungen und Gespräche mit einigen wenigen anderen Personen, vor allem mit Anny, einer

ehemaligen Geliebten, die er nach einigen Jahren wieder trifft; daneben aber auch mit einem mehr

durch umfangreiche Lektüre als durch ein bewegtes Leben gebildeten Autodidakten, der gerade dabei

ist, sich in alphabetischer Reihenfolge durch die gesamte klassische französische Romanliteratur

hindurch zu arbeiten. Da dieser sich als „Humanist„ verstehende enzyklopädische Autodidakt versucht,

aus diesem etwas abstrusen „Bildungsprogramm„ so etwas wie eine sinnstiftende Lebensaufgabe zu

gewinnen, entsteht zwischen ihm und Roquentin ein Dialog über den Unterschied zwischen den

verschiedenen Humanismen und der davon abzugrenzenden Lebensauffassung des

Tagebuchschreibers.

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Im Vergleich zu diesen beiden Romanfiguren erscheinen alle anderen, wie z.B. die Wirtin Françoise,

mit der Roquentin gelegentlich schläft, aber auch wie eine jüngere Frau namens Lucie als zweitrangig.

Der Ablauf der Ereignisse wirkt insgesamt aneinander gereiht, ohne innere Entwicklung oder

strukturierende Form. Dadurch wird es dem Leser geradezu unmöglich gemacht, in den Ablauf der

Ereignisse wie in eine spannende Geschichte hineingezogen zu werden. Vermutlich nicht ohne Absicht

werden bewusst alle üblichen Erwartungen an einen Roman oder auch nur eine Erzählung in

verstörender Weise durchbrochen. Auf diese Weise wird der Leser in einer geradezu aufdringlichen Art

und Weise gezwungen, die an und für sich genommen wenig erbaulichen Selbstbeschreibungen

Roquentins auszuhalten und nachzuempfinden.

Erschwert wird die Lektüre vor allem durch die teilweise ebenso langatmigen wie detaillierten

Beschreibungen von Erfahrungen einer diffusen Angst, eines nur wenig konkreten Ekels und einer

unüberwindbaren Einsamkeit, die ihm wie eine Krankheit widerfahren und teilweise sogar verfolgen und

verzehren. Unterbrochen werden diese Beschreibungen nur durch die tagebuchartigen Einträge über

die Ereignisse des Alltags, aber auch durch die nie recht gelingende Darstellung von gewissen

geheimnisvoll ekstatischen „Momenten der Vollkommenheit„ sowie durch die abstrakteren

philosophischen Reflexionen über die Zufälligkeit der menschlichen Existenz und ihre trostlose

Absurdität. Nicht nur aus dem Gespräch mit dem Autodidakten, sondern auch aus den gelegentlich

eingestreuten philosophischen Reflexionen wird jedenfalls deutlich, dass Antoine Roquentin sich in

einer psychischen Verfassung, in einer persönlichen Geisteswelt und in einem sozialen Kontext jenseits

aller möglichen humanistischen oder religiösen Sinndeutungen seiner Lebensereignisse, seiner

Beziehungen und seiner ihm widerfahrenden Erlebnisse befindet und bewegt.

2. Ein verstörendes Tagebuch melancholischer Empfindungen

Vor dem eigentlichen Tagebuch befindet sich ein „Undatiertes Blatt„. Dort heißt es: „Ein Tagebuch zu

führen, um klar zu sehen. Sich nicht die Nuancen, die Kleinigkeiten entgehen lassen, auch wenn sie

nach nichts aussehen, und sie vor allem einzuordnen ... Gerade das muß vermieden werden: Man darf

nichts Ungewöhnliches sehen wollen, wo nichts ist.„ (9) Roquentin nimmt sich vor, wie ein nüchterner

Skeptiker oder ein bedachtsamer Detektiv vorzugehen, die Ereignisse genau zu beobachten, sich

nichts entgehen zu lassen, aber auch nichts in die Geschehnisse hinein zu interpretieren. „Was in mir

vorgegangen ist, hat keine klaren Spuren hinterlassen. Das war etwas, was ich gesehen habe und was

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mich angewidert hat... jedenfalls ist sicher, daß ich Angst oder so etwas Ähnliches gehabt habe.„ (10)

Roquentin weiß nicht, wovor er eigentlich Angst gehabt hat, würde es aber gerne wissen. Er neigt zwar

nicht dazu, sich für verrückt zu halten, dennoch erwägt er: „Vielleicht war es am Ende doch ein kleiner

Anfall von Verrücktheit.„ (11)

Sein Tagebuch beginnt mit der Eintragung: „Irgendetwas ist mit mir geschehen, ich kann nicht mehr

daran zweifeln. Es ist wie eine Krankheit gekommen, nicht wie eine normale Gewißheit, nicht wie etwas

Offensichtliches. Heimtückisch, ganz allmählich hat sich das eingestellt; ich habe mich ein bißchen

merkwürdig, ein bißchen unbehaglich gefühlt, das war alles... Und jetzt breitet sich das aus.„ (13)

Roquentin sucht nach einer Erklärung: „Ich glaube, daß ich es bin, der sich verändert hat: das ist die

einfachste Lösung. Auch die unangenehmste. Aber schließlich muß ich zugeben, daß mich solche

plötzlichen Wandlungen überkommen.„ (14) Zahllose kleine Metamorphosen, so empfindet er, stauen

sich an, bis es zu einer kleinen Revolution kommt, weswegen er sein Leben als unstet und

zusammenhangslos erlebt. Er stellt fest, dass er apathisch geworden ist: „Meine Leidenschaft war

abgestorben... jetzt fühlte ich mich leer.„ (15) Sobald das Gefühl der Leere verschwindet, stellt sich die

Lebensangst ein. „Wenn ich mich nicht täusche, wenn alle sich häufenden Vorzeichen auf eine neue

Umwälzung in meinem Leben hindeuten, dann habe ich Angst. Nicht etwa, daß es reich wäre, mein

Leben, gewichtig, kostbar. Aber ich habe Angst vor dem, was entstehen, sich meiner bemächtigen

wird...„ (16). Immer wieder beschreibt Roquentin, dass ihm das Alles widerfährt. Selten erlebt er sich als

der Akteur und Urheber seiner Entscheidungen. Selbst seine Gedanken erlebt er als unstete und

nebelhafte Geschehnisse, „da sie sich nicht an Wörter binden„ (18): „Das ist es: ich gleite sachte auf

den Grund des Wassers, in die Angst.„ (20)

Roquentin stellt fest, dass er an seiner Einsamkeit leidet, auch wenn er immer wieder die Nähe zu

Menschen sucht. Er denkt, dass mit dem Alleinsein nicht zu „spaßen„ ist und staunt, „wie man lügen

kann, wenn man die Vernunft auf seine Seite zieht„ (21). Er ringt mit der ganzen Wahrheit, die er noch

nicht gefunden zu haben glaubt und entdeckt, dass er nicht mehr frei ist. Es fällt ihm schwer, die

Reihenfolge der Ereignisse wieder zu geben und er bemerkt, dass er nicht mehr weiß, „was wichtig ist„

(22). Er leidet am Fehlen von den das alltägliche Leben strukturierenden Handlungszielen sowie an

dem Mangel an Wertempfindungen, die ihn gewisse Hierarchien von Wichtigem und Wertvollen

erkennen lassen. Der Verlust an subjektiv als sinnvoll erlebten Handlungszielen und Werthierarchien

führt zu einem Gefühl des Freiheitsverlustes. Dann bleibt er plötzlich stehen und entdeckt. „Ich bin nicht

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mehr frei, ich kann nicht mehr machen, was ich will.„ (23) „Jetzt begreife ich; ich entsinne mich besser

an das, was ich neulich am Strand gefühlt habe, als ich diesen Kiesel in der Hand hielt. Das war eine

Art süßliche Übelkeit. Wie unangenehm das doch war! Und das ging von diesem Kiesel aus, ich bin

sicher, das ging von dem Kiesel in meine Hände über. Ja, das ist es, genau das ist es: eine Art Ekel in

den Händen.„ (23)

Zwei Tage danach findet er, dass dieser eine Tag, wie geschaffen sei, um in sich zu gehen: „diese kalte

Helligkeit, die die Sonne wie ein unnachsichtiges Urteil auf die Kreaturen wirft - sie dringt durch die

Augen in mich ein; ich werde von einem schwach machenden Licht erleuchtet. Eine Viertelstunde

würde genügen, dessen bin ich sicher, um mich zum äußersten Selbstekel zu bringen.„ (29) Der Ekel

beginnt sich auszubreiten. Spürte er ihn zuerst in seinen Händen, so breitet er sich von Zeit zu Zeit

über seinen ganzen Leib und schließlich auf die Dinge, auf Menschen und die ganze Atmosphäre aus.

Wiederum zwei Tage später entdeckt er, daß er keine Lust mehr zum Arbeiten hat. Er wartet auf die

Nacht, aber „es geht ganz und gar nicht: ich habe ihn, den Dreck, den Ekel.„ (34) Roquentin versucht

dem Ekel zu entkommen, aber es geht nicht und er verliert einmal sogar mitten in einem Café die

Orientierung und die Balance, weil er ihn der Ekel wieder packt und er sogar einen Brechreiz bekommt

„Und das ist es: seitdem hat der Ekel mich nicht verlassen, er hält mich fest.„ (35) Dann entdeckt er,

dass es ganz beliebige Wahrnehmungen von Gegenständen und Verhältnissen im Raum sein können,

die den Ekel erregen bzw. der Ekel sind, wobei der Ekel nicht immer in ihm erscheint, sondern

gelegentlich auch in den Dingen. Einmal kommt es ihm sogar so vor, als ob der Ekel „eins ist mit dem

Café, und ich bin in ihm.„ (37).

So plötzlich, wie ihn der Ekel überfällt, so überraschend kann er ihn auch wieder verlassen. Als er im

Café auf dem Grammophon ein Lied vorgespielt bekommt und der letzte Akkord verklingt, tritt eine

Stille ein, mit der auch plötzlich der Ekel verschwindet. In solchen Situationen erlebt er, wie sich sein

Ich-Gefühl auflöst und er sich gelegentlich in der Musik befindet, so als ob er tanzte. Seinen Körper und

dessen Bewegungen erlebt er dann als hart, eisern und maschinenartig: „Ich bin gerührt, ich empfinde

meinen Körper wie eine abgeschaltete Präzisionsmaschine... Ich kann mich zwar an keine Einzelheiten

erinnern, aber ich sehe die unerbittliche Verkettung der Umstände.„ (42) Eines Tages bemerkt er, wie

die Zukunft, die schon da ist, „kaum blasser als die Gegenwart„ (54) mit derselben verschmilzt, sodass

sie sich auch gar nicht mehr zu verwirklichen braucht, zumal da es da gar nichts von ihr zu erwarten

gibt. „Ich unterscheide die Gegenwart nicht mehr von der Zukunft, und trotzdem: das dauert, das

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verwirklicht sich nach und nach... So ist sie, die Zeit, die nackte Zeit, das kommt langsam zur Existenz,

das läßt auf sich warten, und wenn es kommt, ist man angeekelt, weil man merkt, daß es schon lange

da war.„ (54) „Ruhe. Ruhe. Ich fühle das Dahingleiten, Vorbeistreichen der Zeit nicht mehr.„ (55) Mit der

Auflösung der Strukturierungen des alltäglichen Handelns und der hierarchischen Wertorientierungen

verliert er auch sein Gefühl für das Zeiterleben und eine für ihn mögliche Bedeutung der Zukunft, der

man auch den Namen „Lebenssinn„ geben könnte.

Mit dem Verlust des Lebensinnes geht bisweilen auch das Gefühl eigener Bedeutungslosigkeit und

fehlenden Selbstwertes einher. Roquentin nimmt sich nicht mehr so wichtig: „Und es stimmte, ich war

mir dessen immer bewußt gewesen: ich hatte kein Recht zu existieren. Ich war zufällig erschienen, ich

existierte wie ein Stein, eine Pflanze, eine Mikrobe. Mein Leben wuchs aufs Geratewohl und in alle

Richtungen. Es gab mir manchmal unbestimmte Signale; dann wieder fühlte ich nichts als ein Summen

ohne Bedeutung. (135) Anstelle eines vermeintlichen Rechtes auf seine Existenz und dem Pochen auf

seinen Rechten entdeckt er die Pflichten als Kehrseite der Rechte. Und er bewundert einen gewissen

Pancôme, der statt dessen immer seine Pflicht getan hat, seine ganze Pflicht als Sohn, als Gatte, als

Vater, als Chef. Und er bedenkt: „Wieviel einfacher und schwerer ist es doch, seine Pflicht zu tun.„

(136)

3. Sehnsucht nach Abenteuern, Existenzerfahrung und Ekstase

Es ist allgemein üblich, Sartres Roman Der Ekel vor allem als ein Tagebuch melancholischer

Empfindungen zu lesen und zu interpretieren. Das ist es sicherlich auch, sogar weitgehend, aber nicht

nur. Roquentins Anfälle von melancholischem Daseinsekel kontrastieren nämlich immer wieder mit

verschiedenen anderen Sehnsüchten, Gefühlen und Empfindungen. Läßt man sie außer Acht, so

übersieht man nun aber gerade diejenigen psychischen Symptome, die dafür sprechen, dass es sich

bei der hier beschriebenen besonderen Spielart der Melancholie um einen krisenhaften Übergang in ein

Stadium tieferer und weiterer innerer Freiheit handelt, den man gewöhnlich als existenzielle Freiheit

oder Freiheit des individuellen Selbstseins bezeichnet.

Durch dieses in der menschlichen Krise immer schon angelegte Telos der melancholischen

Empfindungen, ändert sich dann aber auch die Bedeutung der einzelnen Symptome und der Sinn der

ganzen Krise als solcher. Die dem ersten Anschein nach vorliegende melancholische Störung entpuppt

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sich als eine durchaus sinnvolle Lebenskrise mit einem an und für sich wertvollen Resultat: dem

Zuwachs an innerer, existentieller Freiheit eines Menschen. Psychopathologisch gesehen darf man

deswegen diese besondere Spielart der Melancholie als eine eigenständige Form der Melancholie

auffassen, nämlich als existentielle Melancholie. Diese besondere Art der Melancholie werden

Psychiater allerdings nur dann diagnostizieren können, wenn sie noch in der Lage sind,

phänomenologisch, prozessual, biographisch und gestalthaft wahrzunehmen und zu denken. Einer

bloß positivistischen, vorwiegend statischen, rein symptomatischen und empiristisch-kriteriologischen

Vorgehensweise wird sich diese Differenz kaum erschließen.

Zu den verschiedenen Phänomenen, die in einem deutlichen Kontrast zu den vorwiegend

melancholischen Empfindungen und Empfindungsstörungen gehören, befinden sich (1.) die Sehnsucht

nach Abenteuern, (2.) die wiederkehrende Existenzerfahrung und (3.) gewisse Momente der Ekstase.

(1.) Die anhaltende Sehnsucht nach Abenteuern, die Roquentin mit dem Autodidakten verbindet.

Roquentin hat schon allerlei Geschichten und Zwischenfälle erlebt, aber noch keine richtigen

Abenteuer: „Es gibt etwas, worauf ich mehr Wert legte als auf alles übrige - ohne mir dessen richtig

bewußt zu sein. Es war nicht die Liebe, weiß Gott nicht, noch der Ruhm, noch der Reichtum. Es war...

Also, ich hatte mir eingebildet, daß mein Leben in gewissen Momenten eine seltene und kostbare

Qualität bekommen könnte. Es waren keine außergewöhnlichen Umstände nötig: ich verlangte einfach

nur ein bißchen Strenge.„ (63) Noch fällt es ihm schwer, die Qualität dieser „gewissen Momente„ zu

beschreiben, denn: „Es ist diese Weise, wie etwas passiert, auf die ich so großen Wert legte.„ (64)

Diese „gewissen Momente„ kommen zustande, wenn Anfänge wirkliche Anfänge sind und wenn er

weiß, das Alles ein Ende haben wird. „Etwas beginnt, um zu enden: das Abenteuer läßt sich nicht

verlängern; nur durch seinen Tod hat es einen Sinn. Auf diesen Tod, der vielleicht auch mein eigener

sein wird, werde ich unwiderruflich hingetrieben. Jeder Augenblick kommt nur, um die folgenden nach

sich zu ziehen. An jedem Augenblick hänge ich mit ganzem Herzen: ich weiß, daß er einmalig ist;

unersetzlich ist - und trotzdem würde ich keine einzige Geste machen, um zu verhindern, daß er

vergeht.„ (64)

In diesen Momenten ist es nun aber eigentlich wie beim Ekel: „Nichts hat sich verändert, und doch

existiert alles auf andere Art. Ich kann es nicht beschreiben; das ist wie der Ekel, und doch ist es genau

das Gegenteil; endlich erlebe ich ein Abenteuer, und wenn ich mich befrage, begreife ich, daß ich

erlebe, daß ich ich bin und daß ich hier bin; ich bin es, der die Nacht durchfurcht, und ich bin glücklich

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wie ein Romanheld.„ (89) Und wenn diese „gewissen Momente„ wieder verfliegen, trauert Roquentin

ihnen nach, doch findet er keine Möglichkeit, sie zu bewirken oder herzustellen. Er wundert sich über

sich selbst: „Was habe ich nicht alles getan, um so ein volles Gefühl zu erlangen!„ (90) Diese Gefühl

von Abenteuer kommt also, wann es will und es gibt nichts, woran er so sehr hängt, wie daran sie zu

erleben. Dabei hat es gar nichts mit den Ereignissen selbst zu tun, sondern mit der Art, „in der sich die

Augenblicke verketten„ (93) und mit der Gewißheit der Unwiederholbarkeit der Ereignisse, die sich aus

der Unumkehrbarkeit der Zeit ergibt.

Zu der Sehnsucht nach Abenteuern gesellt sich immer wieder auch (2.) die Existenzerfahrung. Diese

Existenzerfahrung sind aber anders als die „gewissen Momente„ der ekstatischen Selbstvergessenheit

nicht immer Momente des Glücks, in der die Dinge im Fluß sind und das Leben einfach, leicht und

heiter erscheint. Im Gegenteil können sie wie die Momente des Ekels verstörend sein. Roquentin

entdeckt, dass er sich in seiner historischen Arbeit über Monsieur de Rollebon selbst verloren hat: „Ich

merkte nicht mehr, daß ich existierte, ich existiere nicht mehr in mir, sondern in ihm... Ich war nur ein

Mittel, ihn zum Leben zu bringen, er war meine Daseinsberechtigung, er hatte mich von mir befreit.

Was soll ich jetzt tun? Vor allem, mich nicht rühren, mich nicht rühren... Ach!„ (157) Dann erlebt er sich

als ein Ding, ein Ding, das er, von der Last der Existenz befreit, selbst ist, bevor die Existenz wieder in

ihn zurück fließt und er wieder fühlt, dass er existiert. Das Kommen und Gehen der Existenzerfahrung

wir gelegentlich leiblich spürbar, wenn er seine Hand betrachtet und spürt, dass er seine Hand ist oder

wenn er einen Schluck Wasser nimmt und das Wasser in seinem Mund und seiner Kehle spürt. Einmal

spürt er das Gewicht seiner Hand am Ende seines Armes. Sie existiert und läßt sich nicht entfernen:

„wohin ich sie auch tue, sie wird weiter existieren, und ich werde weiter fühlen, daß sie existiert; ich

kann sie nicht unterdrücken, noch kann ich den Rest meines Körpers unterdrücken...„ (158)

Im Vergleich zu dem eigenen Leib und zum Fleisch seines Körpers, so meint Roquentin, seien die

Gedanken fast nichts: „Die Gedanken sind das Fadeste, was es gibt.„ Das soll dann auch für das

augustinische bzw. cartesische Gewahrwerden der eigenen Existenz gelten: „ich existiere, das halte ich

selbst in Gang. Ich. Der Körper, das lebt von ganz allein, wenn es einmal angefangen hat. Aber den

Gedanken, den führe ich fort, den wickle ich ab.„ Roquentin verwechselt nun aber dieses intuitive, vor-

propositionale Gewahrwerden der eigenen Existenz, das er selbst erlebt hat, mit einem willentlichen

Denkprozeß. Deswegen vertauscht er auch die Reihenfolge der augustinisch-cartesischen

Selbstgewißheit: „Ich existiere. Ich denke, daß ich existiere.„ (159) Analog ist für ihn die Existenz das

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Erste, das ganz und gar Unbedingte. Der Gedanke aber, daß ich existiere und die intuitive

Selbstgewissheit der eigenen Existenz ist das Zweite, das Bedingte. Damit aber leugnet er die eigene

Kontingenz seiner Existenz und verfehlt die epistemische Evidenz der Selbstgewißheit. Da diese

Umkehrung aber nicht haltbar ist, mißlingt ihm immer wieder die Identifikation mit der nackten Existenz

seines Leibes. Denn: „Mein Denken, das bin ich: deshalb kann ich nicht aufhören. Ich existiere, weil ich

denke...und ich kann mich nicht daran hindern zu denken. Sogar in diesem Moment - es ist gräßlich,

wenn ich existiere, so, weil, es mich graut zu existieren. Ich bin es, der mich aus dem Nichts zieht, nach

dem ich trachte: der Haß, der Abscheu zu existieren, das sind wiederum nur Arten, mich existieren zu

machen, in die Existenz einzutauchen...(159)

Der zutiefst menschliche Konflikt zwischen der Identifikation mit dem Denken und der Identifikation mit

dem Körper bleibt in der Selbstbeobachtung und Reflexion nicht nur bestehen; er wird sogar gesteigert

und spitzt sich zu. Nur in gewissen, selbstvergessenen Momenten des Handelns wird Sartres Figur des

Antoine Roquentin als Mensch und als leibliche Einheit der Person aus diesem inneren Kampf mit sich

selbst und seiner Angst vor dem Leben erlöst. Seine Momente der Erlösung sind jedoch nicht

dauerhaft. Sie halten nicht an. Somit entdeckt er, dass seine Sehnsucht nach einem dauerhaften Glück

zutiefst illusionär ist. Denn die Jagd nach einem dauerhaften Glück, das er selbst erobern oder gar an

sich reißen könnte, geht solange in die Irre, bis er sich dessen bewusst wird, dass es immer schon in

ihm verborgen liegt.

Schließlich erlebt Roquentin immer wieder auch (3.) gewisse Momente der Ekstase. Die Möglichkeit der

Ekstase ist offensichtlich immer schon da und sie scheint uns näher als unser eigener Leib zu sein. Das

eigentliche Glück liegt nicht in den Dingen und eben auch nicht in bestimmten Arten von Ereignissen,

die ihm widerfahren oder die er herbeiführen könnte. Die eigentlichen Momente der Ekstase stellen sich

ein, wenn sie sich selbst einstellen wollen. Sie führen ein Eigenleben. Sie sind eigen. Roquentin kann

sie nicht herbeiführen oder festhalten. Außerdem stellen sie sich erst ein, nachdem ihn der Ekel verfolgt

hat und nachdem er durch den Ekel vor dem Leben in die Angst und Verzweiflung am Dasein

gezwungen wurde. So jedenfalls ist es Roquentin ergangen. Am Ende gibt er auf. Er sucht keinen Sinn

mehr. Er hört auf, sich Bedeutung verschaffen zu wollen. Er nimmt sich nicht mehr so wichtig. Er

versteht jetzt: Das Leben, sein Leben ist absurd. Er braucht keine Belohnungen, er braucht keinen

Trost mehr. Er will nur noch sein Leben leben.

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Sehnsucht nach Abenteuern, Existenzerfahrung und Ekstase sind die primären Stimmungen, Gefühle

und Empfindungen, die das melancholische Erleben Roquentins durchbrechen und eine einseitige

Diagnose als gewöhnliche Melancholie vereiteln. In dieser Einsicht verdichtet sich dann auch die

angemessenere Interpretation von Sartres Erstlingsroman als einer literarischen Darstellung einer

Sinnkrise als Vorbedingung des existentiellen Lebensgefühls und der existentiellen Freiheit. Der leiblich

und atmosphärisch erlebte Lebensekel entpuppt sich dadurch als ein leiblich-seelischer Ausdruck eines

tiefer liegenden, bislang uneingestandenen und verdrängten Zweifels am Sinn des eigenen Daseins in

der Welt. Dieser vorübergehende, psycho-physisch erlebte Verlust der Sinnhaftigkeit der eigenen

Existenz ist nun aber trotz des mit ihm verbundenen Leidens an sich selbst und der Welt kein eigentlich

pathologisches Phänomen, d.h. weder eine gewöhnliche Melancholie noch eine endogene Depression.

Vielmehr handelt es sich um eine außergewöhnliche Grenzerfahrung, die für die Gewinnung einer

eigentlichen und freien Existenz ein durchaus notwendiges und fruchtbares Durchgangsstadium

darstellt. Dies gilt besonders dann, wenn es sich um einen potentiell schöpferischen Menschen handelt,

der diese tiefe Erfahrung in einem künstlerischen Prozess umzuwandeln versteht, sodass sie in

produktiver Weise in das Sinngefüge dieses Kunstwerkes eingeht. Bei Roquentin handelt es sich zwar

nicht um einen Künstler im engeren Sinne des Wortes, wohl aber um einen Historiker, der im Verlaufe

seiner wissenschaftlichen Arbeit in eine tiefe Lebenskrise geraten ist.

4. Lebensekel als geistiger Sinneswandel

Roquentins Sinnkrise bedeutet aber nicht nur einen Durchbruch zur Freiheit der Existenz. Sie wird auch

von einem geistigen Sinneswandel begleitet, der in einer Abkehr von allen falschen Humanismen

besteht, die in verschiedenen ideologischen Formen auftreten, aber stets einen predigerhaften,

besserwisserischen und pharisäischen Unterton aufweisen. Dieser Sinneswandel wird vor allem durch

Sartres Gegenüberstellung Roquentins mit dem Autodidakten deutlich, der nur in und durch die Bücher

lebt und gar nicht weiß, dass er eigentlich ein von einer tiefen Lebensangst getriebener Egozentriker

ist. Der Autodidakt, der sich durch die französische Romanliteratur in alphabetischer Reihenfolge

hindurchzwingt, ist inzwischen bei dem Buchstaben ‘L’ angekommen. Wenn er sein Studium beendet

hat, will er eine Studienreise in den Vorderen Orient unternehmen, um dort seine Kenntnisse zu

vertiefen, aber auch um Unerwartetes, Neues und Abenteuer zu erleben

Der Autodidakt hat wie die meisten Menschen „seinen persönlichen kleinen Starrsinn, der ihn hindert,

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zu bemerken, daß er existiert.„ (177) Roquentin hingegen weiß, dass er existiert, auch wenn man es

ihm nicht ansieht. Der Autodidakt wundert sich, warum er so fröhlich sei. „Weil ich denke...daß wir hier

sitzen, alle, wie wir hier sind, und essen und trinken, um unsere kostbare Existenz zu erhalten, und daß

es nichts gibt, nichts, keinen Grund zu existieren.„ (177) Der Autodidakt empört sich ein wenig, dass

das doch Pessimismus sei und spricht sich in einem salbungsvollen und tröstlichen Ton für den

willentlichen Optimismus aus: „Das Leben hat einen Sinn, wenn man ihm nur einen geben will. Man

muß zuerst handeln, sich in ein Unternehmen werfen. Wenn man anschließend nachdenkt, sind die

Würfel gefallen, man ist engagiert.„ (177)

Roquentin hingegen will davon nichts wissen. Er hält nichts von dieser Art von Lebenslügen. Der

Autodidakt erklärt ihm, dass es doch einen Sinn des Lebens gibt, weil es die Menschen gibt, denn

schließlich sei er Humanist. Zwar glaubt er nicht mehr an Gott, weil den die Wissenschaft längst

widerlegt habe, aber in der Kriegsgefangenschaft habe er im Lager gelernt, an die Menschen zu

glauben. Immer wenn er an das Lager zurück denkt, an das Gedränge in diesem Schuppen, empfindet

er eine tiefe Freude: „da fühlte ich , daß ich diese Menschen wie Brüder liebte, ich hätte sie alle

umarmen mögen. Seitdem empfand ich jedesmal, wenn ich dorthin zurückkehrte, die gleiche Freude.„

(181) Später ging er wegen dieser Freude sogar sonntags zur Messe, obwohl er nicht gläubig gewesen

war. Dort fühlte er sich wieder eins mit den Menschen, die ihn umgaben.

Roquentin zweifelt an dieser Art von Glück, das seiner Ansicht nach das Glück der Herde ist. Skeptisch

bleibt er auch, als der Autodidakt alle Menschen, die ihm morgens bei der Arbeit begegnen, als seine

Freunde bezeichnet, obwohl er sie kaum mit Namen kennt. In solchen Momenten, denkt der Autodidakt

daran Humanist zu sein. Roquentin aber kennt seine Humanisten und ihre vermeintliche Liebe zu den

Menschen. Heute umarmen sie die ganze Welt und morgen bringen sie den Anderen um. Außerdem

sind sie alle untereinander zerstritten. Die radikalen Humanisten mit den linken Humanisten, die

katholischen Humanisten mit den kommunistischen Humanisten und diese wiederum mit den

bürgerlich-liberalen Humanisten. „ Sie hassen sich alle untereinander: als Individuen natürlich - nicht als

Menschen.„ (185) Dabei ist Roquentin gar kein Misanthrop, wie ihm der Autodidakt vorhält, denn auch

die Misanthropie ist für ihn nur eine Stimme im Konzert der menschlichen Einstellungen, „eine

notwendige Dissonanz zur Harmonie des Ganzen„ (187). Er ahnt nur, was sich hinter all diesen

trügerischen Bemühungen um Versöhnung verbirgt: es geht eigentlich nur darum, ein Etikett zu

akzeptieren.

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Roquentin will dem Autodidakten, der die Menschen bewundert und ihnen sogar ein Recht auf

Bewunderung zubilligen möchte, zu seinem Humanismus nicht zustimmen, weil dieser dann bloß

triumphiert. Aber er will sich auch nicht widersetzen, weil er dann nur dessen Spiel mit Begriffen

mitspielt, das von den begrifflichen Gegensätzen lebt: „Ich werde nicht die Dummheit begehen, mich

als „Anti-Humanisten„ zu bezeichnen. Ich bin kein Humanist, das ist alles.„ (187) Außerdem findet er,

„dass man die Menschen ebensowenig hassen wie lieben kann„ und (187) bewundernswert findet er

sie höchstens als Geschöpfe Gottes. Anders als der Autodidakt findet es Roquentin auch gar nicht so

schwer ein Mensch zu sein: „ich hatte das nie sehr schwer gefunden. Mir schien es, als brauche man

sich nur gehenzulassen.„ (191) Die humanistische Moralpredigt über die Menschen, die man angeblich

lieben und bewundern müsse, findet er schließlich nur noch zum Kotzen - „und mit einem Schlag ist er

da: der Ekel„. (193) Das also ist der Ekel; diese die Augen blendende Evidenz? Was habe ich mir den

Kopf zerbrochen! Was habe ich darüber geschrieben! Jetzt weiß ich: Ich existiere - die Welt existiert -,

und ich weiß, daß die Welt existiert. Das ist alles. Das ist alles. Aber das ist mir egal. Merkwürdig, daß

mir alles so egal ist: das erschreckt mich... Und danach kamen weitere Ekelanfälle.„ (193/4)

Endlich wird der verborgene Zusammenhang zwischen dem Lebensekel und den erbaulichen Idealen

der verschiedenen Humanismen offensichtlich. Während Roquentin gerade die dunklen Pfade der

Existenzerfahrung durchläuft, fehlt dem Autodidakten noch diese Erfahrung, die ihn mit der tiefen

Grundlosigkeit und haltlosen Zufälligkeit seiner eigenen Existenz konfrontiert. Zu dieser

Existenzerfahrung gehört zunächst einmal das tiefe Wissen um die eigene Sterblichkeit, das kein

intellektuelles Wissen und schon gar kein Lippenbekenntnis ist, sondern eine in der Gemütstiefe

verwurzelte Hingabe an das Leben selbst, das ganz gewiß zum Tode führt. Wer diese dunkle Seite des

Lebens nicht angenommen hat, der muß sich deswegen nicht nur vor dem Tod fürchten, sondern auch

vor dem Leben selbst. Deswegen klammert sich der Autodidakt an seine allzu eifrigen literarischen

Bildungsstudien, weil sie ihn über die Grundlosigkeit, Zufälligkeit und Endlichkeit seines Lebens ebenso

hinwegtrösten sollen.

Dem selben Zweck dient dann auch sein philosophisches pseudo-humanistisches Bekenntnis zur

„allgemeinen Menschenliebe„, die nichts mit einer wirklichen Liebe zu einem konkreten, ihm

nahestehenden und sterblichen Menschen zu tun hat. Ganz im Gegenteil verbirgt diese abstrakte

Philanthropie sogar ihren eigentlichen Zweck einer verborgenen Selbstsucht, eines pseudo-

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humanistischen philanthropischen Narzißmus. Denn die abstrakte allgemeine Menschenliebe entspricht

eher der Erfüllung einer institutionellen Pflicht und hat nichts von der emotionalen Wärme und dem

selbstverständlichen Wohlwollen zum Mitmenschen. Ihr Interesse gilt nämlich gar nicht so sehr dem

Anderen als Individuum, sondern eher dem Anderen als Exemplar der Gattung Mensch. Dieser falsche

Humanismus verfehlt den Anderen als Anderen, d.h. als individuellen Menschen mit einem berechtigten

Anspruch auf ein eigenes Leben in Freiheit und Würde. Statt dessen degradiert er ihn scheinbar

altruistisch, aber eigentlich egoistisch zu einem Objekt für das Ausleben seines falschen

humanistischen Ideals. Dem falschen, weil nur vorgetäuschten Humanisten fehlt sogar jedes wirkliche

Interesse am Anderen. Er stellt sich vielmehr nur als Humanisten dar, will als Humanist erscheinen,

wirken und gelten. Damit verfehlt er aber immer schon die eigentliche und echte Humanität des

konkreten solidarischen Beistehens in der wirklichen Notlage.

5. Von der Existenzerfahrung zum Gespräch

Zur Existenzerfahrung gehört auch die rückhaltlose Konfrontation mit dem unfaßbar Absurden, dem

erfassbar Sinnlosen und offensichtlichen Bösen. Insofern führt die Existenzerfahrung nicht nur zum

Gewahrwerden der Endlichkeit des eigenen Lebens, sondern auch zur Wahrnehmung des

Sinnwidrigen, durch das die zeitliche, individuelle und sinnbezogene menschliche Existenz immer

wieder bedroht wird. Wer diese dunkle Seite der menschlichen Existenz verkennt, verfällt nur allzu

leicht der hartnäckigen Illusion eines allgemeingültigen und ewigen höchsten Sinnes des menschlichen

Daseins in der Welt, der allen Menschen in allen Epochen und Kulturen gemeinsam ist. Diese

intellektuelle Illusion verstellt aber nicht nur den offenen, respektvollen oder gar liebenden Blick auf den

Anderen mit seiner andersartigen und eigenen persönlichen Sinnvorstellung, sie verhindert auch ein

tieferes Verständnis für die eigentliche Bedeutung der existentiellen, ethischen und politischen Freiheit

als Voraussetzung der menschlichen Würde und sittlichen Verantwortung.

Für Roquentin, der den Lebensekel der existentiellen Melancholie am eigenen Leibe erfahren hat, gibt

es kein Zurück mehr in den transzendentalen Schein eines benennbaren, allgemeingültigen und

ewigen Sinnes für alle Menschen in allen Epochen, Kulturen und Religionen. Er durchschaut, dass das

ein götzendienerischer Irrglaube ist, der sogar zu einer totalitären Ideologie führen kann und damit zu

einer hybrishaften Anmaßung der Menschen und Institutionen, die sich einer solchen Ideologie

verschreiben. Damit wird Roquentin zum literarischen Vorbild desjenigen gemeinsamen existenziellen

Freiheitsbewusstseins, das in verschiedenen philosophischen Variationen Sartre, Heidegger und

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Jaspers (aber auch Camus, Marcel und Tillich) vorschwebte. Ein solches weniger illusionäres

Freiheitsbewusstsein bedeutet nun aber gerade nicht den Verlust eines gemeinsamen Sinnhorizontes,

sondern vielmehr das erfahrbare Offenstehen eines Horizontes, unter dem das gemeinschaftliche

philosophische Gespräch auf der Suche nach einem vermutlichen Sinn des Ganzen überhaupt erst

stattfinden kann.

Literatur

1. Biemel, W., Jean-Paul Sartre, Hamburg 1990

2. Bollnow, O.F., Existenzphilosophie, Stuttgart 1955

3. Heidegger, M., Über den Humanismus, in: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern/München 31975

4. Jaspers, K., Über die Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus, Stuttgart 1962

5. Kolnai, A., Der Ekel, Tübingen 21974

6. Murdoch, I., Sartre. Romantic Rationalist, New Haven 1953

7. Sartre, Jean-Paul, Der Ekel, Hamburg 1982