188
Plenarprotokoll 16/202 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 202. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 Inhalt: Wahl der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dorothee Bär und Monika Griefahn als ordentliche Mitglieder für den Verwaltungsrat und der Abgeordneten Philipp Mißfelder, Marco Wanderwitz und Angelika Krüger-Leißner als Stellvertreter für den Verwaltungsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Angelika Krüger- Leißner als ordentliches Mitglied und der Abgeordneten Gitta Connemann als stellver- tretendes Mitglied für die Vergabekommis- sion der Filmförderungsanstalt . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Michael Brand zum Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung: zum Stand der Millenniumsentwicklungsziele 2015 und zu den Auswirkungen der Finanz- und Wirt- schaftskrise auf die Entwicklungsländer . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dreizehnter Bericht zur Entwicklungspoli- tik der Bundesregierung (Drucksache 16/10038) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und Armut (Drucksache 16/11755) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 21781 B 21781 B 21781 B 21781 C 21783 A 21783 A 21783 C 21783 C 21783 D 21787 B 21788 D 21791 B 21793 B 21794 C 21795 B 21796 B 21797 C 21798 C 21800 D 21800 D 21801 C 21802 C 21804 A 21805 B 21806 D

Plenarprotokoll 16/202 - Linklaters · 2019. 10. 27. · Plenarprotokoll 16/202 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 202. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 Inhalt:

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Plenarprotokoll 16/202

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

202. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

I n h a l t :

Wahl der Abgeordneten Wolfgang Börnsen(Bönstrup), Dorothee Bär und MonikaGriefahn als ordentliche Mitglieder für denVerwaltungsrat und der AbgeordnetenPhilipp Mißfelder, Marco Wanderwitz undAngelika Krüger-Leißner als Stellvertreterfür den Verwaltungsrat . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner als ordentliches Mitglied und derAbgeordneten Gitta Connemann als stellver-tretendes Mitglied für die Vergabekommis-sion der Filmförderungsanstalt . . . . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Michael Brand zumSchriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundesministerin für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung: zum Stand derMillenniumsentwicklungsziele 2015 und zuden Auswirkungen der Finanz- und Wirt-schaftskrise auf die Entwicklungsländer . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 1:

Unterrichtung durch die Bundesregierung:Dreizehnter Bericht zur Entwicklungspoli-tik der Bundesregierung(Drucksache 16/10038) . . . . . . . . . . . . . . . . .

21781 B

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21781 B

21781 C

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21783 C

21783 C

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . .

Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . .

Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer,Markus Kurth, Britta Haßelmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Gerechtigkeit undChancen statt Ausgrenzung und Armut(Drucksache 16/11755) . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

21783 D

21787 B

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

Zusatztagesordnungspunkt 2:

Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:Sozialen Absturz von Erwerbslosen ver-meiden – Vermögensfreigrenzen im SGB IIanheben(Drucksache 16/11748) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . .

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 28:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-buches – Anhebung der Höchstgrenzedes Tagessatzes bei Geldstrafen(Drucksache 16/11606) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Dr. Hakki Ke-skin, Monika Knoche, Hüseyin-KenanAydin, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Gewerkschaften inder Türkei stärken(Drucksache 16/11248) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU undder SPD: Bürgerschaftliches Engage-ment umfassend fördern, gestalten undevaluieren (Drucksache 16/11774) . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusatztagesordnungspunkt 3:

a) Antrag der Abgeordneten Dr. VolkerWissing, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP: Steuervollzugeffektiver machen(Drucksache 16/11734) . . . . . . . . . . . . . .

b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht der Bundesregierung zur Aus-wärtigen Kulturpolitik 2007/2008(Drucksache 16/10962) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 29:

a) Zweite und dritte Beratung des vom Bun-desrat eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur steuerlichen Gleichbe-handlung der Auftragsforschung öf-fentlich-rechtlicher Forschungseinrich-tungen (Hochschulforschungsförde-rungsgesetz – HFFördG)(Drucksachen 16/5726, 16/11104) . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung zu der Unterrichtung durchdie Bundesregierung: Vorschlag für eineVerordnung des Europäischen Parla-ments und des Rates zur Änderung derVerordnungen (EG) Nr. 549/2004, (EG)Nr. 550/2004, (EG) Nr. 551/2004 und(EG) Nr. 552/2004 im Hinblick auf dieVerbesserung der Leistung und Nach-haltigkeit des europäischen Luftver-kehrssystems (inkl. 11323/08 ADD 1 bis11323/08 ADD 3) KOM(2008) 388 endg.;Ratsdok. 11323/08(Drucksachen 16/10286 Nr. A.60, 16/11447)

c) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung zu dem An-trag der Abgeordneten Axel E. Fischer(Karlsruhe-Land), Ilse Aigner, MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-geordneten René Röspel, Jörg Tauss, WilliBrase, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Im Deutsch-Israeli-schen Jahr der Wissenschaft und Tech-nologie 2008 neue Impulse für die Zu-sammenarbeit setzen(Drucksachen 16/10847, 16/11724) . . . . .

d) Beschlussempfehlung des Rechtsaus-schusses: Übersicht 13 über die demDeutschen Bundestag zugeleitetenStreitsachen vor dem Bundesverfas-sungsgericht(Drucksache 16/11638) . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 III

e)–l)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 515, 516,517, 518, 519, 520, 521 und 522 zu Peti-tionen(Drucksachen 16/11652, 16/11653, 16/11654,16/11655, 16/11656, 16/11657, 16/11658,16/11659) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit zu der Unterrichtungdurch die Bundesregierung: Vorschlag füreine Richtlinie des Europäischen Parla-ments und des Rates über Qualitäts- undSicherheitsstandards für zur Transplanta-tion bestimmte menschliche Organe (inkl.16521/08 ADD 1 und 16521/08 ADD 2)(ADD 1 in Englisch) KOM(2008) 818 endg.;Ratsdok. 16521/08 (Drucksachen 16/11517 Nr. A.30, 16/11781)

Tagesordnungspunkt 5:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Verfolgungder Vorbereitung von schweren staats-gefährdenden Gewalttaten (Drucksache 16/11735) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-kämpfung des Aufenthalts in terroristi-schen Ausbildungslagern (… StrÄndG)(Drucksache 16/7958) . . . . . . . . . . . . . . . .

Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

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Tagesordnungspunkt 6:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Regelungder Verständigung im Strafverfahren(Drucksache 16/11736) . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zurRegelung von Absprachen im Strafver-fahren(Drucksache 16/4197) . . . . . . . . . . . . . . .

Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

Antrag der Abgeordneten Patrick Döring,Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther(Plauen), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Bußgeldkatalog beiUmweltzonen ändern – Zurück zur Ver-hältnismäßigkeit(Drucksache 16/10313) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Drit-ten Gesetzes zur Änderung des Umsatz-steuergesetzes(Drucksache 16/11340) . . . . . . . . . . . . . .

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IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

b) Erste Beratung des von den AbgeordnetenGudrun Kopp, Jens Ackermann, Dr. KarlAddicks, weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfseines … Gesetzes zur Änderung desUmsatzsteuergesetzes(Drucksache 16/11674) . . . . . . . . . . . . . . .

Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 9:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab-geordneten Sevim Dağdelen, Cornelia Hirsch,Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Für eine erleichterteAnerkennung von im Ausland erworbenenSchul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen(Drucksachen 16/7109, 16/11732) . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 4:

Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk,Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP: Lebens-leistung von Migrantinnen und Migrantenwürdigen – Anerkennungsverfahren vonBildungsabschlüssen verbessern(Drucksache 16/11418) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marcus Weinberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gesine Multhaupt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen(Bönstrup), Maria Michalk, Dr. Hans-PeterUhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der AbgeordnetenRainer Arnold, Klaus Uwe Benneter, ClemensBollen, weiterer Abgeordneter und der Frak-

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tion der SPD: Zehn Jahre anerkannteRegional- und Minderheitensprachen inDeutschlandSchutz – Förderung – Perspektiven(Drucksache 16/11773) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . .

Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Clemens Bollen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Uwe Barth (FDP) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,Alexander Bonde, Kerstin Andreae, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Bankenrettung neuausrichten (Drucksache 16/11756) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Zivil-schutzgesetzes (Zivilschutzgesetzände-rungsgesetz – ZSGÄndG)(Drucksachen 16/11338, 16/11780) . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht des In-nenausschusses zu dem Antrag der Abge-ordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr),Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Bevölkerungsschutzsystem refor-mieren – Zuständigkeiten klar regeln(Drucksachen 16/7520, 16/11780) . . . . . .

Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

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Page 5: Plenarprotokoll 16/202 - Linklaters · 2019. 10. 27. · Plenarprotokoll 16/202 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 202. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 Inhalt:

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 V

Tagesordnungspunkt 13:

Große Anfrage der Abgeordneten SibylleLaurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Frauen und Migration – Die Integrationvon Frauen mit Migrationshintergrund inder Bundesrepublik Deutschland(Drucksachen 16/4242, 16/7408) . . . . . . . . . .

Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurAnpassung eisenbahnrechtlicher Vor-schriften an die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und desRates vom 23. Oktober 2007 über dieRechte und Pflichten der Fahrgäste imEisenbahnverkehr(Drucksache 16/11607) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Marianne Schieder (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 15:

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses zu dem Antrag der AbgeordnetenUlla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: V-Leute in der NPD abschalten(Drucksachen 16/9007, 16/11731) . . . . . . . . .

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tagesordnungspunkt 18:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung der Aktionärsrechterichtlinie(ARUG)(Drucksache 16/11642) . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 5:

Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-führung erstinstanzlicher Zuständigkeitendes Oberlandesgerichts in aktienrechtli-chen Streitigkeiten(Drucksache 16/9020) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Ar-beitszeitrichtlinie – Hohen Arbeitnehmer-schutz EU-weit sicherstellen (Drucksache 16/11758) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Antrag der Abgeordneten Patrick Döring,Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther(Plauen), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Technische Kriterien fürWinterreifenkennzeichnung M+S festlegen(Drucksache 16/11213) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Heidi Wright (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

Tagesordnungspunkt 19:

Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch,Werner Dreibus, Volker Schneider (Saarbrü-cken), Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIELINKE: Keine Ausbeutung von Praktikan-tinnen und Praktikanten in den Bundes-ministerien und dem Bundeskanzleramt(Drucksache 16/11662) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 7:

Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Peter Hettlich, Dr. Thea Dückert, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Versorgung fürGeschiedene aus den neuen Bundesländernverbessern(Drucksache 16/11684) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi,Dr. Gesine Lötzsch, Kersten Naumann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Gleichberechtigte Entschädigungvon Strahlenopfern in Ost und West schaf-fen – umfassendes Radaropfer-Entschädi-gungsgesetz einführen(Drucksache 16/8116) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Herrmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Rolf Kramer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 8:

Antrag der Abgeordneten Undine Kurth(Quedlinburg), Bärbel Höhn, Krista Sager,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Experimente

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zur Meeresdüngung dürfen marine Öko-systeme nicht belasten (Drucksache 16/11760) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenDr. Ilja Seifert (DIE LINKE) zur Beratung derBeschlussempfehlung: Vorschlag für eineRichtlinie des Europäischen Parlaments unddes Rates über Qualitäts- und Sicherheitsstan-dards für zur Transplantation bestimmtemenschliche Organe (inkl. 16521/08 ADD 1und 16521/08 ADD 2) (ADD 1 in Englisch)KOM(2008) 818 endg.; Ratsdok. 16521/08 (Drucksachen 16/11517 Nr. A.30, 16/11781) (Tagesordnungspunkt 14) . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Erklärung des Abgeordneten Volker Beck(Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zurAbstimmung über die Beschlussempfehlung:Für eine erleichterte Anerkennung von im Aus-land erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufs-abschlüssen (Tagesordnungspunkt 9) . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung desAntrags: Zehn Jahre anerkannte Regional-und Minderheitensprachen in DeutschlandSchutz – Förderung – Perspektiven (Tages-ordnungspunkt 10)

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– des Entwurf eines Gesetzes zur Änderungdes Zivilschutzgesetzes (Zivilschutzge-setzänderungsgesetz – ZSGÄndG)

– der Beschlussempfehlung zu dem Antrag:Bevölkerungsschutzsystem reformieren –Zuständigkeiten klar regeln

(Tagesordnungspunkt 12 a und b)

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 VII

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung derBeschlussempfehlung: V-Leute in der NPDabschalten (Tagesordnungspunkt 15)

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Europäische Arbeitszeitrichtlinie –Hohen Arbeitnehmerschutz EU-weit sicher-stellen (Zusatztagesordnungspunkt 6)

Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Versorgung für Geschiedene ausden neuen Bundesländern verbessern (Zusatz-tagesordnungspunkt 7)

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21943 D

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Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Gregor Amann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Experimente zur Meeresdün-gung dürfen marine Ökosysteme nicht belas-ten (Zusatztagesordnungspunkt 8)

Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Heinz Schmitt (Landau) (SPD) . . . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21781

(A) (C)

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202. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können,müssen wir neue Mitglieder für den Verwaltungsrat unddie Vergabekommission der Filmförderungsanstaltwählen.

Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für den Verwal-tungsrat den Kollegen Wolfgang Börnsen und dieKollegin Dorothee Bär sowie die Kollegen PhilippMißfelder und Marco Wanderwitz als jeweilige Stell-vertreter vor. Vonseiten der SPD-Fraktion ist die Kolle-gin Monika Griefahn als ordentliches Mitglied und dieKollegin Angelika Krüger-Leißner als ihre Stellvertre-terin vorgesehen.

In der Vergabekommission soll der Deutsche Bundes-tag durch die Kollegin Angelika Krüger-Leißner ver-treten werden. Als stellvertretendes Mitglied ist von derCDU/CSU-Fraktion die Kollegin Gitta Connemann be-nannt worden.

Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Dasist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kolleginnenund Kollegen in den Verwaltungsrat bzw. die Vergabe-kommission der Filmförderungsanstalt gewählt.

Die Kollegin Kristina Köhler hat ihr Amt als Schrift-führerin niedergelegt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

– Das ist ebenso unverständlich wie bedauerlich. Immer-hin gibt es einen Vorschlag für einen Nachfolger von derCDU/CSU-Fraktion, nämlich den Kollegen MichaelBrand. Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist of-fenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Michael Brandhiermit zum Schriftführer gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungDreizehnter Bericht zur Entwicklungspolitikder Bundesregierung– Drucksache 16/10038 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausErnst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKESozialen Absturz von Erwerbslosen vermeiden –Vermögensfreigrenzen im SGB II anheben– Drucksache 16/11748 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Haushaltsausschuss

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren(Ergänzung zu TOP 28)

a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Volker Wissing, Dr. Hermann Otto Solms,Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP

Steuervollzug effektiver machen

– Drucksache 16/11734 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierung

Bericht der Bundesregierung zur Auswär-tigen Kulturpolitik 2007/2008

– Drucksache 16/10962 –

Redetext

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21782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Präsident Dr. Norbert Lammert

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Sportausschuss Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medien

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten SibylleLaurischk, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Lebensleistung von Migrantinnen und Mi-granten würdigen – Anerkennungsverfahrenvon Bildungsabschlüssen verbessern

– Drucksache 16/11418 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einführung erst-instanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandes-gerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten

– Drucksache 16/9020 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen Ar-beitnehmerschutz EU-weit sicherstellen

– Drucksache 16/11758 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Peter Hettlich, Dr. Thea Dückert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Versorgung für Geschiedene aus den neuenBundesländern verbessern

– Drucksache 16/11684 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, Krista Sager,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Experimente zur Meeresdüngung dürfen ma-rine Ökosysteme nicht belasten

– Drucksache 16/11760 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Federführung strittig

ZP 9 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes(Artikel 106, 106 b, 107, 108)

– Drucksache 16/11741 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Innenausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Neuregelung der Kraftfahrzeug-steuer und Änderung anderer Gesetze

– Drucksache 16/11742 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenKoppelin, Ulrike Flach, Otto Fricke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP

Schulden des Bundes durch das Konjunktur-paket II vollständig im Bundeshaushalt etati-sieren – Kein Sondervermögen Investitions-und Tilgungsfonds

– Drucksache 16/11743 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

ZP 12 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, RolandClaus, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE

Großbanken vergesellschaften

– Drucksache 16/11747 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTrittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln),weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Zeit für Abrüstung und Rüstungskontrolle istreif – Deutschland muss einen führenden Bei-trag dazu leisten

– Drucksache 16/11757 –

ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), AlexanderBonde, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21783

(A) (C)

(B) (D)

Präsident Dr. Norbert Lammert

Aufnahme von Gefangenen aus GuantánamoBay ermöglichen

– Drucksache 16/11759 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)Innenausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss Federführung strittig

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.

Der bisher zur Beratung vorgesehene Tagesordnungs-punkt 14 kann ohne Debatte abgeschlossen werden.Hierdurch rücken die nachfolgenden Tagesordnungs-punkte 16 und 18 der Koalitionsfraktionen entsprechendvor. Der Tagesordnungspunkt 27 soll abgesetzt werden.

Schließlich mache ich noch auf zwei nachträglicheAusschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-liste aufmerksam:

Der in der 183. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undJugend (13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesenwerden.

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über geneti-sche Untersuchungen bei Menschen (Gendia-gnostikgesetz – GenDG)

– Drucksachen 16/10532, 16/10582 – überwiesen:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Der in der 199. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demInnenausschuss (4. Ausschuss) zur Mitberatung über-wiesen werden.

Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck (Köln), Kerstin Andreae, Birgitt Bender,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Rehabilitierung und Entschädigung der nach1945 in Deutschland wegen homosexuellerHandlungen Verurteilten

– Drucksache 16/11440 – überwiesen:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Ich darf offensichtlich auch zu diesen MitteilungenIhr Einverständnis feststellen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 sowieZusatzpunkt 1:

3 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundesministerin für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung

zum Stand der Millenniumsentwicklungsziele2015 und zu den Auswirkungen der Finanz-und Wirtschaftskrise auf die Entwicklungslän-der

ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Dreizehnter Bericht zur Entwicklungspolitikder Bundesregierung

– Drucksache 16/10038 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auch hierzu gibtes offenkundig Einvernehmen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-hält nun die Bundesministerin für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung, Frau Wieczorek-Zeul.Bitte schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgenau zwei Wochen hat UNICEF die neuesten Statisti-ken zur weltweiten Müttersterblichkeit vorgelegt. ProTag enden weltweit mindestens 1 500 Geburten für dieMütter mit dem Tod. Jede Minute stirbt weltweit eineFrau an den Folgen einer Schwangerschaft oder direktbei der Geburt eines Kindes. Keines der globalenMenschheitsziele droht auf so tragische Weise verfehltzu werden wie die Verbesserung der Gesundheit vonMüttern und Neugeborenen.

Ich will einfach nicht glauben – ich denke, das kannich für uns alle sagen –, dass zur Rettung dieser Mütterund Kinder, zur Rettung der ärmsten Milliarde diesesPlaneten, keine beherzte, kluge Intervention möglichsein soll, die diese Leiden und Opfer verhindert.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Millenniumsentwicklungsziele dienen uns alsKompass auf dem Weg zu einer gerechteren Globalisie-rung. Bereits vor 30 Jahren hat die Nord-Süd-Kommis-sion unter Willy Brandt eine neue, gerechtere Gestaltungder Welt gefordert. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hatdie Weltgemeinschaft diesen Gedanken endlich konkre-tisiert. Mit den Millenniumsentwicklungszielen der Ver-

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einten Nationen sind acht Gebote einer gerechten Glo-balisierung beschlossen worden, und es sind erstmalsGrößen- und Zielvorgaben verbindlich gemacht worden.

Die Weltgemeinschaft hat erstens beschlossen, bis2015 den Anteil der Menschen, die in absoluter Armutleben, zu halbieren. Es hat in den letzten Jahren deutli-che Fortschritte dabei gegeben. Wir dürfen aber auchnicht vergessen: Die Krisen des letzten Jahres habenüber 100 Millionen Menschen wieder in Not und Elendzurückgeworfen.

Wir haben im Rahmen der Millenniumsziele zweitensbeschlossen, bis 2015 für alle Kinder die allgemeine Pri-marschulbildung zu verwirklichen. Heute besuchenweltweit 83 Prozent der Kinder eine Grundschule. Seit2001 wurden in den Entwicklungsländern auch Dank derEntschuldungsinitiativen, die wir mit vorangebracht ha-ben, 34 Millionen Kinder zusätzlich eingeschult. Das istein Riesenfortschritt für sie, für ihre Länder und für unsalle. Aber leider ist es so, dass immer noch 75 MillionenKinder weltweit keinen Primarunterricht haben. Auchhier ist weiteres Handeln dringend notwendig.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben drittens beschlossen, bis 2015 die Gleich-stellung der Geschlechter – damit ist besonders die Stär-kung der Rolle der Frau gemeint – voranzutreiben. Invielen Ländern sind Fortschritte greifbar. Das Land mitdem höchsten Frauenanteil im Parlament ist mittlerweileRuanda mit 50 Prozent.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist ein deutliches Zeichen. Auch bei der Bildung fürMädchen sind wir vorangekommen. Aber nach wie vorsind 70 Prozent der Menschen, die weltweit in Armutleben, Frauen. Dabei heißt Entwicklung voranzubringen– wer wüsste dies besser als Sie, die Sie sich in diesemBereich engagieren? –, doch vor allem die Frauen zustärken. Auch hier bleibt viel zu tun. Wir werden weiterdranbleiben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben weiterhin beschlossen, dass insbesonderedie Kindersterblichkeit zurückgedrängt werden muss,die Gesundheit von Müttern und Kindern verbessertwerden muss, die Ausbreitung von Pandemien wie HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria zum Stillstand gebrachtwerden muss, dem Raubbau an unserem Planeten Ein-halt geboten werden muss, der Zugang zu lebenswichti-gen Ressourcen für alle Menschen sichergestellt werdenmuss sowie die Entwicklung als eine internationale Ge-meinschaftsaufgabe verstanden und umgesetzt werdenmuss.

Um diese Ziele zu erreichen, hat sich die Bundesregie-rung mit anderen Industrieländern und mit den Entwick-lungsländern auf gemeinsame internationale Vereinba-rungen verständigt. Wir haben diese Politik maßgeblichmitgestaltet. Ich möchte an vier Beispielen kurz darstel-len, was erreicht worden ist, was möglich ist und zu waswir uns verpflichtet haben.

Erstens. Stichwort „Entwicklungsfinanzierung“. Wirstehen zu den Verpflichtungen von Gleneagles der G-8-Staaten. Wir stehen zum Stufenplan der EuropäischenUnion, bis 2010 0,51 Prozent und bis 2015 0,7 Prozentunseres Bruttonationalproduktes für Entwicklung auszu-geben. Wir wissen: Zur Umsetzung der Millenniumsent-wicklungsziele sind innovative Finanzierungsinstru-mente unverzichtbar.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind die denn?)

Die Bundesregierung hat Einnahmen aus dem Emis-sionshandel bereits in den Haushalten 2008 und 2009 fürinternationalen Klimaschutz bereitgestellt. Dieses Enga-gement wird noch ausgebaut.

Zweitens. Die Bundesregierung mobilisiert – auchdas ist wichtig – in den Haushalten von BMU und unse-rem Ministerium mehr als 1 Milliarde Euro für Vorhabenzum Ausbau erneuerbarer Energien und für Energieeffi-zienz in den Partnerländern. Diese Woche hat IRENA,die Internationale Agentur zur Förderung der Erneuerba-ren Energien, eine Konferenz in Bonn durchgeführt.116 Länder haben daran teilgenommen; 75 Länder ha-ben die Statuten unterzeichnet und werden sich personellund finanziell beteiligen. Sie haben damit ein Signal ge-setzt, dass die Welt aus Friedensgesichtspunkten, ausEnergiegesichtspunkten und aus Klimagesichtspunktenauf erneuerbare Energien setzen will. Wir können nurhoffen, dass sich auch Länder wie China, Indien und dieUSA, die zwar vertreten waren, aber noch nicht Mitgliedsind, anschließen werden. Das ist eine ganz wichtige Ini-tiative.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Drittens: die Bereiche Gesundheit und Bildung. Al-lein durch die Arbeit des Globalen Fonds zur Bekämp-fung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria ist es ge-lungen, 3 Millionen Menschenleben zu retten.

Viertens. Im Bereich der Armutsbekämpfung habenwir mit dem Ausbau der Mikrofinanzinstrumente alleinüber die deutsche Zusammenarbeit mehr als 50 Millio-nen Menschen erreicht – vor allen Dingen Frauen, dieauf diese Art und Weise ihre eigene Existenz aufbauenund Eigenständigkeit entwickeln konnten. Das wollenwir fortsetzen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Zieht man ein Fazit, kann man mit einer gewissen Be-rechtigung sagen, dass die Staaten jeder Weltregion inden Jahren seit der Verabschiedung der Millenniumser-klärung und der Millenniumsentwicklungsziele wichtigeFortschritte gemacht haben. Aber das ist nur die eineSeite der Medaille. Vor allen Dingen bezogen auf Afrikaist noch viel zu tun.

Eine aktuelle Gefährdung der Umsetzung der Millen-niumsentwicklungsziele sehe ich vor allem angesichtsder gegenwärtigen Krisen: der Finanzkrise und derschlimmer werdenden Ernährungskrise bzw. der stei-genden Preise für Nahrungsmittel. Bereits heute hungern

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wieder 1 Milliarde Menschen. Es besteht die große Ge-fahr, dass sich die wirtschaftliche Krise auf einem Konti-nent wie Afrika zu einer humanitären Katastrophe mitTausenden von Hungernden und Tausenden von Totenentwickelt. Deshalb müssen wir handeln. Deshalb ist esunsere Verpflichtung, in diesem Bereich nicht nachzu-lassen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

IWF und Weltbank haben unlängst ihre Wachstums-prognosen für die Entwicklungsländer drastisch nach un-ten korrigiert. Wir sollten uns erinnern – es ist drama-tisch –: 1 Prozentpunkt weniger Wachstum in diesenLändern bedeutet, dass 20 Millionen Menschen wiederin die Armut gedrängt werden. Direktinvestitionen inden Entwicklungsländern bleiben aus. Die Steuereinnah-men gehen zurück, und die Exportchancen werden ge-ringer. Die Infrastruktur ist gefährdet. Projekte für denBau von Krankenstationen und Bewässerungsprojektebleiben dann Reißbrettprojekte. Keine Hilfen, das be-deutet für immer mehr Menschen: kein Schulbesuch,keine ärztliche Betreuung bei der Geburt, keine Hebam-men, kein Entkommen aus der Armutsfalle.

Uns allen möchte ich sagen: Die Wucht des System-versagens trifft die schwächsten Staaten und dieschwächsten Menschen am härtesten. Diese Menschensind keine Aktienbesitzer. Sie zahlen für den Kollaps anden Börsen nicht in Geldwerten, sondern in der hartenWährung ihrer täglich bedrohten Existenz; das solltenwir uns immer wieder in Erinnerung rufen.

In diesem Monat hat die Bundesregierung ihr zweitesKonjunkturpaket, den Pakt für Deutschland, verab-schiedet. Das sind Investitionen in die Zukunft unseresLandes, die wichtig und notwendig sind. Aus gleicherPerspektive will ich an dieser Stelle betonen: Es istwichtig, den Infrastrukturfonds der Weltbank mit100 Millionen Euro aus diesem Konjunkturpaket zu stüt-zen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit werden bestehende Infrastrukturprojekte gesi-chert und neue Investitionen in den Entwicklungsländernermöglicht. Das ist auch in unserem Interesse. IWF-ChefDominique Strauss-Kahn hat gesagt: Es ist doch einekrude Logik, dass manche glauben, man könne exportie-ren, wenn andere Länder arm würden. – Die Entwick-lungsländer haben in den letzten Jahren weltweit Stabili-tät gesichert. Dies war und ist in unserem Interesse. Wirkommen nur gemeinsam aus der Krise heraus.

Zweiflern will ich sagen: Die BundesrepublikDeutschland hatte von allen OECD-Ländern die meistenAnteile bei den Aufträgen der Weltbank. Insofern ist esein gemeinsames Interesse, aus dieser Krise herauszu-kommen und die Mittel entsprechend einzusetzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir einenneuen globalen Pakt für das 21. Jahrhundert, der fol-gende acht Punkte umfasst:

Erstens geht es um ein Konjunkturprogramm zuguns-ten der ärmsten Länder. Ich danke dem Bundespräsiden-ten, dass er bei seinem Neujahrsempfang einen entspre-chenden Vorschlag für die Frühjahrstagungen vonWeltbank und internationalen Finanzinstitutionen ge-macht hat. Dringend notwendig sind Investitionen in dieBereiche Landwirtschaft, Ernährungssicherung, Klima-schutz, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. Diesekonjunkturpolitisch notwendigen Initiativen sind aberauch unter dem Gesichtspunkt der Krisenbekämpfungreformpolitisch unverzichtbar.

In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dasswir auch mit arabischen Fonds zusammenarbeiten, dieFinanzmittel anbieten und auf unsere Beratung Wert le-gen, um in den afrikanischen Ländern Investitionen indie Landwirtschaft voranzubringen. Für diese dringendbenötigten finanziellen Impulse ist eine Zusammenarbeitaller erforderlich.

Bei der Weltbank haben wir nicht zuletzt dank desEngagements von Weltbankpräsident Zoellick zusätzli-che Mittel mobilisiert. Einen Punkt greife ich hier beson-ders heraus: Wir alle loben die Institutionen, die Mikro-finanzierung anbieten; aber die wenigsten wissen, dassdieses Instrument ebenfalls von der Finanzkrise betrof-fen und bedroht ist. Deshalb ist es eine der wichtigstenAufgaben, diese Institutionen intakt zu halten; ansonstenbräche vieles weg, was den Menschen Perspektiven undEinkommenschancen geschaffen hat. Auch hier stehenwir also vor einer ganz wichtigen Aufgabe, die wir ge-meinsam lösen müssen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Zweitens geht es um die Umsetzung des, wie ich esnenne, grünen New Deal.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie Sie das nennen?)

Ich habe vorhin von IRENA gesprochen. Entwicklungs-politik und Klimaschutz müssen Hand in Hand vorge-hen. Hier geht es vor allen Dingen um globale Gerech-tigkeit: Diejenigen, die für den Klimawandel nichtverantwortlich sind, werden davon am härtesten getrof-fen. Deshalb ist es notwendig, dass wir mit dem Instru-ment des Emissionshandels, bei dem wir in DeutschlandVorreiter sind, auch mit Blick auf die Kopenhagener Kli-makonferenz Impulse setzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Drittens müssen wir die WTO-Runde abschließen. Je-der sagt, die Krise dürfe nicht zu Protektionismus füh-ren.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Darüber sprechen Sie doch mal mitFrau Aigner!)

Aber in Wahrheit muss das, was die Europäische Unionschon verwirklicht hat, nämlich den ärmsten Ländernungehinderten Zugang zu den Märkten zu ermöglichen,erst noch auf weitere Mitgliedstaaten der WTO ausge-

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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

dehnt werden. Ich persönlich unterstütze nachdrücklichden Vorschlag von WTO-Generaldirektor Lamy, imRahmen der Doha-Entwicklungsrunde den Marktzugangfür die ärmsten Entwicklungsländer und Regelungenzum Beispiel bei der Baumwolle vorzuziehen. LiebeKolleginnen und Kollegen, es ist eine Katastrophe, dassdie afrikanischen Länder hier immer noch unter hohenSubventionen der USA leiden müssen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – UteKoczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Undwas ist mit Zucker? Was ist mit europäischemTomatenmark?)

Viertens geht es um die Förderung von Frauen. WennFrauen in Entwicklungsländern bezahlter Arbeit nachge-hen, dann tun sie es mehrheitlich in exportorientiertenSektoren. Die Finanz- und Wirtschaftskrise trifft dieseSektoren ganz besonders. Deshalb sind die von mirschon erwähnten Mikrofinanzinstrumente und die ein-fachsten sozialen Sicherungssysteme, die Walter Riesteruns für die Entwicklungsländer sehr präzise skizzierthat, auszubauen. Eine weitere wichtige Voraussetzungist hier, den Frauen den Zugang zur Familienplanung zugeben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Fünftens. Wir müssen die Zivilgesellschaft einbezie-hen. Wir brauchen – und darum bemühen wir uns be-reits – eine bessere Arbeitsteilung zwischen den ver-schiedenen Gebern, damit den Entwicklungsländern dermaximale Nutzen aus den Finanzmitteln zugutekommt.Das heißt nicht zuletzt: mehr Mitsprache von Bürgernund Bürgerinnen in den Entwicklungsländern, also mehrDemokratie. Die Zivilgesellschaft muss diesen globalenPakt mitgestalten. Nur so kann er gelingen.

Sechstens. Wir müssen die Finanzierung sicherstellenund unsere Verpflichtung zur Steigerung der Mittel fürEntwicklungszusammenarbeit erfüllen. Wir stehen – dashabe ich vorhin schon deutlich gemacht – zu dem Stu-fenplan zur Steigerung der Mittel. Wir hoffen in diesemZusammenhang auch auf die angekündigte Initiative deramerikanischen Regierung.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die tut mehr als Deutschland! Das ist wahr!)

Ich will an dieser Stelle fragen: Wie wollten die Indus-triestaaten den armen Ländern erklären, dass sie ihrenFinanzanteil hinsichtlich der globalen Entwicklung nichtstemmen können, wenn gleichzeitig drei- bis vierstelligeMilliardenbeträge mobilisiert werden können, um denFinanz- und Bankensektor zu retten? Dass hier eine Ver-pflichtung existiert, ist völlig klar.

Es gilt vielmehr, diese Krise zu nutzen, zum Beispielum ein neues, globales Regelwerk zu erstellen, damit diebisher durch Kapitalflucht und Steueroasen verloren ge-gangenen Steuermilliarden endlich sinnvoll und gerechteingesetzt werden können: für eine weltweit nachhaltigeEntwicklung im Sinne der skizzierten Ziele.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Siebtens. Wir brauchen neue Regeln für die Weltfi-nanzmärkte. Diese Aufgabe hat der Kollege Steinbrücksehr energisch angepackt. Auch für die Entwicklungs-länder ist ein verlässlicher Ordnungsrahmen von zentra-ler Bedeutung. Wir brauchen globale Regeln, die demungezügelten Kapitalismus ein Ende setzen. Wir brau-chen globale Regeln, die für mehr Transparenz, mehrSteuerungsfähigkeit und mehr Stabilität sorgen. Es darfkeine aufsichtsfreien Räume geben. Auch deswegenmüssen wir dazu beitragen, dass die in der Doha-Erklä-rung Anfang Dezember 2008 vereinbarte UN-Konferenzzu den Auswirkungen der Finanzkrise auf die Entwick-lungsländer ein Erfolg wird.

Achtens und letztens: Wir müssen gerechte und hand-lungsfähige Institutionen schaffen. Die globale Weltbraucht globale Verantwortlichkeit, Global Governance,die alle Aspekte der wirtschaftlichen, sozialen und öko-logischen Entwicklungen und Entscheidungen zusam-men betrachtet und bewertet. Die G-8-Staaten könnendas nicht allein. Die Treffen der G 20 bedeuten zwar ei-nen Fortschritt; aber diese Staaten repräsentieren natür-lich nicht, wie die Entwicklungsländer sagen, die G 192,also alle Länder dieser Welt.

Deshalb gewinnt aus meiner Sicht die Forderung nacheinem UN-Sicherheitsrat für wirtschaftliche, sozialeund ökologische Entwicklung an Bedeutung. DieseForderung steht im Grundsatzprogramm der SPD.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)

Auch die Bundeskanzlerin hat die Forderung nach einemWeltwirtschaftsrat in den letzten Wochen und Monatenin mehreren Reden erhoben. Ich unterstütze diesen Vor-schlag nachdrücklich. Worum geht es? In dieser UN-In-stitution wären alle Regionen hochrangig vertreten,ebenso die internationalen Finanzinstitutionen und dieWTO. Wir brauchen einen Prozess der Gestaltung, deralle einbezieht, aber trotzdem Handlungsfähigkeit si-cherstellt. Deshalb möchte ich diesen Vorschlag auch indiese Diskussion einbringen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die globalen Verän-derungsprozesse haben – ich habe es angesprochen, wirspüren es alle – durch den amerikanischen PräsidentenObama neuen Schwung erhalten. Greifen wir die Per-spektiven, die er aufgezeigt hat, auf: Setzen wir, wie eres formuliert hat, weltweit Hoffnung über Furcht, unseregemeinsame Willenskraft über Streit und Zwietracht,und sagen wir denjenigen, die ihre Völker noch immerunterdrücken, die Freiheit und Menschenrechte missach-ten und nur ihr eigenes Fortkommen verfolgen, wie etwaMugabe in Simbabwe: Auch ihr werdet fallen, auch eureVölker werden die Freiheit gewinnen. Wir engagierenuns bei der Verfolgung dieses Ziels.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Barack Obama hat, wie ich finde, noch etwas sehr deut-lich ausgedrückt – ich zitiere ihn –: Die Menschen in eu-ren Ländern werden euch daran messen, was ihr aufbaut,nicht, was ihr zerstört.

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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

Ich freue mich, dass heute Vertreter und Vertreterin-nen aus dem Bereich der Durchführungsorganisationender Entwicklungszusammenarbeit, des zivilen Friedens-dienstes und des entwicklungspolitischen Freiwilligen-dienstes „weltwärts“ auf der Tribüne anwesend sind. Ichbegrüße Sie sehr herzlich. Sie leisten eine ganz wichtigeArbeit für eine gerechtere Welt.

(Beifall)

Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die sich füreine gerechte, solidarische Gestaltung unserer Welt undfür die Verwirklichung der Menschenrechte engagieren:den Entwicklungshelfern aus GTZ und KfW, DED undInwent, den vielen Expertinnen und Experten in denNichtregierungsorganisationen, den Soldatinnen undSoldaten, die dazu beitragen, dass in vielen Regionen derWiederaufbau eine Chance hat und Gewalt zurückge-drängt wird, den vielen lokalen Initiativen in Stadt undLand, den Kirchen und den Teilnehmern und Teilnehme-rinnen des zivilen Friedensdienstes sowie den jungenMenschen, die im Rahmen von „weltwärts“ ihren ent-wicklungspolitischen Freiwilligendienst – in diesem Jahrsind es 2 200 Jugendliche – leisten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie alle tragen dazu bei, die Hoffnung über die Furcht zusetzen und die Welt gerechter zu machen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem

Kollegen Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Hellmut Königshaus (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Ministerin, keine Zwietracht – da haben Sie recht –,aber ein bisschen Streit muss schon sein, insbesondereda wir jetzt hier über das Weißbuch sprechen wollen,das – das muss man sagen – aufgrund der jüngsten Ent-wicklungen ein Schönwetterbericht vom letzten Sommerist. Es hat mit der aktuellen Krise nichts mehr zu tun.Die Rahmendaten haben sich komplett verändert. Dazuhaben wir von Ihnen gerade nichts Neues gehört.

(Beifall bei der FDP)

Es wäre richtig gewesen, Frau Ministerin, dieses Weiß-buch zurückzuziehen und den tatsächlichen Gegebenhei-ten anzupassen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wo sieht denn die Bundesregierung jetzt beispielsweiseweltweit steigenden Wohlstand und weltweit steigendeUnternehmensgewinne, von denen der Bericht schon inder Einleitung ausgeht? Das klingt doch heute wie Sa-tire.

(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei Abge-ordneten der SPD)

Es geht zunächst um eine klare Analyse; dann könnenwir an die Korrektur gehen. Wir haben hier aber nur eineZustandsbeschreibung und keine Analyse gehört. Wiralle wurden von dieser Krise überrascht; das will ichgerne einräumen. Ich glaube, mehr als die Ministerineben hat gestern unser Präsident, Dr. Lammert, zur Ursa-chenforschung beigetragen, als er uns in der Französi-schen Friedrichstadtkirche eine kleine Geschichte, einGleichnis, erzählt hat. Mit seiner Genehmigung möchteich Ihnen das gerne vortragen, weil es einige Ursachenoffenlegt.

Er hat erzählt – das wird die Herren mit den Heu-schrecken freuen –, ein Investmentbanker sei zum Him-melstor gekommen, wurde aber abgewiesen mit der Be-gründung: Die Abteilung für solche Personen seiohnehin sehr klein und jetzt überfüllt. Darüber war derBanker sehr betrübt und sinnierte, wie er das ändernkann. Er bat Petrus, doch wenigstens einen kleinen Grußan die Kollegen hineinrufen zu dürfen. Das wurde ihmerlaubt, und er rief: In der Hölle wurde Öl gefunden. Da-raufhin sprangen alle reflexartig auf und zogen in dieHölle. Petrus war sehr überrascht und sagte mit einigemZögern: Gut, jetzt ist Platz, jetzt kannst du reingehen.Der Banker antwortete ihm: Wenn der gesamte Marktdavon überzeugt ist, dass in der Hölle Öl gefundenwurde, dann muss ich mitgehen. Dann ging auch er indie Hölle.

Das sind die Mechanismen, die zeigen, wie so etwasfunktioniert. Darauf müssen wir eingehen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir möchten die Geschichte noch ein-mal von Herrn Lammert hören!)

– Wie bitte?

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben es schon besser gehört!)

– Ja, wenn Sie gestern da waren. Unser Präsident ist un-schlagbar in der Darstellung solcher Zusammenhänge.Da kann ich nicht mithalten; das würde ich auch nie ver-suchen.

(Beifall bei der FDP)

Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, Sie haben geradedavon gesprochen, dass ein weltweites Regelwerk ge-schaffen werden soll. Wie wollen Sie das angesichts die-ser geradezu menschlichen Eigenschaften, die Staatenwie Institutionen antreiben, erreichen? Etwa, indem Sieunsere potenziellen Partner dauernd mit starken Wortenverunsichern, wie es unser Bundesfinanzminister macht?So doch sicherlich nicht. Wenn wir die Leute, die wir füreine Veränderung brauchen, vor den Kopf stoßen, wer-den sie nicht auf uns eingehen.

Meine Damen und Herren, die Entwicklungspolitikmuss auf Fakten reagieren und darf nicht nur auf Stim-mungen basieren.

(Beifall bei der FDP)

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Hellmut Königshaus

Deshalb wird die FDP alles tun, was hilft, eine humani-täre Katastrophe nicht nur in Afrika, sondern auch in an-deren Ländern zu verhindern. Es nützt aber nichts, wennman, ohne konkrete Ursachen zu beschreiben und ohneauf sie einzugehen, einfach immer nur mehr Geld zurVerfügung stellt.

Aus den Mitteln des Konjunkturpaketes II sollen nunauf einmal insgesamt 100 Millionen Euro für einenFonds der Weltbank herausgebrochen werden. FrauMinisterin Wieczorek-Zeul, Herr Minister Steinbrück,was hat das mit Stärkung der Binnenkonjunktur zu tun?Ich weiß, dass auch weltweit die Krise zu bekämpfen ist.Sie müssen allerdings die Grundsätze der Haushalts-wahrheit und Haushaltsklarheit beachten.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])

Die Mittel des Konjunkturpaketes II sind für die Stär-kung der deutschen Binnenkonjunktur vorgesehen, nichtdafür, dass, ähnlich wie im Hinblick auf die Autoindus-trie bereits geschehen, andere Industrienationen geför-dert werden. Das würden wir auch der Öffentlichkeitnicht erklären können. Mein Kollege Koppelin wird aufdiese Thematik noch eingehen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da sind wir aber gespannt! Mal sehen,ob der das besser kann als Sie!)

Frau Ministerin, Sie haben deutlich gemacht, dass Sieder Weltbank Geld zur Verfügung stellen wollen, weilsie viel Gutes tue. Gestern haben wir im Ausschuss eineAnhörung durchgeführt. Dort wurde uns ganz klar ge-sagt, dass die Weltbank gar nicht in der Lage sei, ihreAufgaben wirklich zu erfüllen. Es hieß, sie sei viel zugroß angelegt und könne nur Großprojekte durchführen,die langfristig wirken. Durch solche Großprojekte kanndie gegenwärtige akute Krise aber nicht bewältigt wer-den. Gleichwohl wollen Sie der Weltbank Geld zur Ver-fügung stellen. Das halten wir für falsch, insbesondereauch deshalb, weil die Weltbank dieses Geld für allemöglichen Maßnahmen verwenden könnte. Wofür sie esim konkreten Fall verwenden wird, wissen aber wederSie noch wir. Deshalb lehnen wir das ab.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das ist Quatsch, was Sie da sagen! Das istrückständig! Das ist rückschrittlich!)

Was die Gründung der IRENA angeht, möchte ichfeststellen: Natürlich unterstützen auch wir einen ver-nünftigen Mix bei der Energiegewinnung; das ist garkeine Frage. Es gibt aber keinen Grund, besonders stolzdarauf zu sein, dass das Abkommen bereits von so vielenLändern unterzeichnet wurde. Wenn von vornherein40 Prozent des Budgets übernommen werden, bevor dieersten überhaupt eingetroffen sind, dann ist das ver-gleichbar mit einem Kneipier, der sich darüber freut,dass seine Kneipe voll ist, wenn er Freibier ausschenkt.Das ist also keine große Überraschung.

(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das istdoch Schwachsinn! – Gabriele Groneberg[SPD]: Nein! Das ist doch nicht wahr! Das isteine vollkommene Fehleinschätzung von Ih-

nen! – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie bitte? Also ehrlich! Die FDP istdoch kleinkariert! – Dr. Sascha Raabe [SPD]:Ist das hier eine Karnevalsveranstaltung odereine Debatte?)

Wir haben die großen Schwellenländer immer unter-stützt. Das tun wir auch weiterhin, wenngleich in Gren-zen. Kollege Ruck, die finanzielle Hilfe für China, nichtaber für Indien und Südafrika, ist übrigens eingestelltworden.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hat Herr Westerwelle das eigentlichauch schon begriffen?)

Was die Hilfe zum Beispiel für Afghanistan oder Dschi-buti angeht – auch dort leiden die Menschen –, mussman aber feststellen: Hier passiert nichts bzw. nur sehrwenig. Auch diese Länder sind für uns sehr wichtig.Dort muss mehr getan werden. Daran wollen wir arbei-ten.

Zu der grenzwertigen Erklärung des Kollegen Ruckvom gestrigen Tage, die verständlicherweise keinen Nie-derschlag fand – er sagte, dass die Entwicklungspolitikder FDP an Dummheit grenze –,

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat recht!)

kann ich nur sagen: Richtig ist, dass seine Aussage dieseGrenze bereits überschritten hat.

(Beifall bei der FDP – Ute Koczy [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: In diesem Fall hatHerr Ruck recht! Ihre Entwicklungspolitikgrenzt nicht nur an Dummheit! Sie ist Dumm-heit!)

Meine Damen und Herren, wir brauchen einen inter-nationalen Diskurs darüber, wie wir mit unseren Mittelneine größere Wirksamkeit erzielen können. Dies ist imSinne unseres Landes. Ihre Regierungserklärung hat unsleider keinen Weg in diese Richtung gewiesen. Sie wol-len immer nur noch mehr Geld für falsche Entwick-lungspolitik ausgeben. Aber das hilft unseren Partnernnicht, das hilft uns nicht, und das hilft erst recht nicht un-seren Steuerzahlern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP – Ute Koczy [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohnzimmerpolitiknennt sich das!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Christian Ruck ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk[CDU/CSU]: Es muss ein Ruck durch die Ent-wicklungspolitik gehen!)

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Entwicklungspolitik ist in einer kritischen Phase. Wir

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Dr. Christian Ruck

haben zwar in den letzten Jahren im Kampf um das Er-reichen der Millenniumsziele große Erfolge erzielt.Nach der Energie- und Nahrungsmittelkrise im letztenJahr droht nun in der Tat durch die weltweit zu beobach-tenden Negativtendenzen auf den Finanzmärkten und inden Volkswirtschaften ein dauerhafter Rückschlag.Vor allem ist zu konstatieren: Die Aufholjagd derSchwellenländer, deren Situation für die Bekämpfungder Armut von entscheidender Bedeutung ist – allein inIndien leben mehr Arme als in ganz Afrika südlich derSahara –, ist ins Stocken geraten. Dem Vernehmen nachstehen demnächst allein in Bangalore 1,6 Millionen Ar-beitnehmer auf der Straße. Mit einer gewissen Verzöge-rung wird diese Krise auch die ärmsten Länder erreichenund einen Teufelskreis von sinkenden Exporten, sinken-den Direktinvestitionen und sinkenden Überweisungender Arbeitsmigranten herbeiführen.

Auch bei uns werden nun Stimmen laut, die sagen:Die EZ muss zurückgefahren werden, wir müssen zu-nächst das eigene Hemd retten. – In der Tat ist es so: Wirmüssen das eigene Haus in Ordnung halten, es nützt nie-mandem, wenn wir schwach werden; denn dann könnenauch wir weniger helfen. Das gilt übrigens auch im Hin-blick darauf, dass wir unsere Banken unterstützen. Mankann über Investmentbanker denken, was man will; aberdass wir unser Banksystem durch Bürgschaften rettenmüssen, ist vollkommen klar.

Die EZ zurückzufahren, wäre jedoch ein schlimmesEigentor. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Verzah-nung der Volkswirtschaften ist stärker als je zuvor. Un-sere Exporte in die entsprechenden Länder haben sich inden letzten sieben Jahren mehr als verdoppelt. Der Haus-halt des BMZ ist mittlerweile der zweitgrößte Investi-tionshaushalt der Bundesrepublik Deutschland. Von ihmhängen allein in Deutschland zwischen 200 000 und300 000 Arbeitsplätze ab.

Es ist auch richtig, Herr Königshaus, dass wir dieWeltbank bei ihren Sofortmaßnahmen, insbesondere beider Infrastrukturspritze, unterstützen, damit der Wachs-tumsfaden nicht reißt. Hinzu kommt – die Ministerin hates angedeutet –: Die deutschen Unternehmen bekommenseit vielen Jahren die mit Abstand meisten Aufträge ausden Programmen der Weltbank, Aufträge in einem Volu-men, das größer ist als der Betrag, den wir einzahlen.Deswegen habe ich davon gesprochen, dass es anDummheit grenzt – wohlgemerkt: grenzt –, die Zahlun-gen zurückzufahren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Auch in anderer Hinsicht wäre das ein Eigentor. DieEntwicklungspolitik ist mittlerweile ein fester und wich-tiger Bestandteil unserer Sicherheitspolitik. Die Ent-wicklungspolitik soll soziale Sprengsätze entschärfen,sie soll die Ursachen von Massenflucht bekämpfen, siesoll zur Energiesicherung beitragen, sie soll dem Terro-rismus den Boden entziehen. Je mehr Menschen in denEntwicklungsländern in Schwierigkeiten geraten, destowichtiger wird der Sicherheitsaspekt. Deswegen ist es inunser aller Interesse, dass wir in unseren entwicklungs-politischen Anstrengungen nicht nachlassen.

Henry Kissinger hat vor kurzem gesagt: Die Krise isteine Chance zur Besinnung. Das gilt auch für die Ent-wicklungspolitik. Wo stehen wir, und was muss gesche-hen, damit wir die Entwicklungsziele der Millenniums-erklärung trotz der derzeitigen Krise erreichen?

Wir haben bezüglich der Entwicklungspolitik sowohl,was den Haushalt des BMZ angelangt, als auch, was dieUmsetzung der entwicklungspolitischen Schwerpunkte– Umwelt, Energie – anbelangt, eine äußerst erfolgreicheLegislaturperiode hinter uns. Ebenso dominierten ent-wicklungspolitische Fragen unsere Präsidentschaft derG 8 und der EU. Das ist auch Ihrem Engagement zu ver-danken, Frau Wieczorek-Zeul. Die Zeitenwende, somuss man es ja nennen, von 2005 kam aber insbesonderedadurch, dass die Kanzlerin die Entwicklungspolitikganz anders gepusht hat als ihr Vorgänger. Auch daransei hier erinnert

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beiAbgeordneten der SPD – Ludwig Stiegler[SPD]: Das muss jetzt nicht sein! – HartmutKoschyk [CDU/CSU]: Für Schröder war dasGedöns!)

– Was wahr ist, muss wahr bleiben.

Trotzdem stehen wir unter Druck; denn die Problemewachsen. Deswegen müssen wir uns wieder kritisch fra-gen: Was bringt Entwicklung voran? Welchen Beitragkönnen wir leisten? Sind unsere Haushaltsmittel effi-zient eingesetzt? Wir müssen dabei die Erkenntnis zu-grunde legen, dass die Entwicklungszusammenarbeit inihrer Gesamtheit keine schlüsselfertige Welt liefernkann. Wir können nur Impulse setzen, und wir solltendies auch in der Öffentlichkeit sagen.

Deshalb müssen wir uns wieder auf Hilfe zur Selbst-hilfe und auf die Beantwortung der Frage konzentrieren,wie wir die schöpferischen Kräfte der Menschen in denEntwicklungsländern zur Entfaltung bringen können.Dazu gibt es zwei Ansatzpunkte: zum einen direkt amMenschen und zum anderen an den Rahmenbedingun-gen.

Der Schlüsselsektor für die Hilfe direkt am Menschenist die Bildung in all ihren Ausprägungen. Liebe Kolle-gen von der SPD, lieber Sascha Raabe, ich bin froh, dasswir es im parlamentarischen Verfahren zusammen ge-schafft haben, diesem Sektor mehr Gewicht zu verlei-hen, und damit ein bisschen von dem nachgeholt haben,was wir im Koalitionsvertrag versäumt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich bin auch der Meinung, dass in diesem Schlüssel-sektor unabhängig von der Länderliste etwas getan wer-den muss. Bildung und Ausbildung sollten wir überalldort vorantreiben, wo wir die Gelegenheit dazu haben,auch in Schurkenstaaten und in fragilen Staaten, und dasals Investition für die Zukunft betrachten, wenn unsdann hoffentlich wieder ein Zeitfenster zur Verfügungsteht. Ich glaube, das muss unser Prinzip sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])

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Dr. Christian Ruck

Lieber Sascha Raabe, ähnlich verhält es sich bei derländlichen Entwicklung. Ich glaube, auch hier habenunsere Arbeitsgruppen gemeinsam eine gute Arbeit ge-leistet.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Hätte aber besser sein können!)

Auch die ländliche Entwicklung hat etwas mit den Men-schen zu tun; denn wenn Kinder und Jugendliche hun-gern oder krank sind, dann können sie ihre schöpferi-schen Kräfte mitnichten entfalten.

Entscheidend sind aber auch die Rahmenbedingun-gen. Wir können in manche Länder noch so viel Geldgeben: Es wird nichts nützen. Ganz im Gegenteil! Ichmöchte – die Ministerin hat acht Punkte genannt – in al-ler Kürze fünf Faktoren nennen, die für mich unabding-bar sind, wenn wir eine Chance zur Erreichung der Mil-lenniumsentwicklungsziele haben wollen.

Erstens. Wichtig ist eine gute Regierungsführung.Wenn wir es mit Empfängern bzw. Partnern zu tun ha-ben, die legitimiert und entwicklungsorientiert sind,dann ist der Rest Formsache. Dann geht es nur noch umdie Technik und zum Beispiel um die Frage, ob man hierden Hafen oder dort die Straße baut. Hier können wir na-türlich schneller und unbürokratischer reagieren; das istklar. Hier können wir uns auch nach den Vorstellungender Partner richten. Je unlegitimierter, inkompetenterund korrupter unsere Gegenüber aber sind, desto mehrmüssen wir auf unseren Wertvorstellungen bestehen, undzwar auch im wohlverstandenen Interesse der Menschendort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb ist Ownership kein Freibrief und keine Ein-bahnstraße. Genau das müssen wir im Klartext zum Bei-spiel auch der afghanischen Regierung sagen. Bei denOpfern, die wir für sie bringen, muss sie sich im Kampfgegen Inkompetenz und Korruption im eigenen Landmehr einbringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang brauchen wir auch eineOffensive gegen schlechte Regierungsführung. Dabeisind alle gefordert. Hierfür brauchen wir natürlich auchdie Unterstützung der Außenpolitiker. Vor allem brau-chen wir hierfür aber vor Ort die Unterstützung unsererKirchen, und wir brauchen auch die Unterstützung derStiftungen und der engagierten NGOs. Das ist etwas,worauf wir, die Zivilgesellschaft, in der Entwicklungs-zusammenarbeit nicht verzichten können.

Zweitens. Ohne Wirtschaftswachstum in den betrof-fenen Ländern haben wir keine Chance, die Entwick-lungsziele zu erreichen. Darauf wird der Kollege Klimkenoch eingehen. Wir brauchen in diesen Ländern eineWirtschaftsorientierung, aber eine Wirtschaftsorientie-rung, die mit Armutsbekämpfung einhergeht. Es gibt zuviele Länder, die zwar ein hohes Wachstum aufweisen,in denen dieses aber der breiten Bevölkerung nicht zugu-tekommt. Darum ist es richtig, dass man zum Beispiel

auch auf eine vernünftige Steuerpolitik in diesen Län-dern Wert legt.

Drittens. Handelspolitik. Auch das wurde ja schonangesprochen. Es geht um eine Handelspolitik als Hilfezur Selbsthilfe für die Volkswirtschaften der Entwick-lungsländer. Im Sinne einer internationalen sozialenMarktwirtschaft muss dabei aber ein fairer Deal heraus-kommen. Wir sagen von unserer Seite aus Ja zu Markt-zugang, zu Hilfen beim Kapazitätsaufbau und zur Rück-sichtsnahme auf lokale Märkte vor Ort. Das muss manvon uns verlangen. Im Gegenzug müssen wir aber einenVerzicht auf jegliche Art von ausbeuterischer Kinderar-beit und Umweltdumping verlangen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Viertens. Der größte Feind der Entwicklung ist derKrieg. Umgekehrt gibt es keine Sicherheit ohne Ent-wicklung. Wir brauchen mehr Möglichkeiten und auchmehr Mut, um gerade in Entwicklungsländern und Ent-wicklungsregionen bessere Formen der Friedensschaf-fung durchzusetzen – darauf wird Kollege Fischer nocheingehen –; das ist ganz essenziell, weil sonst alle Ent-wicklungsbemühungen vergeblich wären. Das gilt übri-gens auch für Palästina.

Fünftens. Koordination und Arbeitsteilung. Das be-ginnt im eigenen Land mit einer uneigennützigen Res-sortzusammenarbeit und geht über eine schlagkräftigeZusammenarbeit der Entwicklungsinstitutionen vomHaupt bis zu den Gliedern bis hin zur EU.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind daran gescheitert, Herr Ruck!)

Wir freuen uns über die Grundsatzvereinbarungen in derEU, Frau Ministerin. Aber ich glaube, wir brauchennoch viel mehr Kraft und Energie, um sie auch durchzu-setzen. Davon sind wir noch weit entfernt. Im internatio-nalen Bereich gibt es sogar groteske Entwicklungen: Esgibt eine Vielzahl von Gebern, die in vielen Fällen diearmen Administrationen der Entwicklungsländer er-schlägt. Es gibt 34 für Gesundheit und 37 für Entwick-lung und Umwelt zuständige UN-Organisationen. Wirbefinden uns allmählich in einem Hamsterrad der Koor-dination und müssen auch in diesem Punkt wieder zurBesinnung kommen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Fangen Sie doch einmal an!)

Wir sind inzwischen der zweitgrößte internationaleEntwicklungshilfegeber. Wir müssen unseren Einflussauch dahin gehend geltend machen, dass wir die gesamteHilfsarchitektur vom Kopf auf die Füße stellen. Dabeisind die genannten Vorschläge sehr hilfreich. Aber wirmüssen hier zu Potte kommen.

Ich möchte eine Anregung geben. Die japanische Re-gierung, die US-amerikanische Regierung – auch dieneue amerikanische Regierung; das hat Hillary Clintonvor kurzem bestätigt – und zum Beispiel auch die israeli-sche Regierung sind hochinteressiert daran, mit uns ver-stärkt zu Dreieckskooperationen zu kommen. Ichglaube, wenn wir uns auf einen solchen Prozess eines

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Dr. Christian Ruck

Trainings on the Job verständigen könnten, dann könn-ten wir zusammen noch viel mehr Gewicht für eine kon-zentriertere Entwicklungspolitik in unserem Sinne auf-bringen. Dafür plädiere ich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hattenam Dienstag eine Gedenkstunde, in der es sehr ein-drucksvoll um das Motto „Die Würde des Menschen istunantastbar“ ging.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, denken Sie bitte an die deutlich über-

schrittene Redezeit.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Jawohl, ich komme zum Schluss. – Diese Würde wird

in vielen Entwicklungsländern, gerade auch Kindern ge-genüber, mit Füßen getreten. Deswegen gibt es für unsnicht nur rationale Gründe, sondern aus christlich-abendländischem Denken auch eine moralische Ver-pflichtung, die Entwicklungspolitik aufrechtzuerhalten.

Ich möchte mit einem Satz schließen, den der japani-sche Botschafter diese Woche gesagt hat: Deutschlandund Japan haben eine Kultur gemeinsam, nämlich dieKultur, ihre Versprechen zu halten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Aydin, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Heute geht es umweit mehr als um die Entwicklungszusammenarbeit. Wirsprechen über die Gestaltung der Innen- und Sozialpolitikin der einen Welt, in der wir leben. Die Verwirklichungder Millenniumsziele ist nicht nur entwicklungspolitischgeboten, sondern von entscheidender Bedeutung für dieregionalen Sicherheiten, den Frieden auf der Welt unddas wirtschaftliche Miteinander der Weltgemeinschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Extremismus, Kriege und Gewalt können sich beson-ders gut dort entfalten, wo den Menschen politische, so-ziale und humanitäre Rechte verweigert werden. Wirbrauchen daher die Überwindung der extremen globalenPolarisierung zwischen wenigen Reichen und vielen Ar-men.

Wie uns in diesen Tagen auf der italienischen InselLampedusa dramatisch vor Augen geführt wird, treibtder Ernst der Lage auf unserem Nachbarkontinent Afrikaimmer mehr Menschen in die Flucht. Obwohl die Fahrtüber das Mittelmeer aufgrund der rigiden Abschottungs-politik der Europäischen Union jedes Jahr für Hundertetödlich endet, treten sie diese Fahrt an, weil Hunger, Ar-mut, Perspektivlosigkeit den Alltag in ihren Ländern

prägen. Dieses Schicksal teilen sie mit anderen. Rund1 Milliarde Menschen weltweit müssen mit weniger als1 US-Dollar pro Tag auskommen. 40 Prozent der Welt-bevölkerung leben von weniger als 2 US-Dollar am Tag.

Seit der Verabschiedung der Millenniumsziele istmehr als die Hälfte der vorgesehenen Zeit verstrichen.Es wird schwer, sie bis zum Jahr 2015 umzusetzen; denndie Bilanz des Erreichten ist ernüchternd.

Das erste Millenniumsziel, die Zahl der Menschen inArmut zu halbieren, ist nicht mehr zu erreichen. Außer-halb Ostasiens sinkt die Armut viel zu langsam, beson-ders in Südasien und im subsaharischen Afrika. Auchbei der Kindersterblichkeit, die um zwei Drittel gesenktwerden soll, laufen wir unserem Vorhaben hinterher. DieAusbreitung der Infektionskrankheiten ist längst nichtgestoppt. 40 Millionen Menschen leben mit HIV/Aids.2004 starben 3 Millionen Aidskranke. Jedes Jahr ster-ben 1 Million Menschen an Malaria, davon 90 Prozentin Afrika. 80 Prozent der Malariatoten sind Kinder inAfrika.

Beim zweiten Entwicklungsziel – Grundbildung füralle – hat es durchaus Fortschritte gegeben; da stimmeich mit Ihnen überein, Frau Ministerin. Die Einschu-lungsrate wurde bis 2006 auf etwa 70 Prozent gesteigert.Doch die Herausforderungen bleiben enorm. Entschei-dend ist – das habe ich in Ausschusssitzungen immerwieder deutlich gemacht – die Qualität der schulischenBildung und nicht nur die quantitative Erhöhung derEinschulungszahlen. Wenn 80 Kinder in einer Klasse sit-zen und Gelder für Lehrmittel und Lehrpersonal fehlen,wundert es nicht, dass später viele dieser Kinder dieSchule als Analphabeten verlassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zudem brechen vielerorts Kinder die Schule ab, weilSchulgebühren erhoben werden oder sanitäre Einrich-tungen für Mädchen fehlen. Daher verstehe ich es nicht,dass gestern im Ausschuss der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur sanitären Versorgung durch die Koali-tionsfraktionen abgelehnt wurde.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die NGOs haben uns vorgerechnet, dass derBeitrag der Bundesregierung zur Grundbildung weit hin-ter dem zurückliegt, was eigentlich erforderlich wäre.2006 wurde für die Grundbildung gerade einmal 1 Pro-zent der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe einge-setzt. Das ist viel zu wenig; denn von besserer Bildunghängt die Verwirklichung der anderen Entwicklungszieleentscheidend ab.

Die Welt bleibt auch durch tiefe soziale Ungerechtig-keit geprägt. Jene rund 2,6 Milliarden Menschen welt-weit, die täglich weniger als 2 US-Dollar pro Tag zumLeben haben, verfügen nur über 5 Prozent des globalenEinkommens. Die Reichsten der Welt hingegen – dassind 20 Prozent – besitzen über drei Viertel des globalenEinkommens. In Afrika ist die Situation am schlimms-ten. Ein Drittel aller Menschen lebt hier in Armut. 1990war es noch ein Fünftel. Doch nicht nur in Afrika, son-

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Hüseyin-Kenan Aydin

dern überall in der Welt vertieft sich der Graben zwi-schen Reich und Arm. Es ist darum gut und richtig, dasssich die Staatengemeinschaft mit den Millenniumszielenkonkrete Vorgaben gegeben hat.

Doch Entwicklungszusammenarbeit muss besser fi-nanziert werden, auch von Deutschland, das weiter hin-ter seinen Zusagen zurückbleibt. Aber mit mehr Geld al-lein werden die sozialen und wirtschaftlichen Problemedes Südens nicht überwunden werden. Dringend gebotensind strukturelle Veränderungen in den ungleichenWirtschafts- und Handelsabkommen, eine Regulierungder Finanzmärkte im Sinne der Entwicklungsländer unddie Demokratisierung der internationalen Finanzorgani-sationen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich dies verdeutlichen. In Monterrey imJahr 2002, in Paris im Jahr 2005 sowie zuletzt in Accraund in Doha versprachen die Geber, ihre Entwicklungs-politiken nicht länger von Wirtschafts- und Handelsinte-ressen konterkarieren zu lassen. Trotzdem kann manbeim besten Willen nicht erkennen, dass die Entwick-lung politisch kohärent ist. Ein Dauerbrenner ist hier dieLandwirtschaft.

Jüngstes Beispiel: Die EU will die ausgesetzten Ex-porterstattungen für Milchprodukte wieder aufnehmen.Diese Politik ruiniert die Landwirtschaft im Süden; dasdarf nicht passieren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir fordern daher: Weg mit den Exportsubventionenfür die europäische Landwirtschaft! Besseren Marktzu-gang für die Produkte aus Entwicklungsländern!

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Die letzte Nahrungsmittelkrise 2008 war auch einResultat der jahrzehntelangen Landwirtschaftspolitikund -förderung, die im Süden auf Exportorientierungsetzt, anstatt sich auf den lokalen Bedarf zu konzentrie-ren. Zahlreiche Experten, unter anderem der Weltagrar-rat, betonen, dass stattdessen die Unterstützung derKleinbäuerinnen und Kleinbauern entscheidend fürdie Nahrungsmittelsicherheit ist.

Wichtig sind darüber hinaus Landreformen. In vie-len Ländern des Südens birgt die Landfrage erheblichensozialpolitischen Sprengstoff. Unklare Rechtsverhält-nisse und die ungebrochene Kommerzialisierung derLandwirtschaft führen zur Verdrängung kleiner einhei-mischer Produzenten und vor allem indigener Völker.Massive Landkäufe von Privatinvestoren und Regierun-gen aus der OECD-Welt, aus Asien und jüngst auch ausder arabischen Welt zur Deckung des eigenen Nahrungs-mittelbedarfs oder für den Anbau sogenannter Biokraft-stoffe haben die Landfrage vor allem in Afrika und Süd-amerika deutlich zugespitzt. Ob diese Konfliktegewaltsam oder demokratisch gelöst werden, hängt auchvon den OECD-Staaten ab. Die Menschen Boliviensmachten beispielsweise im Referendum am letzten Wo-

chenende einen entscheidenden Schritt hin zu einer ge-rechteren Landverteilung.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Westen muss diese Entscheidung der Bolivianer undBolivianerinnen respektieren und unterstützen.

Wir setzen uns für eine ökologische, nachhaltige undsoziale Kehrtwende in der Landwirtschaftsförderungein; denn Ernährungssicherheit ist die Grundlage für diedringend notwendige Diversifizierung der Wirtschaftin den Entwicklungsländern. Besonders die LänderAfrikas müssen weg von ihrer einseitigen Ausrichtungauf unverarbeitete Rohstoffe und Agrarexporte. Eine so-ziale und umweltverträgliche Industrialisierung ist dieVoraussetzung für einen Ausweg aus den unfairen Han-delsbeziehungen. Hierzu müssen bestehende Initiativenweiterentwickelt und die aggressive Marktöffnungspoli-tik der westlichen Staaten und Finanzinstitutionen korri-giert werden. Vor allem brauchen die Staaten des SüdensEntscheidungsfreiheit in der Frage, wie sie ihre Volks-wirtschaften in der Aufbauphase schützen wollen. Ihnendarf nicht über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommender EU eine Liberalisierung aufgezwungen werden, dieihre Märkte zerstört und ihnen wirtschaftspolitische Ge-staltungsspielräume entzieht.

(Beifall bei der LINKEN)

Im aktuellen kapitalistischen Wettbewerb gehen dieEntwicklungsländer mit dem Fahrrad an den Start, wäh-rend die Industriestaaten im Porsche sitzen. Das ist keineMarktwirtschaft. Das ist einfach unsozial.

(Beifall bei der LINKEN)

Die globale Finanzkrise hat auch die Schwellen- undEntwicklungsländer erfasst. Nur wenige wie China undIndien konnten diese abfedern. Mexiko geriet unterDruck und muss höhere Kredite beim IWF aufnehmen.Die zuletzt deutlich gesunkenen Rohstoffpreise bringendie Haushalte vieler Rohstoffexporteure im Süden ineine ernste Schieflage.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Vor allem in Vene-zuela!)

Zudem sind eine Reduzierung der Entwicklungshilfe so-wie der Abzug oder die Zurückstellung von Investitio-nen zu befürchten.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Was ist mit Hugo Chávez?)

Vor diesem Hintergrund hat die Regulierung der Fi-nanzmärkte höchste Priorität. Notwendig sind unter an-derem ein Verbot der Nahrungsmittelspekulation, dieSchließung der Steueroasen und die strenge Kontrollevon Private Equity Fonds sowie Hedgefonds. Es mussaußerdem ein internationales Insolvenzrecht geschaffenwerden, das zahlungsunfähigen Staaten eine Mitspracheeinräumt. Illegitime Schulden müssen erlassen werden.Wer an Diktatoren oder korrupte Betrüger verleiht, sollnicht mit der Rückzahlung seiner Gelder rechnen dürfen.Die Umsetzung dieser Forderung setzt die Demokrati-sierung der internationalen Finanzdienstleistungs-institutionen voraus. Es kann nicht angehen, dass IWF

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Hüseyin-Kenan Aydin

und Weltbank von den OECD-Staaten dominiert werden,während die Entwicklungsländer die Zeche für derenverfehlte Politik zahlen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Nahrungsmittelkrise in Haiti ist dafür ein Beispiel.Über Jahrzehnte wurden auf Geheiß von Weltbank undIWF die Zölle gesenkt und Billigimporte ins Land ge-holt. Heute ist Haiti ein Nahrungsmittelimportland ge-worden.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, würden auch Sie freundlicherweise auf

die Zeit achten?

Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Entwick-

lungspolitik ist kein Nebenschauplatz der internationalenBeziehungen. Sie hat eine zentrale Aufgabe bei der Ge-staltung einer gerechten Weltordnung. Sie ist ein wesent-licher Bestandteil einer internationalen Sozialpolitik, fürdie die Linke einsteht, Herr Müntefering.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Ludwig Stiegler für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ludwig Stiegler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

mich nicht in die Debatte verirrt, sondern vertrete hiermeinen Kollegen Walter Kolbow, der einem gutenFreund die letzte Ehre erweisen muss.

Den Auftrag, hier für ihn zu reden, habe ich gernübernommen, weil ich zu denen gehöre, die von der Po-litik unserer Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul begeistert sind, und zwar seit Jahrzehnten.

(Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt aber un-höflich!)

Ich möchte ihr ganz herzlich für das Beispiel, das sie unsallen gibt, danken. Wir alle sind mal kurz bewegt undbegeistert, aber dann legt sich das wieder, währendHeidemarie Wieczorek-Zeul über Jahre und Jahrzehntemit konstanter Güte – mit konstanter Bosheit, könnteman fast sagen – ihren Auftrag verfolgt und seit der Ein-setzung der Nord-Süd-Kommission an seiner Umset-zung gearbeitet hat.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe an vielen Stellen erlebt, wie sie mit List, mitAusdauer und mit Beharrlichkeit die stursten Böckeüberzeugt hat.

(Heiterkeit bei der SPD)

Das ist eine bewundernswerte Leistung. HeidemarieWieczorek-Zeul ist für uns alle, die wir diesen Geschäf-ten nachgehen, oft eine Entlastung, weil wir wissen, dass

wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen können, aberHeidi fest für die guten Dinge steht. Deshalb ein herzli-cher Dank für diese Politik. Hier erleben wir, dass MaxWebers Spruch, dass Politik das Bohren von harten Bret-tern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich ist, leben-dig ist. Wir sollten ihr zusätzlich die Namen Constantiaund Perpetua geben.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wunderbar!)

Wir erleben auf der anderen Seite eine bemerkens-werte Regression der FDP, die einmal mit Walter Scheeleinen nicht unbedeutenden Entwicklungspolitiker gehabthat. Jetzt kommen Herr Niebel und Herr Königshaus miteinem Horizont, der nicht einmal ein Kirchturmshori-zont ist, sondern der Horizont einer Waldkapelle, die vonDornen und Stauden überwuchert ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie kann man nur so sein? Bitte gehen Sie einmal zuWalter Scheel auf ein Glas Wein, damit er Sie auf denneuesten Stand oder wenigstens auf den Stand von vor30 Jahren bringt.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Das ist dieser Partei nicht würdig. Sie waren schon we-sentlich weiter, und Sie können jetzt in der Krise nicht indiese Regression verfallen. Das geht einfach nicht. DerKollege Ruck hat Ihnen schon das Notwendige gesagt.

Wir müssen gerade in diesen Zeiten, in denen alle ausden Entwicklungsländern davonrennen – früher habenunsere Anleger diese Länder mit Geld überschwemmt;

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So toll waren die Investitionen auch nicht!)

mittlerweile flüchten sie alle in die sicheren Häfen –, Be-harrlichkeit und Beständigkeit beweisen. Dazu solltenwir unseren Beitrag leisten. Ich bin froh, dass die KfWbei der Mikrofinanzierung einer der besten Player aufder Welt ist. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeitvon Heidi Wieczorek-Zeul und Ingrid Matthäus-Maier,die das angepackt haben!

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Die hätten doch einpaar Milliarden mehr zur Verfügung gehabt,Herr Kollege!)

Man sollte für das, was diese Menschen begonnen ha-ben, dankbar sein.

(Beifall bei der SPD)

Herr Königshaus hat versucht, den Statusberichtvom Sommer, also von vor der Krise, lächerlich zu ma-chen. Das ist falsch. Sie sollten sehen: Dieser Statusbe-richt zeigt, was wir erreicht haben, was jetzt gefährdetist. Wir sollten auf die Weltbank, auf den InternationalenWährungsfonds und andere Beteiligte hören: Jetzt müs-sen wir zusammenstehen, um das Erreichte zu erhalten

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Ludwig Stiegler

und zu bewahren. Nur gemeinsam kommt die Welt ausder Krise. Keiner kann das für sich allein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Stichwort „Weltbank“: Frau Bundeskanzlerin, wennSie Herrn Obama wieder treffen oder wieder mit ihm te-lefonieren, dann erinnern Sie ihn bitte daran, dass wirvor einer Verdoppelung der Sonderziehungsrechte ste-hen. Der Bundestag hat die Sonderziehungsrechte schonmit beschlossen. Das Ganze hängt noch an der Zustim-mung der Amerikaner. Es wäre gut, wenn den schönenSprichworten über das Wagnis der Zukunft Taten folgtenund wir unsere Sonderziehungsrechte beim Internationa-len Währungsfonds verdoppelten; damit wäre der gan-zen Welt erheblich geholfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])

Mich bewegt seit meiner Pennälerzeit ein Gedichtvon Hugo von Hofmannsthal.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das muss aber schon lange her sein!)

Dieses Gedicht sagt uns zu diesem Thema einiges. Eslautet:

Manche freilich müssen drunten sterben,wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,andere wohnen bei dem Steuer droben,kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen mit immer schweren Gliedernbei den Wurzeln des verworrenen Lebens,anderen sind die Stühle gerichtetbei den Sibyllen, den Königinnen,und da sitzen sie wie zu Hause,leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Lebenin die anderen Leben hinüber,und die leichten sind an die schwerenwie an Luft und Erde gebunden.

Ganz vergessener Völker Müdigkeitenkann ich nicht abtun von meinen Lidern,noch weghalten von der erschrockenen Seelestummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen, durcheinander spielt sie all das Dasein,und mein Teil ist mehr als dieses Lebensschlanke Flamme oder schmale Leier.

Unser Teil ist mehr als unser individuelles Leben hier.Wir sind mit den anderen verbunden. Wir sind in dieseweltweite Verantwortlichkeit, in die internationaleKooperation einzubinden. Armutsbekämpfung ist Zu-kunftsinvestition. Armutsbekämpfung ist Friedenspoli-tik. Dafür danke ich der Bundesministerin, der Bundes-regierung. Diese Politik unterstützen wir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Koczy für

Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Ministerin, Sie haben der ZeitschriftWelt-Sichten dieser Tage ein Interview gegeben. Darinhaben Sie die Europäische Union aufs Korn genommen.Sie haben die Absicht der EU kritisiert, wieder Export-subventionen für Milchprodukte einzuführen: Diesewürden die Märkte in den Entwicklungsländern zerstö-ren und die Existenz vieler Kleinbauern in diesen Län-dern gefährden. Sie haben gesagt – ich zitiere –:

Die Entscheidung steht im krassen Gegensatz zuden Erkenntnissen der Weltgemeinschaft aus derNahrungsmittelkrise.

Frau Ministerin, das ist richtig. Die Wiedereinführungvon Agrarsubventionen für Milchprodukte zerstört in derTat die Märkte in den Entwicklungsländern. Diese Ent-scheidung der Europäischen Union, verkündet am Randeder Grünen Woche hier in Berlin, ist eine Katastrophefür viele Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – Dr. KarlAddicks [FDP]: Da hat sie recht!)

Sie ist ein Schlag gegen alle Bemühungen, mehr globaleGerechtigkeit herzustellen, und zementiert die Praxis un-seres unfairen Handelssystems.

Aber, liebe Heidemarie Wieczorek-Zeul, die Europäi-sche Union ist kein virtuelles Konstrukt, sondern gibt dieMeinung souveräner Staaten wieder. Die Bundesregie-rung sitzt da mit am Tisch. Sie begrüßt und unterstütztdiese Entscheidung. Sie sind Mitglied der Bundesregie-rung – und das nicht erst seit heute. Ich bin das EU-Bashing leid; es sind doch die Nationalstaaten, die anden Pranger gehören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Eben haben wir eine Regierungserklärung der Bun-desregierung zum Thema Entwicklungspolitik gehört.Nun wird es schwierig. Das Mitglied der Bundesregie-rung Wieczorek-Zeul kritisiert die Entscheidungen desKabinetts.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja un-glaublich!)

Mit Verlaub, Sie sitzen da doch mit am Tisch. Sie ent-scheiden, und jetzt versuchen Sie, die eigene, nämlichim Kabinett gefallene Entscheidung als Fehlentschei-dung darzustellen. Mit dieser Nummer lassen wir Sienicht durchkommen. Wir entlassen Sie nicht aus IhrerVerantwortung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Volker Kauder [CDU/CSU]: Was machen Siejetzt?)

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Ute Koczy

Auch wenn Sie glauben, es merke keiner: Sie tragenals Entwicklungsministerin mit die Verantwortung dafür,dass mithilfe der deutschen Bundesregierung die Exis-tenz der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in den Ent-wicklungsländern vernichtet wird und eine falsche, kata-strophale Subventionspolitik der Europäischen Unionzum wiederholten Male fortgesetzt wird.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Sie sind dafür verantwortlich – sonst niemand –; da kön-nen Sie so viele Interviews geben, wie Sie wollen. Letzt-lich lenken Sie davon ab, was in Berlin wirklich gespieltwird. Sie verkaufen die Leute für dumm.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist falsch!)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum gehe ichauf diesen Punkt so ausführlich ein? Weil ich es einfachleid bin, dass wir in der Entwicklungspolitik – – Oh, derPräsident meldet sich.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ja, er meldet sich, um Sie zu fragen, ob Sie geneigt

sind, eine Zwischenfrage des Kollegen Müller zu beant-worten.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Selbstverständlich.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die Entwick-

lungsländer komplett freien Zugang zum Markt der Eu-ropäischen Union haben, dass sie damit privilegiert sindund dass wir dazu auch stehen? Ist Ihnen weiterhin be-kannt, dass die von Ihnen so gegeißelten sogenanntenExporterstattungen für Milch in keinem Fall in ein LandAfrikas oder Lateinamerikas gehen, wie Sie behauptethaben? Es gelangt kein einziger Liter Milch und keinKilo Produkt mit Exporterstattung in die von Ihnen ge-nannten Staaten.

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ist Ihnen das bekannt, Frau Koczy?)

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Müller, dann frage ich Sie:

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie sollen ant-worten!)

Warum, wenn das so zuträfe, stellt sich die Ministerinhin und sagt, dass diese Entscheidung die Existenz derBäuerinnen und Bauern in Afrika und Lateinamerikaruiniert?

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das hat sie nicht gesagt!)

– Das hat sie gesagt. Das kann man in dem Interviewnachlesen. Sie sagt es, weil sie weiß, dass sie recht hat.Jetzt streiten Sie mit ihr einmal darüber, was daraus anKonsequenzen erwächst!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie des Abg. JürgenKoppelin [FDP] – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie sind leider nicht informiert!)

Wir stehen in der Entwicklungspolitik für den Kampfgegen die Armut. Das finden alle immer ganz toll. AberFrau Merkel regiert, um in Deutschland die Leute an derNase herumzuführen und es einfach zuzulassen, dassnicht Werte, sondern harte Lobbyinteressen die schwarz-rote Politik bestimmen. Herr Kollege Stiegler, es nütztnichts, die Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul zurGalionsfigur zu machen, wenn auf dem Schiff gleichzei-tig Meuterei herrscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Regierungserklärung zu den MDGs, zu den Jahr-tausendentwicklungszielen der Vereinten Nationen, unddem schon vielfach gegebenen Versprechen zur Aufsto-ckung der Mittel kann keine entwicklungspolitische De-batte im engeren Sinne sein; das ist richtig. So eine De-batte steht im Kontext der Finanzkrise. Das letzte Jahrstellt eine Zäsur dar. Das Jahr 2008 wird als ein Jahr dermultiplen Krise in die Geschichte eingehen: Klimakata-strophe, Ernährungskrise – darauf wird mein KollegeThilo Hoppe noch eingehen –, Energie-, Öl- und Finanz-krise sowie die jetzt kommende Wirtschaftskrise. Das al-les ist eine Gemengelage, von der wir noch nicht wissen,wie alles miteinander zusammenhängt.

Vor diesem Hintergrund frage ich: Was wird aus denEntwicklungszielen? Was wird aus den Zielen, die Ar-mut zu halbieren, die Müttersterblichkeit zu bekämpfenoder die Qualität der Bildung zu verbessern? Wo bleibenVeränderungen in den ungerechten Handelsstrukturen, inder wirtschaftlichen Zusammenarbeit? Was wird aus denErkenntnissen, dass erneuerbare Energien gerade inAfrika die Basis zur Armutsbekämpfung legen? Waswird aus dem Ziel von 0,7 Prozent des Bruttonational-produkts?

Wir befinden uns momentan in der absurden Situa-tion, dass mit ein wenig Zahlenspielerei eine Erhöhungder ODA-Quote denkbar ist, ohne dass neues Geld ein-gesetzt wird. Wenn die Wirtschaftsleistung sinkt und dieODA-Quote stagniert, dann wirkt es auf dem Papier wieeine Erhöhung. Wir brauchen jedoch reale Zuwächse.Jetzt rächen sich die Versäumnisse von Schwarz-Rot.

Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, Sie haben in IhrerAmtszeit nicht vorgesorgt. Sie haben es versäumt, Struk-turen zu reformieren, damit die EntwicklungspolitikDeutschlands für die Herausforderungen der Zukunft ge-rüstet ist. Genauso wenig, wie es dieser Regierung mitdem Finanzminister Steinbrück in den guten Tagen ge-lungen ist, Rücklagen zu bilden, Schulden abzubauenoder auch zu sparen, genauso wenig haben Sie es ge-schafft, frisches Geld durch innovative Finanzierungs-instrumente zu organisieren.

(Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist Unsinn! –Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihrhabt sieben Jahre lang das Geld zurückge-führt!)

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Ute Koczy

Ich beziehe mich auf die Regierungserklärung. Dort istzwar von innovativen Finanzierungsinstrumenten dieRede, aber Sie stehen komplett mit leeren Händen da.Nichts davon wurde realisiert: weder die Flugticket-Ab-gabe, noch die Kerosinsteuer, noch die Finanztransak-tionsteuer. Das sind alles Vorschläge, die wir Grünen seitJahren einfordern.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Noch mehr Steu-ern!)

Sie wurden alle nicht durchgeführt. Man hat sich zwaretwas bewegt und es verbalisiert, aber es kommt nichtsrüber. Damit stecken wir haushaltspolitisch in der Sack-gasse. Das haben Sie also auch vergeigt, und es gibt kei-nen Grund, Sie zu loben.

Frau Ministerin, Sie haben in der Saarbrücker Zei-tung gesagt: Wenn es möglich sei, mit Milliarden die Fi-nanzmärkte zu stabilisieren, müsse es auch möglich sein– ich zitiere –, „die Welt vor Armut und Hunger, Arbeits-losigkeit und dem Klimawandel zu retten.“ Ja, das sehenwir auch so. Aber im Gegensatz zur FDP sagen wir, dassdie 100 Millionen Euro nicht ausreichen, die Sie ausge-ben wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist zu wenig. Es müsste viel mehr Geld in die Händegenommen werden. Deswegen sprechen wir uns dafüraus, dass wir einen echten grünen New Deal bekommen,nicht den, den die Koalition vorträgt – kleinfüßig undimmer wieder torpediert. Am Beispiel Kfz-Steuer siehtman doch, was dabei herauskommt.

Wir brauchen einen echten grünen New Deal. Nur erist der Weg. Daran müssen wir arbeiten, nicht an dem,was die schwarz-rote Regierung hier vorgestellt hat.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Pfeiffer,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Warum wird die Qualität der Entwicklungszusammenar-beit mit der Höhe der verfügbaren Mittel in Zusammen-hang gestellt? Lieber Herr Stiegler, was Ihre hochgelobteKollegin Wieczorek-Zeul betrifft

(Ludwig Stiegler [SPD]: Da haben Sie recht!)

– das habe ich, ich bin auch sehr zufrieden mit ihr –: Allihre Mahnungen und Wünsche sind erst dann in Erfül-lung gegangen, als es im Kanzleramt zum Glück zu einerVeränderung kam.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Ich bin Zeuge, wie sie den alten Kanzler traktiert hat!)

Vorher hat sie sich bei ihren männlichen Genossen, an-gefangen bei Bundeskanzler Schröder, ohne Ende dieZähne ausgebissen.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie hat sie sich nichtausgebissen, sondern er hat nachgeben müs-sen!)

Liebe Ute Koczy, zu deinen Auslassungen bezüglicheiner rot-schwarzen Regierungsführung im Zusammen-hang mit der EZ möchte ich anmerken: Für alles, was duangeprangert hast, habt ihr sieben Jahre zur UmsetzungZeit gehabt.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und ihr drei Jahre!)

Während dieser Zeit sind diese Forderungen, das weißich, auch gekommen. Warum sind sie nicht umgesetztworden?

(Ludwig Stiegler [SPD]: Weil nur die Heidi die harten Bretter bohrt!)

Erst mit einer Änderung im Kanzleramt kann man dieDinge umsetzen, die man gerne möchte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber, liebe Freunde, was passiert eigentlich? Wir Par-lamentarier heben die Hand zu enormen Erhöhungen inunserem Entwicklungshaushalt, und reflexartig werdenwir mit Briefen von NGOs, der großen Gemeinde derGutmenschen dieser Welt, überschüttet, in denen wir ge-fragt werden, warum wir so wenig Geld zur Verfügungstellen. Das ist ein Reflex. Tust du nichts, wirst du be-schimpft; tust du was, wirst du auch beschimpft. Das är-gert mich. Mich ärgert, dass wir diejenigen sind, die pu-shen und powern und trotzdem beschimpft werden.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Darum habe ich euch doch gelobt!)

Außerdem frustriert es mich. Ich fühle mich da zu Un-recht kritisiert, und das gefällt mir nicht.

Natürlich machen sich die Entwicklungsministerinund wir uns als Entwicklungspolitiker viele Freunde,wenn wir viel Geld verteilen. Das ist einfach. Aber hilftviel eigentlich auch wirklich viel?

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht immer! –Dr. Karl Addicks [FDP]: Das kennt man schonaus der Medizin!)

Nirgends ist – das müssen wir uns einmal vorstellen,liebe Freunde – mit Zahlen belegt, wie viel Geld eigent-lich in diesem System steckt. Die OECD spricht vonetwa 110 Milliarden Euro, die dort ankommen, wo siehingehören, nämlich bei den Menschen vor Ort. Manschätzt, dass derselbe Betrag irgendwo anders hinfließt.Deshalb sage ich, lieber Kollege Aydin, jetzt einmal et-was, was du von mir nicht erwartet hättest: Hier könntenwir eine Verteilung von oben nach unten vornehmen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

In diesem Fall wäre das angebracht. Wir sollten uns ganzgenau anschauen: Wie sind die Mittel eingesetzt? Wosind sie eingesetzt? Wie effizient sind sie eingesetzt?

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Sibylle Pfeiffer

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Entwicklungszusammenarbeit kostet viel Geld. Ichglaube, wir können es uns nicht leisten, über Kürzungenim EZ-Haushalt zu beraten.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das hat auch keiner gesagt!)

Wir müssen aber die Krise als Chance begreifen und unsüberlegen, wie wir die Mittel einsetzen. Lassen Sie michin der Kürze der Zeit ein Beispiel nennen, das meinerMeinung nach zeigt, dass wir auch mit wenig Mittelnsehr effizient arbeiten können.

Nicht umsonst sind vier der acht MDGs auf Frauenabgestellt. Frauen sind in der Entwicklungszusammenar-beit unerlässlich. Auf der Arbeit der Frauen baut eine er-folgreiche Entwicklungszusammenarbeit auf. Ich denke,da gibt es zahlreiche Ansatzpunkte. Ich nenne einigeBeispiele, wie man die Frauen effizient stärken kann.Wir reden von Landrechten. Lieber Kollege Aydin, auchdas sehe ich im Zusammenhang mit den Rechten derFrauen; ich sehe die Landrechte der Frauen.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das hat er verges-sen!)

Auch das Erbrecht ist als Recht der Frauen von Bedeu-tung. Das Thema „Rechte der Frauen“ ist meiner Mei-nung nach überhaupt ein Thema, das sehr kostengünstigist. Um da etwas zu bewirken, bedarf es nur des politi-schen Willens. Ich rede hier weder von Gender-Main-streaming noch von Gender-Budgeting oder Ähnlichem.

(Jörg van Essen [FDP]: Wir sprechen ja auch Deutsch!)

Ich rede von nichts anderem als von Good Governance.Das kostet kein Geld, ist aber effektiv.

Daraufhin müssen wir unsere Haushalte einmal über-prüfen. Wir müssen schauen, wie wir die Prioritäten ge-setzt haben. Es ist richtig, dass wir mit dem aktuellenHaushalt auch die Programme stärken, die sich haupt-sächlich mit dem Empowerment von Frauen beschäfti-gen, zum Beispiel UNFPA, IPPF. Wenn wir uns um die-ses Thema verstärkt bemühen, dann tun wir dasRichtige. Wir müssen dort ansetzen, wo es nachhaltigund effizient ist, wo es wenig Geld kostet, aber einen ho-hen Ertrag bringt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Natürlich hätte auch ich gerne mehr Geld im System,nicht dass wir uns falsch verstehen. Wir benötigen natür-lich Geld, wahrscheinlich auch mehr Geld. Aber bittelasst uns die Krise, die wir zurzeit haben und nicht weg-diskutieren können, auch als Chance begreifen, selbst-kritisch zu hinterfragen: Wie setzen wir die Mittel ein?Setzen wir sie richtig ein? Wo können wir besser und ef-fektiver werden?

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Koppelin, FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jürgen Koppelin (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

hatte in dem bisherigen Verlauf der Debatte strecken-weise den Eindruck, ich würde mich auf einem Lyrik-kongress befinden.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wegen eines Gedichtes! Also wirklich! So fan-tasielos ist die FDP heute?)

Ich bin der Kollegin Sibylle Pfeiffer insofern sehr dank-bar, dass sie endlich konkret geworden ist. Es war eineausgesprochen gute Rede, der auch meine Fraktion Bei-fall gespendet hat. Gratulation, liebe Kollegin!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Kollegin hat sich mit dem Thema, nämlich mitden Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise aufdie Entwicklungsländer, beschäftigt und hat sich konkretdazu geäußert. Bis dato hatte ich darüber – auch von derMinisterin – nur sehr wenig gehört.

Lassen Sie mich zu Beginn sagen: Der UN-General-sekretär hat die internationale Gemeinschaft aufgefor-dert, keine Ausgaben für Entwicklungshilfe wegen derFinanzkrise zu kürzen. Diese Auffassung teilen wir. Ichdenke, wir sind uns alle einig, dass wir das nicht tunwollen, auch wenn bei uns die Mittel knapper gewordensind.

Im Zusammenhang mit dem 100-Millionen-Euro-Paket für die Weltbank darf ich aber daran erinnern,dass wir für dieses Geld Schulden machen müssen. Wirhaben es nicht irgendwo liegen und geben es einfach derWeltbank, sondern wir nehmen dafür Schulden auf undbelasten somit unseren Haushalt.

Beim Stichwort Haushalt möchte ich eine Bemerkungmachen. Frau Ministerin, mir muss jemand einmal erklä-ren, warum die 100 Millionen Euro nicht aus dem Bun-deshaushalt, sondern aus einem Sonderfonds, der jetztgebildet wird, kommen. Früher, als Rot-Grün die Regie-rung stellte, haben Sie das Schattenhaushalte genannt,die abgeschafft werden müssten. Jetzt schaffen Sie selbstsolche Schattenhaushalte, in denen Sie diese 100 Millio-nen Euro verstecken. Es wäre besser, dieses Geld ord-nungsgemäß in den Haushalt einzustellen und sich dazuzu bekennen, anstatt es in einen Schattenhaushalt zu ste-cken.

Die 100 Millionen Euro haben eine Geschichte. DieBundeskanzlerin hat dieses Geld einmal auf einem G-8-Gipfel zugesagt. Wir als Haushälter haben dann hinter-fragt, was die Weltbank mit diesem Geld macht. Das Er-gebnis war, dass uns das keiner aus der Bundesregierungerklären konnte; die Ministerin wird sich noch an dieAuseinandersetzung im Haushaltsausschuss erinnern.Wir, die Mitglieder des Haushaltsausschusses – undzwar die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU,

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Jürgen Koppelin

SPD und FDP, aber auch die Grünen –, haben in den Be-ratungen zum Haushalt 2008 diese 100 Millionen Euroabgelehnt; sie sind auch später nicht hineingekommen.Im Zuge der Krise will man nun das damals abgegebeneVersprechen einlösen und die 100 Millionen Euro bereit-stellen. Dieses Geld findet sich plötzlich in einem Schat-tenhaushalt wieder. Das ist unehrlich. Wie gesagt: Fürdiese 100 Millionen Euro, die die Bundesregierung derWeltbank plötzlich wieder zugesagt hat, müssen wirSchulden aufnehmen. Das sage ich, damit alle wissen,worum es geht.

Frau Ministerin, bei der Debatte kommt mir folgendeUnterscheidung ein bisschen zu kurz: Wie ist die Situa-tion aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise in Af-rika, und wie ist sie in Asien? Man sollte nicht alle Län-der in einen Topf werfen. Ich sehe, dass Länder inSüdostasien durchaus besser mit dieser Krise fertig wer-den. Das ist auch klar; denn sie haben ihre große Finanz-krise schon gehabt, haben entsprechende Erfahrung ge-sammelt und ihre Lehren daraus gezogen. Wir könntenvielleicht sogar von diesen Ländern lernen. In Afrikasieht die Situation wieder ganz anders aus, weil die Ban-ken dort international nicht so stark verflochten sind unddaher von dieser Krise nicht so viel zu spüren bekom-men. Man muss sich also die einzelnen Länder und dieeinzelnen Kontinente wie Afrika anschauen, bevor mansagt, dass man etwas pauschal für alle macht. Ich bin füreine differenzierte Betrachtung.

Ich hoffe und erwarte, dass wir noch mehr Informa-tionen darüber bekommen, ob es vonseiten der Regie-rungen dieser Länder eine Kapitalflucht nach dem Motto„Bringen wir unser Geld in Sicherheit!“ gibt. Damitmüssten wir uns allerdings ebenfalls beschäftigen. Wennwir über die Krise und die Folgen für die Entwicklungs-länder sprechen, müssen wir auch darüber reden, wie dieAbhängigkeit von ausländischen Finanzierungen ist undwie hoch die Devisenreserven sind. Es gibt durchausStaaten in Asien, die hohe Devisenreserven haben. Mansollte berücksichtigen, welche Folgen die Krise für diedortige Währungspolitik hat. Außerdem sollte man dieeinzelnen Länder nach ihrer wirtschaftlichen Leistungs-fähigkeit beurteilen.

Ich sehe den Kollegen von der Linken im Momentnicht, der vorhin gesprochen hat.

(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])

– Das ist okay. – Sein Beitrag über Bolivien war so dane-ben, dass ich den Eindruck hatte, er hat von diesem Landnull Ahnung. Ansonsten hätte er sich nicht hier hinstel-len und einen solchen Unsinn verbreiten können. Dasmöchte ich bei dieser Gelegenheit sagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Grundsätzlich sind wir der Auffassung, dass wir unsmit diesem Thema sowohl im entsprechenden Fachaus-schuss als auch im Haushaltsausschuss beschäftigenmüssen. Ich sage Ihnen allerdings: So pauschal, wie dashier heute abgehandelt worden ist, sollten wir diesesThema nicht behandeln. Kollege Ruck, vielleicht infor-mieren Sie sich noch einmal bei Ihrer Kollegin Sibylle

Pfeiffer, die in ihrem Beitrag mehr Kenntnis gezeigt hatals Sie.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Dr. Karl Addicks[FDP]: Jetzt kommt der Beitrag zur Landwirt-schaft!)

Dr. Sascha Raabe (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich finde es erstaunlich, Herr Kollege Koppelin,mit welcher Überheblichkeit Sie die Reden meiner Kol-legen aus dem Fachausschuss – die von Herrn Ruck undanderen – kritisieren angesichts dessen, dass ein KollegeIhrer Fraktion zu Beginn der Debatte Scherze über Pe-trus gemacht hat bzw. erzählt hat, wer in die Hölle undwer in den Himmel kommt, und die Debatte damit aufein Niveau gebracht hat, das ein bisschen an den Karne-val erinnert.

(Jörg van Essen [FDP]: Er hat den Bundes-tagspräsidenten zitiert!)

Unsere Fachpolitiker brauchen sich vor der FDP nicht zuverstecken. Wir machen eine sachlich gute Politik. Dasist bisher deutlich geworden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Debatte heute hat in erster Linie die Frage zumGegenstand, wo wir angesichts der Finanzkrise und derNahrungsmittelkrise, die die ärmsten Menschen schonim Vorfeld der Finanzkrise ganz hart getroffen hat, beider Umsetzung der Millenniumsentwicklungszielestehen. Man kann sich fragen, ob das berühmte GlasWasser halb voll oder halb leer ist. Auch wenn das wich-tigste Ziel, das sich die Vereinten Nationen bzw. dieWeltgemeinschaft gegeben haben, ist, den Anteil der Ar-men an der Weltbevölkerung bis zum Jahr 2015 zu hal-bieren, sollte man sich einmal die absolute Zahl vor Au-gen führen. Es ist in der Tat erschreckend und schlimm,dass aufgrund der Nahrungsmittelkrise und ein paarRückschlägen jetzt wieder 1 Milliarde Menschen in Ar-mut lebt.

Man kann natürlich zu Recht darauf hinweisen, dasses, gemessen an der Weltbevölkerung – sie steigt seit1990; zu diesem Zeitpunkt gab es mehr als 1 Milliardeweniger Menschen; das Bevölkerungswachstum findethauptsächlich in den Entwicklungsländern statt –, heute„nur noch“ 26 Prozent arme Menschen im Vergleich zu42 Prozent im Jahre 1990 gibt. Das sind immer noch vielzu viele. Ich sage das aber deswegen, damit wir uns Mutmachen und sehen, dass die Mittel wirken, die wir auchvon deutscher Seite dank unserer Ministerin, aber auchdank der Koalition, die sie beschließt, einsetzen. Jeder,dem wir geholfen haben, wieder zur Schule zu gehen, je-der mit einer tödlichen Infektionskrankheit, dem wir ge-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21799

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Dr. Sascha Raabe

holfen haben, wieder am Leben teilnehmen zu können,war das wert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sollten also stolz sein auf das, was wir erreicht ha-ben.

Wir sind mit Haushaltsmitteln von insgesamt 10 Mil-liarden Euro – davon fast 6 Milliarden Euro im Einzel-plan 23, im entwicklungspolitischen Haushalt – derzweitgrößte Geber weltweit. Wir haben die Quote derMittel für die Entwicklungszusammenarbeit von0,26 Prozent – diesen Wert haben wir, Frau Pfeiffer, vonder Regierung Kohl übernommen – auf 0,38 Prozent desBruttonationaleinkommens steigern können. Sicherlichwünschen wir uns alle – auch die Kollegen von derCDU/CSU –, dass wir weitere Schritte machen können.Diese sind auch notwendig.

Wenn man aber nur auf die Zahlen blickt, übersiehtman leicht die Durchschlagskraft, die, wie Frau Pfeifferes gesagt hat, in den Themenfeldern liegt, die nicht nurmit Geld zu bemessen sind. Neben dem Einsatz finan-zieller Mittel haben wir das zuständige Ministerium seit1998 dahin gehend umgewandelt, dass es sich auch mitFragen der globalen Strukturpolitik beschäftigt. Daswar immer ein großes Anliegen unserer Ministerin. Sieerhebt ihre Stimme eben nicht nur auf den Fachtagungender Entwicklungspolitiker, sondern auch dann, wenn esdarum geht, bei der Welthandelsorganisation

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Manchmal ja!)

für gerechte Handelsbedingungen zu kämpfen.

Wie wir damit umgehen, dass noch Handelsbarrierenvorhanden sind, dass viele Entwicklungsländer in ersterLinie noch Rohstofflieferanten sind, wird die entschei-dende Zukunftsfrage sein. Denn es reicht doch nicht,Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Felder zu be-stellen, wenn sie keine Möglichkeiten haben, ihre Pro-dukte auf den lokalen Märkten zu verkaufen oder sie zuexportieren. Bei aller Einigkeit, die wir als Entwick-lungspolitiker der CDU/CSU und der SPD haben, müs-sen wir darauf achten, dass nicht wieder Exportsubven-tionen auf europäischer Ebene eingeführt werden. Ichhalte auch die jetzt vorgesehenen Milchexportsubventio-nen für falsch. Eine Frage ist, ob sie direkt bezahlt wer-den sollen, wenn sie in Entwicklungsländer gehen; eswäre gut, wenn dies nicht geschähe. Aber es gibt auch ananderer Stelle Marktverzerrungen, weil Drittmärkte ge-stört werden und weil es einen Quersubventionierungs-effekt gibt, der auch wieder Märkte stören kann. In die-sem Sinne sind unsere hier im Deutschen Bundestaggefassten Beschlüsse eindeutig gewesen, und ich binauch sicher, dass wir gemeinsam dafür sorgen werden,dass die Beschlüsse von Hongkong – Frau Ministerin hatschon erwähnt, dass 2013 die Exportsubventionen fallensollen – umgesetzt werden, und zwar je schneller destobesser.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])

Seit 1998 haben wir die Mittel für die Nichtregie-rungsorganisationen verdoppelt, die eine ganz hervor-ragende Arbeit und unschätzbare Dienste leisten. Wirhaben vorhin schon die Zahlen gehört: 3 Millionen Men-schen sind mit Mitteln des Globalen Fonds zur Bekämp-fung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria derVereinten Nationen gerettet worden. Hinter solchen Zah-len stehen konkrete Schicksale. Wer wie wir oft in denbetroffenen Ländern unterwegs ist und früher zum Bei-spiel in südafrikanischen Slums sah, wie sich dort an ei-nigen Stellen die Leichen von HIV-Toten getürmt haben,weiß, dass es so etwas nicht mehr gibt. Wir sahen in Ma-lawi an HIV-Infektion Erkrankte in fortgeschrittenemStadium, die wieder nach Hause in ihre Dörfer gehenund arbeiten konnten. Dies zeigt, dass dieser Fonds aufglobaler Ebene sehr stark hilft.

Da Herr Koppelin vorhin die Haushälter angespro-chen hat, muss ich daran erinnern, dass wir die Millio-nenbeträge, um die wir uns oft mit den Haushaltspoliti-kern gestritten haben, vor allen Dingen auf multilateralerEbene der Vereinten Nationen wirksam einsetzen konn-ten. An dieser Stelle sollten wir mit der Kleingeistereiaufhören. Wir müssen global denken und helfen, was be-deutet, die Mittel an der richtigen Stelle einzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist in Ordnung, wenn man sich als Haushälter fragt, inwelchem Haushaltstitel zusätzliche 100 Millionen Eurofür die Weltbank bereitgestellt werden können. Wennman aber wie der Generalsekretär der FDP, Herr Niebel,eine Debatte fast auf Stammtischniveau nach dem Mottoführt, wir hätten genügend Probleme in Deutschland,was sollten wir dann noch 100 Millionen Euro nach Af-rika geben, dann empfinde ich dies als ziemlich schäbigund kleinkariert.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Hat er so gar nicht gesagt!)

Einer solchen Argumentation sollten wir in diesemHause die rote Karte zeigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist, wie Herr Kollege Stiegler gesagt hat, makro-ökonomisch völlig falsch, als Exportnation zu glauben,wir könnten zusehen, wie der Rest der Welt um uns he-rum zusammenbricht. Dies hätte nicht nur sicherheitspo-litische, sondern insbesondere weltweite ökonomischeAuswirkungen. Wir sind darauf angewiesen, dass Men-schen nicht in Hunger und Armut leben, sondern unsereProdukte kaufen und selbst etwas produzieren können.Geht es den Menschen in den Entwicklungsländern gut,geht es auch uns gut. Wir sind in einer Welt miteinanderverbunden und müssen über den eigenen Tellerrand hi-nausblicken.

In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir gemein-sam erkennen, dass wir in einer Welt leben, und die Mil-lenniumsentwicklungsziele sachlich und engagiert errei-chen. Ich hoffe, dass wir, wenn wir im Jahre 2015darüber debattieren werden, werden sagen können, dass

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21800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Dr. Sascha Raabe

wir vielleicht nicht alles erreicht haben, aber doch einengroßen Schritt vorangekommen sind.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/

Die Grünen.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Sascha, natürlich muss man auch die Erfolgewürdigen; man sollte auch auf das halb volle Glas undnicht nur auf das halb leere Glas schauen. Gleichwohlvermisse ich bei der Bilanz einen lauten Aufschrei. Esgibt bei einigen Millenniumszielen Erfolge, etwa beiBildung und Gesundheit, aber einen grandiosen Miss-erfolg bei dem Millenniumsziel, die Zahl der Hungern-den zu halbieren. Hier hilft jetzt auch nicht der statisti-sche Trick, dass man den Anteil der Hungernden an derWeltbevölkerung vorrechnet. Vielmehr kommt es auf dieabsoluten Zahlen an: Eine Milliarde Menschen sindchronisch unterernährt. Das ist ein historischer Höchst-stand. Dies bedeutet, eine Milliarde Menschen, dieSchmerzen leiden und um ihr tägliches Überleben kämp-fen. Auf diese große Herausforderung müssen wir rea-gieren; wir dürfen sie weder schönreden noch bagatelli-sieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich war am Montag und Dienstag auf der Welternäh-rungskonferenz der Vereinten Nationen in Madrid.Momentan gibt es viele Konferenzen, die diesen Titelführen. Auch die Bundesregierung hat anlässlich derGrünen Woche eine solche Konferenz, eine Art JointVenture mit der Nahrungsmittelindustrie und dem Bau-ernverband durchgeführt und die Konferenz so bezeich-net. Auf dieser Konferenz ist noch einmal klargeworden,dass die internationale Gemeinschaft grandios versagthat und die Herausforderungen immer noch nicht wirk-lich erkannt hat. Im Mai letzten Jahres fand ein Welter-nährungsgipfel in Rom statt. Dort gab es große Betrof-fenheitsbekundungen von Herrn Sarkozy und anderen.Doch jetzt wurde vorgerechnet, dass gerade einmal25 Prozent der Mittel, die damals zugesagt wurden, tat-sächlich gezahlt worden sind. Es bedarf einer wirklichenKurskorrektur und nicht der Heuchelei, die man auf sol-chen Konferenzen sehr häufig hören und erleben kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Leider kann man auf diesen Konferenzen auch vieleScheinlösungen hören. Da wird gesagt: It’s very simple,wir düngen die ganze Welt, wir überziehen die Welt mitStickstoffdünger, mit Pestiziden und Insektiziden.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Stickstoffdünger brauchen wir!)

Damit kann man kurzfristig vielleicht die Produktionsteigern, aber zu welchem Preis? Die Böden werden aus-

gelaugt, das Klima wird noch stärker belastet, die Klein-bauern werden oft verdrängt oder in die Schuldenfallegetrieben.

Es ist notwendig, die Krisen im Zusammenhang zusehen und über Armutsbekämpfung immer im Zu-sammenhang mit den Klimaveränderungen zu disku-tieren; denn die Landwirtschaft kann einen Beitrag lie-fern, um die Klimaveränderungen zu verlangsamen.Man kann aber auch, wenn man nur die Mittel der kon-ventionellen Landwirtschaft einsetzt ohne Rücksicht aufNachhaltigkeit, das Klimaproblem massiv vergrößern,was wiederum auf die Bauern zurückfallen und die Er-nährungssicherheit weiter gefährden würde. Daher ist esabsolut notwendig, den Nachhaltigkeitsgedanken aufzu-nehmen und die Empfehlungen des Weltagrarrates stär-ker zu berücksichtigen. Wir müssen an einem Strang zie-hen. Vom Agrarministerium vernehme ich momentanaber eher Verlautbarungen über Exportinitiativen; hierwurde schon gesagt, dass die Agrarexporterstattungenausgedehnt werden sollen. Ich sehe zwar, dass dieAgrarministerin und die Entwicklungsministerin an ei-nem Strang ziehen, aber an unterschiedlichen Enden undin verschiedene Richtungen. Das hat die heutige Debatteklar ergeben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wenn man nurin Schlagzeilen diskutiert, ist das halt schwie-rig!)

– Das sind nicht nur Schlagzeilen. Lesen Sie bitte auchdas, was uns die Fachleute in einer Anhörung im Ent-wicklungsausschuss gesagt haben. Nahezu alle Expertenhaben uns gesagt: Wir brauchen jetzt eine nachhaltigeStärkung der Landwirtschaft in den Entwicklungslän-dern, bei der die Kleinbauern in den Mittelpunkt gestelltwerden.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Eine Intensivierung voranbringen!)

Eine Zwischenfrage, Herr Präsident.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich rufe die bestellte Zwischenfrage des Kollegen

Müller auf.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe die Zwischenfrage nicht bestellt. Ich habe

nur bemerkt, dass ihm etwas unter den Nägeln brenntund er etwas sagen möchte.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Redezeitverlänge-rungskooperationen!)

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Herr Kollege, nachdem Sie mich angesprochen ha-

ben, möchte ich Sie Folgendes fragen: Ist Ihnen bekannt,dass die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2030 bei abneh-mender Fläche auf circa 9 Milliarden Menschen anstei-gen wird?

(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist mir bekannt!)

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Dr. Gerd Müller

Ist Ihnen bekannt, dass darauf nur mit einer neuen Agrar-entwicklungspolitik und einer neuen Agrarentwick-lungskooperation mit den Staaten, in denen noch Poten-ziale vorhanden sind, reagiert werden kann? Ist Ihnenbekannt, dass wir bis zum Jahr 2030 zur Ernährung dieser3 Milliarden zusätzlichen Menschen und der 1 Milliardehungernden Menschen die Nahrungsmittelproduktionin der Welt um 50 Prozent erhöhen müssen? Können Siemir mitteilen, wie Sie die Nahrungsmittelproduktion um50 Prozent erhöhen wollen? Kennen Sie das neue Kon-zept des Bundeslandwirtschaftsministeriums zur Agrar-entwicklungspolitik?

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist eine guteFrage! – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da kannst Du jetzt aber lange reden!)

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, wir haben im Entwicklungsaus-

schuss vor kurzem eine Anhörung durchgeführt. Meh-rere Experten, auch diejenigen, die von der Union be-nannt wurden, wie beispielsweise Herr ProfessorDr. Theo Rauch, haben dargelegt, dass sich die Produk-tion mit standortgerechten, angepassten und ökologischvertretbaren Anbaumethoden bei einem geringen Risikoverdoppeln lässt. Wenn man das macht, was das Agro-business tun will, und die Welt mit Stickstoffdünger, mitHochleistungssaatgut, mit gentechnisch verändertemSaatgut überzieht, lässt sich die Produktion verdreifa-chen oder sogar verfünffachen, aber auch das Risikowäre 50 Prozent höher. Die Folgen wären ausgelaugteBöden und große ökologische Schäden. Damit würdenwir dem Ziel, Ernährungssicherheit zu erreichen, einenBärendienst erweisen.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich schicke Ih-nen unser Konzept zu!)

– Aber gerne. Wir können den Fachaustausch gern weitervertiefen.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Schlagab-tausch über die Pressemitteilungen gestern zwischenFDP und Union sagen. Die Intervention von HerrnNiebel wurde hier schon von mehreren Rednern er-wähnt. Ich finde auch die Antwort der Union bezeich-nend. Der FDP wurde gesagt: Ja, aber das, was man indie Entwicklungszusammenarbeit investiert, kommtdoppelt und dreifach zurück und dient unserer Export-industrie.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Ja!)

Was ist denn das für eine Begründung? Was für einBild haben Sie von den Bürgerinnen und Bürgern in un-serem Lande? Ich bekomme E-Mails und Anrufe vonMenschen, die sagen: Wir bekommen schon Albträume,wenn wir uns die 1 Milliarde Hungernder vorstellen. –Wir wollen, dass denen geholfen wird. Wir wollen nicht,dass man Entwicklungshilfe damit begründen muss, dassdas Zweifache und Dreifache zurückkommt und wirletztendlich daran verdienen. Das kann in einzelnen Fäl-len ein positiver Nebeneffekt sein; aber das ist dochkeine Motivation dafür, Solidarität und Gerechtigkeit an-zustreben und den Ärmsten der Armen zu helfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] –Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist doch keineSchande!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Klimke,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Es ist mehrfach zitiert wor-den: 1 Milliarde Menschen muss vermutlich künftig un-ter Hunger leiden. Was müssen wir aufgrund unsererglobalen und unserer sozialen Verantwortung tun, umgegenzusteuern? Wir brauchen eine konsequente Mittel-erhöhung; das ist hier ziemlich einvernehmlich. Wirmüssen auch die Rahmenbedingungen unserer themati-schen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländernverändern.

Das gilt aus meiner Überzeugung insbesondere fürden Bereich, der sehr entwicklungsrelevant ist, nämlichfür die nachhaltige Wirtschaftsförderung in unserenPartnerländern. Leitlinie unserer Philosophie muss sein,dass Wirtschaftswachstum der einzige Schlüssel zurkonsequenten Armutsbekämpfung in den Entwicklungs-und Schwellenländern ist.

(Beifall der Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU] und Dr. Karl Addicks [FDP])

Deshalb streben wir in der CDU/CSU im Rahmen unse-rer entwicklungspolitischen Strategie an, mehr Rechts-und Investitionssicherheit zu entwickeln, mehr Infra-struktur zu gewährleisten, die Energieentwicklung vo-ranzutreiben und vor allen Dingen den Mittelstand stär-ker zu berücksichtigen. Dabei lautet unser vorrangigesZiel, Wirtschaftswachstum in den Entwicklungs- undSchwellenländern so zu gestalten, dass es direkte Effekteauf die Armutsbekämpfung hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Das heißt, die Menschen müssen direkt davon profitie-ren, zum Beispiel durch gerechtere Steuer- und Abga-bensysteme. Pflicht ist eine Refinanzierung des Wirt-schaftswachstums; es muss in der Bevölkerung spürbarsein.

Ziel unserer Politik der Entwicklungszusammenarbeitmuss sein, wirtschaftliche Kompetenz in Entwick-lungsländer zu vermitteln, dort regionale Märkte auf-zubauen und mittelständische Strukturen zu entwickeln,sodass diese Partnerländer dann vielleicht künftig in derLage sind, ohne die Unterstützung der Entwicklungszu-sammenarbeit selbstständig zu wirtschaften. Notwendigsind also die Stärkung der regionalen Märkte durch ei-nen Know-how-Transfer sowie die Schaffung von Ar-beitsplätzen vor Ort durch eigene Leistungsfähigkeit.

Das fängt bei der von der Ministerin angesprochenenMikrofinanzierung und der Mikroversicherung gerade

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Jürgen Klimke

im ländlichen Raum an und geht damit weiter, dass dieEntwicklungspolitik in Zukunft insbesondere für dendeutschen Mittelstand einen Rahmen für wirtschaftli-che Betätigung in den Entwicklungsländern bietenmuss. Das heißt, die deutschen Kammern müssen nochintensiver einbezogen werden, und andere privatrechtli-che wirtschaftliche Organisationen müssen dabei helfen,die Grundstrukturen für einen Aufschwung in den Part-nerländern zu legen. Hierbei spielt auch die Frage derBildung und Ausbildung eine Rolle, zum Beispiel imZusammenhang mit der beruflichen Bildung, mit demdualen System, das weltweit nachgefragt ist und das wirstärker fördern sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ein weiterer Kernaspekt ist, dass MittelständlerRisikofinanzierungen brauchen.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Ja! Genau!)

Hier hat die staatliche Unterstützung eine wichtige Rollezu spielen, vor allem durch die DEG und durch dasBMZ, das nach unserer Auffassung die wirtschaftlicheEntwicklungszusammenarbeit – so heißt das Ministe-rium ja auch – mit den Entwicklungsländern stärker ko-ordinieren und steuern sollte, natürlich immer auf Au-genhöhe mit den Ländern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist nach wie vor so, dasssich mittelständische Unternehmen mit Investitionen inEntwicklungsländern schwertun. Nicht wenige laufenGefahr, sich zu überheben. Eine Konzentration der staat-lichen Unterstützung auf den Mittelstand ist deswegenvorrangig. Die Entwicklungsorientierung der Wirtschaftist jedoch auch Voraussetzung für derartige Ansätze.

Wie schaffen wir das? Mit mehr Transparenz und Un-terstützung der deutschen Unternehmen bei internationa-len Ausschreibungen, damit sie sich daran noch intensi-ver und erfolgreicher beteiligen und dann in denEntwicklungsländern investieren können.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege.

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Es ist wichtig, dass die KfW und die GTZ ihren Fokus

auf die Infrastrukturentwicklung legen. Die Rahmenbe-dingungen für Auslandsinvestitionen sollten mittel-standsfreundlicher gestaltet werden.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, ich glaube, Sie haben die Uhr nicht

richtig im Blick.

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich komme zum Ende, Herr Präsident.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit im BMZ sollteerweitert werden. Eines muss allerdings klar sein – dasmöchte ich betonen –: Der Schlüssel für die erfolgreiche

Entwicklung unserer Partnerländer liegt in der Teil-nahme aller Menschen an einer erfolgreichen Wirt-schaftsentwicklung. Unser Konzept dient auch als Hilfezur Selbsthilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Dr. Karl Addicks [FDP] – Dr. Karl Addicks[FDP]: Der größte Teil davon war ja eigentlichunser Konzept! Aber trotzdem: Gut gemacht!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Gabriele Groneberg ist die nächste Rednerin für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Groneberg (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich will mich mit zwei Bereichen be-schäftigen, die von der Ministerin angesprochen wordensind, von allen anderen Kolleginnen und Kollegen, diebisher gesprochen haben, aber nicht. Es handelt sich umzwei Themen, die zur Erreichung der acht Millenniums-ziele von großer Bedeutung sind. Sie finden in der For-mulierung jedes einzelnen Ziels ihren Niederschlag, las-sen sich unter der Überschrift „Sicherung derökologischen Nachhaltigkeit“ allerdings auch direkt Zielsieben zuordnen.

Herr Koppelin, es geht nicht nur um die Finanzkrisebzw. um Finanzthemen, sondern auch um das Erreichender Millenniumsziele. Dafür sind Wasser und Energieunabdingbar notwendig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn beides nicht bzw. nicht in ausreichendem Maßevorhanden ist, wird man die Millenniumsziele auch imHinblick auf die anderen Vorhaben nicht erreichen. DassWasser die Grundlage ist, um leben, ja überleben zu kön-nen, brauche ich nicht weiter zu erläutern; ich denke, dasist jedem klar. Geht es aber um Abwässer und Fäka-lien, die zwangsläufig auch anfallen, ist die Sache schoneine andere.

Weltweit haben 42 Prozent der Menschen keine ange-messene Toilette. Es ist nicht nur so, dass eine einiger-maßen hygienische Verrichtung der Notdurft zur Ach-tung der Menschenwürde gehört. Ebenso gravierendsind die Auswirkungen fehlender Siedlungshygiene undfehlenden Abwassermanagements. In den Ländern, indenen diese notwendigen Dinge fehlen, sind Krankhei-ten und verseuchtes Trinkwasser an der Tagesordnung.Sie stellen für die Entwicklung der betroffenen Länderein gravierendes Hindernis dar. Ich erinnere an dieserStelle nur an die Choleraepidemie in Simbabwe.

Der gesicherte Zugang zu Energie ist ebenfalls einunerlässliches Element im Kampf gegen die Armut undebenso wichtig wie der Zugang zu Wasser. Man musswissen, dass weltweit 1,6 Milliarden Menschen keinenZugang zu elektrischer Energie haben. Diese Situationzu ändern, ist eine zentrale Voraussetzung, um die Le-bens- und Produktionsbedingungen in den Entwick-lungsländern zu verbessern. Das Vorhandensein von

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Gabriele Groneberg

Energie ist für die Stabilität eines Landes und einerVolkswirtschaft bedeutsam und beeinflusst in erhebli-chem Maße nicht nur die Lebensverhältnisse der Men-schen, sondern wirkt sich auch positiv auf das von HerrnKlimke erwähnte Wirtschaftswachstum aus.

Ohne erneuerbare Energien werden wir nicht nur anunserem Ziel, für alle Menschen Energie bereitzustellen,scheitern. Ohne nachhaltige Energieerzeugung und auf-grund der daraus folgenden klimapolitischen Sündenwürden wir uns buchstäblich auch unserer eigenen Le-bensgrundlagen berauben. Unsere Entwicklungszusam-menarbeit hilft den Entwicklungs- und Schwellenländern,ihren Zugang zu nachhaltiger Energie sicherzustellen undsich aktiv am Klimaschutz zu beteiligen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einigeAusführungen zur Nutzung von Biomasse machen. DieDimension, die die Nutzung von Biomasse hat, wird da-ran deutlich, dass allein in Subsahara-Afrika 547 Millio-nen Menschen – Tendenz steigend – ohne Zugang zurStromversorgung leben. Diese Menschen müssen60 Prozent ihres Primärenergiebedarfs durch die Nut-zung herkömmlicher Biomasse decken. 80 Prozent die-ser Biomasse sind Holz. Dies verstärkt die Abholzungder Wälder – mit verheerenden Folgen für Mensch, Um-welt und Klima. Das Einatmen des Qualms, der entsteht,wenn das Holz in den engen Hütten verbrannt wird, führtzu enormen Gesundheitsschäden. Wir können dem wirk-sam begegnen, indem wir dafür sorgen, dass effizienteund emissionsarme Kochherde benutzt werden. Mit die-sem einfachen Mittel kann man die Menschen in dieLage versetzen, ihre Gesundheit, das Klima und die Bio-diversität vor Ort zu schützen.

Aber auch andere Nutzungen von Biomasse sind inte-ressant. Ich nenne nur die Stichworte Biogas und – mitt-lerweile ein Reizwort – Biosprit. Was abstrakt klingenmag, wird konkret, wenn man den Bogen dazu schlägt,wie wir in Deutschland Biomasse als Beitrag zu einerklimafreundlichen Energieversorgung nutzen. Mit derBeschränkung auf die Gegenüberstellung von „Tank“und „Teller“ wird die Konkurrenz bei der Nutzung vonBiomasse polemisch zugespitzt. Doch die Nutzung vonBiomasse hat viele Facetten, sie birgt sowohl für die In-dustrieländer als auch für die Schwellenländer und fürdie Entwicklungsländer Chancen wie Risiken:

Einerseits führt die Zunahme der Biomasseimporteaus Schwellen- und Entwicklungsländern zu steigendenExporterlösen. Das ist wünschenswert. Die Produktionvon Biomasse kann zu einer Erhöhung der Wertschöp-fung und der Beschäftigung im ländlichen Raum beitra-gen. Landwirtschaft kann sich wieder lohnen. Damitsind Chancen zur Verminderung der Armut verbunden.

Andererseits ist die Produktion von Biomasse mit Ri-siken im ökologischen und im sozialen Bereich verbun-den. Es stellen sich die Frage des Schutzes der Biodiver-sität und die Frage der Klimarelevanz der Produktionvon Biomasse. Allein die Umwandlung natürlicher Öko-systeme in Anbauflächen setzt erhebliche Mengen anTreibhausgasen frei. Ferner hat sich bereits gezeigt – unddas dürfen wir nicht negieren –, dass der Anbau vonEnergiepflanzen, weil er in Konkurrenz zu einem Anbau

von Nahrungsmitteln steht, zu Preissteigerungen undNahrungsmittelengpässen führt. Diese Flächennutzungs-konkurrenz ist von erheblicher entwicklungspolitischerRelevanz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])

Das betrifft alle Teile der Bevölkerung, nicht nur die Ar-men.

Um Fehlentwicklungen bei der Nutzung von Biomassezu vermeiden, brauchen wir ein Zertifizierungssystem,mit dem Nachhaltigkeit bei Anbau und Produktion sicher-gestellt wird. Wir wollen unserer Verantwortung in die-sem Bereich nachkommen und arbeiten deshalb an einerBiomasse-Nachhaltigkeitsverordnung, in der wir Anfor-derungen für die Nutzung von Biomasse in Deutschlandfestlegen. Ich hoffe, dass diese Verordnung noch diesesJahr in Kraft treten kann und dass der Inhalt dieser Ver-ordnung EU-Standard wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist wichtig, dass die Standards, die wir für die Nut-zung von Biomasse in Europa mithilfe wirksamer Zerti-fizierungssysteme festlegen werden, auch internationalAnwendung finden können. Mir ist klar, dass es bis da-hin noch ein weiter Weg ist. Aber ich habe gute Gründe,optimistisch zu sein. Die Gründungskonferenz derInternationalen Agentur zur Förderung der Erneu-erbaren Energien, kurz: IRENA, ist ein gutes Beispieldafür. Die Idee zu dieser Initiative ist maßgeblich hier imDeutschen Bundestag geboren worden. Es hat einigeJahre gedauert, bis man so weit gekommen ist; aber amMontag sind 75 Staaten dieser Initiative beigetreten. Dasist ein Zeichen, dass, wenn sich alle einig sind, viel er-reicht werden kann. Das gilt genauso für die Zertifizie-rung von Biokraftstoffen oder andere Formen von Bio-masse.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])

Die Internationale Agentur zur Förderung der Erneuer-baren Energien wird zum Erreichen von Ziel sieben derMillenniumserklärung – ökologische Nachhaltigkeit –beitragen. Deutschland kann also Motor sein für einePolitik, die Vorbild ist, die Möglichkeiten in Anspruchnimmt, die Vorzeigefunktion hat. Wenn wir in unserenBemühungen nicht nachlassen, werden wir eines Tageskeine Erste, Zweite und Dritte Welt mehr haben, sonderneine Welt, eine Welt, für die alle zusammen Verantwor-tung tragen. Dieser Aspekt ist mir heute manchmal zukurz gekommen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiedes Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Ministerin, Sie haben das Thema UNICEF und dieMüttersterblichkeit angesprochen. Ich will das noch ein-mal ergänzen.

Wir alle wissen, dass täglich 30 000 Kinder auf dieserWelt aufgrund von Armut, schlechtem Wasser, Hungerund Ähnlichem sterben. Ich bin mit Ihnen darin absoluteinig und dankbar dafür, dass der Bundespräsident die-ses Thema immer wieder zum Schwerpunkt macht, aberich ziehe andere Schlüsse als Ihre Fraktion daraus undunterstütze diesen Bundespräsidenten deshalb auch beiseiner nächsten Wahl.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Addicks [FDP])

Zum Anspruch und zur Haushaltswirklichkeit derEntwicklungspolitik. Ich finde es gut, dass die Kolle-ginnen und Kollegen eben von dem Aufwuchs seit 1998gesprochen haben, aber die 50 Prozent Aufwuchs hat esin den letzten drei Jahren gegeben.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!)

Deshalb kann man, wenn man die Zeit ab 1990 betrach-tet, natürlich auch Stagnation feststellen.

Frau Ministerin, es gibt einen Punkt, den ich doch kri-tisieren möchte, weil ich glaube, dass dadurch nur Vorur-teile bedient werden. Sie haben das Thema Banken unddie Bankenbürgschaften angesprochen. Das ist etwas an-deres, als Barmittel zur Verfügung zu stellen. Wir habenalle gemeinsam – auch Sie im Kabinett – diesem Schirmzugestimmt, weil wir wissen, dass er dringend notwen-dig ist. Das kann man nicht im Verhältnis zu den Barmit-teln sehen, die wir im Entwicklungshaushalt brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin absolut mit Ihnen darin einig, dass wir auch inZukunft Aufwüchse brauchen. Dazu gehört aber auch– wir sind einer der größten Zahler in der Entwicklungs-community und in den internationalen Organisationen –,dass wir zukunftsorientierte Organisationen brauchen;dazu gehört IRENA, darüber besteht gar kein Zweifel.Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass wir Paral-lelstrukturen abbauen müssen.

Es gibt erhebliche Parallelstrukturen im Bereich derinternationalen Organisationen, zum Beispiel im Ge-sundheitswesen. Dadurch werden Mittel verschleudert.Hiergegen müssen wir gerade in schwierigen ZeitenSpeerspitze sein, damit die Mittel effektiver eingesetztwerden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Liebe Kollegin Koczy, weil Sie wieder das Thema Ti-cket Tax angesprochen haben,

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

möchte ich Sie doch noch einmal kurz fragen: Haben Siegar nicht gemerkt, dass das eine olle Kamelle ist unddass es inzwischen einen Emissionshandel gibt, bei demein ganz anderer Aufwuchs zu verzeichnen ist, sodass

entsprechende Mittel für eine zukunftsorientierte Ent-wicklungspolitik zu Verfügung stehen?

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Genau!)

Das ist eine schwarz-rote Politik, die absolut top und zu-kunftsorientiert gewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Karl Addicks [FDP]: Dasist Ihr Lieblingsthema!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können sichdenken, dass ich mein Spezialthema Kongo – der Kol-lege Ruck hat das Thema Frieden angesprochen – an-spreche, wenn ich am Rednerpult stehe.

Frau Ministerin, Sie sind mit uns im Kongo gewesenund haben danach gesagt: Wir legen einen Friedensfondsim Umfang von 50 Millionen Euro auf. – Das ist für einegewisse Zeit leider blockiert worden – nicht durch Sie;ich will das nicht vertiefen –, aber jetzt steht er zur Verfü-gung. Die Ersten, die mit dafür sorgen, dass Infrastruk-turmaßnahmen durchgeführt werden, sind jetzt dort.

Nachdem wir die Wahl begleitet haben, Herr Lubangavor dem Internationalen Gerichtshof wegen Verbrechengegen die Menschlichkeit und gegen Kinder angeklagtwurde und Herr Nkunda durch Ruanda verhaftet wurde,haben wir jetzt im Augenblick nach meiner Überzeu-gung ein kleines Zeitfenster für den Frieden. Frau Minis-terin, ich bitte Sie – ich werde auch unsere Kanzlerinund den Außenminister noch einmal darum bitten –, dassdie europäischen Geber jetzt gemeinsam einen Schwer-punkt im Ostkongo setzen.

Ich will noch einmal sagen, wie dieser Schwerpunktaussehen muss:

Punkt 1. Wir werden dort keinen Frieden schaffen,wenn Rechtsstaatlichkeit nicht hergestellt wird. Es nütztnichts, wenn es Gerichte gibt, bei denen der Präsident30 Dollar verdient, aber Leute verurteilen muss, die imMonat durch Schmuggel und Ähnliches 10 000 Dollarauf die Seite schaffen und dann versuchen, sich durchKorruption freizukaufen. Wir brauchen also eine funk-tionierende Justiz und Polizei sowie das Militär. Hiermüssen wir uns als Europäer gemeinsam anstrengen.

Punkt 2. Wir können das nicht nacheinander tun, son-dern hier muss man jetzt im Interesse des Friedens in demgesamten Bereich der Großen Seen – Uganda, Burundi,Ruanda und insbesondere Ostkongo – die Infrastruktur-maßnahmen umsetzen: Straßen, Schulen, Gesundheits-wesen.

Wir müssen auch das gemeinsam fortsetzen, was be-reits angefangen worden ist, nämlich die Zertifizierungvon Rohstoffen, die seit zehn Jahren in Botswana wun-derbar funktioniert. Sie bringen die Wertschöpfung inden eigenen Haushalt ein und können die Mittel dann fürInfrastrukturmaßnahmen nutzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])

Wir brauchen auch ein ökonomisches Netzwerk, so-dass wir ihnen durch deutsche Unternehmen und mit

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Hartwig Fischer (Göttingen)

PPP-Projekten gemeinsam helfen können. Das müssenwir dort partnerschaftlich vereinbaren. Wir können dortbeim Einsatz der Mittel auch zwischen Ituri und Südkivuunterscheiden, da wir sehen, dass es dort nicht mehr denUmfang an Korruption wie bei dem Gouverneur inNordkivu gibt. Dann merken die Menschen, dass es sichfür sie auszahlt, in den Provinzen, die ich eben genannthabe, eine Regierung zu unterstützen.

Das heißt, wenn wir jetzt nicht halbherzig vorgehen,sondern mit der internationalen Gemeinschaft gemein-sam handeln, dann können wir in Afrika ein Signal fürdiesen wichtigen Bereich setzen. Ich befürchte aber, dasswir weiter in die internationalen Haushalte einzahlen.

Dieser Bürgerkrieg im Ostkongo kostet jedes Jahr al-lein für den Militäreinsatz MONUC über 1,2 MilliardenEuro, an denen wir mit fast 10 Prozent beteiligt sind.Wenn wir dauerhaft Frieden schaffen könnten, dannkönnte man diese Summe langsam, aber sicher herunter-fahren und gleichzeitig Kapazitäten freisetzen, die inDarfur oder in Somalia zur Unterstützung von AMISOMgebraucht werden, wo derzeit nur 2 400 von 8 000 Stel-len der Friedenstruppe besetzt sind.

Ich glaube, wir haben die Chance zu friedenschaffen-den Maßnahmen. Wir müssen sie nur gemeinsam mitden anderen europäischen Ländern ergreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat das Wort die

Kollegin Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! In dieser Debatte war viel von Haushaltsmitteln undihrer internationaler Verwendung die Rede. Manchmalgeht es in der Diskussion auch darum, dass Haushalts-mittel angeblich falsch eingesetzt werden. Das bin ichmittlerweile wirklich leid, weil es in der Öffentlichkeitein falsches Bild auf die Entwicklungspolitik wirft undso getan wird, als hätten wir als Entwicklungspolitiker,aber auch die Ministerin und das Ministerium ein Inte-resse daran, Steuermittel falsch einzusetzen. Darum gehtes aber nicht. Das möchte ich anhand von einigen Punk-ten deutlich machen, die auch heute genannt wordensind.

Das Thema Landreform ist angesprochen worden.Wofür verwenden wir Haushaltsmittel? Sie fließen zumBeispiel in die Finanzierung der Haushalte der entspre-chenden Staaten. Wir unterstützen den Aufbau von Jus-tizsystemen und die Durchführung von Landreformen,zum Beispiel in Ghana, indem Mittel in den ghanaischenHaushalt hineinfließen. Ich glaube, das sind wichtigeBeiträge zur Strukturpolitik. Es ist richtig – KollegeRaabe hat es angesprochen –: Entwicklungspolitik istStrukturpolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin auch das Bashing von internationalen Orga-nisationen in diesem Zusammenhang ein bisschen leid.Denn nur gemeinsam können wir die Herausforderung,dass 1 Milliarde Menschen in Hunger leben, bewältigenund die Probleme angehen. Das ist nur mit finanziellenBeiträgen auch für internationale Organisationen mög-lich. Ich glaube, es ist an der Zeit, auch in diesem Punktfür Wahrheit und Klarheit zu sorgen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir über Strukturpolitik in der Entwicklungspo-litik diskutieren, dann möchte ich auch ein Thema an-sprechen, das wir uns als Sozialdemokraten, aber auchinnerhalb der Koalition in diesem Jahr verstärkt auf dieAgenda gesetzt haben und das dankenswerterweise vomMinisterium sehr aktiv aufgegriffen wurde, nämlich diesozialen Sicherungssysteme. Wir können die Probleme,die durch das Fehlen sozialer Sicherungssysteme welt-weit entstehen, nicht mit Einzelprojekten lösen, sondernnur, indem wir gemeinsam mit den Partnerländern aufderen Strukturen einwirken und neue Sicherungssystemeaufbauen.

Wer letzten Sonntag im Weltspiegel den Beitrag überMillionen chinesische Wanderarbeiter gesehen hat, dieplötzlich von einem Tag auf den anderen vor den Fabrik-toren stehen, keinen Lohn mehr bekommen und nichtwissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, die imKrankheitsfall keine Möglichkeit haben, irgendeineForm von Hilfe in Anspruch zu nehmen, dem muss klarsein, dass weltweite Entwicklung und nachhaltige Be-kämpfung von Armut nur dann möglich sind, wenn esuns gelingt, weltweit soziale Sicherungssysteme aufzu-bauen, zu stützen und zu stärken. Dass das nur mit Sys-temen möglich ist, die solidarisch alle Bevölkerungs-schichten einbeziehen, ist sicherlich auch klar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Noch sind wir in einer Situation, in der weltweit100 Millionen Menschen jährlich wieder in Armut zu-rückfallen, weil sie aufgrund von Erkrankungen der ei-genen Person oder innerhalb ihrer Familien Verdienst-ausfälle haben, ihre Arbeit nicht ausüben können und ihrVieh bzw. ihre Lebensgrundlage verkaufen müssen.Dass das nachhaltiger Armutsbekämpfung und allen Zie-len, die heute genannt wurden, entgegensteht, ist sicher-lich für jeden ersichtlich. Das bedeutet aber auch, dasswir das tun müssen, was wir zum Beispiel in Ruanda ge-macht haben: Dort haben wir uns mit der Regierung zu-sammengesetzt und gemeinsam Pläne entwickelt, wienachhaltig Einkommen in den Ländern generiert undSteuersysteme aufgebaut werden können. Nebenbei be-merkt: Dank der viel gescholtenen Budgethilfe werdenin Ruanda Steuersysteme aufgebaut. Das hat dazu ge-führt, dass sich die Steuerquote in Ruanda in den letztenzehn Jahren versechsfacht hat.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist ein Schrecken für die Liberalen!)

Diese Gelder sind dann aber auch für nachhaltige Ar-mutsbekämpfung einzusetzen, zum Beispiel für denAufbau von Krankenstationen, für die Unterstützung des

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Dr. Bärbel Kofler

Gesundheitswesens, für die Schaffung von Zugängen fürdie Bevölkerung zum staatlichen Versicherungswesenund für die Einführung von Dezentralisierung.

Diesen richtigen Ansatz wollen und müssen wir wei-terhin verfolgen und unterstützen. Der Antrag mit derForderung, soziale Sicherungssysteme auszubauen, istdeshalb sehr gut. Die Internationale Arbeitsorganisation,ILO, bescheinigt uns, dass dieser Antrag einen machba-ren und finanzierbaren Ansatz enthält und maßgeblichzur Bekämpfung der Armut in der Welt beitragen würde.Ich bin sehr dankbar, dass das BMZ nicht nur entspre-chende Mittel, sondern auch Personal und Logistik zurVerfügung stellt. Wir haben alle im Ausschuss gehört,dass das Ministerium dieses Thema in den entsprechen-den Regierungsverhandlungen prominent vertritt undsich dafür einsetzt.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, wir alle im Haus sind uns beim ThemaBildung einig. In dem entsprechenden Antrag dazu wirddie nachhaltige Entwicklung unterstützt und aufgezeigt,dass wir hier in den nächsten Jahren noch viel tun müs-sen. Es ist nach wie vor so, dass weltweit 77 MillionenKinder keinen Zugang zu Bildungssystemen, keinen Zu-gang zu Schulen haben. Wie im UNESCO-Weltbil-dungsbericht vom letzten Jahr ausgeführt wird – auchdieses Thema müssen wir angehen –, ist für die Herstel-lung von Chancengleichheit die weltweite Abschaffungvon Schulgebühren nötig. Daran zu arbeiten und dazubeizutragen, dass die Primärschulausbildung für die Kin-der kostenfrei ist, muss unser aller Anliegen sein.

(Beifall bei der SPD)

Wer Bildung stärkt, stärkt damit natürlich alle von Ar-mut Betroffenen und insbesondere die Frauen. Damitwird ein entscheidender Beitrag zur Bekämpfung vonArmut und Hunger sowie zum nachhaltigen Aufbau vonfriedlichen Strukturen geleistet. Man muss sich einmalansehen, wie man mit einem qualitativ verbesserten Bil-dungswesen Partizipation und gesellschaftliche Teilhabestärken kann. Ich habe das letztes Jahr auf meiner Reisein den Ostkongo erlebt. Wir haben dort bereits vieles inAngriff genommen, aber es ist noch sehr viel zu tun. Werdie Bilder der letzten Wochen gesehen hat, dem ist dasbewusst geworden.

Wir haben aber auch begonnen, partizipativen Unter-richt zu unterstützen, gesellschaftliche Teilhabe vonKindern zu fördern und damit auch einen Beitrag zurÜberwindung von Kriegsfolgen und Kriegstraumata zuleisten. Dazu gehört auch die Arbeit – das möchte ich andieser Stelle ausdrücklich loben und erwähnen – des Zi-vilen Friedensdienstes. Die von uns entsandten Entwick-lungshelfer leisten in den Krisenregionen unter hohempersönlichen Einsatz und Risiko hervorragende Arbeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Ja. – Es ist schade, wenn man nur einige Minuten Re-

dezeit hat,

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das waren jetzt aber schon viele Minuten!)

aber über wichtige Themen zur Weiterentwicklung derArmutsbekämpfung sprechen will. Es bleibt im BereichBildung viel zu tun. Leider habe ich nicht mehr die Zeit,um auf die Qualität der Lehrerausbildung, auf unser ge-steigertes Engagement in der Grundbildung, die berufli-che Bildung und die vielen Hochschulpartnerschafteneinzugehen, die hier tolle wissenschaftliche Transferleis-tungen erbringen.

Ich möchte mich noch einmal für das Engagementund die Arbeit aller Beteiligten, auch des Ministeriums,in den letzten Jahren bedanken. Ich wünsche mir einekontinuierliche Fortsetzung dieser Arbeit und auch kon-tinuierlich aufwachsende Haushaltsmittel.

Danke.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/10038 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-verstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zu-satzpunkt 2 auf:

4 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Markus Kurth, Britta Haßelmann, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzungund Armut

– Drucksache 16/11755 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausErnst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Sozialen Absturz von Erwerbslosen vermeiden– Vermögensfreigrenzen im SGB II anheben

– Drucksache 16/11748 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Haushaltsausschuss

Es ist verabredet, hierzu eineinhalb Stunden zu debat-tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21807

(A) (C)

(B) (D)

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir befinden uns in der größten Wirtschafts-krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht verwegen,anzunehmen, dass das, was noch als konjunkturelleKrise begriffen wird, den Auftakt eines tiefgreifendenund langanhaltenden Strukturwandels darstellen wird.Es ist die historische Verantwortung dieses Hauses, die-sen Strukturwandel zu gestalten und mitzubestimmen.Immerhin hat sich – außer bei der FDP – die Erkenntnisdurchgesetzt, dass die vielbeschworene unsichtbareHand des Marktes ungezügelt durchaus in der Lage ist,ganze Volkswirtschaften zu erwürgen. Eine Summe vongut 80 Milliarden Euro, wie in den beiden Konjunktur-paketen vorgesehen, böte die Chance, den Umbau hin zueiner ökologischen Wirtschaft und sozial gerechterenWissensgesellschaft einzuleiten. Vor allem aber bötesich die Chance, eine der größten Wachstumsbremsendieses Landes aufzulösen, nämlich die verfestigte sozialeSpaltung und die in den letzten Jahren verschärfte sozialeAusgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielleicht wundert es manchen, dass ich von Armutund Arbeitslosigkeit als Wachstumsbremse spreche.Doch ich finde, es lohnt sich, das Phänomen Armut untervolkswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten;denn dauerhafte Armut ist teuer, und das nicht nur we-gen der Kosten für das Arbeitslosengeld II und ebenfallsnicht nur wegen der Folgekosten von Armut, etwa auf-grund der steigenden Zahl psychischer Erkrankungen ar-mer Menschen. Viel schwerer wiegt, dass diese Gesell-schaft auf die Potenziale von Millionen Menschenverzichtet, ja diese geradezu missachtet. Diese Vergeu-dung droht sich fortzusetzen. Wer von dem engen Zu-sammenhang zwischen Einkommensarmut und Bil-dungsabschluss weiß, der muss angesichts von 2,5 Mil-lionen armen Kindern und Jugendlichen in diesem Landauf das Äußerste alarmiert sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor dem Hintergrund des zu erwartenden Struktur-wandels ergibt sich geradezu die Verpflichtung im Rah-men der Konjunkturprogramme, den Umbau hin zurökologisch wirtschaftenden Wissensgesellschaft eng mitoffensiver Armutsbekämpfung zu verbinden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Investitionschancen gibt es reichlich. Allein im Bil-dungssektor fehlen in Deutschland 23 Milliarden Euro,um wenigstens den Durchschnitt der OECD-Länder zuerreichen. Es gibt ebenfalls reichlich Chancen, schnellwirkende konjunkturelle Maßnahmen zu ergreifen undgleichzeitig soziale Notlagen zu verringern. Die sozial-politisch längst überfällige Anhebung des Arbeitslosen-geldes II auf 420 Euro würde beispielsweise die Binnen-nachfrage unmittelbar um 10 Milliarden Euro erhöhen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was aber tut diese Regierung? Hat sie erkannt, dass eswohl nicht reichen wird, eine Abwrackprämie für Alt-autos aufzulegen, um die Zukunftsbranche Schrotthan-

del zu befördern? Verknüpft die Große Koalition wirk-same Konjunkturimpulse mit sozialpolitischen Zielen? –Leider nein! Nehmen wir uns doch einmal ein paar Maß-nahmen vor. Zum Beispiel sollen Kinder zwischen 7 und13 Jahren, deren Eltern Arbeitslosengeld beziehen, nunstatt 60 Prozent des Erwachsenenregelsatzes 70 Prozentdesselben erhalten. Zum einen ist dieser Schritt quantita-tiv völlig unzureichend. Zum anderen beseitigt er nichteinen grundlegenden Konstruktionsfehler des Sozialgel-des für Kinder. Die Leistung für Kinder wird nämlichnach wie vor vom Bedarf eines Erwachsenen abgeleitet,als ob ein 13-Jähriger 30 oder 40 Prozent weniger äßeals eine 70-jährige Seniorin. Wir vom Bündnis 90/DieGrünen fordern schon seit 2006 die Erstellung eines ei-genen Kinderregelsatzes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben uns lernfähig gezeigt, als sich schnell ab-zeichnete, dass die Regelleistung für Kinder viel zu ge-ring ist. Seit vorgestern dürfen wir uns durch die Recht-sprechung des Bundessozialgerichts bestätigt sehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es sieht in der geltenden Regelung einen Verstoß gegendas grundgesetzliche Gleichheitsgebot, gegen das Rechtauf Menschenwürde und gegen das Sozialstaatsprinzip.Es ist schon peinlich genug, dass es überhaupt zu einersolchen Gerichtsentscheidung kommen musste. Eben-falls peinlich ist, dass die Bundesregierung seit über ei-nem halben Jahr eine einstimmig gefasste Aufforderungdes Bundesrats ignoriert, die gleichfalls eine eigenstän-dige Erhebung dessen einfordert, was Kinder brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Am peinlichsten ist jedoch, dass jetzt BundesministerScholz, sekundiert von Ludwig Stiegler, erklärt, die Ge-richtsentscheidung träfe sich gut mit der Einführung derneuen Altersklasse; denn jetzt seien die Mängel behoben.Dem Bundesrat bescheiden sie dann auch so nebenbei,sie hätten jetzt seiner Aufforderung Rechnung getragen.Eine solche Sicht der Dinge ist geradezu unverfroren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])

Ein weiteres Beispiel für die falsche Verteilungspoli-tik der Regierung sind die Steuersenkungen. Das Bun-desfinanzministerium selbst gibt an, dass der Großteilder Steuerentlastungen bei den Gutverdienern landet.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ist es!)

Rund 1,5 Milliarden Euro fließen an diejenigen, die demSpitzensteuersatz unterliegen, während Bezieher vonNiedrigeinkommen gerade einmal um 150 MillionenEuro entlastet werden. Diese Schieflage ist nicht nur so-zial ungerecht, sie ist auch ökonomisch blanker Unsinn.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Peer Steinbrück selbst hat gestern auf meine Frage in derRegierungsbefragung geantwortet – ich zitiere –:

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21808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Markus Kurth

Sie haben völlig recht, dass der Massenkonsum,den man durch Steuersenkungen erreichen will,nicht befördert wird, weil die Steuerbelastung inden unteren Einkommensetagen nicht das großeProblem ist … Für die oberen Einkommensetagenist … klar belegt, dass diejenigen, die ein monatli-ches Nettoeinkommen von über 3 500 Euro haben,eine Sparquote von weit über 20 Prozent … aufwei-sen.

Trotz besseren Wissens machen Sie diesen Unsinn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schließlich versäumt es die Koalition, die richtigen Rah-menbedingungen für eine Stärkung der Binnennachfragezu schaffen. Hierzu würde zuvörderst ein wirksamerMindestlohn gehören. Das, was Sie in der letzten Wo-che vorgelegt haben, ist mit Verlaub alles andere als eineumfassende Absicherung gegen Lohndumping.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt, so war gestern in der Zeitung zu lesen, geben Sieauch noch den Versuch auf, für die 700 000 Menschen inder Zeitarbeitsbranche einen Mindestlohn einzuführen –und das in einer Phase, in der bald krisenbedingt derLohndruck noch zunehmen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie unzulänglich, ja geradezu kontraproduktiv dieRegierung auf die Krise reagiert, zeigt sich auch an denkleinen Dingen, von denen es einige durchaus verdienen,öffentlich gemacht zu werden. Hierzu gehört zum Bei-spiel die Vergabeordnung für Bauleistungen, die Sieneu gefasst haben. Nach den bisherigen Plänen will dasBundesbauministerium eine VOB, Vergabeordnung fürBauleistungen, in Kraft treten lassen, die es gemeinnüt-zigen Unternehmen verbieten soll, in Wettbewerb mitgewerblichen Anbietern zu treten. Das heißt, zahlreichenBeschäftigungsträgern, die sich um die Integration vonLangzeitarbeitslosen kümmern, bräche ein wichtigesGeschäftsfeld weg. Meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, Ihre Regierung hat offenbar nichteinmal bemerkt, dass sie mit dieser Neuordnung denjeni-gen die Beine wegschlägt, die sie selbst zur Umsetzungihrer arbeitsmarktpolitischen Programme braucht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das geschieht zu einem Zeitpunkt, wo immerhin durchdas Konjunkturpaket wieder in größerem Umfang öf-fentliche Bauaufträge anstehen. Es sind diese Schildbür-gergeschichten, die ich mangels Redezeit gar nicht alledarstellen kann, die das ganze Ausmaß der Desorientie-rung dieser Regierung zeigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die von der Bundesregierung unterlassene Armutsbe-kämpfung und die Fehlleitung von Geldern durch unsin-nige Steuersenkungen für die Falschen sind auch deshalbso bedrückend, weil die Ausgaben schuldenfinanziertsind und dadurch der künftige Spielraum für unabweis-bar notwendige Investitionen in den Bildungsbereichund in den Sozialschutz verringert wird.

Gerade die dauerhafte Schwächung der Einnahme-seite wird, so fürchte ich, bald dazu führen, dass in die-sem Haus einige wieder das Hohelied vom Gürtel, denman enger schnallen müsse, anstimmen. Sie sollten sichfragen, welchen Eindruck diese Regierungspolitik beidenjenigen Heranwachsenden hinterlässt, die sich heuteauf dem Schulhof für ihre Armut schämen, welchen Ein-druck sie bei denjenigen Kindern hinterlässt, die Klas-senausflüge absagen müssen und die mit ihren Eltern ander Lebensmittelausgabe der Tafel stehen. Für all diesemuss es unfassbar sein, dass nicht nur nichts für ihreChancen getan wird, sondern dass stattdessen auch nochsteinreiche Familienclans wie die Familie Schaeffler dieöffentliche Hand anpumpen, um ihre Übernahmefanta-sien zu finanzieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Missverhältnis in der politischen Prioritätenset-zung oder in den Ausgaben ist schon jetzt durchaus ge-geben. Allein das finanzielle Engagement des Staates beider Pleitebank Hypo Real Estate übersteigt das Volumenbeider Konjunkturpakete bereits um einen zweistelligenMilliardenbetrag. Meine Damen und Herren von derGroßen Koalition, wir stehen in dieser Krise nicht nur inder Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung;wir stehen auch in der Verpflichtung, das Vertrauen indemokratische Institutionen nicht weiter zu beschädigen.Ich sage Ihnen: Politische Stärke gewinnt man in einerDemokratie nicht unbedingt, indem man seine Pläne umjeden Preis weiterverfolgt.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es!)

Souveränität kann man auch gewinnen, indem man sichlernfähig zeigt. Steuern Sie um! Betreiben Sie mit unseinen grünen New Deal! Investieren Sie in die sozialeund ökologische Erneuerung dieses Landes.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Karl Schiewerling hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Karl Schiewerling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! „Ge-

rechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und Armut“ist der Titel des Antrags von den Grünen, den wir geradediskutieren. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Der fol-gende Text hält nicht, was der Titel verspricht.

(Rolf Stöckel [SPD]: So ist es!)

Die Rede, die Sie, Herr Kollege Kurth, gehalten ha-ben, hat mit dem Antrag, den Sie gestellt haben, relativwenig zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21809

(A) (C)

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Karl Schiewerling

In Ihrem Antrag wird das Konjunkturpaket II einschließ-lich Abwrackprämie mit dem Arbeitnehmer-Entsende-gesetz und dem Mindestarbeitsbedingungengesetzverwurstelt. Dann geht es auch noch darum, sozialversi-cherungsrechtliche Regelungen von Minijobs auf Ar-beitsverträge bis zu 2 000 Euro auszudehnen und so dasbeitragsfinanzierte Solidarsystem mit steuerfinanziertenAnteilen weiter zu durchlöchern.

Mit dem einen oder anderen Punkt der Anträge, diedie Grünen früher eingebracht haben, haben Sie michdurchaus – das will ich Ihnen gerne zugestehen – in ar-gumentative Schwierigkeiten gebracht. Der vorliegendeAntrag ist für mich in dieser Hinsicht eine herbe Enttäu-schung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])

Sie zeigen in diesem Antrag und auch in Ihrer Redekeine einzige Lösung auf;

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie!)

vielmehr beschreiben Sie die Gesamtsituation, fügen al-lerhand Dinge zusammen, ohne dass irgendwo deutlichwird, wie Sie den Menschen in dieser Situation ganzkonkret helfen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich greife den Titel des Antrags der Grünen auf, weilich ihn richtig finde; er deckt sich nämlich mit den Zie-len der Großen Koalition und der CDU/CSU: Gerech-tigkeit und Chancen statt Ausgrenzung und Armut. Dasist richtig; das wollen wir auch. Grundlage ist, dass jederdie Möglichkeit haben muss, mit seines Kopfes und sei-ner Hände Arbeit den Lebensunterhalt für sich und seineFamilie zu verdienen. Erwerbsarbeit ist der beste Schutz,um aus Armut herauszukommen, dieser vorzubeugenoder sich vor ihr zu schützen.

Das Konjunkturpaket II, das Sie gerade so heftigkritisiert haben, will genau dies erreichen: die Wirtschaftstabilisieren, um Arbeitsplätze zu erhalten, vor allemdort, wo durch unverschuldete Einflüsse des Finanz-marktes Arbeitsplätze verloren zu gehen drohen. Andersals früher muss und wird es den Betrieben darum gehenmüssen, Fachkräfte zu halten. Deswegen haben wir ge-gengesteuert und das getan, was zwingend notwendigist, nämlich durch das Angebot von KurzarbeitergeldMenschen in Beschäftigung, zumindest am Arbeitsplatz,zu halten und durch eine Ausweitung der Qualifizierungdie Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle guteStartbedingungen haben, wenn es wieder aufwärts geht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])

Zu nennen ist weiter die Stabilisierung des Beitrags-satzes zur Arbeitslosenversicherung auf 2,8 Prozent, umdie Lohnnebenkosten nicht weiter steigen zu lassen.

Gerechtigkeit und Chancen sowie die Verhinderungvon Ausgrenzung und Armut, das beginnt bei stabilenfamiliären Strukturen. Hier werden wichtige, wenn

nicht die wichtigsten Weichen für die Zukunft der Kin-der gestellt. Der Kinderzuschlag wurde erhöht, um sodiejenigen stärker vor Armut zu schützen, die zwar ihreneigenen Bedarf, aber nicht den der Kinder decken kön-nen.

Um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeitzu verbessern, haben wir die Betreuungsangebote für un-ter Dreijährige ausgebaut. Auch bei der Betreuungsquotefür Kinder ab drei Jahren haben wir das EU-Ziel von90 Prozent fast erreicht. Am Ausbau der Ganztagsbe-treuung in Grundschulen beteiligt sich der Bund eben-falls. Alles das sind Rahmenbedingungen, um letztend-lich den Menschen Hilfen an die Hand zu geben, damitsie ihre eigene Lebenssituation stabilisieren, aus eigenerKraft Armut vorbeugen können und so gar nicht erst inArmut fallen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei allem, was der Staat tut, bei allem, was wir be-schließen und erledigen, dürfen wir nicht vergessen: DieEltern tragen die Verantwortung für die Erziehung derKinder – nicht der Staat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Staat hat die Rahmenbedingungen zu schaffen, da-mit Eltern diese Aufgabe verantwortungsvoll leistenkönnen.

Im Rahmen des Konjunkturpakets II erhöhen wirauch die Regelsätze für Kinder von Arbeitslosen. DieRegelsätze für Kinder von Erwerbslosen, die Arbeits-losengeld II beziehen, werden stärker differenziert. Jun-gen und Mädchen im Alter von 6 bis 13 Jahren erhaltenab 1. Juli 2009 70 anstatt 60 Prozent des Regelsatzesvon Erwachsenen. Das heißt, von 211 Euro steigt derSatz auf 246 Euro. Das sind immerhin 35 Euro mehr imMonat. Das Bundessozialgericht – darauf hat Herr Kurthzu Recht hingewiesen – hat in seinem jüngsten Urteilden Gesetzgeber aufgefordert, den Regelsatz für Kinderzu differenzieren, exakt nachzurechnen, was Kinder be-nötigen, den Regelsatz für Kinder also nicht einfach vondem für Erwachsene abzuleiten. Ich halte das auch fürrichtig. Hier wird ein Webfehler des SGB II korrigiertwerden müssen. Das Bundesarbeitsministerium arbeitetdaran. Das Bundessozialgericht hat aber nicht gesagt,wie hoch der Satz sein muss. Diese Entwicklungen müs-sen wir noch abwarten.

Nicht zu vergessen ist: Jedes Kind erhält noch im lau-fenden Jahr einmalig 100 Euro. Über die Familienkassenwird diese Einmalzahlung an alle Kindergeldbezieherausgezahlt. Sie wird nicht mit den Bedarfssätzen der Be-zieher von Sozialleistungen verrechnet.

Nicht zu vergessen ist auch das Schulstarterpaket– ebenfalls 100 Euro –, das jedem zur Verfügung gestelltwird.

Diese Maßnahmen begrüße ich. Sie sind wichtig undgut. Dennoch dürfen wir bei der gesamten Diskussiondiejenigen nicht vergessen, die das alles erwirtschaftenmüssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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21810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Karl Schiewerling

Diese Menschen dürfen wir nicht außer Acht lassen. IhreLeistungsbereitschaft – sie gehen jeden Tag arbeiten,und mit ihren Steuern wird unser Sozialstaat finanziert –muss belohnt und unterstützt werden. Diese Menschenmüssen am Ende mehr Geld in der Tasche haben als die,die nicht einer Erwerbsarbeit nachgehen, aus welchenGründen auch immer.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie schwierig es ist, das Lohnabstandsgebot einzu-halten, Herr Kollege Kurth, sehen wir an dem Urteil desBundessozialgerichts zur Beteiligung des Staates an denKosten von Klassenfahrten. Das ist eine schwierige Situ-ation, die ich im Detail überhaupt nicht bewerten will.Grundlage für das Urteil war ein Fall aus Berlin, eineKlassenfahrt nach Florenz. Nach diesem Urteil müssenKindern aus Hartz-IV-Familien, also Familien, die Leis-tungen nach dem SGB II beziehen, die Fahrtkosten kom-plett bezahlt werden. Die Familien aber, die 100 oder200 Euro über dem Satz liegen, müssen sehen, wie siedas Geld für die Klassenfahrt ihrer Kinder zusammen-kratzen. Das ist eine der Schieflagen, mit denen wir zutun haben. Ich kritisiere das Urteil überhaupt nicht, son-dern weise nur auf die Konsequenzen hin: Nur ganzArme oder ganz Reiche können sich die Klassenfahrtleisten. Die tragende Mittelschicht unseres Landes wirdmehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist das, lei-der!)

Es ist übrigens auch eine Aufgabe der Schule, für Aus-gleich zu sorgen. Ich halte das für eine wichtige Auf-gabe.

Ich stimme zu, dass wir im Bereich der Bildungspoli-tik mehr tun müssen. Die PISA-Ergebnisse zeigen dieWissensdefizite auf. Es geht aber nicht nur um Wissen,sondern es geht auch um Bildung, und es geht um dieBildung, für die letztendlich im Elternhaus die Grund-lage gelegt wird. Deswegen ist es wichtig, dass wir denErziehungsauftrag der Schulen stärken und in Schulenund Schulgebäude investieren, um vernünftige Rahmen-bedingungen zu setzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Dennoch – ich wiederhole das –: Die Eltern tragendie Verantwortung für die Erziehung der Kinder, nichtder Staat. Es gibt Eltern, die überfordert sind und esnicht alleine schaffen. In diesem Bereich muss Hilfe an-setzen; hier muss investiert werden, um Hilfe zur Erzie-hung in den vielfältigsten Formen und Gestaltungsmög-lichkeiten, die wir heute kennen, zu gewährleisten. WennKinder ohne Frühstück zur Schule kommen, wenn esKinder gibt, die bevorzugt Fast Food essen, dann ist daskein Zeichen von wirtschaftlicher Notlage, sondern danndeutet das möglicherweise auf soziale und kulturelleSchieflagen hin.

In unserem Staat gibt es viel Hilfe. Damit meine ichden Sozialstaat, das Gesundheitswesen, den Bereich derGrundsicherung, den Bereich der Kinder- und Jugend-

hilfe und des Sozialgesetzbuches. Alle doktern daran he-rum, aber niemand koordiniert diese Hilfen. Ich glaube,dass es bald an der Zeit sein wird, zu überlegen, an wel-chen Stellen die Systeme stärker integriert werden müs-sen, um den Menschen unmittelbar helfen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben ein sehr ausgefeiltes, ein sehr dicht ge-knüpftes soziales Netz. Darauf ist unser Staat stolz. Dasist gut. Aber ich habe den Eindruck, dass dieses Netz anmanchen Stellen nicht nur dicht ist, sondern auch starr.Wir müssen die Durchlässigkeit bezogen auf die multi-plen Situationen, in denen sich Kinder und Jugendlicheund damit auch Familien befinden, erhöhen und dadurchmehr Durchgängigkeit organisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich weiß, wie schwierig das ist, weil Kommunen, Bundund Länder betroffen sind. Aber ich glaube, dass es ander Zeit ist, daran zu arbeiten.

Gerechtigkeit und Chancen statt Ausgrenzung undArmut – das wollen wir von der CDU/CSU. Daran arbei-tet die Große Koalition. Damit sind wir im Konjunktur-paket II ein Stück weitergekommen. Ich denke, dass dortdie konkreten Hilfen verankert sind, die die Menschenbrauchen, damit sie nicht in Armut geraten bzw. aus Ar-mut wieder herauskommen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Heinz-Peter Haustein hat jetzt das Wort

für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Heinz-Peter Haustein (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Werte Zuschauer! Ist es Ihnen schon einmalpassiert, dass Sie ins Kino gehen, um einen James-Bond-Film zu sehen, doch dann kommt Biene Maja? Daranhabe ich gedacht, als ich den Antrag der Grünen durch-gearbeitet habe. Er ist vollkommen daneben, ein Sam-melsurium, ein wirres Durcheinander, und auch dieÜberschrift passt überall.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Beleidigen Sie nicht Biene Maja!)

Das Papier heißt: „Gerechtigkeit und Chancen statt Aus-grenzung und Armut“.

(Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordne-ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein Titel, den jeder in diesem Haus unter-schreibt. Der Vorteil einer solchen Überschrift liegt aufder Hand. Man kann damit alles überschreiben und Zu-stimmung ernten. Dem Leser erschließt sich nicht, waswirklich dahintersteht.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21811

(A) (C)

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Heinz-Peter Haustein

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Vielleicht Ihnen von der FDP nicht!Das wundert uns gar nicht!)

Leider muss ich im Zusammenhang mit dem Antragauch an das Konjunkturpaket denken, das auch etwasdurcheinander ist. Aber das nur nebenbei.

Sie haben eine Allerweltsüberschrift gewählt und kri-tisieren in Ihrem Antrag eigentlich alles, was zu kritisie-ren ist:

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was ist daran auszusetzen? – VolkerSchneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Einganzheitlicher Ansatz!)

die Neuverschuldung, die umweltschädliche Kfz-Steuerund die Tatsache, dass Schulden für den Konsum aufge-nommen werden.

Ich will auf drei Punkte eingehen. Erstens fordern SieInvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Das ist inOrdnung. Schon seit Jahren legt die FDP durchdachteAnträge vor, um mehr für die Infrastruktur zu tun. DasSchienennetz muss erneuert werden, und auch für dieStraßen muss etwas getan werden. In diesem Zusam-menhang fällt mir die Bahnstrecke zwischen Berlin undDresden ein. 1934 ist man mit der DampflokomotiveBR 01 anderthalb Stunden schneller gefahren als heute.

Da fällt mir ferner ein: Auf der Bundesstraße 170 vonDresden ins Erzgebirge können bestenfalls noch dieFuhrwerke fahren, für die sie damals gebaut wurde,nämlich Pferdekutschen. Sie hat immer noch die gleicheGradiente, bergauf, bergab, Kurve rechts, Kurve links.Dort wollen wir investieren. Aber gerade Sie von denGrünen verhindern mit Ihren überzogenen ideologischenForderungen einen schnellen Bau, ein sicheres, schnellesVorgehen.

(Beifall bei der FDP!)

Baumaßnahmen werden verzögert und verteuert.

Darin liegt auch der Widerspruch in Ihrer Politik. Inder Universitätsstadt Freiberg in Sachsen soll eineOrtsumgehung gebaut werden. Da hat man vor zehn Jah-ren das letzte Mal eine Fledermaus gesehen; aber wegendieser Fledermaus müssen zunächst Gutachten erstelltwerden, und es darf nicht gebaut werden. So kann esnicht gehen. Das ist der Widerspruch in Ihrer Politik: Siefordern Infrastruktur, verhindern diese aber gleichzeitigmit überzogenen ideologischen grünen Barrieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrü-cken] [DIE LINKE]: Fledermausideologen! –Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was hat das denn mit dem Antrag zutun?)

Der zweite Punkt in Ihrem Antrag ist – das ist wenigs-tens ein sozialpolitischer Bezug – die Forderung nachhöheren Regelsätzen bei Hartz IV und Sozialhilfe. Be-gründet wird dies mit der Notwendigkeit, die Binnen-nachfrage zu stärken; dafür soll die Kaufkraft gefördertwerden. Nun haben die Grünen aber doch gerade in die-

sem Antrag ausgeführt, es solle kein Geld für den Kon-sum ausgegeben werden.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Sie haben das nicht verstanden!)

Auch das ist ein Widerspruch. Diese Widersprüche zie-hen sich durch Ihren Antrag wie ein roter Faden.

Bei der Regelsatzerhöhung kommt es doch auf denrichtigen Weg an.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eigentlich erwarten wir nur, dass Siedie Anträge richtig lesen!)

Sie fordern mehr Geld, fragen aber nicht, wo das Geldherkommt.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:Da nennen Sie mal die Steuersenkungen vonder FDP!)

Ich möchte Ihnen einmal sagen, was alles vom Staat be-zahlt wird. Jeder bekommt eine Wohnung, und jeder be-kommt die Heizkosten bezahlt; auch dann, wenn er dasFenster auflässt, werden die Heizkosten voll vom Staatbezahlt. Die monatliche Hartz-IV-Leistung einer Familiemit zwei Kindern über 15 Jahre beträgt circa 1 600 Europlus 439 Euro für Sozialabgaben, die der Staat bezahlt.Das muss man erst einmal verdienen.

(Beifall bei der FDP)

Wichtig ist eines: Wir müssen in unserem Land densozialen Frieden sichern. Jeder muss wissen, dass er hierabgesichert ist. Daran dürfen wir nicht rütteln. Dafür ste-hen wir als FDP. Aber ist Ihnen schon einmal aufgefal-len, dass wir im Bundestag immer und immer wiederüber das Geldverteilen reden und über die Hartz-IV-Empfänger, die das Geld bekommen, aber nicht über die,die es erwirtschaften müssen? Auch die müssen Sie ein-mal fragen. Das sind die vielen fleißigen Handwerker,die Facharbeiter, die Beamten, die Angestellten,

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Vielleicht würden die Arbeitslosenauch gerne arbeiten!)

die von früh bis abends schuften und das Geld für dieHartz-IV-Empfänger aufbringen. Jeder Hartz-IV-Emp-fänger, der keine Arbeit bekommt, tut mir leid. Trotzdemmüssen wir beide Seiten sehen. Es geht auch darum, dasLohnabstandsgebot zu stärken.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Darum brauchen wir den Mindest-lohn!)

Denn irgendwann sind die, die arbeiten, die Dummen.Dazu darf es in diesem Land nicht kommen, meine Da-men und Herren.

(Beifall bei der FDP)

Drittens holen Sie in Ihrem Antrag noch den Min-destlohn aus der Kiste, um die Leute mit Halbwahrhei-ten zu verwirren. Wir sagen: Lohnverhandlungen sindSache der Tarifparteien, nicht der Politik. Es ist wichtigund richtig, dass jeder ordentlich bezahlt wird, damit er

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21812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Heinz-Peter Haustein

von seiner Arbeit leben kann. Doch ein Mindestlohn,wie hier gefordert, ist ordnungspolitisch denkbar falsch.

(Elke Ferner [SPD]: Was ist denn ordnungspo-litisch richtig, Herr Kollege? – Markus Kurth[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lohndum-ping ist ordnungspolitisch richtig? – Dr. TheaDückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasist doch absurd hier!)

Ist er zu hoch, vernichtet er Arbeitsplätze, ist er zu nied-rig, wirkt er nicht. Wir sehen also: Die Grünen haben inihrem Antrag wieder Dinge zusammengerührt, die nichtzusammenpassen.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie kriegen das nicht zusammen! –Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was kriegt denn eine Friseuse in Sach-sen?)

Aus Zeitgründen kann ich Ihnen zu diesem Antragnur noch eines sagen: Notwendig ist eine liberale Politik,ein liberales Bürgergeldkonzept in Verbindung mit einerReform des Steuersystems, das einfach, niedrig und ge-recht gestaltet werden muss, eine Lösung aus einemGuss, die Anreize schafft. Das müssen wir machen. Wirbrauchen auch betriebliche Bündnisse für Arbeit, in de-nen Tarifpartner betriebsspezifische Lösungen findenkönnen. Wir haben Gott sei Dank unseren leistungsstar-ken Mittelstand, der Innovationen bringt.

(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Richtig!)

Dort entstehen Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze,und dort müssen wir Anreize verstärken; dort müssenwir entlasten, damit Arbeitsplätze entstehen. Packen wires an! Es gibt viel zu tun. Lasst uns Deutschland erneu-ern!

In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz-gebirge.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Stöckel spricht jetzt für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der LIN-KEN: Jetzt wird die Oppositionsrede für denMindestlohn gehalten!)

Rolf Stöckel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ange-

sichts der Herausforderungen, vor denen Deutschlandsteht – auch Markus Kurth hat zu Beginn seiner Redebetont, dass es diese Herausforderungen gibt –, hättenwir erwartet, dass die Grünen in dieser 90-minütigenKernzeitdebatte einen konstruktiven Beitrag zur Über-windung der Krise leisten. Stattdessen wurde uns gesternein offensichtlich mit heißer Nadel gestrickter

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Mit demWort „heiße Nadel“ sollten Sie zurückhaltendsein!)

und auf dem Bundesparteitag der Grünen in Dortmundverfasster Antrag vorgelegt. Wenn man von der Polemikabsieht, die sich durch den gesamten Antrag zieht, blei-ben letztendlich nur einige Forderungen übrig, die schonaus alten Anträgen der Grünen bekannt sind.

Der dickste Hund begegnet uns bereits im ersten Satzdes Antrages:

Die klaffenden Gerechtigkeitslücken, die durch diePolitik der Bundesregierung in den vergangenendreieinhalb Jahren … entstanden sind …

Man könnte sagen, dass vorher alles in Butter war, weildie Grünen mitregiert haben.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Die Ar-beitslosigkeit war gestiegen!)

Die Grünen könnten aber auch sagen: Wir haben mit denErfolgen der Agenda 2010, auf denen die Große Koali-tion aufbauen konnte, nichts zu tun. Abbau der Arbeits-losigkeit von 5 Millionen im Jahr 2005 auf 3 Millionenim Jahr 2008? Ist gar nicht passiert. – Das ist doch – ent-schuldigen Sie den unparlamentarischen, aber zutreffen-den Ausdruck – saudumm.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU])

Das wird auch durch ständige Wiederholung nicht richti-ger. Herbert Wehner hätte gesagt: Meine Damen undHerren, Ihre Behauptungen haben kurze Beine.

Deutschland befindet sich, wie auch sehr viele andereLänder, aufgrund der internationalen Banken- und Fi-nanzkrise in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Essind nicht nur Hunderttausende von Arbeitsplätzen ge-fährdet, wie auch die aktuelle Statistik ausweist; viel-mehr werden die Schwächsten am härtesten getroffen,wenn wir hier nicht handeln würden. Da hätte man vonden Grünen doch gerne mehr gehört. Wir müssen dieKräfte bündeln, um die Folgen der Wirtschaftskrise ab-zumildern, und vor allen Dingen die Basis für den nächs-ten Aufschwung legen. Denn wir wollen diese Krisenicht irgendwie überstehen, sondern wir wollen gestärktaus ihr hervorgehen. Das können wir schaffen.

Nur mit einer starken, wettbewerbsfähigen und inno-vativen Wirtschaft können wir den Sozialstaat, Teilhabe-chancen und Verteilungsgerechtigkeit auf hohem Niveausichern. Die beschlossenen Maßnahmen sollen und wer-den dazu beitragen, dass die Konjunktur in Deutschlandwieder in Gang kommt, Arbeitsplätze gesichert werdenund vor allen Dingen Qualifizierung gefördert wird. Indiesen Punkten ist sich die Fachwelt einig. Das scheintein Problem der Opposition zu sein.

Natürlich setzen auch die Beschlüsse zur Absenkungdes Arbeitslosenversicherungsbeitrages, zur Erhöhungdes Kindergeldes, zur Einführung des Kinderbonus, zurErhöhung der Regelsätze für Kinder von 6 bis 13 Jahrenund zur Erhöhung des Kinderfreibetrages wichtige kon-junkturelle Impulse. Der Kernpunkt ist aber das staat-liche Investitionsprogramm von insgesamt rund17,3 Milliarden Euro, das direkt der kommunalen Infra-struktur und damit der Lebensumwelt der Bürgerinnen

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21813

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Rolf Stöckel

und Bürger zugutekommen soll. Wer behauptet, dass dasdie Gesellschaft zunehmend spalte, der hat offensichtlichnicht verstanden, in welcher Situation gerade die Kom-munen sind, die die größten sozialen Probleme und eineschwache Infrastruktur haben.

(Beifall bei der SPD)

Aus dem gemeinsamen Topf von Bund und Ländernwerden zu zwei Dritteln Investitionen in den Bildungs-bereich – das heißt in Kindergärten, Schulen, Hochschu-len und Forschung – und zu einem Drittel in die Moder-nisierung der Infrastruktur – das heißt Krankenhäuser,Städtebau, ländliche Infrastruktur und Lärmsanierung –finanziert. Von den 4 Milliarden Euro zusätzlicher Bun-desmittel wird die Hälfte, also 2 Milliarden Euro, fürAusbau und Erneuerung von Bundesverkehrswegen be-reitgestellt. Für sonstige Baumaßnahmen stehen 750 Mil-lionen Euro zur Verfügung. Diese dienen der Grundsa-nierung und der energetischen Sanierung von Gebäuden.

Um zusätzliche Investitionen in die Energieeffizienzvon Gebäuden anzustoßen, haben wir bereits im erstenKonjunkturpaket die Mittel für das CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm um 3 Milliarden Euro aufgestockt. Miteingeschlossen sind sowohl die Initiative „Wirtschafts-faktor Alter“, mit der der altersgerechte Umbau vonWohnraum durch die KfW gefördert wird, als auch derInvestitionspakt, den ich bereits angesprochen habe. Dasschafft nachhaltig mehr Barrierefreiheit, hilft auf Dauerden Kommunen, Energiekosten zu sparen, und vermin-dert die Umweltbelastung. Das haben die Grünen immereingefordert.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kurth, Sie müssten uns eigentlich einmal loben.

Wir hatten gestern in der SPD-Bundestagsfraktion500 Kommunalpolitiker zu Gast und haben mit ihnenüber das Investitionsprogramm diskutiert. Es gibt sicher-lich noch Detailprobleme, die zu lösen sind. Da sind vorallen Dingen die Länder gefordert. Wir haben eine breiteund große Zustimmung bekommen. Ich glaube, Sie vonden Grünen sollten einmal selbst in den Kommunen ak-tiv werden und daran mitarbeiten, dass diese Maßnah-men möglichst schnell umgesetzt werden können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger, die Steuer-zahler, die Beitragszahler, die Rentner, die Familien undauch die Arbeitslosen, massiv. Ein Großteil dieser Ent-lastungen ist nachhaltig, das heißt auf Dauer angelegt.Das betrifft vor allem die Steuer- und Beitragssatzsen-kungen,

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist ja das Problem! Sie schwächendie Einnahmeseite!)

etwa die Senkung des Eingangssteuersatzes bei der Ein-kommensteuer auf 14 Prozent. Bereits unter der rot-grü-nen Bundesregierung haben wir nach 1998 großeSchritte diesbezüglich getan; wir gehen diesen Weg wei-ter. Es gibt in diesem Jahr eine Entlastung um rund

3 Milliarden Euro und im Jahre 2010 um rund6 Milliarden Euro. Der Steuerabzug von Vorsorgeauf-wendungen für die Kranken- und Pflegeversicherungwird ab dem 1. Januar 2010 deutlich verbessert. Das isteine Entlastung von rund 7,8 Milliarden Euro.

Über die Familienkassen wird an alle Kindergeldbe-zieher ein Kinderbonus von einmalig 100 Euro je Kindausgezahlt. Damit stehen Familien mit Kindern 1,8 Mil-liarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Auf die Erhö-hung des Regelsatzes für Kinder von Hartz-IV-Bezie-hern und Sozialhilfeempfängern wird meine KolleginHiller-Ohm eingehen.

Seit dem 1. Januar 2009 erhalten Familien monatlich10 Euro mehr Kindergeld. Dies wurde im letzten Jahrbeschlossen. Rund 2 Milliarden Euro stehen nun für Fa-milien mehr zur Verfügung. Wir haben in der Koalitiondurchgesetzt, dass auch Kinder von Arbeitslosen besserunterstützt werden. Jeweils zum Schuljahresbeginnerhalten hilfsbedürftige Kinder einen Beitrag von100 Euro bis zum Abschluss der 10. Klasse; wir Sozial-demokraten wären gerne weitergegangen. Diese Kostenbetragen in den kommenden beiden Jahren 240 Millio-nen Euro.

Wir haben das Wohngeld bereits zum 1. Januar 2009von durchschnittlich 92 Euro monatlich auf 142 Euro er-höht und außerdem rückwirkend zum 1. Oktober 2008eine Heizkostenpauschale eingeführt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Maßnahmen kosten rund 520 Millionen Euro undhelfen den Geringverdienern direkt.

Zu den weiteren Punkten, zur Sicherung der Beschäf-tigung, zur Verbesserung des Kurzarbeitergeldes, zurQualifizierung, zur Ausweitung der Mindestarbeitsbe-dingungen und zur Ausdehnung der Mindestlöhne aufweitere Branchen sowie zur Überprüfung der Bedarfeund Regelsätze in den Grundsicherungen, werden sichmeine Kolleginnen Hiller-Ohm und Lösekrug-Mölleräußern. Sie werden auch etwas zu dem Vorschlag derLinken sagen, in Deutschland eine egalitäre Vermögens-verteilung – das muss man sich auf der Zunge zergehenlassen – über die Anhebung der Schonvermögen vonALG-II-Berechtigten zu erreichen.

Meine Damen und Herren, die Maßnahmenpakete derGroßen Koalition sind nicht nur international abge-stimmt. Nein, sie sind mit den Gewerkschaften, den Ar-beitgebern und den Sachverständigen auf nationalerEbene ebenso im Konsens beschlossen worden wie mitden Bundesländern und den Kommunalverbänden. Wirlegen Wert darauf – das zu betonen, ist in Bezug auf denVorwurf, es würden Schulden zulasten kommender Ge-nerationen gemacht, wichtig –, dass die höhere Verschul-dung, die dazu notwendig ist, durch eine absehbare Til-gung in besseren Zeiten abgebaut wird, dass dieInvestitionen nachhaltig sind und das Ziel der Konsoli-dierung der öffentlichen Haushalte nicht aufgegeben,sondern angestrebt wird. Wir Sozialdemokraten sind imÜbrigen zu Recht stolz darauf, dass wir unsere Vor-

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Rolf Stöckel

schläge in der Großen Koalition in hohem Maße durch-setzen konnten.

Meine Damen und Herren von den Grünen, in einerZeit großer Herausforderungen, in der es auch gilt, inkritischer Solidarität zusammenzustehen, stellt Ihr An-trag den kläglichen Versuch dar, ein oppositionelles, par-teitaktisches Ritual krampfhaft durchzuhalten. Das wirdIhnen nicht nützen, sondern schaden. Wir lehnen IhrenAntrag ab. Das ist kein Rettungsschirm für die Opposi-tion.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Klaus Ernst spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wieder einmal reden wir im Deutschen Bundes-tag über die Hartz-Gesetze. Die Grünen legen einen An-trag vor, der unter anderem beinhaltet, den Regelsatz auf420 Euro zu erhöhen. Meine Fraktion möchte die Ver-mögensfreigrenzen im SGB II auf 20 000 Euro erhöhen.Wir versuchen hiermit, kleine Verbesserungen an einemgroßen Murks durchzusetzen, den allerdings auch dieGrünen – das kann ich ihnen nicht ersparen – mitzuver-antworten haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn sie haben den Hartz-Gesetzen genauso zugestimmtwie die SPD.

Meine Fraktion bleibt dabei: Hartz IV muss weg.

(Beifall bei der LINKEN)

Fast die Hälfte aller Klagen von Betroffenen vor deut-schen Gerichten endet mit dem Erfolg der Kläger. Sieklagen gegen Leistungskürzungen. Sie klagen gegenWillkür in den Bewilligungsbescheiden. Sie klagen fürschnelle Hilfe, die versagt blieb, obwohl die Heizung ab-gestellt wurde, und für vieles andere mehr. Das Gesetzerlaubt bürokratische Schikanen und schreibt Verwal-tungsexzesse vor.

Es kann ja sein, dass Sie den Eindruck haben, was wirhier vortragen, sei relativ egal. Aber vielleicht hören Sieeinmal auf die Presse. Herr Prantl schrieb gestern in derSüddeutschen Zeitung:

Das „Gesetz über die Grundsicherung für Arbeits-suchende“, so der amtliche Titel des Hartz-IV-Ge-setzes, ist eine gesetzgeberische Katastrophe ...

Dafür sind Sie verantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist eine Katastrophe für alle Betroffenen, die auf-grund von Schikanen der Behörden ihrer Würde beraubtwerden. Es ist eine Katastrophe für die Menschen, dietrotz jahrelanger Arbeit nach einem Jahr Arbeitslosigkeit

auf einen Regelsatz von inzwischen 351 Euro gedrücktwerden. Dass Sozialdemokraten dies mitgemacht haben,werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr verste-hen. Es ist eine Katastrophe, dass sich Menschen armmachen müssen, bevor sie diese Leistung in Anspruchnehmen können, dass sie ihr Vermögen, sofern man beietwas über 9 000 Euro davon reden kann, aufbrauchenmüssen, bevor sie Anspruch auf Unterstützung haben. Esist eine Schande, dass letztendlich auch noch die Sparbü-cher der Kinder geplündert werden müssen, bevor An-spruch auf Unterstützung des Staates besteht. Das istkeine Sozialpolitik, das ist eine grenzenlose Sauerei.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist eine Katastrophe, dass Arbeitnehmer wegendieser Gesetze eine solche Angst vor Arbeitslosigkeithaben, dass sie bereit sind, Arbeit jeder Art zu akzeptie-ren: nicht nur 1-Euro-Jobs, sondern Arbeit, bei der dieArbeitszeit ohne Lohnausgleich erhöht wird und bei derSchikanen von Vorgesetzten sowie niedrige Löhne ak-zeptiert werden. Das Ergebnis dieser Politik können Siein den amtlichen Statistiken nachlesen. Herr Prantlkommt zu einem richtigen Schluss, wenn er in seinemArtikel von gestern sagt:

Wenn also je ein Gesetz ein gordischer Knoten war:Das Hartz-IV-Gesetz ist einer. Und seit der Antikeweiß man, was da zu tun ist.

Sie wissen es leider noch nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Weil sich die SPD, wie an diesem Gesetz deutlichwird, von Sozialpolitik verabschiedet hat,

(Rolf Stöckel [SPD]: Unsinn! Das wird auch durch Wiederholen nicht richtiger!)

braucht sie sich nicht zu wundern, dass sie bei jederWahl von Niederlage zu Niederlage dümpelt.

(Rolf Stöckel [SPD]: Die Welt bei Ihnen ist nur schwarz-weiß!)

Von meinem Vorredner habe ich gerade gehört, die SPDhabe alles richtig gemacht und sei mit ihren Vorschlägenauf der Höhe der Zeit. Ich wundere mich nur, warum dieBürger dann offensichtlich so doof sind, die tollen Leis-tungen Ihrer Partei nicht mehr zu akzeptieren. Darübermüssen Sie sich einmal Gedanken machen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Regierung verschließt nach wie vor die Augenvor der Realität. Die Armut steigt trotz Erwerbstätig-keit: Waren es im September 2005 noch 950 000 Men-schen, die trotz Arbeit Leistungen nach dem SGB IIbezogen haben, sind es im Februar 2008 schon1,3 Millionen gewesen.

(Rolf Stöckel [SPD]: Gut, dass es die Grundsi-cherung gibt!)

Das Institut Arbeit und Qualifikation stellt fest, 2006sind 6,5 Millionen Menschen mit Niedriglöhnen be-schäftigt gewesen. Die Zahl hat dramatisch zugenom-men. Das ist Ergebnis der Hartz-Gesetze. Wenn Sie sich

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Klaus Ernst

dieser Realität verweigern, werden Sie die Zustimmungder Arbeitnehmer nicht mehr erlangen, auch wenn Siebei den Gewerkschaften noch so betteln gehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Hartz IV bedeutet, dass Leute zur Annahme von1-Euro-Jobs und Billigarbeit gezwungen werden. DieKonsequenz dieser Politik – ich weiß nicht, ob Sie diesauch ignorieren, ob Sie die Realität bei der Veränderungder Lohnquote nicht mehr zur Kenntnis nehmen – ist,dass die Lohnquote inzwischen einen Stand von knappüber 60 Prozent erreicht hat. Dafür ist die Politik vonHartz mitverantwortlich. Dass Sie als Sozialdemokratendiese Politik einer Senkung der Löhne mitbetrieben ha-ben, ist aus meiner Sicht unverantwortlich.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!Das ist genau der Punkt! – Rolf Stöckel [SPD]:Das ist Unsinn, was Sie da reden!)

Damit Sie nicht sagen, dies sei ein Nebeneffekt, vondem Sie vorher nichts gewusst hätten, zitiere ich – ichtue es ungern; aber wo er recht hat, hat er recht – HerrnSinn aus München.

(Rolf Stöckel [SPD]: Ausgerechnet den!)

– Das sollten Sie sich einmal anhören. Entweder habenSie dies ignoriert oder nicht verstanden. Ich zitiere HerrnSinn,

(Andrea Nahles [SPD]: Sie sind sich für nichts zu schade!)

der 2004 gesagt hat:

In Wahrheit geht es um eine Lohnsenkung. Diekommt zustande, weil durch die Abschaffung derArbeitslosenhilfe die bislang Begünstigten auf dieSozialhilfe zurückfallen und bereit sein werden, fürweniger Geld zu arbeiten.

(Rolf Stöckel [SPD]: Der hat doch keine Ah-nung, der Mann!)

Das hat euch Sinn gesagt. Entweder habt ihr ihn igno-riert oder nicht verstanden. Ich habe den Eindruck, dassbei euch beides der Fall ist: ignoriert und nicht verstan-den.

(Beifall bei der LINKEN – Rolf Stöckel [SPD]: Sie haben keine Ahnung!)

Mit ihren Hartz-Gesetzen haben die verantwortlichenParteien dafür gesorgt, dass das größte staatliche Ar-mutsprogramm umgesetzt wurde, das in dieser Republikje zu verzeichnen war. Insgesamt 2,2 Millionen Kinderund Jugendliche stecken in Hartz. Das Bundessozialge-richt hat Ihnen jetzt die Leviten gelesen – dies trifft na-türlich für die CDU/CSU genauso zu –: Dieses Gesetz istverfassungswidrig, und die Regelsätze für Kinder sindwillkürlich festgelegt worden. Wie viele Urteile brau-chen Sie eigentlich noch, um sich von diesem Holzwegabzukehren?

(Beifall bei der LINKEN)

Wie viele Urteile müssen Ihnen deutsche Gerichte vorle-gen, bevor Sie merken, dass die Hartz-Gesetze nicht ak-

zeptabel sind und dem Rechtsstaatsgedanken dieser Re-publik widersprechen? – Meinem Vorredner von derCDU sage ich: Daran ändert sich auch dadurch nichts,dass der Regelsatz für Kinder jetzt um 10 Prozent hoch-gesetzt wird. Es geht darum, dass der Regelsatz indivi-duell festgelegt werden muss. Solange Sie das nicht tun,ist dieses Gesetz nicht verfassungskonform.

Zum Antrag der Grünen: Natürlich ist es richtig, dieRegelsätze anzuheben. Diesbezüglich stimmen wir Ih-nen voll zu; da sind wir auf Ihrer Linie. Ich verstehe nurnicht, warum die Grünen bei 420 Euro hängenbleibenund sich dabei auch noch auf die Sozialverbände bezie-hen. In der Stellungnahme des Deutschen ParitätischenWohlfahrtsverbandes vom 10. Juni 2008 heißt es:

Wird weiterhin der Kaufkraftverlust seit 2003 inRechnung gestellt, so müsste der Regelsatz nachaktuell zur Verfügung stehenden Daten zur Ent-wicklung der regelsatzspezifischen Lebenshal-tungskosten auf 434 Euro angehoben werden, umbedarfsdeckend zu sein.

(Andrea Nahles [SPD]: Der Arbeitsmarkt- und Sozialexperte!)

Ich verstehe nicht, warum ihr so knickrig seid; ihr habtdoch nicht nur Schwaben in der Fraktion.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen ist das grüne Progressivmodell abzuleh-nen. Letztendlich ist das eine Förderung des Niedrig-lohnsektors. Dem können wir nicht zustimmen.

Jetzt komme ich zu unserer Position. Wir wollen eineAnhebung der Vermögensfreigrenze auf 20 000 Euro.Zurzeit liegt sie bei maximal 9 750 Euro. Die gegenwär-tige Regelung bedeutet Armut per Gesetz. Die Betroffe-nen müssen ihr Geld verbrauchen, weil sie sonst keinenAnspruch auf Leistungen haben. Es stimmt zwar, dassman Vermögen berücksichtigen muss; mit 9 750 Euro istman aber sicherlich nicht reich. Es ist Willkür und eineunzumutbare Gängelei und Quälerei, dass sich Men-schen arm machen müssen, bevor sie Leistungen bezie-hen können.

Wir beziehen uns auf einen DIW-Wochenbericht ausdem Jahr 2009, den Sie offensichtlich auch nicht zurKenntnis nehmen. Das Nettovermögen hat sich in dieserRepublik verändert, wird uns da attestiert. Das reichsteZehntel der Bevölkerung ist noch reicher geworden unddas ärmste Zehntel noch ärmer. Das DIW sagt auch, wo-ran das liegt – ich zitiere aus dem Bericht –: Die Rege-lungen zum Arbeitslosengeld II dürften „zu einem stärke-ren Entsparen im Falle von Arbeitslosigkeit beigetragen“haben, „da eigenes Vermögen zunächst weitgehend auf-gezehrt werden muss, bevor diese staatliche Unterstüt-zung in Anspruch genommen werden kann“. Hier hat Ih-nen ein wissenschaftliches Institut bestätigt, dass Sie mitIhrer Regelung zum Schonvermögen und der Regelung,dass zunächst Vermögen verbraucht werden muss, letzt-endlich zu einer ungleichen Vermögensverteilung in die-ser Republik beitragen.

(Beifall bei der LINKEN)

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Klaus Ernst

Deshalb könnten Sie wenigstens in dieser Frage unseremAntrag zustimmen.

Da die Firma Schaeffler vorhin genannt worden ist:Wie verhalten wir uns denn, wenn die Millionärin FrauSchaeffler zur Bundesregierung kommt und 6 Milliar-den Euro haben möchte, weil sie offensichtlich mit ih-rem Geschäftsführer Geld verzockt hat? Was machenwir denn dann? Sagen Sie ihr auch, sie solle erst einmalihren Pelzmantel ausziehen, weil sie sonst nichts be-komme, wie Sie das bei den Arbeitslosen machen?

(Beifall bei der LINKEN)

Sagen Sie auch ihr, sie solle sich eine kleinere Wohnungnehmen?

(Jürgen Klimke [CDU/CSU]: Sie schicken lie-ber die Arbeitnehmer nach Hause, oder?)

Hier geht es nicht um 351 Euro im Monat, sondern umMilliarden. Ich sage Ihnen: Sie behandeln die Menschenin diesem Land ungleich, und das akzeptieren die Men-schen nicht mehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte deutlich sagen – ich habe recherchiert undFolgendes festgestellt –: Die INA-Holding Schaeffler KGkommt ihrer Verpflichtung, den Jahresabschluss zu pu-blizieren, nicht nach. Sie veröffentlichen noch nicht ein-mal, was sie verdienen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Müssen sie ja auch nicht!)

Trotzdem erhalten sie mit der Frage, wie viele Millionensie überwiesen bekommen, Zugang zur Bundesregie-rung. Bei einer solchen Ungleichbehandlung werden dieMenschen sagen: Das ist ein Staat, den wir nicht mehrakzeptieren. Ihr Verhalten führt genau dazu, übrigensauch das eine oder andere Urteil über Steuerflüchtlinge.Ich kann nur sagen: Ändern Sie diese Politik! Die einenmüssen sich wegen 351 Euro arm machen; wenn es umMilliarden geht, sorgen Sie aber nicht dafür, dass dieLeute ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen.

Wir bleiben dabei: Hartz ist Schikane und Willkür.Deswegen ist es richtig, dass dieses Gesetz nach wie vornach jemandem benannt ist, der ein vorbestrafter Geset-zesbrecher ist, nämlich nach Herrn Hartz. Genau so ist esrichtig.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen die Anhebung der Regelsätze. Wir wolleneigenständige, bedarfsdeckende Regelsätze für Kinderund Jugendliche. Wir wollen, dass die Zumutbarkeit vonArbeit anders geregelt wird. Wir wollen, dass Arbeit an-ständig entlohnt wird und die 1-Euro-Jobs sofort aufhö-ren; wir wollen stattdessen sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung. Mit Bedarfsgemeinschaften muss Schlusssein. Jeder Mensch muss einen eigenen Anspruch aufLeistungen haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Kürzungen von Leistungen unter das Existenzminimumentsprechen nicht der Würde des Menschen und müssenaufhören.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir fordern in diesem Antrag die Erhöhung desSchonvermögens. Außerdem fordern wir: Weg mitHartz IV. Dabei bleibt es.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von derCDU/CSU: Was macht ihr denn mit demSchonvermögen, wenn ihr Hartz IV ab-schafft?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Stefan Müller hat das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Ernst, ich muss schon sagen: Das, was Sie hier wie-der abgeliefert haben, ist – man erwartet es von Ihnennicht anders – unterirdisch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vor allem die Art und Weise, wie Sie hier über Familien-unternehmen reden – ich will überhaupt nicht entschul-digen, was bei der INA-Holding abgelaufen ist; dassman sich dort vielleicht verspekuliert hat, will ich nichtin Abrede stellen –,

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Wie bedauerlich, was?)

ist schlichtweg unanständig. Ich wünschte mir, dassnoch mehr Unternehmen dem Standort Deutschland dieTreue halten würden, wie die Familie Schaeffler esschon über Jahrzehnte tut. Ich lade Sie gern in meinenWahlkreis ein. Halten Sie dort bitte die gleiche Rede underklären Sie den Beschäftigten – allein in meinem Wahl-kreis sind es 10 000 –, was passieren wird, wenn mander Familie Schaeffler und der INA-Holding nicht hilft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Herr Ernst, unmöglich!

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIELINKE]: Sie kennen doch unsere Forderung!Verteilung an die Arbeitnehmer!)

Nun dachte ich, dass Sie, Herr Ernst, und Ihre Abtei-lung hier alleine für den Klassenkampf zuständig sind.Aber es ist leider so, dass Ihnen etwas Konkurrenz beiden Grünen erwächst; das ist gewissermaßen Konkur-renz von rechts. Wenn man sich Ihren Antrag durchliest,Herr Kurth, und sich anhört, was Sie hier zu sagen ha-ben, dann kann man es nicht anders bezeichnen.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Klassenkampf?)

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Stefan Müller (Erlangen)

Herr Kollege Schiewerling hat schon zu Recht daraufhingewiesen, dass der Inhalt Ihres Antrags mit dem, wasdie Überschrift verheißt, leider nicht viel zu tun hat.

Zunächst einmal haben Sie recht. Das Jahr 2009 wirdsicherlich das Jahr der Wirtschaftskrise sein. Jedenfallssind sich alle Experten einig, dass wir in diesem Jahreine Rezession bekommen, im schlimmsten Falle dengrößten Absturz seit 60 Jahren, seit Bestehen der Bun-desrepublik. Klar ist, dass die Schönwetterperiode dervergangenen Jahre mit steigenden Wachstumsraten, sin-kenden Arbeitslosenzahlen und sprudelnden Steuerein-nahmen erst einmal vorbei sein wird. Klar ist auch, dasssich in unserem Land Verunsicherung breit macht; ichdenke, da sind wir uns einig. Es gibt Verunsicherung beiden Arbeitnehmern, die heute nicht wissen, ob sie ihrenArbeitsplatz behalten werden können, bei den Unterneh-mern, die nicht wissen, ob ihr Betrieb die Krise über-steht, bei jungen Menschen, die nicht wissen, ob sie,wenn sie die Schule abschließen oder ihr Studium been-den, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz be-kommen, und bei der älteren Generation, die nicht weiß,ob ihre Altersversorgung noch sicher ist. Das bedeutet,dass die Krise, der wir uns in diesem Jahr stellen müs-sen, alle bestehenden Herausforderungen wie Globali-sierung, Demografie und Klimawandel sicherlich ver-stärken wird. Aber ich bitte inständig darum, dass wiruns jetzt keinen Überbietungswettbewerb mit immerschlechteren Prognosen abliefern, sondern dass wir unsgemeinsam darauf einstellen, dass wir auf diese Krise re-agieren müssen und dass Konsequenzen gezogen werdenmüssen.

Ich finde, dass wir in Deutschland gute Gründe ha-ben, mit Mut und Zuversicht in die Zukunft, vor allenDingen in das Jahr 2009 zu blicken. Wir haben gut auf-gestellte Unternehmen. Wir haben gut ausgebildete, mo-tivierte Arbeitnehmer. Wir haben in den vergangenenJahren als Große Koalition die nötigen Weichenstellun-gen zur Modernisierung dieses Landes vorgenommen.All das wird dazu beitragen, dass wir diese Krise besserüberstehen. Wir sollten uns nicht von Untergangsszena-rien irre machen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Herr Kurth, Sie haben davon gesprochen, dass dieseine konjunkturelle Krise ist.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ich habe gesagt, dass es eine struktu-relle Krise ist! Strukturwandel!)

Ich möchte Ihnen ausdrücklich widersprechen. DieseKrise ist nicht konjunkturbedingt, sondern ist eine Aus-wirkung der Finanzmarktkrise. Das will ich an dieserStelle anmerken. Ich denke, wir alle haben uns in denschlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, wasim Zusammenhang mit dieser Finanzmarktkrise interna-tional abgelaufen ist. Eine explosive Mischung aus billi-gem Geld, unverantwortlicher Kreditvergabe, Leicht-gläubigkeit, mangelndem Risikobewusstsein – was auchimmer Sie anführen wollen – zusammen mit einem über-steigerten Streben nach schnellen und immer höheren

Gewinnen haben diese Entwicklung überhaupt erst mög-lich gemacht.

Ich sage ganz deutlich: Das, was im letzten Jahr pas-siert ist, darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Finanzmarktkrise war nicht die Folge von Staatsver-sagen

(Andrea Nahles [SPD]: Ja! Richtig!)

oder des Versagens unserer sozialen Marktwirtschaft,

(Andrea Nahles [SPD]: Da haben Sie recht!)

sondern das Ergebnis einer Verletzung ethischer bzw.moralischer Grundlagen.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Oh nein! Das wäre viel zu einfach!)

Deswegen ist es wichtig, dass wir reagieren. Die interna-tionalen Finanzmärkte brauchen Spielregeln, und dieBundesrepublik Deutschland ist gut beraten, die Ent-wicklung solcher Spielregeln auf europäischer und inter-nationaler Ebene einzufordern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Die Große Koalition leistet mit dem Konjunkturpa-ket einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung derWirtschafts- und Finanzmarktkrise. Es besteht aus einerklugen Mischung aus staatlichen Investitionen auf dereinen Seite und der Stärkung der Binnennachfrage aufder anderen Seite. Das Ziel ist klar: Wir wollen die Ar-beitsplätze in Deutschland erhalten. Bei allen Maßnah-men, die wir in diesem Jahr durchführen, ist die Siche-rung der Arbeitsplätze das übergeordnete Ziel.Gleichzeitig wollen wir diese Krise als Chance nutzen;Kollege Stöckel hat schon darauf hingewiesen. Wir wol-len Investitionen in die Zukunft tätigen. Wir wollen aberauch die Steuern und Abgaben dauerhaft senken.

Im Rahmen des Investitionsprogramms werden wireine deutliche Erhöhung des Umfangs staatlicher Inves-titionen vornehmen. In den Jahren 2009 und 2010 wirdsich das Volumen auf 18 Milliarden Euro belaufen.

Herr Kurth, die Grünen kritisieren in ihrem Antrag,das Prinzip der Politik der Bundesregierung laute „mehrBeton statt mehr Gerechtigkeit“. Außerdem führen Siedarin aus, die Bundesregierung verfolge das Ziel, für„makellose Bundesstraßen“ zu sorgen. Ich empfehle Ih-nen, einen Blick in unseren Gesetzentwurf – mittlerweiledürfte er auch Ihnen vorliegen –

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja!)

zu werfen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ha-ben wir schon gemacht! Keine Sorge!)

Zwei Drittel der Investitionen, die getätigt werden sol-len, fließen in Bildungseinrichtungen: in Kindergärten,Schulen und Hochschulen.

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21818 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Stefan Müller (Erlangen)

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber ein großer Teil fließt in den Stra-ßenbau! Deswegen reden wir ja auch von Be-ton!)

Ein Drittel der Investitionen fließt in Infrastrukturmaß-nahmen: in Straßen, Schienen, Krankenhäuser, den Städ-tebau und die Breitbandversorgung.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, genau! Das sage ich doch: auch inStraßen! Ein Drittel der gesamten Investitio-nen ist doch jede Menge Geld, oder etwanicht?)

Da können Sie doch nicht sagen, wir würden in Betonstatt in Gerechtigkeit investieren. Herr Kollege Kurth,natürlich geht es uns auch darum, die Zukunftschancenjunger Menschen zu verbessern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Von diesen Maßnahmen wird nicht nur die Bauwirt-schaft profitieren, sondern davon werden aufgrund ver-besserter Lernbedingungen auch die Schülerinnen undSchüler sowie die Studentinnen und Studenten profitie-ren.

Weil Sie in Ihrem Antrag das Stichwort „Gerechtig-keit“ erwähnen, sage ich Ihnen: Unsere Maßnahmensind auch ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit;denn in Zukunft können die Bildungseinrichtungen einebessere Infrastruktur anbieten. Daher wären Sie gut be-raten, die Kritik, die Sie in Ihrem Antrag haben verlaut-baren lassen, in Zukunft nicht zu wiederholen.

Unser zweites Ziel ist die Stärkung der Binnen-nachfrage. Uns war klar, dass man mit einem solchenKonjunkturpaket nicht nur die Wirtschaft unterstützendarf. Herr Ernst, es geht uns ausdrücklich nicht darum,nur die Unternehmen zu fördern, sondern auch darum,die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft zuentlasten. Das ist auch notwendig, weil ihre finanziellenSpielräume immer geringer werden. Das liegt allerdingsnicht daran, dass die Bruttolöhne der Arbeitnehmer zuniedrig sind, sondern daran, dass die Abzüge zu hochsind und das, was ihnen von ihrem Gehalt netto übrigbleibt, immer weniger ausreicht, um den Lebensunter-halt zu decken.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wer kriegt denn den größten Anteil da-von?)

Das ist das eigentliche Problem, das wir lösen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst zulassen?

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Bitte.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte, Herr Ernst.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Kollege, Sie haben kritisiert, dass ich das Fami-

lienunternehmen Schaeffler angegriffen habe.

Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,dass es Pressemeldungen gibt, in denen zu lesen ist, dassdas Privatvermögen von Frau Schaeffler in Höhe von6 Milliarden Euro offensichtlich nicht zur Sanierung desUnternehmens verwendet werden soll, sondern dass manauf den Staat zurückgreifen will, obwohl das Unterneh-men über ein Eigenkapital von 300 bis 600 MillionenEuro verfügt?

Zweitens. Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass dieMenschen, die, bevor sie staatliche Hilfen in Anspruchnehmen können, ihr gesamtes privates Vermögen offen-legen und sogar aufbrauchen müssen, nicht amüsiertsind, einen solchen Vorgang zur Kenntnis nehmen zumüssen?

(Beifall bei der LINKEN)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Herr Ernst, ich nehme gerne zur Kenntnis, dass Sie

nicht bereit sind, andere Umstände zur Kenntnis zu neh-men. Ihr Lernbedarf ist sicherlich noch ausbaufähig.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was für eine Arroganz!)

Um auf Ihre konkreten Fragen zu sprechen zu kom-men: Ich kenne die Kontoauszüge und die Vermögens-aufstellung von Frau Schaeffler nicht.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Presse kennt sie! Das ist in der Zeitung zu lesen!)

Ob das Privatvermögen von Frau Schaeffler, wie Sie er-wähnt haben, 6 Milliarden Euro beträgt, weiß ich nicht.Ich unterstelle aber, dass diese 6 Milliarden Euro nichtauf irgendwelchen Konten liegen, sondern im Unterneh-men investiert sind. Sie müssen einmal zur Kenntnisnehmen, dass die Gewinne dieser Firma nicht nur aufverschiedene Konten überwiesen, sondern reinvestiertwurden; ich glaube, dass ich das ein bisschen beurteilenkann. Das ist die Art und Weise, wie Familienunterneh-men in Deutschland agieren. Dass Ihnen wegen der Mit-bestimmung und wegen vielem anderem, mit dem Siehineinregieren können, große Kapitalgesellschaften lie-ber sind, ist mir klar.

(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Volkseigene Be-triebe wollen die!)

Ich sage noch einmal: Ich bin stolz darauf, dass wir Fa-milienunternehmer haben, die ihrer sozialen Verantwor-tung gerecht werden, indem sie Arbeitsplätze inDeutschland zur Verfügung stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:Ganz schwach, Herr Müller!)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie auch eine Zwischenfrage

von Frau Enkelmann zulassen?

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Bitte.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Herr Kollege, meinen Sie nicht, dass Unternehmen,

bevor öffentliche Gelder an sie fließen, eine Bedürftig-keit nachweisen sollten, dass also ihre Wirtschaftlichkeitzu prüfen ist?

(Rolf Stöckel [SPD]: Das ist doch logisch! –Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Washat die Bundesregierung denn gestern ge-macht?)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Frau Kollegin Enkelmann, ich habe meine Informa-

tionen genau wie Sie aus der Zeitung. Den Medien zu-folge werden Gespräche geführt. Das Ergebnis dieserGespräche kennen weder Sie noch ich. Ich gehe davonaus, dass die Eigentümerfamilie ihrer Verantwortung ge-recht wird und auch Privatvermögen einsetzen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Zurück zum Antrag der Grünen. Herr Kurth, Sie sa-gen, dass Steuersenkungen nichts bringen, weil dieHälfte der Bevölkerung gar keine Steuern zahlt. Was istdas für eine Denkweise? Weil Schüler und Jugendlichekeine Steuern zahlen, weil Arbeitslose keine Steuernzahlen, weil die meisten Rentner keine Steuern zahlen,weil viele Arbeitnehmer keine Steuern zahlen, soll mandie, die Steuern zahlen, nicht entlasten? Das muss mannicht verstehen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth

zulassen? – Bitte schön.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber nicht nach Schaeffler fragen!)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Wenn Sie nach Schaeffler fragen, Herr Kurth, lade ich

Sie einmal nach Herzogenaurach ein.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kollege Müller, ist Ihnen erinnerlich, dass ich den

Bundesfinanzminister zitiert habe, der deutlich sagte,dass bei Einkommen oberhalb von 3 500 Euro netto dieSparquote außerordentlich hoch ist und insofern anzu-nehmen ist, dass eine Erhöhung des Nettoeinkommensdurch eine Steuersenkung keineswegs zu mehr Konsumund einer Erhöhung der Binnennachfrage führt, sondernzusätzlich gespart wird? Was sagen Sie zu dieser Auffas-sung des Bundesfinanzministers?

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Hat er da unrecht?)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Wenn der Bundesfinanzminister hier seine persönli-

che Auffassung vertritt, muss ich mich dieser nicht un-bedingt anschließen.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist aber Ihr Minister!)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei den Steuersenkun-gen, für die sich die Union einsetzt, geht es nicht alleinum eine Stärkung der Binnennachfrage, sondern auchum eine Selbstbeschränkung der Politik. Wir wollen dieSteuern und Abgaben dauerhaft senken. Mein Verständ-nis von Politik ist nicht, dass der Staat den Menschenimmer mehr abnehmen sollte, um es umzuverteilen.Mein Verständnis von Politik ist, dass der Staat denMenschen nur das abnehmen sollte, was er braucht, umseine Aufgaben zu finanzieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann führen Sie doch die Schulden-bremse sofort ein und nicht erst ab 2013!)

In diesem Sinne will ich den Einstieg in Steuer- und Ab-gabensenkungen verstanden wissen. Ich meine, die Bür-gerinnen und Bürger können besser entscheiden, was mitihrem Geld passieren soll, als es der Staat kann.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So viel Schulden hatten wir noch nie!Die müssen abgetragen werden!)

Darum geht es mir, Herr Kollege Kurth.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Einen Punkt im Antrag der Grünen kann ich unter-stützen, nämlich die Senkung der Sozialabgaben. Da-mit haben Sie recht. Aber ich darf Sie daran erinnern,dass die Große Koalition die Sozialabgaben gesenkt hatwie keine Regierung vor ihr.

(Zuruf von der FDP: Ach ja? Gesundheits-fonds!)

Zum Beispiel hat sie den Beitrag zur Arbeitslosenversi-cherung von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent gesenkt. Das isteine Entlastung von 25 Milliarden Euro. Was kritisierenSie also? Dieses Konjunkturpaket ist ein Bündel vonMaßnahmen, um der Krise entgegenzuwirken, aber mitAugenmaß und ohne Panik.

Die Grünen sprechen von Gerechtigkeitslücken undvon Armut.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, es gibt noch einen Wunsch nach einer

Zwischenfrage, und zwar seitens der KolleginHaßelmann.

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Das würde meine Redezeit verlängern. Vielen Dank!

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

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Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben gerade eindringlich die Steuersenkungen

verteidigt und gleichzeitig von Wohltaten für die Kom-munen gesprochen. Ist Ihnen bewusst, dass das IMKausgerechnet hat, dass die in den Konjunkturpaketenvorgesehenen Steuersenkungen für die KommunenMindereinnahmen von 1,9 Milliarden Euro bedeuten?Wie wollen Sie das zusammenbringen? Auf der einenSeite feiern Sie das Konjunkturpaket als das Paket fürdie Kommunen, auf der anderen Seite wissen Sie, dassdie Steuersenkungen, die Sie verteidigen, für die Kom-munen Milliardenausfälle bedeuten.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was sagen Sie dazu, Herr Müller?)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Wenn Sie sich dieses Konjunkturpaket einmal genau

und vor allem in seiner Gesamtheit anschauen, also nichtimmer nur einzelne Punkte herausgreifen,

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch linke Tasche, rechte Ta-sche!)

dann werden Sie feststellen, dass die Kommunen unterdem Strich mehr Geld für kommunale Investitionen zurVerfügung haben werden, sodass die Ausfälle, die dortvielleicht entstehen werden,

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nicht vielleicht!)

durchaus ausgeglichen werden können. Insofern sehe ichdieses Problem am Ende nicht.

Ich sage noch einmal: Es geht bei den Steuersenkun-gen sowohl darum, die Binnennachfrage zu stärken, alsauch darum, jetzt damit anzufangen, die Menschen wie-der zu entlasten. Wir mussten 2005 einen Bundeshaus-halt übernehmen, den auch Sie von den Grünen mitzu-verantworten hatten und der in einem katastrophalenZustand war, weswegen wir den Menschen gesagt ha-ben, dass wir ihnen Belastungen nicht ersparen können.Wir haben ihnen gleichzeitig aber immer auch das Si-gnal gegeben, dass es Entlastungen geben muss und ge-ben wird. Ich frage Sie: Wann, wenn nicht in diesemJahr, in dem wir wirtschaftliche Probleme haben, sollenwir denn über Entlastungen nachdenken? Insofern ist esrichtig, dass wir das tun; das ist für die Kommunen, sodenke ich, durchaus auch verantwortbar.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie belasten die Kommunen! Dazu ha-ben Sie nichts gesagt!)

Frau Präsidentin, ich fasse zusammen: Gerade in Kri-senzeiten braucht dieses Land eine Regierung, die dieHerausforderungen mit Entschlossenheit, aber ohne Pa-nik angeht.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die haben wir nicht! – VolkerSchneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Wannkriegen wir die?)

Diese Bundesregierung geht diesen Weg. Das Konjunk-turpaket, das wir auf den Weg bringen werden, ist richtigund ausgewogen. Damit tragen wir den verschiedenenProblemlagen dieser Krise Rechnung. Es ist der richtigeWeg, um diesen Abschwung abzumildern, Arbeitsplätzezu erhalten und damit auch soziale Sicherheit zu gewähr-leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat die Kollegin Hiller-Ohm für die SPD-Frak-

tion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Es ist dasgute Recht der Opposition, Regierungshandeln, alsoauch unser Konjunkturpaket, zu kritisieren. Ich erwartevon Ihrer Seite dann aber auch echte Alternativen. Diebleiben Sie uns jedoch schuldig.

Sie wollen die Konjunkturkrise mit einem Antrag vongerade einmal anderthalb Seiten, auf denen vier Forde-rungen stehen, bewältigen und damit obendrein noch dieGerechtigkeitslücke in Deutschland schließen.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch Quatsch!)

Wenn das zumindest innovative Vorschläge wären! WasSie uns jedoch vorlegen, ist nichts Neues und wird nichtzur Bewältigung der Krise beitragen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu Ihrer ersten Forderung. Sie wollen eine Aufsto-ckung der Sozialleistung für Langzeitarbeitslose und So-zialhilfeempfänger um 69 Euro und so die Binnennach-frage in Deutschland ankurbeln. Bei dem Betrag stützenSie sich auf die Berechnung des Deutschen ParitätischenWohlfahrtsverbandes und erwecken den Eindruck, alshabe dieser das objektiv wahre Niveau eines soziokultu-rellen Existenzminimums berechnet.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Habe ich davon etwas gesagt? – Ge-genruf des Abg. Rolf Stöckel [SPD]: Sie habenaber den Eindruck erweckt!)

Es gibt hier aber nicht eine „einzige Wahrheit“; denn na-türlich hat auch das Ministerium den geltenden Regel-satz sehr genau und in einem transparenten Verfahren er-rechnet und begründet.

Zurzeit werden die Regelsätze vom Ministerium aufGrundlage der neuen Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe überprüft.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hören wir schon seit zwei Jahren!)

Mit dem Ministerium besteht Einvernehmen, dass derZeitraum zwischen zwei Stichproben – das sind in der

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Gabriele Hiller-Ohm

Regel fünf Jahre – zu lang ist. Wir wollen kürzere Ab-stände, um die Regelsätze besser an die tatsächlichenBedarfe der Leistungsempfänger anpassen zu können.Ich halte es jedoch für falsch, das gewählte Verfahrengenerell über Bord zu werfen.

(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)

Ich erinnere: In der letzten Legislaturperiode habenwir Sozialdemokraten gemeinsam mit Ihnen, den Grü-nen, die damalige Arbeitslosenhilfe abgeschafft unddurch das Arbeitslosengeld II ersetzt.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War ja auch grundsätzlich richtig!)

Wir haben erwerbsfähige Sozialhilfeempfängerinnen und-empfänger aus der Sozialhilfe herausgeholt

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und ihnen Fördermöglichkeiten und Ansprüche über dieSozialgesetzbücher II und III eröffnet, die sie vorhernicht hatten.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist richtig!)

Gemeinsam mit Ihnen haben wir hierzu die gesetzlichenRahmenbedingungen festgelegt. Wir haben das aus gu-tem Grund getan. Unser gemeinsames rot-grünes Anlie-gen war es, durch die Arbeitsmarktreformen Menschenaus dem Leistungsbezug heraus in Arbeit zu bringen undihnen Perspektiven für ein eigenständiges Leben ohnestaatliche Transferleistungen zu bieten.

(Beifall bei der SPD)

Das ist uns gelungen. Die sinkenden Arbeitslosenzahlensprechen für sich.

Gute Arbeit und faire Löhne für alle erwerbsfähigenMenschen sind eine sehr wichtige Grundlage für mehrGerechtigkeit und Chancen in unserer Gesellschaft. Dasgilt insbesondere in Krisenzeiten. Gerade jetzt müssenwir alles tun, um Arbeit zu erhalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nicht durch höhere staatliche Sozialleistungen, sonderndurch den Erhalt von Arbeit helfen wir den Menschen inder Konjunkturkrise und stärken gleichzeitig den Bin-nenmarkt. Das ist der richtige Weg. Deshalb ist es rich-tig, dass Minister Scholz gemeinsam mit uns den Bezugdes Kurzarbeitergelds verlängert und dies auch auf dieZeitarbeitsbranche ausgeweitet hat und die Weiterbil-dung stark fördert.

Sie fordern in Ihrem Antrag gerechte Löhne und fai-ren Wettbewerb. Wir setzen dies bereits politisch um.

(Beifall bei der SPD)

Es ist ein großer Erfolg, dass es uns gerade jetzt gelun-gen ist, sechs weitere Branchen mit Mindestlöhnen ab-zusichern. Insgesamt haben wir damit 13 wichtige Bran-chen erfasst. Die Zeitarbeit wird in Kürze folgen.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ach! Das liest sich aber anders!)

– Lieber Herr Kurth, wir haben mit der Union im Übri-gen sehr viel mehr erreicht, als uns mit Ihnen möglichwar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden nicht lockerlassen. Unser Ziel bleibt eineinheitlicher flächendeckender Mindestlohn. Das ist diebeste Lösung gegen Lohndumping und für mehr Gerech-tigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Gute Arbeit und gerechte Löhne helfen übrigens auchden Kindern von erwerbsfähigen Menschen im Sozialhilf-ebezug. Das größte Armutsrisiko ist nämlich die Arbeits-losigkeit. Die Armutsrisikoquote von Erwerbslosen liegtmit 43 Prozent mehr als dreimal höher als die der Ge-samtbevölkerung. Kinder aus armen Familien haben imVergleich zu Gleichaltrigen aus finanziell gesichertenVerhältnissen ein doppelt so hohes Risiko, in ihrer sozia-len, gesundheitlichen und auch sprachlichen Entwick-lung beeinträchtigt zu werden. Deshalb ist es richtig,dass wir gerade auch Alleinerziehenden einen besserenZugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen.

(Beifall bei der SPD)

Wir legen ein 13 Milliarden Euro schweres Konjunk-turprogramm speziell für die Kommunen auf. Mit die-sem Programm wird sich die Infrastruktur im Bildungs-und Betreuungsbereich spürbar und nachhaltig verbes-sern. Ein derartiges Programm hat es in Deutschland bis-lang noch nicht gegeben. Wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten haben es auf den Weg gebracht. Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, lehnenes ab. Das ist bedauerlich;

(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

denn mit diesem Programm schaffen wir vor Ort und vorallen Dingen ganz konkret bessere Bedingungen, mehrGerechtigkeit und mehr Chancengleichheit für unsereKinder.

(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Steuersenkungen!)

Sie wollen die Gerechtigkeitslücke durch eine Neube-messung der Kinderregelsätze schließen. Das ist eine dervier Forderungen in Ihrem Antrag. Dieses Anliegen ha-ben wir hier schon häufig diskutiert.

Unsere Position ist klar: Auch wir halten das derzei-tige Verfahren für nicht ausreichend. Wir haben uns fürdie Ermittlung der Eckregelsätze für erwachsene Leis-tungsbezieher gemeinsam mit Ihnen auf das Instrumentder Einkommens- und Verbrauchsstichprobe geeinigt.Dieses Verfahren muss auch für betroffene Kinder gel-ten.

(Beifall bei der SPD)

Das Ministerium hat in einer Sonderstudie die Kin-derbedarfe auf Grundlage der alten Einkommens- undVerbrauchsstichprobe unter die Lupe genommen und

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Gabriele Hiller-Ohm

festgestellt, dass nachgebessert werden muss. Das So-zialgeld für die 6- bis 13-Jährigen hat sich als zu niedrigerwiesen und wird deshalb ab dem 1. Juli dieses Jahresvon 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes für erwach-sene Leistungsbezieher, also um 35 Euro, aufgestockt.Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass wir dieseErhöhung mit unserem Koalitionspartner so schnelldurchbekommen würden. Danke schön an dieser Stelleauch an Sie.

(Beifall bei der SPD)

Hier ist uns im Übrigen die Konjunkturkrise zu Hilfegekommen. Die Erhöhung des Kinderregelsatzes istTeil des Konjunkturprogramms II und wird die Situationvon rund 820 000 Kindern verbessern. Wir kommen da-mit auch den jüngsten Forderungen des Bundessozialge-richts entgegen, das übrigens nicht die Höhe der Regel-sätze für Kinder, sondern die pauschale Ableitung vomErwachsenenregelsatz als verfassungswidrig beurteilthat.

(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD] –Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Daran halten Sie doch fest!)

Ein weiterer wichtiger Schritt hin zu mehr Bildungsge-rechtigkeit ist uns gelungen: Wir haben das Schulbe-darfspaket in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr durch-gesetzt. Außerdem erhalten alle Familien pro Kindeinmalig 100 Euro extra.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ei-nes ist klar: Mit Ihrem Vierpunkteantrag schließen Siedie von Ihnen beklagte Gerechtigkeitslücke in Deutsch-land nicht. Das wird auch der Linksfraktion mit ihremAntrag mit dem Titel „Sozialen Absturz von Erwerbslo-sen vermeiden – Vermögensfreigrenzen im SGB II anhe-ben“ nicht gelingen. Ich kann mir nicht vorstellen, dassein Selbstbehalt von 20 000 Euro pro Person in einer Be-darfsgemeinschaft, unabhängig vom Alter, Akzeptanz inunserer Gesellschaft finden wird. Eine vierköpfige Fami-lie könnte dann 80 000 Euro besitzen und trotzdem So-zialleistungen beziehen. Das muss man erst einmal ver-mitteln. Wie kommen Sie eigentlich auf 20 000 Euro?Eine Begründung für diesen Betrag finden wir in IhremAntrag nicht. Hier geht es wohl wieder einmal nach Ih-rem altbekannten Motto: Darf es ein bisschen mehr sein?

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu-ruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken][DIE LINKE])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist nicht so, Herr Ernst, dass wir überhaupt keinen

Selbstbehalt für Bezieher von Arbeitslosengeld II vorge-sehen haben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ja. – Wir haben Freigrenzen in vernünftiger Höhe ein-

gezogen. Selbstgenutztes Wohneigentum und ein Autozum Beispiel werden nicht angerechnet. Auch bei derAltersvorsorge haben wir komfortable Freibeträge ge-währt. Ich denke, das ist sehr gut.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

(Andrea Nahles [SPD]: Wir haben zehn Minu-ten!)

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ja. – Meine Damen und Herren, Sie sehen, die SPD

hat die richtigen Konzepte. Wir werden mit diesen Kon-zepten die Krise bewältigen; da bin ich zuversichtlich.Sie bleiben hinter Ihrem Anspruch deutlich zurück. IhrAntrag ist – so will ich es einmal sagen – wirklich nichtzielführend, wenn Sie damit Armut, Arbeitslosigkeit undUngerechtigkeit in Deutschland verhindern wollen. Dasist der falsche Weg, meine Damen und Herren von derLinken. Wir sind auf dem richtigen Weg. UnterstützenSie uns! Dann kommen wir voran.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Erwin Lotter hat jetzt für die FDP-

Fraktion das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Erwin Lotter (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Mein KollegePeter Haustein hat sich mit dem Antrag der Grünen be-fasst. Ich werde mich daher auf den Antrag der Links-fraktion konzentrieren.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist nett!)

Ich habe Ihren Vorschlag zur Ausweitung der Vermö-gensfreigrenzen für Hartz-IV-Empfänger zweimal durch-gerechnet; denn beim ersten Mal dachte ich: Das mussein Irrtum sein. Eine junge Familie mit zwei Kindernzum Beispiel, also eine Bedarfsgemeinschaft von vierPersonen, dürfte nach dem Vorschlag der Linken bis zu80 000 Euro Vermögen anrechnungsfrei besitzen undtrotzdem für alle Mitglieder der BedarfsgemeinschaftHartz IV beziehen. Das, meine Damen und Herren derLinken, ist ein groteskes und bizarres Verständnis vongesellschaftlicher Solidarität.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Leistungen nach SGB II, also Hartz IV, werdenvon der Gemeinschaft der Steuerzahler aufgebracht.

(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Richtig!)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21823

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Dr. Erwin Lotter

In Ihrem Verständnis, liebe Kollegen und Kolleginnender Linken, sind Steuerzahler offensichtlich alle Groß-verdiener. In der Realität sieht das aber anders aus. VieleMenschen mit geringem Einkommen, wenn auch nurknapp über dem steuerlichen Grundfreibetrag, zahlenSteuern, aus denen auch Hartz IV finanziert wird.

(Heinz-Peter Haustein [FDP]: So ist es!)

Wollen Sie wirklich, dass Familien, die nur über ein ge-ringes Arbeitseinkommen und über wenig bis gar keinVermögen verfügen, vermögende Bezieher von Hartz IVmitfinanzieren? Ist das Ihr Verständnis von Solidarität?

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]:Zunächst einmal wollen wir die Löhne, die Siewünschen, in der Höhe nicht!)

Bleiben wir bei dem Beispiel. Wenn eine vierköpfigeBedarfsgemeinschaft ein anrechnungsfreies Sparvermö-gen in Höhe von 75 000 Euro besitzt, würde dieses Kapi-tal bei 5 Prozent Verzinsung über 300 Euro Zinsenmonatlich abwerfen. Sollen auch diese Zinsen anrech-nungsfrei bleiben? Es gibt nur eine Erklärung für dieseabsurde Politik der Linken: Sie wollen die Gesellschaftganz bewusst spalten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie sind in Wahrheit nicht gegen Hartz IV. Vielmehr nut-zen Sie die Bedürftigkeit der Menschen ganz gezielt fürIhre Propaganda aus.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Lotter, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst zulassen?

Dr. Erwin Lotter (FDP): Bitte.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Kollege, ich will auf die Studie des DIW hin-

weisen und fragen, ob Sie diese zur Kenntnis genommenhaben. Dort heißt es, dass von 2002 bis 2007 beim un-tersten Zehntel, also bei den 10 Prozent der Bevölke-rung, die in der untersten Vermögens- und Einkommens-situation leben, nicht nur kein Vermögen vorhanden war,sondern dass sich das nicht vorhandene Vermögen sogarverringert hat. Diese Menschen haben eine negative Ver-mögenssituation, die von minus 1,2 auf minus 1,6 Pro-zent gesunken ist. Mit anderen Worten: Diese Menschenhaben mehr Schulden als zuvor. Das DIW schreibt: Un-ter den Arbeitslosen wuchs ihr Anteil, also der Anteilderjenigen, die kein Vermögen haben, deutlich an, von41 auf 49 Prozent. Glauben Sie nicht, dass sich die Be-troffenen, die nun Ihre Rede hören, angesichts dieser Re-alitäten fragen, von welchen 80 000 Euro Sie überhauptreden?

(Birgit Homburger [FDP]: Von denen in Ihrem Antrag!)

Dr. Erwin Lotter (FDP): Lieber Herr Kollege Ernst, ich rate Ihnen, die Papiere,

die Sie zitieren, vollständig zu lesen; denn das DIWkommt in der von Ihnen zitierten Studie zu dem völligrichtigen Fazit, dass das Hauptproblem unter Hartz-IV-Beziehern die unterdurchschnittlich niedrige Qualifika-tion für den Arbeitsmarkt ist. Jeder Dritte hat keine Be-rufsausbildung, jeder Fünfte keinen Hauptschulab-schluss.

In jedem Hartz-IV-Bezieher sehen Sie einen poten-ziellen Wähler, der Ihrer Propaganda hinterherläuft. Siewollen, dass sich die Menschen in Hartz IV einrichten.Deswegen verwundert es mich auch nicht, dass Sie mitIhrem Vorschlag den Kreis der Hartz-IV-Anspruchsbe-rechtigten deutlich ausweiten wollen. Das passierte,wenn die Vermögensfreigrenzen hochgesetzt würden.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Und an-schließend erzählen Sie dann, dass es mehrArme gibt!)

Diese Rechnung wird aber nicht aufgehen. Die Men-schen wollen nicht Hartz IV. Die Menschen wollen nichtdie Linke. Die Menschen wollen Arbeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, das sind doch Neiddebatten, die Siehier führen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidari-tät gilt nicht nur von Reich nach Arm. Solidarität bedeu-tet, dass alle solidarisch sind. Das heißt auch, dass steu-erfinanzierte Unterstützung durch die Gesamtheit derGesellschaft erst dann bezogen werden kann, wenn dieeigene Leistungsfähigkeit erschöpft ist. Solidarität istnichts anderes als die gegenseitige Übernahme von Ver-antwortung. Aber für Eigenverantwortung waren dieLinken noch nie zu haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]:Hochintellektuelles Niveau bei Ihnen!)

– Vor allem bei Ihnen, Herr Ernst.

Die bisherige Regelung der Vermögensfreigrenzenstaffelt diese nach Lebensalter. Das ist auch richtig so;denn so wird die Lebensleistung der Menschen in einemwirtschaftlich machbaren Umfang finanziell anerkannt.Wer sein ganzes Leben etwas zurückgelegt hat, darfmehr Vermögen anrechnungsfrei behalten als ein ju-gendlicher Hartz-IV-Empfänger, der vielleicht noch niegearbeitet hat.

(Lachen bei der Linken – Dr. DagmarEnkelmann [DIE LINKE]: Der hat auch keinVermögen!)

Die FDP spricht sich deshalb für großzügige Freibe-träge für Altersvorsorgevermögen aus. Auch Riester-Renten von Grundsicherungsempfängern sollen großzü-gig – begrenzt – anrechnungsfrei bleiben. Das ist verant-wortliche Sozialpolitik, die die Eigenverantwortung derMenschen stärkt und respektiert.

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21824 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Dr. Erwin Lotter

Wie gesagt, das Hauptproblem ist die Bildung. Genaudort müssen wir ansetzen. Wir müssen in Bildung, Bil-dung und nochmals Bildung investieren. Das ist derbeste Weg, um Arbeitslosigkeit und niedrige Einkom-men zu verhindern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Maria Michalk das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Maria Michalk (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrte Damen und Herren! Erneut beschäftigt unsheute Vormittag hier ein Antrag vom Bündnis 90/DieGrünen und ein Antrag von den Linken, in denen vonAusgrenzung, von Armut, von mangelnder sozialer Ge-rechtigkeit und vom sozialen Abstieg gesprochen wird.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ernste Probleme!)

Die Argumente sind nicht neu. Sie werden wie beimKartenspielen immer wieder neu gemischt. Ich sage Ih-nen – das haben die Vorredner schon bestätigt –: Dies-mal haben Sie echt ein schlechtes Blatt erwischt, weildie Überschriften Ihrer Anträge und die Inhalte nicht zu-sammenpassen. Dieses Spiel können Sie nicht gewinnen.

Ich möchte uns an einen Grundsatz erinnern, über denwir uns hier im Hohen Haus wirklich immer einig sind,nämlich: Alle Menschen sollen in Würde leben. Würdeumfasst aber viele Aspekte. Einer ist eine ausreichendeFinanzausstattung zum täglichen Leben. Diese wird ambesten durch faire Teilhabe am gesellschaftlichen Wert-schöpfungsprozess erreicht. Deshalb ist Arbeit so wich-tig. Damit das auch in Zukunft so bleibt, haben wir trotzder schwierigen Zeiten und der aktuellen Herausforde-rung in den zurückliegenden Tagen eine Menge vonVorschlägen unterbreitet, die uns in die Zukunft führenwerden. Der Grundsatz, dass Lohneinkommen aus Be-schäftigung immer besser als soziale Transferzahlungenist, gilt nach wie vor. Den müssen wir uns bei diesen De-batten vor Augen halten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb konzentrieren wir uns auf den Erhalt der Ar-beitsplätze, und deshalb ist die Generalkritik an unseremProgramm, das heute schon zur Debatte stand, absolutunangebracht.

Wirtschaft und damit Arbeitsplätze entwickeln sich;einmal geht es hoch, einmal herunter. Das hat die sozialeMarktwirtschaft so an sich. Diese Prozesse kann man ge-stalten. Zurzeit müssen wir eine besondere Herausforde-rung meistern. So sind zum Beispiel Lohnkostenvor-teile der Arbeitgeber, die wir zum Beispiel im Ostenwegen der nach wie vor niedrigeren Tarifabschlüsse oderwegen fehlender Tarifbindung haben, im Grunde ge-

nommen schon ein Thema; wir wissen aber heute aus derPraxis, dass sich diese im täglichen Leben abschleifen.Deshalb wird zunehmend wichtig, den Gestaltungsspiel-raum beim Fachkräftepotenzial zu nutzen. Bildung undQualifizierung bleiben hier ein grundsätzliches und im-mer wichtigeres Steuerinstrument.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das hat direkten Einfluss auf die Einkommenssituationund die Vermögensbildung. Wenn wir erleben, dass zu-nehmend mehr Leute in die wohlverdiente Altersruhegehen, als neue auf den Arbeitsmarkt strömen, was auchich vor Ort beobachten kann – das liegt an der demogra-fischen Entwicklung –, dann ist das für die Zukunft einechtes Problem, dem wir uns stellen müssen. Um dem zubegegnen, müssen wir branchenbezogen und punktge-nau ausbilden und vermitteln.

Alle Menschen sollen in Würde leben. Dieser Grund-satz gilt auch für Leute, die ihr Einkommen erarbeitenund davon anderen, Hilfsbedürftigen, etwas abgeben.Das hat hier in den Debatten schon eine Rolle gespielt.Ich will aber auf noch einen Punkt hinweisen. Wenn wirdas Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“, zu dem wir nach wievor stehen, derart strapazieren, wie es die Linken mit derForderung nach einer pauschalen Erhöhung des Grund-freibetrags tun, bestrafen wir vor allem die mittleren Ein-kommensschichten, die Leistungsträger unserer Gesell-schaft. Das sind diejenigen, die zahlenmäßig die größteGruppe sind. Etwa 40 Prozent der Menschen im Ostenhaben kein Vermögen, sagen die Statistiken, und rund20 Prozent haben ein Vermögen bis zu 20 000 Euro.Wenn also der Grundfreibetrag pauschal auf die von Ih-nen geforderte Schongrenze von 20 000 Euro erhöhtwird, sind nach Ihrer Rechnung 60 Prozent der Ostdeut-schen arm. Sie rechnen unser Land arm.

(Lachen bei der Linken – Dr. DagmarEnkelmann [DIE LINKE]: Bei 500 Milliar-den!)

Damit kein Missverständnis aufkommt: Auch wir in derCDU/CSU-Bundestagsfraktion nehmen Berichte überWohlstandsverluste und die möglicherweise drohendeAltersarmut bei den unteren Einkommensgruppen sehrernst.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo denn? Was tun Sie denn?)

Obwohl wir aktuell vor großen Herausforderungen ste-hen, sind wir ein reiches Land.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Für wie viel Prozent der Bevölkerung denn?)

Wohlstand, der arm macht – ist das nicht ein Paradox?Arme und Reiche driften weiter auseinander, auch wenndie Armen nicht ärmer werden, was die Dynamisierungder Grundsicherung und die ständige Verfeinerung unse-rer sozialen Instrumente garantieren.

(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Aber die Anzahl der Armen wird größer, und das machtuns unter demografischen Gesichtspunkten hellhörig.

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Maria Michalk

Neben Arbeitslosigkeit ist das Zerbrechen von Fa-milien oder einer Partnerschaft – darauf will ich in die-ser Debatte noch hinweisen – der wichtigste Grund fürArmut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Auch das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Was zweigemeinsam noch ganz gut schultern können, das schaf-fen sie getrennt nicht mehr so gut. Bei gleichem Le-bensstandard brauchen und verbrauchen vier Einperso-nenhaushalte nachgewiesenermaßen mehr als einVierpersonenhaushalt. Auf einem Band in der Küchemeiner schönen großen Familie steht folgender Spruch:Tritt ein! Gieß Wasser in die Suppe hinein! Bist herzlichwillkommen! Guten Appetit! – In einer großen Familieist immer noch Platz; dort wird für jedes Mitglied Vor-sorge getroffen. Wenn einer allein ist, hat er es schwer.Diesen Prozess müssen wir bei all unseren Überlegun-gen berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIELINKE]: Was ist das für ein Niveau hier?)

Unser materieller Wohlstand hat eine Lebensweisehervorgebracht, die – das ist meine Behauptung – auchauf Vergeudung angelegt ist, und viele verarmen darü-ber. Auf diese Dimension muss man bei der Armutsde-batte hinweisen. Jede Erhöhung von Sozialgeldzahlun-gen schafft neue Ansprüche auf ergänzende Leistungen,vor allen Dingen im Niedriglohnbereich. Das trifft dieMenschen bei uns im Osten mit doppelter Wucht. DieZahl der älteren Menschen und damit die Zahl der Ein-personenhaushalte steigen; ich verweise in diesem Kon-text auf das, was ich zuvor gesagt habe. Zum Beispielhat Sachsen seit 1990 über 250 000 Einwohner verloren.Eine ganze Generation Frauen ist betroffen. 43 000 Kin-der sind damit nicht in Sachsen geboren. Damit verbun-den sind geringere Steuereinnahmen in der Zukunft. DieSpielräume der Kommunen werden enger. Man könnteweitere Konsequenzen aufzählen.

Diese kurzen Darlegungen sollen zeigen, dass wirsehr wohl das Gesamtbild im Auge haben. Deshalb sindunsere ergriffenen und jetzt noch zu beschließendenMaßnahmen sehr wohl richtig. Wir werden auf diesemWeg Schritt für Schritt weitergehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller hat jetzt das

Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte

Kolleginnen und Kollegen! Seit nunmehr 90 Minutendiskutieren wir über zwei Anträge, von denen ich per-sönlich sage: Beide haben eigentlich nicht so viel Debat-tenzeit verdient, weil sie wenig Substanz aufweisen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:So eine Arroganz!)

Ich will das gern begründen und mich in der Argumenta-tion vielen meiner Vorredner und Vorrednerinnen an-schließen.

Das Beste am Antrag der Grünen ist in der Tat dieÜberschrift; der Kollege Schiewerling wies zu Rechtdarauf hin. Denn wer in diesem Haus wird schon gegenGerechtigkeit und Chancen und für Ausgrenzung undArmut sein? Insofern haben wir beim Titel ganz zweifel-los einen großen Konsens. Was kommt nach einer sol-chen Überschrift? Das ist wie bei Doktor Schiwago:Nach dem Vorspann erwartet man: Jetzt geht’s richtiglos. Deshalb waren meine Erwartungen sehr hoch, alsich Ihren Antrag las. Was fand ich vor? Eine ziemlichbildhafte Sprache bei der Problembeschreibung. ZumBeispiel ist die Rede von „klaffenden Gerechtigkeitslü-cken“, die „weiter aufgerissen“ werden.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Leute müssen das verstehen!)

Dabei stellen wir – schließlich sind Sie nicht dabei –natürlich nur „Trostpflaster“ bereit. Allerdings integrie-ren Sie in diese zerklüftete Landschaft mühelos die „ma-kellosen Bundesstraßen“, auf denen sich eine „atembe-raubende Flottille von steuerbefreiten CO2-Schleudern“bewegt. Ganz großes Kino!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Herr Kollege Haustein, es ist nicht einmal James Bond.

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Biene Maja!)

– Es ist zweifellos nicht Biene Maja. – Ich hätte ei-gentlich erwartet, dass diese Flottille in den Sonnenun-tergang hineinfährt. Das vermisse ich an diesem Antrag.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen wir dasnächste Mal auf!)

Ich will Ihnen einmal sagen: Ich vertrete in diesemHaus einen Wahlkreis, in dem es keinen Meter Autobahngibt. Wir sind sehr froh darüber, dass wir über unsereKonjunkturpakete endlich – das wird schon jahrelangherbeigesehnt, übrigens auch von Grünen; die wissennämlich, worum es in unserem Wahlkreis geht – Aus-baumaßnahmen für unsere Bundesstraßen und Umge-hungsstraßen bekommen. Das haben wir mit verschiede-nen Bürgerinitiativen – es gibt keine, die dagegen ist –jahrzehntelang gefordert. Wir sind also sehr dankbar,dass das im Rahmen unserer Pakete möglich wird. Ichwerde nicht die einzige Abgeordnete sein, die in ihremWahlkreis genau das als einen wirklichen Fortschritt undeinen Segen verkauft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Gabriele Lösekrug-Möller

Unterhalten Sie sich bitte auch einmal mit Mitgliedernvon solchen Initiativen, die froh darüber sind, dass da et-was geschieht.

Ähnliches, verehrter Kollege Kurth, gilt auch fürSportstätten, in die es hineinregnet, und für Schulen, indenen unter schlechten räumlichen Bedingungen unter-richtet wird. Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen habenkönnen,

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ich auch nicht!)

dass wir in die Lage versetzt werden, da endlich etwaszu unternehmen.

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Richtig! Genau!)

Ich bin ein Fan unseres kommunalen Investitionspa-kets,

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist ja nicht alles! Um diesen Aus-schnitt geht es gar nicht! Es geht um die ge-samte Schieflage!)

weil darin genau die richtigen Maßnahmen ergriffenwerden. Herr Kurth, stellen Sie sich einmal vor: Wir ha-ben nicht einmal hineingeschrieben, dass es verboten ist,energetisch zu sanieren. Wenn man Ihren Antrag liest,könnte man meinen, das sei so.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch komplett unseriös, was Sieda machen! – Gegenruf des Abg. Rolf Stöckel[SPD]: Genauso wie Ihr Antrag!)

Worum geht es also? Der Kern Ihres Drehbuchs istKritik an den Konjunkturpaketen. Das haben Sie selberso hineingeschrieben. Ich kann nur sagen: Bei Ihrem An-trag scheint durch, Sie hätten das alles besser gemacht.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau richtig! So ist es! – AndreaNahles [SPD]: Na klar! Absolut!)

Ich nehme allerdings wahr, dass Sie bei Ihren Vorschlä-gen sehr im Vagen bleiben. Wir haben durch zahlreicheRedebeiträge, etwa der Kollegin Hiller-Ohm oder derKollegen Stöckel und Schiewerling, deutlich machenkönnen, dass die Antwort auf diese Krise weder in Tech-nicolor noch in Schwarz-Weiß gegeben werden kann; esmuss ein Bündel von Maßnahmen sein. Wir haben einenSchwerpunkt im Bereich der sozialpolitischen Interven-tionen gesetzt. Ich stehe voll dahinter. Der Weg, den wirgehen, ist genau der richtige Weg.

Die Situation bei den Regelsätzen ist meines Erach-tens – so werden es viele in diesem Haus sehen – keines-falls abschließend geregelt. Sind Sie denn dagegen, dasswir endlich anfangen, indem wir festlegen, dass Kindervon 6 bis 13 Jahren mehr bekommen? Ich kann mir nichtvorstellen, dass Sie einen Einwand haben.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: So viel warmit Ihnen nicht zu machen, Herr Kurth! BeiIhnen waren nur 60 Prozent drin!)

Ich will nur einen Punkt noch hervorheben, und dasist die sogenannte dritte Säule des Konjunkturpakets,das, was wir arbeitsmarktpolitisch machen. Die Bezugs-dauer des Kurzarbeitergelds wird von 12 auf 18 Mo-nate verlängert und die Qualifizierung in diesem Zusam-menhang belohnt. Viele Arbeitnehmer und Arbeitneh-merinnen, die dieser Debatte folgen, werden sagen: Gut,dass die Bundesregierung das macht.

(Beifall bei der SPD)

Das ist der richtige Weg, die Menschen im Unternehmenzu halten. Es ist sinnvoll, sie zu qualifizieren, weil wirsie auf Dauer an Bord brauchen, und zwar mit möglichsthoher professioneller Kompetenz. Ich weiß, dass daswirklich keine theoretische Debatte ist. Es gibt inzwi-schen Anträge auf Kurzarbeit für über 400 000 Men-schen. Das ist gewaltig aufgewachsen. Das ist also dierichtige Antwort in der Krise. Ich hoffe sehr, dass sie allean Bord bleiben können, weil wir davon ausgehen, dassdiese Krise ein Ende hat und wir dann gestärkt aus ihrhervorgehen. Das allerdings können wir nur mit solchenMaßnahmen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir wenden 2 Milliarden Euro zusätzlich auf fürQualifizierung jener Arbeitnehmer, die keinen Berufs-abschluss haben, und für Jugendliche, die schon langeeine Ausbildung suchen. Das ist richtig. Genauso richtigist, finde ich, dass wir das Programm WeGebAU flä-chendeckend ausbauen. Das ist der richtige Weg. Damithaben wir gute Erfahrungen gemacht.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin – –

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Zu Recht wird gesagt: Mehr Vermittler sollen zur Ver-

fügung stehen. Das ist erforderlich. Wir haben in einemersten Schritt 1 000 Stellen eingerichtet. Wir werdenweitere schaffen, sodass wir am Ende 5 000 haben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, der Kollege Schneider würde Ihnen

gern eine Zwischenfrage stellen.

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Aber selbstverständlich, Herr Kollege.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Ja, Frau Kollegin, es ist jetzt leider etwas entfernt von

dieser Stelle.

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):Ja, ich war Ihnen zu schnell, ich weiß!

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Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):Ich will noch einmal auf den Punkt zurückkommen,

als Sie eben sagten, welch großartige Leistung es sei,dass Sie Qualifizierung bei Kurzarbeit leisten wollten.Ist Ihnen bekannt, dass die Personalvorstände der30 größten DAX-Unternehmen bei einem Treffen IhrKonzept wie folgt beurteilten? Die Idee, dass Weiterbil-dung während der Kurzarbeit vor Arbeitslosigkeitschütze, sei zwar gut, sie werde aber in der Art, wie diesbeschlossen worden sei, schlecht umgesetzt.

(Andrea Nahles [SPD]: Hören Sie auf die DAX-Vorstände?)

Ich stelle fest, dass Sie mir vielleicht eine Antwort gebenkönnen, während Ihre Kollegen offensichtlich irgend-welche Gesetze für irgendjemanden machen, von demsie nicht einmal wissen, wen sie denn tatsächlich mei-nen.

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Lieber Kollege Schneider, zum einen stelle ich für das

Protokoll ausdrücklich fest, dass Sie sich sozusagen ei-ner Argumentation der Vorstände von DAX-Unterneh-men bedienen. Das ist ja sozusagen ein Quantensprungfür Vertreter Ihrer politischen Richtung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP – Zuruf von der CDU/CSU: Von einemExtrem ins andere!)

Zum anderen haben wir hin und wieder die Erfahrungmachen müssen, dass selbst solche Vorstände in ihrenEinschätzungen hinsichtlich dessen, was ist und was seinsollte, ein wenig irren. Ich bin ziemlich überzeugt davon,dass die grundsätzliche Richtung, die wir eingeschlagenhaben, eine richtige ist,

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das habt ihr in den letzten Monaten bewiesen!)

und ich bin sicher, dass uns die Projekte, die wir ange-schoben haben, recht geben werden. Wir beschränkenuns nämlich mitnichten auf jene Unternehmen, dieDAX-notiert sind, sondern erklären, dass dies für all die-jenigen Unternehmen gilt, bei denen Kurzarbeit ein gu-ter Weg ist, um Beschäftigte an Bord zu halten, und diedarüber hinaus erkannt haben, dass es Sinn macht, dieBelegschaft mittels Weiterbildung und Qualifizierungauf dem Laufenden zu halten, um auf Dauer im Wettbe-werb zu bleiben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, denn ich spreche im We-sentlichen zum Antrag der Grünen und habe nur noch ei-nen Hinweis an die Linken zu deren Antrag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ichwerde den Eindruck nicht los, dass Ihr Antrag in gewis-ser Weise eine Doppelvermarktung von Textbausteinendarstellt. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir das. Ichhabe überlegt: Wo wird Ihr Text richtig Eindruck ge-macht haben? Ich nehme an, auf einem Parteitag war erexzellent platziert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie dochviel Erfahrung!)

Hier im Haus hat er uns keinen weiteren Erkenntnisge-winn gebracht.

Außerdem spreche ich noch einmal die DIW-Studiean, die mehrfach angeführt wurde. Kollege Lotter hat be-reits zu Recht darauf hingewiesen, dass es immer Sinnmacht, eine Studie ganz zu lesen. Wissen Sie, was michbei dieser Studie besonders beeindruckt hat? Das war dieSelbstkritik, die die Herausgeber an den Tag gelegt ha-ben, weil sie zum Beispiel einen Punkt im gesamten Be-reich der Vermögen überhaupt nicht wirklich bewertenkonnten, nämlich den der kleinen Vermögen, sofern essich um Eigentumswohnungen oder kleine Häuschenhandelt. Ich empfehle Ihnen sehr, dies noch einmal nach-zulesen. Sie sind nach wie vor – auch in dieser Studie –nicht in der Lage, sie angemessen zu bewerten. Ich sageIhnen: Sie kommen zu einem etwas anderen Bild derLage insgesamt. An dieser Stelle nehme ich die Selbst-kritik der Autoren dieser Studie sehr ernst.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – KlausErnst [DIE LINKE]: Wenn Sie selbst auch einehätten, wäre es noch besser!)

Insgesamt wünsche ich mir, dass von dieser Debatte,so lange sie gedauert hat und so beschränkt ich diese bei-den Anträge als Anlass für sie empfand, Mut und Zuver-sicht ausgehen; denn wenn dieses Haus eine Verpflich-tung hat, dann besteht sie darin, das, was wir gut auf denWeg bringen, auch nach außen wirklich ernsthaft undehrlich zu vertreten. Das können die Menschen von unsverlangen, und das haben viele Redner in dieser Debattegetan. Insofern ist dies das einzige Lob, das mir zu denbeiden Anträgen bleibt, die bestenfalls abgelehnt werdenkönnen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/11755 und 16/11748 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Damit sind Sie einverstanden? – Dann verfahren wir so.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 csowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:

28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Strafgesetzbuches – Anhebung derHöchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen

– Drucksache 16/11606 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-

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21828 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE

Gewerkschaften in der Türkei stärken

– Drucksache 16/11248 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD

Bürgerschaftliches Engagement umfassendfördern, gestalten und evaluieren

– Drucksache 16/11774 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. VolkerWissing, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-LudwigThiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Steuervollzug effektiver machen

– Drucksache 16/11734 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht der Bundesregierung zur AuswärtigenKulturpolitik 2007/2008

– Drucksache 16/10962 – Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Sportausschuss Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien

Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-einfachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, dass die Vorla-gen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsseüberwiesen werden. Damit sind Sie einverstanden? –Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 l sowieTagesordnungspunkt 14 auf. Es handelt sich um dieBeschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 29 a:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zursteuerlichen Gleichbehandlung der Auftrags-forschung öffentlich-rechtlicher Forschungs-

einrichtungen (Hochschulforschungsförde-rungsgesetz – HFFördG)

– Drucksache 16/5726 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung (18. Ausschuss)

– Drucksache 16/11104 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michael Kretschmer René Röspel Cornelia Pieper Dr. Petra Sitte Krista Sager

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/11104, den Gesetzentwurfdes Bundesrates auf Drucksache 16/5726 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Die Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiterBeratung bei Zustimmung durch die Fraktion der FDP,Gegenstimmen durch die Fraktionen CDU/CSU, SPDund Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung durch dieFraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unse-rer Geschäftsordnung die dritte Beratung.

Tagesordnungspunkt 29 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-richtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Änderungder Verordnungen (EG) Nr. 549/2004, (EG)Nr. 550/2004, (EG) Nr. 551/2004 und (EG) Nr.552/2004 im Hinblick auf die Verbesserungder Leistung und Nachhaltigkeit des europäi-schen Luftverkehrssystems (inkl. 11323/08ADD 1 bis 11323/08 ADD 3)KOM(2008) 388 endg.; Ratsdok. 11323/08

– Drucksachen 16/10286 Nr. A.60, 16/11447 –

Berichterstattung:Abgeordneter Ingo Schmitt (Berlin)

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/11447, in Kenntnis der Unterrichtungeine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustim-mung durch CDU/CSU, SPD und FDP ohne Gegenstim-men und bei Enthaltung durch die Fraktionen Die Linkeund Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordneten Axel E. Fischer

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21829

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

(Karlsruhe-Land), Ilse Aigner, MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, JörgTauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD

Im Deutsch-Israelischen Jahr der Wissen-schaft und Technologie 2008 neue Impulse fürdie Zusammenarbeit setzen

– Drucksachen 16/10847, 16/11724 –

Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)René Röspel Patrick Meinhardt Dr. Petra Sitte Priska Hinz (Herborn)

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/11724, den Antrag der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/10847 an-zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Die Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-schlussempfehlung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 13

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht

– Drucksache 16/11638 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss-empfehlung ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 29 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 515 zu Petitionen

– Drucksache 16/11652 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 29 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 516 zu Petitionen

– Drucksache 16/11653 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalition und die FDP, Gegenstimmen durch

die Fraktion Die Linke und Enthaltung bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 517 zu Petitionen

– Drucksache 16/11654 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 29 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 518 zu Petitionen

– Drucksache 16/11655 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-stimmung durch das gesamte Haus bis auf Bündnis 90/Die Grünen, die dagegen gestimmt haben.

Tagesordnungspunkt 29 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 519 zu Petitionen

– Drucksache 16/11656 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Große Koalition und die FDP sowie Gegen-stimmen durch die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünenund Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 520 zu Petitionen

– Drucksache 16/11657 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist mit der Zustimmungdurch die Große Koalition und die Fraktion Die Linkesowie Gegenstimmen durch Bündnis 90/Die Grünen unddie FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 521 zu Petitionen

– Drucksache 16/11658 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen sowieGegenstimmen durch die Fraktionen der FDP und derLinken angenommen.

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21830 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Tagesordnungspunkt 29 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 522 zu Petitionen

– Drucksache 16/11659 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalition und Gegenstimmen der Oppositionangenommen.

Tagesordnungspunkt 14:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-schuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Vorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über Qualitäts- undSicherheitsstandards für zur Transplantationbestimmte menschliche Organe (inkl. 16521/08ADD 1 und 16521/08 ADD 2) (ADD 1 in Eng-lisch) KOM(2008) 818 endg.; Ratsdok. 16521/08

– Drucksachen 16/11517 Nr. A.30, 16/11781 –

Berichterstattung:Abgeordneter Michael Hennrich

Hierzu liegt uns eine Erklärung zur Abstimmung nach§ 31 der Geschäftsordnung des Kollegen Dr. Ilja Seifertvor.1)

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmungdurch die Große Koalition und Bündnis 90/Die Grünengegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Ent-haltung der Fraktion der FDP angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung vonschweren staatsgefährdenden Gewalttaten

– Drucksache 16/11735 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung desAufenthalts in terroristischen Ausbildungsla-gern (… StrÄndG)

– Drucksache 16/7958 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)

1) Anlage 2

Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Es ist hier verabredet, eine Stunde zu debattieren. –Dazu höre ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort derFrau Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Kolleginnen und Kollegen! Deutschland stehtim Fokus des internationalen Terrorismus. Das wissenwir seit den Anschlägen des 11. September 2001 in denUSA. Die Drohvideos, die wir zurzeit im Internet sehenkönnen, zeigen dies einmal mehr sehr deutlich.

Wir müssen in dieser Situation zwei Dinge gewähr-leisten. Wir müssen erstens die Bürgerinnen und Bürgerwirksam vor terroristischen Anschlägen schützen. Es istunsere Aufgabe, Sicherheit in diesem Land so weit wiemöglich zu garantieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu den Instrumenten, die wir dabei nutzen, gehört selbst-verständlich das Strafrecht an vorderster Stelle. Wirmüssen aber zweitens sicher sein, dass wir unsere rechts-staatlichen Grundsätze bewahren.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben immer gesagt – das gilt auch heute –, dass esfür die Terrorismusabwehr kein Sonderstrafrecht gebenkann. Eine Strafverfolgung darf es nur auf Grundlagedes Allgemeinen Strafrechts geben. Eine unverhältnis-mäßige Ausweitung der Strafbarkeit wäre genausofalsch wie die Untätigkeit im Angesicht der Gefahr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann auch einSonderstrafrecht ins StGB platzieren! Daswürde den Terroristen in die Hände arbeiten!Das wollen die auch!)

– Lieber Herr Wieland, wir werden uns darüber nochaustauschen. Ich meine, dass wir mit dem heute zu dis-kutierenden Entwurf beides gewährleisten.

(Beifall bei der SPD)

Wir schließen zum einen eine Lücke im Staatsschutz-strafrecht, und wir folgen zum anderen den rechtsstaatli-chen Grundsätzen.

Es ist seit 2001 in vielen Punkten gelungen, die tat-sächlichen Möglichkeiten unserer Sicherheitsbehördenauszubauen. Ich möchte hier deutlich machen, dass esvor allem dem engagierten Einsatz unserer Sicherheitsbe-hörden sowie der Polizistinnen und Polizisten in Deutsch-land zu verdanken ist, dass Anschlagsversuche – es istnicht nur einer gewesen – bisher vereitelt werden konn-ten.

(Beifall bei der SPD)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21831

(A) (C)

(B) (D)

Bundesministerin Brigitte Zypries

An dieser Stelle deshalb ein Dank an die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden.

Gerade die Ermittlungen im Fall der sogenanntenKofferbomber haben deutlich gemacht, dass wir hiereine Strafbarkeitslücke haben

(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: So ist es!)

und dass dementsprechend Nachbesserungsbedarf be-steht.

Die Bedrohungen – das wissen Sie; Sie werden esauch morgen im Magazin der Süddeutschen Zeitungnachlesen können – gehen eben nicht mehr von terroris-tischen Vereinigungen aus, die so organisiert sind, wiewir es vom deutschen Terrorismus der 70er-Jahre herkennen oder wie es bei den Anschlägen vom11. September offenbar der Fall war. Wir haben heutevielmehr lose Netzwerke und Einzeltäter, die sich nurvon Fall zu Fall zusammenschließen.

(Jörg van Essen [FDP]: Aber auch das reicht für § 129!)

Auf solche Personen hat unser Strafrecht bisher keineAntwort. Wir haben die Gründung, die Mitgliedschaftund die Unterstützung von und in terroristischen oderkriminellen Vereinigungen unter Strafe gestellt. Dasheißt, es müssen immer zumindest drei Personen betei-ligt sein. Wenn es aber weniger als drei sind, dann kön-nen wir mit den Mitteln des Strafrechts nichts tun.

Deswegen müssen wir das Gesetz ändern und müssenmit einem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung vonschweren staatsgefährdenden Gewalttaten auf diese Si-tuation reagieren. In Zukunft macht sich also schon der-jenige strafbar, der Kontakt zu einer terroristischen Ver-einigung aufnimmt, um sich zur Begehung einerstaatsgefährdenden Gewalttat, wie zum Beispiel Mordoder Totschlag, ausbilden zu lassen. Ihm droht künftigeine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eineGeldstrafe. Derjenige, der sich ausbilden lässt, um einesolche Gewalttat auszuüben, muss mit einer Freiheits-strafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren rechnen.

Wir erfassen damit zum Beispiel den Fall, dass sichjemand in einem islamistischen Ausbildungslager imUmgang mit Sprengstoff schulen lässt, damit er dann inDeutschland Sprengstoffanschläge begehen kann. Vonder Norm erfasst werden – darauf möchte ich hinweisen –natürlich nicht nur islamistische Täter, sondern selbst-verständlich zum Beispiel auch rechtsextremistischeEinzeltäter, die sich Sprengstoff besorgen, um einen An-schlag auf eine Synagoge auszuüben.

Entscheidend ist, dass die Ausbildung oder der Er-werb des Sprengstoffs in der Absicht erfolgen, eineschwere staatsgefährdende Gewalttat zu begehen. Erst inder Verbindung mit dem Vorsatz, diese Tat begehen zuwollen, wird etwa das Training an der Waffe zu einerstrafwürdigen Vorbereitungshandlung. Die Absicht also,ein schweres Gewaltverbrechen zu begehen, das unserenStaat gefährdet, macht die Ausbildung zu einer strafwür-digen Vorbereitungshandlung.

Mir ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dassdiese subjektive Komponente immer dabei sein muss;denn wir schlagen gerade nicht vor, wie man jetzt ver-einzelt in Zeitungen lesen konnte, die bloße Gesinnungoder den reinen Erwerb von Kenntnissen unter Strafe zustellen. Das machen wir natürlich nicht. Niemand sollwegen seiner Überzeugung oder seiner Meinung bestraftwerden. Aber wer den Vorsatz gefasst hat, einen Bom-benanschlag zu verüben, und sich ausbilden lässt, umdiesen Anschlag begehen zu können, der zeigt nicht nureine Gesinnung, sondern unternimmt bereits eine gefähr-liche und deshalb strafwürdige Handlung.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wie gucken Sie in die Köpfe hinein,Frau Ministerin?)

– Wir müssen dazu nicht in die Köpfe schauen. Das istnicht erforderlich. Selbstverständlich braucht man im-mer Anhaltspunkte, um bei Straftaten zu ermitteln. Dasmachen Sie doch ansonsten auch.

(Joachim Stünker [SPD]: Das weiß er doch ganz genau!)

– Wenn es so ist, wie es der Kollege Stünker sagt, dannhöre ich auch auf, speziell auf Sie einzugehen, HerrWieland. Wir verlegen das Gespräch.

Die Strafverfolgungsbehörden müssen also eingreifenkönnen. Genau dieses Eingreifen ermöglicht der Gesetz-entwurf, über den wir heute diskutieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Generalbundesanwaltschaft hat uns bescheinigt,dass dieser Gesetzentwurf praxistauglich ist. Ich gehedeshalb davon aus, dass man ihn entsprechend anwen-den kann und dass die Sorgen, die Sie haben, unnötigsind.

Dieser Gesetzentwurf beinhaltet eine weitere Facette.Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch Regelun-gen, um des Mediums besser habhaft zu werden, dasheute mit zu den Kommunikationsmedien schlechthingehört: des Internets. Im Internet wird zum Dschihadaufgerufen; im Internet werden Pläne für den Bau vonBomben verbreitet. Im Internet gibt es aber natürlichauch von der anderen Seite, beispielsweise von denRechtsextremen, Aufrufe zu gewalttätigem Vorgehen.

Auch den Gefahren, die sich aus dieser Kommunika-tion im Internet ergeben, begegnen wir mit dem Gesetz-entwurf, über den wir heute diskutieren. Wer Anleitun-gen zur Begehung schwerer Gewalttaten verbreitet,macht sich künftig strafbar, und zwar dann, wenn dieseVerbreitung im konkreten Fall geeignet ist, andere zuGewaltverbrechen zu bewegen. Es geht also nicht darum– um es ganz klar zu sagen –, die Chemiefachseiten beiWikipedia unter Strafe zu stellen. Es geht vielmehr da-rum, dass die Strafwürdigkeit immer dann einsetzt, wennjemand zu bestimmten Handlungen, beispielsweise zumDschihad oder zur Verfolgung von Andersdenkendenoder Andersaussehenden, aufruft und wenn danebenPläne für den Bau von Sprengsätzen veröffentlicht wer-den, in denen steht: So müsst ihr es machen; dann könnt

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21832 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(C)

(B) (D)

Bundesministerin Brigitte Zypries

ihr auch aktiv werden. – Diese Verknüpfung wollen wirunter Strafe stellen.

Nun habe ich immer gesagt – dies sage ich gerne auchhier –, dass wir ein Stück weit juristisches Neuland be-treten. Unser Strafrecht war ursprünglich einmal davonausgegangen, dass wir nur den Täter für die Tat bestra-fen, die er begangen hat. Im Laufe der Zeit gab es zahl-reiche Verlagerungen in Vorfeldaktivitäten. Wir stellenden Versuch unter Strafe.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Schon immer!)

– Ja, da ist auch weiter noch nichts geschehen. – Nundehnen wir dies insoweit aus, als wir künftig jemandenbestrafen, der Kontakt zu einer Terrorgruppe aufnimmtoder sich im Umgang mit Waffen schulen lässt, um einebestimmte Tat zu begehen. Wir bewegen uns dabei aber– das ist mir auch klar – im Vorfeld einer Rechtsgutver-letzung.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weit, weit im Vorfeld! – Jörg van Essen[FDP]: Wieland hat recht: Weit, weit im Vor-feld!)

Dass dies verfassungsrechtlich noch nicht ausgeurteiltist, wissen Sie so gut wie ich. Aber unser Haus hat diesebenso wie das Bundesinnenministerium geprüft. Wirsind der Auffassung, dass diese Art des Vorgehens ver-fassungsrechtlich gerechtfertigt und zulässig ist, geradeweil die Kopplung mit der subjektiven Seite gegeben ist.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Montag?

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Bitte schön.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke schön, Frau Ministerin. – Da mir die monate-

lange Debatte innerhalb der Koalition über die Frage, obdieser Tatbestand mit der subjektiven Tatseite überhaupthandhabbar ist, bekannt ist, höre ich Ihren Ausführungengenauestens zu. Ich habe Sie jetzt so verstanden, dass esnatürlich notwendig sei, dass der Täter zum Beispiel denVorsatz gefasst hat, einen Sprengstoffanschlag durchzu-führen. Wenn aber der Täter einen solchen Vorsatz ge-fasst hat, dann sind wir mitten im § 30 StGB.

(Joachim Stünker [SPD]: Nein!)

– Natürlich. –

(Joachim Stünker [SPD]: Nein!)

Lediglich dann, wenn es ein völlig diffuser Generalvor-satz ist – ich weiß zwar noch nicht, wann und wie; ichwill irgendwann irgendwo einen Bombenanschlagdurchführen –, müssten Sie, Frau Ministerin, einen sol-

chen Vorsatz nachweisen, um neben der Ausbildung, dieauch bei der Bundeswehr erfolgen könnte, diese subjek-tive Seite hinzuzufügen.

(Joachim Stünker [SPD]: Herr Montag, Sie kennen das Gesetz nicht!)

Meine Frage lautet: Wie wollen Sie eigentlich einenso allgemeinen Vorsatz – ich sehe einmal davon ab, dasses jemand niederschreibt – bei der Verfolgung solcherTäter beweisen?

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Herr Montag, diese Diskussion haben wir schon an

verschiedenen Stellen geführt. Ich muss gestehen, es gibtkeine bessere Antwort darauf als das Beispiel, das derKollege Gehb vorgetragen hat.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie immer!)

– Nicht wie immer, aber wie vor allen Dingen in diesemFall.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie meistens!)

Herr Gehb hat nämlich darauf hingewiesen, dass esfür die Strafverfolgungsbehörden keine Besonderheit ist,dass man eine subjektive Seite nachweisen muss, unddies am Beispiel des Diebstahls verdeutlicht. Wenn manjemanden im Laden stehen sieht, der ein Buch in derHand hat, dann kann man entweder sagen, er schaue danur hinein, oder man kann sagen, er wolle damit zurKasse gehen, oder man kann sagen, er wolle sich diesesBuch zueignen, ohne zu bezahlen, also klauen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und Sie wollen ihn jetzt gleich festneh-men, oder wie soll ich das verstehen? Dahinkommt man, wenn man Gehb folgt!)

– Ach, nein! – Es geht also um die Frage der subjektivenSeite, die die Strafverfolgungsbehörden sehr wohl he-rauszufinden geübt sind.

Mit Ihrem Vorsatz ist es auch so: Es gibt einen Unter-schied zwischen § 30 und den Normen, die wir hier re-geln.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sehr richtig! Ganz genau!)

Es gibt auch einen Unterschied zwischen der Frage, objemand irgendwann in seinem Leben einen Anschlag be-gehen könnte, und der Frage, ob jemand vorhat, einenAnschlag in der Stadt Berlin zu begehen, ohne konkretzu wissen, welche U-Bahn-Haltestelle er treffen will.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Hierzu haben wir in der Begründung des Gesetzentwurfshinreichende Ausführungen gemacht. Die Zweifel, dieSie noch haben, können Sie in der Sachverständigen-anhörung mit den Sachverständigen sachverständig dis-kutieren.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] –Joachim Stünker [SPD]: Das wird dann wiederlange dauern!)

(A)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21833

(A) (C)

(B) (D)

Bundesministerin Brigitte Zypries

Ich meine, dass es uns durch die Einbindung der sub-jektiven Seite gelungen ist – das war der Gegenstand derlangwierigen Debatte innerhalb der Großen Koalition –,auf der verfassungsrechtlich sicheren Seite zu sein undeine Regelung zu finden, die hinreichend konkret undbestimmt ist, um für die Strafverfolgungsbehörden hand-habbar zu sein.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jörg van Essen (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es gibt zwei Gesichtspunkte, die wir in dieser Debattebetrachten müssen. Auf der einen Seite freuen sich, soglaube ich, alle Seiten dieses Hauses über die Entschei-dung des neuen amerikanischen Präsidenten, das Lagerin Guantánamo aufzugeben,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Ute Koczy[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

weil die Einrichtung eines Camps außerhalb der rechts-staatlichen Garantien ein Beispiel dafür ist, wie einRechtsstaat auf die islamistische Bedrohung nicht re-agieren sollte. In diesem Camp wurden auch Unschul-dige, unter anderem Kinder, was ein früherer amerikani-scher Außenminister meiner Ansicht nach zu Recht kriti-siert hat, über viele Jahre hinweg festgehalten, ohne dassein Richter darüber entschieden hat. Das hat Gott seiDank endgültig ein Ende.

Die Lehre, die wir daraus zu ziehen haben, ist, dassRechtsstaaten gerade bei der islamistischen Bedrohunggut daran tun, besonders streng auf Rechtsstaatlichkeitzu achten und nicht Gesetze zu machen, die, was vielevon Ihnen zugeben, verfassungsrechtlich auf Kante ge-näht sind. Damit betreten wir nämlich einen Graubereichund laufen Gefahr, dass später vom Bundesverfassungs-gericht festgestellt wird, dass diese Gesetze mit unsererVerfassung nicht übereinstimmen.

Schauen wir uns doch an, was wir in den letzten Jah-ren diesbezüglich erlebt haben: Ein Beispiel ist der Euro-päische Haftbefehl; aber es gab noch viele weitere Ent-scheidungen im Bereich der Justiz, die der Prüfungdurch Karlsruhe nicht standgehalten haben. Daraus müs-sen wir die Verpflichtung ableiten, diesen Weg nichtfortzusetzen. Wir können doch nicht einfach weiterNeues austesten. Das gilt insbesondere, weil aufgrundvorläufiger Entscheidungen zu erwarten ist, dass in demeinen oder anderen Verfahren, das zurzeit in Karlsruheanhängig ist, entschieden wird, dass die Gesetze nichtverfassungskonform sind und dementsprechend keinenBestand haben werden. Ich denke, wir dienen unseremRechtsstaat nicht, wenn wir hier Gesetzesvorschläge, dieverfassungsrechtlich auf Kante genäht sind, vorlegen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowiedes Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Das genau ist der Ansatz meiner Fraktion.

Der andere Gesichtspunkt ist mir genauso wichtig.Die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass in den letz-ten Tagen verstärkt Drohvideos erschienen, wodurch unsklar wird, dass wir einer Bedrohung ausgesetzt sind.Auch das sehen wir als Liberale. Aber wir haben eineandere Antwort als die Große Koalition. Ich bin sehrfroh darüber und sehr stolz darauf, dass es unseren Straf-verfolgungsbehörden, aber auch den Nachrichtendiens-ten – sie werden immer gerne unterschlagen, obwohl esin vielen Fällen auch eine große Leistung unserer Nach-richtendienste war – bisher immer gelungen ist, Gruppenaufzudecken, zum Beispiel die Sauerland-Gruppe, bevorsie in unserem Land Schaden anrichten konnten.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. WolfgangWieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –Joachim Stünker [SPD]: Das war ein ausländi-scher Dienst!)

– Natürlich waren die auch daran beteiligt. Das ist dochganz klar. Ich habe von den Nachrichtendiensten gespro-chen, die bei uns häufig nur lächerlich gemacht werden.Sie leisten ganz hervorragende Arbeit. Von daher ist dieStärkung der entsprechenden Kompetenzen unsererNachrichtendienste, aber auch der Strafverfolgungsbe-hörden für uns ein Schwerpunktthema, wenn es um dieBekämpfung der Bedrohung durch den Islamismus geht.Der Stellenabbau in diesen Bereichen und viele andereDinge machen uns große Sorgen. – Wir wollen den Weg,verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetze im DeutschenBundestag zu verabschieden, nicht gehen, vor allen Din-gen, weil wir keine Notwendigkeit dafür sehen.

Frau Ministerin, Sie haben behauptet, wir hätten eineStrafbarkeitslücke. Ich habe mir all die Fälle, die wir inder Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahrenstrafrechtlich zu beurteilen hatten, einmal angeschaut.Die sogenannten Kofferbomber aus Köln waren nur zuzweit; das ist richtig. Damit erfüllen sie die Anforderun-gen – eine Gruppe von mindestens drei Personen – nicht.Wenn ich mich recht entsinne, ist der Kofferbomber aberzu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden, undzwar, weil unsere gesetzlichen Bestimmungen ausreich-ten, um sicherzustellen, dass jemand, der in einem Zugin Deutschland eine Bombe platzieren will, in diesemLand mit einer hohen Strafe rechnen muss und dazuauch verurteilt wird. Auch die anderen Gruppen, die ge-nannt worden sind, unterliegen selbstverständlich denbisherigen gesetzlichen Bestimmungen. Von daher istder Nachweis, dass wir eine Strafbarkeitslücke haben,die gefüllt werden muss – dies ist insbesondere verfas-sungsrechtlich fragwürdig –, aus meiner Sicht bishernicht geführt worden.

Hier wird so eifrig behauptet, das sei alles in Ord-nung, insbesondere weil wir auf das Merkmal abgestellthaben, dass eine Absicht vorliegen muss. Wir alle, diewir aus der Juristerei kommen – all diejenigen, die hierdazu reden werden, sind erfahrene Juristen –, wissen

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21834 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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(B) (D)

Jörg van Essen

doch: Wenn etwas schwer nachzuweisen ist, dann ist esdie Absicht, vor allen Dingen, wenn sie so nebulös seindarf wie in den jetzt vorgesehenen strafrechtlichen Be-stimmungen.

Ich bin lange in einer Staatsschutzabteilung gewesen.Ich bin fast mein ganzes staatsanwaltschaftliches Lebenmit politisch motivierten Straftaten befasst gewesen. Ichmöchte meinen Kollegen nicht zumuten, mit Strafvor-schriften umgehen zu müssen, die nicht wirklich hand-habbar sind, bei denen sie ein schlechtes Gefühl habenund die beinhalten, dass vorher eigentlich schon fest-steht, dass ein ganz wichtiger Faktor, nämlich die Ab-sicht, in aller Regel nicht wird nachzuweisen sein. Vondaher sollten wir keine solche Symbolgesetzgebung ma-chen. Das ist der Schwere der Bedrohung nicht ange-messen. Vielmehr sollten wir uns Gedanken machen,wie wir den Bedrohungen des Islamismus in den Gren-zen unserer Verfassung und auf dem Boden unserer Ver-fassung wirkungsvoll begegnen können.

(Beifall bei der FDP)

Das wollen wir als Liberale; das ist unser Ansatz.

Wir werden uns in einer Anhörung damit auseinan-dersetzen. Sie wissen: Ich bin bei solchen Fragen immeroffen für gute Argumente. Ich habe sie nur bisher leidernicht gehört.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

Dass auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen Ju-risten unsere Auffassung teilt, zeigt mir, Frau Ministerin,dass wir richtig liegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die

Gefährdung durch Terror und Terroristen nach wie vorhochaktuell ist, hat die Bundesjustizministerin ebenplastisch dargestellt. Das ist nicht nur eine Herausforde-rung für die Nachrichtendienste und die Strafverfol-gungsbehörden, sondern selbstverständlich auch für denGesetzgeber. Der meinen wir mit dem Gesetz, das denetwas sperrigen Titel „Gesetz zur Verfolgung der Vorbe-reitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten“hat, gerecht zu werden.

Die Aussage, dass wir Neuland oder jedenfalls eineGrauzone betreten, will ich in der Stringenz nicht zulas-sen, Frau Ministerin, liebe Brigitte, weil Vorbereitungs-handlungen schon jetzt im Strafgesetzbuch unter Strafestehen. Ich erinnere nur an § 80 des Strafgesetzbuches:Vorbereitung eines Angriffskrieges. Ich möchte einmalwissen, Herr van Essen, wie die Gerichte mit einer sol-

chen Formulierung umgehen. Das ist doch auch ziemlichunbestimmt.

(Jörg van Essen [FDP]: Herr Kollege, Sie wis-sen doch, dass das etwas ganz anderes ist!)

Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens.Lesen Sie bitte § 83 Strafgesetzbuch. Tolle lege! Nimmund lies! Oder nehmen Sie § 149 des Strafgesetzbuches:Vorbereitung der Fälschung von Geld oder Wertzeichen.Dass wir also bereits Vorbereitungshandlungen vor demklassischen Versuchsstadium, wo man also unmittelbaransetzen muss, wo er praktisch das Messer an der Kehlehat, als strafbewehrtes Unrecht ansehen, ist alles andereals Neuland.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber nun wird die Vorbereitung derVorbereitung unter Strafe gestellt!)

Ich gebe gerne zu, dass es eine kritische, auf Kantegenähte Regelung ist. Das ist übrigens seit geraumer Zeitso in den Fällen, in denen wir etwa mit verdeckten Er-mittlungsmaßnahmen Verbrechern auf den Leib rückenmüssen. Es ist doch ganz klar, dass etwas, das das Span-nungsfeld zwischen den Grundrechten der Bürgers aufFreiheit und der sehr wohl auch verfassungsrechtlichverbürgten und geforderten Verpflichtung des Staateszum Schutze betrifft, eher beim Bundesverfassungsge-richt landet, als wenn wir irgendeine Norm im Viehseu-chengesetz ändern.

Aber, Herr van Essen, ich will Ihnen sagen: Sie alleholen immer mit einer geradezu an eine Litanei erinnern-den Aufzählung von Gesetzen aus, die alle vor dem Bun-desverfassungsgericht gescheitert sind.

(Jörg van Essen [FDP]: Das ist so!)

Nicht ein einziges davon stammt aus der jetzigen Koali-tion. Ich habe einmal die Anfrage gestellt, was seit dem19. Oktober 2005 vom Bundesverfassungsgericht aufge-hoben wurde.

(Jan Mücke [FDP]: Entfernungspauschale!)

Ich sage Ihnen einmal etwas: Bisher ist die Änderungdes Gesetzes zum Hufbeschlag unter Schwarz-Rot auf-gehoben worden.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das kommt noch! So schnell ist Karls-ruhe nicht!)

Hören Sie auf, uns immer zu unterstellen, dass schonviele unserer Gesetze aufgehoben worden seien!

(Beifall bei der CDU/CSU – WolfgangWieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wiebitte? Das wart doch ihr! So schnell ist Karls-ruhe gar nicht! Was war denn zum Beispiel mitdem Großen Lauschangriff? War die Uniondaran etwa nicht beteiligt? Haben Sie schoneinmal aus verfassungsrechtlichen Gründenwidersprochen?)

Im Übrigen kann man bei Gesetzen, die eine gewisseGrundrechtsrelevanz haben, doch nicht bereits aus Angstvor dem Tode Selbstmord begehen. Es wäre eine Kata-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21835

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Dr. Jürgen Gehb

strophe, wenn wir ängstlich und gebannt wie das Häs-chen vor der Schlange davon absehen würden, wichtigeGesetze zu erlassen. Sie dürfen natürlich nicht evidentverfassungswidrig sein. Ihnen darf die Verfassungswid-rigkeit also nicht sozusagen auf der Stirn stehen, sodassman Angst haben muss, dass selbst der Hausmeisterbeim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sie garnicht an den Senat weiterleitet, sondern sie zerreißt.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

So etwas haben wir natürlich auch nicht vor, meine Da-men und Herren. Aber dass wir uns in einer kritischenPhase befinden, gebe ich gerne zu.

Mit den drei Gesetzesregelungen, um die es geht – dieRegelungen von § 89 a, § 89 b und § 91 des Strafgesetz-buches –, setzen wir übrigens auch ein Übereinkommendes Europarates zur Bekämpfung des Terrorismus um,das wir in diesem Hohen Hause bereits am 7. Juni 2007verabschiedet haben. Wir halten uns also auch an euro-päische Vorgaben.

Meine Damen und Herren, zu Ihren Ausführungenzur Absicht kann ich nur eines sagen: Auch Richter zie-hen ihre Hosen nicht mit einer Kneifzange an.

(Heiterkeit des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Wenn jemand von Nachrichtendiensten tatsächlich dabeibeobachtet worden ist, wie er sich in einem Terrorcamphat ausbilden lassen – über einem solchen Camp stehtschließlich nicht „Abenteuerspielplatz“ –, diese Personspäter aber vor Gericht aussagt: „Eigentlich habe ich mirmeine Sprengstofffertigkeiten nur angeeignet, um demTHW zu helfen“, dann wird diese Einlassung wohl nichtbesonders gut ankommen. Wenn sich jemand als Scharf-schütze ausbilden lässt und dies damit begründet, dass erauf dem Rummelplatz in Steglitz Sieger im Wettbewerb„Schießen auf den laufenden Keiler“ werden möchte,dann wird ihm das auch niemand glauben. Ein Richtermuss es also aus der Gesamtschau der jeweils obwalten-den Umstände beweisen.

(Jörg van Essen [FDP]: Ja, genau! Er muss es beweisen! So ist es richtig!)

Denken Sie einmal an das Beispiel Diebstahl: Die po-lizeilichen Ermittlungsbehörden finden beim Langzeit-studenten Ströbele zu Hause einen Palandt, der in derUniversitätsbibliothek schon seit fünf Jahren fehlt. Dannwird Herr Ströbele sagen: Ich hatte doch nicht die Ab-sicht, mir von einem anderen etwas Fremdes zueignenzu wollen? Es geht also um die Zueignungsabsicht. Hiergibt es also die Möglichkeit zur Einlassung: Ich wollteden Palandt zurückgeben. Zueignungsabsicht beinhaltetdemnach Enteignung und Aneignung. Den straflosenGebrauchsdiebstahl – furtum usus – kannten schon diealten Römer. In unserem Fall würde Herr Ströbele sagen:Das wollte ich doch nicht behalten. Das habe ich mir nureinmal ausgeliehen. Ich hätte das wieder zurückge-bracht. – Man muss natürlich abwarten, ob eine solcheEinlassung das Gericht überzeugt oder nicht.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es kommt doch darauf an, ob er es zu-rückbringt oder nicht!)

Der Beweis erfordert natürlich nicht, den Grundsatz„in dubio pro reo“ für jede noch so alberne Einlassungoder gar Ausrede gelten zu lassen. Für die Gerichte be-steht die Schwierigkeit, einen Tatbestand auszulegenund einen Täter sauber zu überführen – nicht mehr undnicht weniger. Das, meine Damen und Herren, muss denGerichten überlassen bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Es geht eine reflexartige Angst um: Im Zusammen-hang mit der Vorratsdatenspeicherung wurde der böseÜberwachungsstaat kritisiert. Jetzt liest man vom DAV:Feindstrafrecht – Guantánamo lässt grüßen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja! Eine richtig schöne Stellungnahmeist das!)

Es wird wieder das Ende des Rechtsstaates besungen.

Meine Damen und Herren auch von der Opposition,natürlich kann ich die Anwälte verstehen;

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh ja! Allerdings!)

schließlich bin ich selbst Anwalt. Wer, wenn nicht An-wälte, muss darauf achten, dass wir in Sachen staatlicheObrigkeit nicht zu weit gehen?

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ach was! Wann tun Sie das denn? –Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ja, genau!)

Das ist ganz klar. Eines darf man aber nicht tun, meineDamen und Herren: Man darf die Hysterie, die unterRechtsunkundigen gelegentlich herrscht und die amStammtisch nach dem dritten Glas Bier geradezu über-schwappt, nicht noch nähren. Ich appelliere deshalb auchan die Oppositionspolitiker: Wir sollten im Streit um diebesten Lösungen miteinander ringen. Wir dürfen abernicht denjenigen das Wort reden, die die Verhältnisse inDeutschland mit den Verhältnissen in Guantánamo ver-gleichen und von Gesinnungsstrafrecht oder Feindstraf-recht reden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Das sollte von allen Demokraten in diesem Hohen Hauseunisono so beurteilt werden.

Nach der ersten Lesung werden wir unseren Gesetz-entwurf an die Fachausschüsse – in diesem Fall sicher-lich an den Rechtsausschuss – überweisen, wie wir esmit allen Gesetzentwürfen tun. Wir haben also noch ge-nug Zeit, externen Sachverstand einzuholen und uns mitdieser Materie zu beschäftigen. Dann werden wir weiter-sehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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21836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin

Ulla Jelpke.

(Beifall bei der LINKEN)

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie wir

eben gehört haben, will die Bundesregierung demnächstdie Vorbereitung von Terroranschlägen und den Aufent-halt in sogenannten Terrorcamps unter Strafe stellen.Darüber diskutieren wir jetzt. Die Bundesregierung be-schränkt sich dabei nicht darauf, konkrete Handlungenzu bestrafen,

(Joachim Stünker [SPD]: Doch!)

auch nicht darauf, konkrete Vorbereitungshandlungen zubestrafen,

(Joachim Stünker [SPD]: Doch!)

sondern sie will bereits Gesinnungen bestrafen. Das hatdie Justizministerin mit ihrem hier heute verwendetenBegriff „subjektive Seite“ sehr deutlich gemacht. Ichmöchte gern wissen, was die „subjektive Seite“ bei einergeplanten Straftat sein soll.

(Joachim Stünker [SPD]: Beim „kleinen Straf-rechtschein“ lernen Sie das! Zweites Semes-ter!)

Zu dem genannten Zweck hat die Bundesregierungeinen Gesetzentwurf eingebracht, dessen Formulierun-gen unpräzise sind. Diverse Gummiparagrafen werdengeschaffen. Solche Gesetze sorgen meines Erachtensnicht für Sicherheit, sondern – das ist ganz eindeutig –für einen weiteren Abbau von Bürgerrechten.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Grundidee des Strafrechts eines Rechtsstaates istdoch – lassen Sie mich noch einmal darauf eingehen –,den Täter für eine Tat zu bestrafen, die er tatsächlich be-reits begangen hat. Das wissen natürlich auch Sie, FrauJustizministerin. Denn bei der Vorstellung Ihres Gesetz-entwurfes haben Sie ausdrücklich gesagt:

Wir betreten mit der weiteren Vorverlagerung vonStrafbarkeit juristisches Neuland … Nun aber wirdjemand schon dafür bestraft, dass er Kontakt zu ei-ner Terrorgruppe aufnimmt oder sich im Umgangmit bestimmten Waffen oder Stoffen schulen lässt.Wir bewegen uns damit sehr weit im Vorfeld einerTat.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Haben Sie nicht zugehört?)

Ich möchte Sie korrigieren: Juristisches Neuland betre-ten Sie meines Erachtens nicht, Frau Justizministerin.Sie sind vielmehr dabei, den Boden des Rechtsstaates,die Grundrechte, zu verlassen. Ich sage Ihnen ganz klar:Wir von der Linken werden so ein Gesetz nicht mittra-gen.

(Beifall bei der LINKEN)

… mit dem neuen Staatsschutzrecht wird ein neuesuferloses Antiterrorsystem aufgebaut,

sagt der bekannte Rechtsanwalt Rolf Gössner, Vizepräsi-dent der Internationalen Liga für Menschenrechte. HerrGehb gibt ja offensichtlich nichts auf Rechtsanwälteoder auf die Stellungnahme der Anwaltsvereinigung.Darüber bin ich schon sehr erstaunt.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was? Nicht zu-gehört!)

Ich möchte einige der Gedanken vortragen, mit denenRolf Gössner das Vorhaben der Bundesregierung in derÖffentlichkeit infrage gestellt hat:

So plausibel eine Strafandrohung etwa im Fall einerAusbildung in einem ausländischen „Terrorcamp“auf den ersten Blick erscheinen mag, so problema-tisch ist sie bei genauerem Hinsehen. Wie will manbeweisen, dass jemand in einem Trainingslagerzum Terroristen umgeschult und tatsächlich ein sol-cher geworden ist?

(Zuruf von der SPD: Beweislage! Dafür sind die Gerichte da!)

Dass er unmittelbar und konkret Gewalttaten plant,soll offenbar keine Voraussetzung sein – ein subjek-tiver Anschlagswille reicht; wie aber soll der be-wiesen werden? Wir haben es also mit einem Ge-fährdungsdelikt ohne konkreten Tatbezug weit imVorfeld des Verdachts zu tun – eine unverhältnis-mäßige und gefährliche Entgrenzung des herkömm-lichen Tatstrafrechts.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Siegfried Kauder?

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ja, bitte.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Frau Kollegin Jelpke, Sie haben gerade darauf hinge-wiesen, dass man jemandem, der sich in einem Terror-camp ausbilden lässt, für die Strafbarkeit dieser Hand-lung auch nachweisen müsse, dass er unmittelbar eineterroristische Straftat begehen wolle. Können Sie mir sa-gen, wo diese Behauptung im Gesetzestext des § 89 a ih-ren Niederschlag findet?

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wenn Sie richtig zugehört hätten, wüssten Sie, dass

ich gerade Herrn Gössner zitiert habe. Aber ich bin gernbereit, auch auf Ihre Frage zu antworten.

(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Wo steht dasdenn? – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wosteht das?)

Ich bin nämlich der Meinung, dass das, was Sie im Ge-setzentwurf schreiben, nicht handhabbar ist. Wer defi-niert „Kontakt“? Das müsste genauer erläutert werden.

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Ulla Jelpke

Wer definiert „Terrorismus“? Bisher ist das nicht defi-niert. Die Justizministerin muss erklären, was genau ein„Terrorcamp“ sein soll.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt noch einmal zu der Frage!)

– Ich habe das Gesetz jetzt nicht dabei; aber ich bingerne bereit, Ihnen das später zu beantworten.

(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen][CDU/CSU]: Das war keine Antwort aufmeine Frage! – Michael Grosse-Brömer[CDU/CSU]: Da muss Ihr Mitarbeiter dasnacharbeiten!)

Ich möchte das Zitat von Herrn Gössner noch been-den:

Wir haben es also mit einem Gefährdungsdeliktohne konkreten Tatbezug weit im Vorfeld des Ver-dachts zu tun – eine unverhältnismäßige und ge-fährliche Entgrenzung des herkömmlichen Tatstraf-rechts. Und aufgrund welcher Erkenntnisse solletwa die Art des Kontakts, des Camps und der Fort-bildung beurteilt werden?

Dieser Fragestellung können wir uns nur anschließen,und wir werden das in den Anhörungen auch entspre-chend zur Debatte stellen.

Noch einmal zu dem vorherigen Punkt. Man fragtsich natürlich allen Ernstes, wie Sie überhaupt erfahrenwollen, ob jemand beispielsweise im Internet gesurft,nach Bombenbauanleitungen geschaut und dann anderemotiviert hat, eine Straftat zu begehen. Oder wie wollenSie von den Menschen, die einen Flugschein machen– Flugzeuge sind ja bekanntlich auch Waffen –, diejeni-gen erfassen, die andere angeblich motivieren, Terrorta-ten zu begehen? Sie betreiben hier ganz eindeutig eineVorfeldkriminalisierung, die wir nicht mitmachen wer-den.

Herr Montag hat das Beispiel ja auch schon genannt:Was ist zum Beispiel mit einem Soldaten, der sich beider Bundeswehr ausbilden lässt, dann aber plant, einenTerroranschlag zu begehen? Heißt das im Rückschluss,dass die Bundeswehr ein Terrorcamp ist, oder wie sollman das interpretieren?

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da ist ja derNešković noch besser! – Weitere Zurufe vonder CDU/CSU und der SPD: Oh!)

Sie müssen diese Fragen beantworten; denn Sie undnicht wir haben diesen Gesetzentwurf vorgelegt.

(Beifall bei der LINKEN)

Sind wir denn technisch tatsächlich schon so weit,dass Justiz und Polizei Gedanken lesen können, oder wiesoll sonst der Beweis dafür erbracht werden, dass je-mand in einem Trainingscamp, durch den Erwerb einesChemiebuches oder durch intensive Recherchen im In-ternet tatsächlich ein Terrorist werden will?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr abenteuerlich!)

So viele Möglichkeiten, den Willen zum Anschlagnachzuweisen, gibt es ja nicht. Wollen Sie sich auf du-biose Informationen von Geheimdiensten, wie Sie dasbei den sonstigen Terrorgesetzen auch schon tun, oderauf mögliche Folterregime wie Pakistan, Türkei oder Sy-rien stützen? Das wäre mit menschenrechtlichen Stan-dards absolut unvereinbar, und das wissen Sie auch.Oder wollen Sie aufgrund einer vermuteten politischenoder religiösen Überzeugung kurzerhand auf den ver-meintlichen Terrorwillen schließen?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo steht das denn?)

Das wäre in der Tat ein Gesinnungsstrafrecht, durch dasder Verfolgung politisch missliebiger Personen Tür undTor geöffnet werden würde. Auch das ist mit uns nichtzu machen.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist gar kein Jurist bei Ih-ren Mitarbeitern?)

Späh- und Lauschangriffe, geheime Onlinedurchsuchun-gen durch das BKA und Untersuchungshaft werden dadurchin noch größerem Umfang möglich gemacht, als dasschon heute – ich erinnere hier daran; das ist ja schon ge-nannt worden – durch den Terrorparagrafen 129 a StGB„Bildung terroristischer Vereinigungen“ und den§ 129 b StGB „Kriminelle und terroristische Vereinigun-gen im Ausland“ der Fall ist. Der Umfang der Möglich-keiten soll jetzt noch einmal erweitert werden. Das war jazunächst auch das Anliegen von Frau Zypries.

Mit ihrer Gesetzesvorlage bereitet die Bundesregie-rung einer Schnüffel- und Gesinnungspraxis den Weg.Wir denken, dass hier rechtstaatliche Prinzipien mit Fü-ßen getreten werden.

(Zuruf von der SPD: Recht auf Terrorcamp?)

Wenn eine Justizministerin einen Gesetzentwurf vor-stellt und sagt, er sei verfassungsrechtlich auf Kante ge-näht, dann wird deutlich, dass man ernsthaft fragenmuss, ob hier wieder vorprogrammiert ist, dass das Ver-fassungsgericht diesen Gesetzentwurf einkassieren wird.

Man kann nur sagen: Frau Zypries, ich fand es sehrgut, dass Sie am Anfang versucht haben, gegen HerrnSchäuble anzutreten und zu sagen, dass Sie diese Ver-schärfung im Gesetz nicht wollen. Es ist aber wie im-mer: Sie sind mal wieder eingeknickt. In Richtung derSPD muss man fragen: Wo bleibt eigentlich Ihre demo-kratische rechtsstaatliche Gesinnung, wenn Sie jedemdieser Gesetzentwürfe, mit denen Bürgerrechte massivgefährdet und abgebaut werden, zustimmen?

(Beifall bei der LINKEN – Christoph Strässer [SPD]: Ja, das ist schon bitter!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ja. Ich komme auch zu meinen letzten beiden Sätzen.

(Joachim Stünker [SPD]: Das ist auch besser so!)

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21838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Ulla Jelpke

Die Linke bleibt dabei: Gewaltdelikte sind und blei-ben zu verfolgen und zu bestrafen; das ist überhaupt garkeine Frage. Durch spezielle Terrorparagrafen nach demStrickmuster dieser Regierung werden jedoch dasGrundgesetz und der Rechtsstaat gefährdet.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie gefährden das Ni-veau hier!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ge-

ständnisse soll man ja möglichst frühzeitig ablegen. Des-wegen sage ich gleich vorweg: Ich verstehe manchmaldie Welt nicht mehr – genauer gesagt, Ihre Welt, meineDamen und Herren von der Großen Koalition. Da fehltmir wirklich die Einsicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich gebe zu: Unser Strafgesetzbuch stammt aus demJahr 1871. Da gab es diese Form des internationalen Ter-rorismus noch nicht. Wir haben aber seit 1976 die terro-ristische Vereinigung und als Folge des 11. Septemberseit 2002 auch die ausländische terroristische Vereini-gung im Strafgesetzbuch verankert. Nun finden SieStrafbarkeitslücken – Sie behaupten sie jedenfalls – undbegründen Ihr Vorhaben damit, dass der Terror eine in-ternationale Erscheinung geworden ist und Terrorcampseine neue Erscheinung sind. Darauf muss ich Ihnen ent-gegen: Auch die Rote Armee Fraktion – wenn Sie dasnicht schon wissen, können Sie sich den Film über denBaader-Meinhof-Komplex im Kino ansehen; er ist ja füreinen Oscar vorgeschlagen – ließ sich bekanntermaßenin einem Terrorcamp ausbilden.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Soll das straf-los bleiben?)

– Das war immer strafbar. Damit gab es nie ein Problem.

Des Weiteren haben Sie angeführt, es sei neu, dass dieHierarchien weggefallen sind. Wir hatten aber terroristi-sche Vereinigungen inländischer Prägung – ich denkedabei an die „Bewegung 2. Juni“ in Berlin –, die per de-finitionem völlig unhierarchisch waren. Wir hatten mitden „Revolutionären Zellen“ sogar das, was man heutzu-tage ein Terrornetzwerk nennt, nämlich einen relativ lo-sen Verbund selbstständig agierender Gruppierungenund Einzelpersonen.

Das alles ist im Kern nicht neu. Wenn Sie behaupten,dass Sie Lücken füllen wollen, die wir nicht sehen unddie es gar nicht gibt, dann muss ich Ihnen unterstellen,dass Sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes wollen. Siewollen nämlich nicht die Vorbereitung unter Strafe stel-len, Herr Kollege Gehb. Das gibt es im Strafgesetzbuchbereits in manchen Fällen. Sie wollen die Vorbereitungder Vorbereitung unter Strafe stellen. Bei Ihnen soll dieStrafe nicht der Tat auf dem Fuß folgen, sondern bei Ih-

nen soll die Strafe der Tat zwei Schritte vorausgehen.Das ist das Neue, und das lehnen wir ab. Das geht inRichtung Gesinnungs- und Feindstrafrecht. Das istscharf zu kritisieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Die Frau Bundesjustizministerin hat das schöne Bei-spiel des Kunden im Buchladen angeführt, der in einemBuch liest. Er kann die Absicht haben, zu zahlen. Erkann die Zueignungsabsicht haben. Was tun wir in dieserSituation? Sollen wir ihn festnehmen und nachsehen, ober genug Geld dabei hat, um dieses Buch zu kaufen? Istdas das Neue, das wir brauchen?

(Christoph Strässer [SPD]: Nein!)

Wir tun das, was wir immer getan haben. Wir prüfen, ober das Buch unter die Jacke schiebt, und dann legen wirdas als Indiz für die Zueignungsabsicht aus.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gut! Das Ströbele-Beispiel!)

– Mein lieber Kollege Gehb, jetzt sagen Sie wieder:„Ströbele-Beispiel“. Der Kollege war aber nie ein Lang-zeitstudent wie Sie vielleicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er hat zügig studiert, war bei der Bundeswehr, wurdeKanonier und war dann noch drei Jahre Referendar. Erwar weder Langzeitstudent, noch hat er je ein Buch un-terschlagen.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das habe ichauch nie gesagt! – Zuruf von der LINKEN:Langzeitstudent ist nichts Schlimmes!)

– Das Beispiel lassen wir weg. Wählen Sie andere Bei-spiele. Das ist nämlich falsch, selbst wenn es sich aufStröbele bezieht.

Aber im Ernst: Anhand welcher Indizien – die Minis-terin hat mir ja recht gegeben; auch sie kann niemandemin den Kopf hineingucken; das kann niemand – wollenSie die Abgrenzung zu einem normalen, sozial adäqua-ten Verhalten vornehmen, wenn es Ihnen zufolge daraufankommt, ob der Betreffende terroristische Absichtenverfolgt hat oder nicht? Das wird aus Indizien hergelei-tet. Dabei wird man sicherlich im Verdachtsfall sehr um-fangreich überprüfen, mit wem der Verdächtige korres-pondiert und was er im Internet aufruft – dieVorratsdatenspeicherung gibt es bereits –, und dann wirdman aus Mosaiksteinen seine Gesinnung zusammenset-zen. Darauf wird es hinauslaufen. Damit geht man denSchritt weg vom Schuldstrafrecht und vom Bestimmt-heitsgebot. Das ist das gefährliche Neuland, das mit die-sem Gesetzentwurf betreten wird. Das wollen wir nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Begründung, Herr Kollege Stünker, hat uns dasBMJ am 14. Januar netterweise eine Lesehilfe mit Fall-beispielen geliefert, die erklären sollen, inwiefern es Lü-cken gibt.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21839

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Wolfgang Wieland

(Joachim Stünker [SPD]: Die kenne ich gar nicht!)

Sie alle treffen nicht zu, weil alle Fälle bereits strafbarsind.

Beim ersten Beispiel erhält – das ist wie in einerKlausur – ein gewisser A den Auftrag, ein Terrorcampaufzusuchen und sich dort ausbilden zu lassen. Wo istdenn hier das Problem der Strafbarkeit gegeben? Es gibtneben A wenigstens einen, der ihm den Auftrag gibt, undeinen, der ihn ausbildet. Das macht zusammen mindes-tens drei Personen. Warum sollten diese Personen nichtnach § 129 a des Strafgesetzbuches bestraft werden kön-nen? Was sind denn das für Beispiele?

(Lachen des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU])

– Der Kollege Uhl, der jetzt so lacht, hat in einem Arti-kel von einer „Riesenlücke“ gesprochen. Kollege Uhl,ich sage Ihnen: Sie hätten diese Aufgabe in einer Klau-sur falsch gelöst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD] –Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Vergleichenwir mal die Examensnote!)

Schauen Sie einmal in den EU-Rahmenbeschluss, indem definiert wird, was eine terroristische Vereinigungist. Da heißt es: Dieser Begriff bezeichnet

einen auf längere Dauer angelegten organisiertenZusammenschluss …, der nicht nur zufällig zur un-mittelbaren Begehung einer strafbaren Handlunggebildet wird.

Dieser Tatbestand liegt hier doch vor.

Das nächste Beispiel ist noch absurder. Da geht esganz im Ernst um ein Mitglied einer Wehrsportgruppe.Dieses Mitglied lässt sich bei dieser Wehrsportgruppeals Sprengmeister ausbilden. Franz Josef Strauß sagteeinmal über die Wehrsportgruppe Hoffmann: Das sindHanseln, das sind Kasper. – Er wurde dann durch dasOktoberfestattentat blutig eines Besseren belehrt. Aberwer ist denn sonst außer ihm ernsthaft der Ansicht, dasseine derartige Wehrsportgruppe keine terroristische Ver-einigung wäre? Diese Erkenntnis sollte doch endlich imBMJ angekommen sein. Weshalb schreiben Sie uns alsosolche Beispiele auf?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Auch der Sauerland-Fall taucht in dieser Beispiel-sammlung auf. Natürlich haben sich die Mitglieder die-ser Gruppe strafbar gemacht, sonst hätte man sie nichtfestnehmen können.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – ChristophSträsser [SPD]: Man kann auch jemanden fest-nehmen, der keine Straftat begangen hat!)

Man hat sie aber festgenommen. Vorbereitung eines Ex-plosionsverbrechens steht seit Jahr und Tag in § 310 desStrafgesetzbuches.

Nun zu den Kofferbombern, Herr Kollege Kauder.Wenn man diese mit dem Koffer angetroffen hätte, dannhätten sie sich natürlich strafbar gemacht; das ist über-haupt kein Thema. Schon wenn sie eine Bombe gebastelthätten, wäre das strafbar gewesen.

(Jörg van Essen [FDP]: Ja!)

Sie wollen jetzt noch einen Schritt nach vorne machen.Sie wollen, dass man schon beim ersten Herunterladenaus dem Internet zuschlagen kann. Sie schreiben selberin dem Artikel in der ZRP – da sind Sie ehrlich –: „Da-durch wird zugegebenermaßen eine weit vorverlagerteStrafbarkeit begründet, ...“ – Sie haben recht: Das isteine weit vorverlagerte Strafbarkeit. Das kann nicht rich-tig sein. Gerade Sie, der den Untersuchungsausschussunter anderem zum Fall Murat Kurnaz leitet, müsstenwissen – auch dazu befindet sich hierin ein Beispiel –:Er ist nie in einem Terrorcamp angekommen. Er ist zurfalschen Zeit am falschen Ort gewesen. Er wurde gegeneine Prämie ausgeliefert und landete dann in Gu-antánamo.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, ich komme zu meiner letzten Ausführung. – Nach

dem neuen Recht hätte man ihn in Bremen oder dort, woer ins Flugzeug gestiegen ist, beim Abflug festnehmenkönnen. Damals gingen die Sicherheitsbehörden ja übereinen langen Zeitraum davon aus, er wolle sich terroris-tisch betätigen. Nun kann ein Zyniker sagen: Es ist im-mer noch besser, bei uns festgenommen zu werden, alsnach Guantánamo gebracht zu werden.

Aber die Logik, die all dem zugrunde liegt – wir ha-ben nichts Konkretes, also machen wir das Unkonkretestrafbar –, ist falsch. Sie ist nicht rechtsstaatlich. Wir leh-nen sie ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Joachim Stünker (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Zwei Vorbemerkungen:

Der erste Punkt: Herr van Essen, der Hinweis darauf,welche Gesetze, die wir hier gemacht haben bzw. ver-brochen haben sollen, vom Bundesverfassungsgerichtaufgehoben werden, verschlägt allmählich nicht mehr.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist euer Privileg! Wirklich!)

Es gibt eine empirische Untersuchung – ich werde sie Ih-nen zukommen lassen – über 20 Jahre, in der festgestelltwird, dass in diesem Zeitraum von 20 Jahren die Aufhe-bungsrate beim Bundesverfassungsgericht pro Jahr

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21840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Joachim Stünker

durchschnittlich fast immer gleich geblieben ist. Ichweiß nicht, woran das liegt. Das hat aber nichts damit zutun, wer gerade an der Regierung ist, oder damit, dass ei-ner gute und der andere schlechte Gesetze macht. Dasliegt einfach in der Natur der Sache. Hören Sie also mitsolchen Behauptungen auf.

(Jörg van Essen [FDP]: Nein, damit höre ich nicht auf!)

Der zweite Punkt: Sozialdemokratische Juristen ha-ben keinen Vorsitzenden, Herr van Essen. Wir sind einefreiheitliche Partei. Es gibt für sozialdemokratische Ju-risten eine Arbeitsgemeinschaft mit einem Vorsitzenden.Das ist ein kleiner Unterschied. Aber auch in der Spra-che sollte man genau sein.

(Jörg van Essen [FDP]: Trotzdem hat er dasgesagt, was ich vorgetragen habe! – WolfgangWieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da-mit wird sein Zitat nicht falsch! Das werdenSie wohl zugeben!)

Genauso, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wirbei diesem ernsten Thema, um das es hier geht, beisprachlichen Begrifflichkeiten sehr vorsichtig sein. Ei-nige Redner, die ich gehört habe, haben die Schmerz-grenze überschritten, Herr Wieland und Frau Jelpke; dasmuss ich ganz deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Sie müssen doch vor einem Gesetz, das nicht anwend-bar und dessen Inhalt nicht beweisbar ist, überhauptkeine Angst haben;

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sowieso nicht!)

denn die angeblichen Täter, denen man eine Straftatnicht nachweisen kann, werden in Deutschland noch im-mer freigesprochen. Sie können dann irgendwann sagen:Euer Gesetz greift nicht. Was Ihr dort geregelt habt, trifftden Sachverhalt, um den es geht, eigentlich gar nicht. –Aber Ihre Angst davor, dass hier jemand möglicherweiseaus Gesinnungsgründen bestraft wird, können Sie nachdem, was wir Ihnen vorgelegt haben, zumindest keinemrechtskundigen Menschen in diesem Land erklären.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Frau Jelpke, es tut mir furchtbar leid, aber Sie haben mitIhren Ausführungen wieder einmal klargemacht, dassSie nicht regierungsfähig sind. Das wird wohl nochlange so bleiben.

Jetzt zum Ernst des Themas zurück. Worüber redenwir eigentlich?

Es handelt sich um einen ernsten Sachverhalt; die FrauMinisterin hat zu Recht darauf hingewiesen. Wir redendarüber, dass die Bedrohung durch den internationalenTerrorismus auch für uns in Deutschland nach wie vorfortbesteht. Ich nenne als Beispiele die Bedrohung vonPassagierflugzeugen in London, die Attentate von Mad-rid sowie die in Dortmund und Koblenz gefundenenBomben in Zügen. Wir wissen also, dass die Gefahrnach wie vor konkret ist. Zudem gab es – darauf wurde

schon hingewiesen – in den letzten Tagen entsprechendeVideos.

Die Menschen in diesem Land haben einen Anspruchdarauf, dass Politik das, was in rechtlicher Hinsicht mög-lich bzw. was menschenmöglich ist, tut, um die Bevölke-rung vor solchen Anschlägen mit ihren furchtbaren Aus-wirkungen zu schützen. Das ist unsere Pflicht undSchuldigkeit als Parlamentarier.

Worüber reden wir eigentlich?

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Gute Frage!)

– Das will ich Ihnen erklären. – Wir wissen – einige ausden Ministerien wissen vielleicht en détail ein bisschenmehr; Kollege Uhl und ich sind Mitglieder des Parla-mentarischen Kontrollgremiums; vielleicht haben wirdadurch in einigen Punkten einen gewissen Wissensvor-sprung –, dass es einen ganz bestimmten, kleinen Kreisan Personen gibt, die sich in Camps im Ausland, zumBeispiel in Afghanistan und Pakistan, im Umgang mitWaffen, Sprengstoff und Chemikalien ausbilden undsich auch psychisch schulen und indoktrinieren lassen,damit sie, wenn sie zurückkommen, möglicherweise be-reit sind, Selbstmordattentate oder Ähnliches zu ver-üben. Wir wissen, dass diese Personen nach Deutschlandzurückkommen werden. Wir kennen sie sogar. Aber wirhaben keine Handhabe und können keine Ermittlungs-maßnahmen ergreifen, weil wir deren Verhalten straf-rechtlich nicht erfassen können; genau das ist der Punkt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Woher wissen Sie es?)

§§ 129, 129 a und 129 b des Strafgesetzbuches passenhier nicht; dafür muss man etwas vom Strafrecht verste-hen.

(Daniela Raab [CDU/CSU]: Richtig!)

§ 30 StGB „Anstiftung zu einem Verbrechen“, denKollege Montag erwähnt hat, passt ebenfalls nicht. Manbraucht immer zwei Personen, um die Tatbestände zu er-füllen. Das heißt, genau die Normen, die wir von altersher kennen, passen nicht zu den infrage kommendenSachverhalten.

Auch die Strafbarkeit des Versuchs passt hier letzt-endlich nicht; denn ein strafwürdiger Versuch bedeutet,dass der Täter alles getan haben muss, damit die Tatnach seinen Vorstellungen vollendet werden kann. Ge-nau das fehlt aber im oben genannten Fall noch. Dieklassische Lehre, die wir kennen, passt hier nicht.

Bei Selbstmordattentaten ist zudem die Phase zwi-schen Vorbereitung, Versuch und Vollendung außeror-dentlich kurz. Auch daran sehen Sie, dass unsere bishe-rige Dogmatik nicht passt. Nur aus diesem Grunde undnur für den Täterkreis, um den es hier geht, schaffen wirunter Sicherheitsaspekten zwei neue Tatbestände, um imVorfeld mit entsprechenden Ermittlungsmaßnahmenvorgehen zu können.

Was stellen wir zukünftig – das wurde bislang nochnicht richtig erklärt – eigentlich unter Strafe? Es handeltsich um ein Staatsschutzdelikt. Das heißt, der Täter mussmit dem Ziel handeln, den Bestand der Bundesrepublik

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21841

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Joachim Stünker

Deutschland zu beeinträchtigen; das gehört mit zum Tat-bestand. Er muss dafür vorhaben, entweder einen Mord,einen Totschlag, eine Freiheitsberaubung, Menschen-raub oder Ähnliches zu begehen.

Das sind die Tatbestandsmerkmale, die vorliegenmüssen, von denen aber keiner von Ihnen gesprochenhat. Um diese Taten begehen zu können, muss er sichentsprechend ausbilden lassen,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Kontakt aufnehmen zur Ausbildung!Kontakt aufnehmen langt schon!)

und er muss dabei den Vorsatz haben – hören Sie docheinmal zu, Herr Wieland, Sie können noch etwas lernen –,das, was er dort gelernt hat, nachher konkret umzuset-zen. Das ist der Hintergrund, aber nicht das, was Sie hiererzählt haben, was einige Leute schreiben und was Sieeinigen Journalisten in die Feder diktiert haben, die da-von gesprochen haben, wir würden Gesinnungsstrafrechtmachen.

(Jörg van Essen [FDP]: Das ist eine ganz ernste Auseinandersetzung!)

Ganz konkrete Straftatbestandsmerkmale, die ich hiereben genannt habe, müssen erfüllt sein. Das hat nichtsmit Gesinnung zu tun, sondern das hat etwas mit derkonkreten Gefährlichkeit der Täter zu tun.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Herr Kollege Gehb hat schon auf etwas hingewiesen,was auch ich betonen möchte, damit es in der Öffentlich-keit wirklich deutlich wird. Dass Vorbereitungshand-lungen unter Strafe gestellt werden, ist im deutschenStrafrecht nun wirklich nichts Neues. Um das zu wissen,muss man den Besonderen Teil kennen, Frau Jelpke. Siehaben von der Vorbereitung des Angriffskrieges gespro-chen. Es heißt dort nur: Wer einen Angriffskrieg vorbe-reitet, an dem Deutschland beteiligt sein soll, der wirdbestraft. – Woher wissen Sie das? Können Sie in denKopf hineinschauen? Wie macht man denn so etwas?Natürlich brauchen wir Tatsachen und Anknüpfungs-punkte, natürlich brauchen wir eine Beweislage, nachder ein Gericht zu der Überzeugung kommt, dass Men-schen – auch subjektiv – einen Krieg vorbereiten wollen.

(Jörg van Essen [FDP]: Hier ist das doch viel weiter vorgelagert!)

– Das ist doch gar nicht wahr. – Bei hochverräterischenUnternehmen muss man nur bereit sein, Hochverrat zubegehen. § 87 StGB betrifft die Agententätigkeit zu Sa-botagezwecken. Da verhält es sich genauso. Man mussnur sagen, dass man nach Deutschland fährt, weil manals Agent bereit ist, irgendwann eine Straftat zu begehen.Es geht also um das Vorfeld. Das ist der Hintergrund. Soweit ab von dem, was wir nach geltendem Recht kennen,bewegen wir uns hier also im Ergebnis nicht.

(Jörg van Essen [FDP]: Sie sagen doch selbst, das sei auf Kante genäht!)

– Das habe ich doch gar nicht gesagt. Unterstellen Siemir keine Zitate, die ich nie gesagt habe. Ein solches Zi-tat von mir werden Sie nicht finden.

Daher sage ich Ihnen: Lassen Sie uns mit kühlem Ver-stand in diese Beratungen im Rechtsausschuss hineinge-hen, lassen Sie uns dort mit kühlem Verstand die Sach-verständigen anhören. Wenn wir vielleicht Tatbeständenicht bestimmt genug gefasst haben, dann werden wirdarüber beraten. Gemeinsam sollte uns – das hat auchKollege Gehb gesagt – die Absicht tragen, mit dieserGesetzgebung nicht die Gesinnung unter Strafe zu stel-len, sondern die Menschen in diesem Land davor zuschützen, dass Personen schwerste Straftaten begehen.Ich garantiere Ihnen, Herr van Essen, Herr Wieland undFrau Jelpke: Wenn irgendwo bei uns die erste U-Bahnhochgeht, dann werden Sie die Ersten sein, die einen Un-tersuchungsausschuss beantragen werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber doch nicht wegen fehlender Straf-gesetze! – Jan Mücke [FDP]: Bösartige Unter-stellungen!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder für

die CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Selbstverständlich sind Frei-heitsrechte in einem Staat wichtig, und sie sind auchgrundgesetzlich geschützt. Aber hat der Staat nicht auchdie Aufgabe, Straftaten zu verhindern, nicht nur denüberführten Straftäter zu verurteilen? Es ist eine wesent-liche Aufgabe, dazu beizutragen, dass Straftaten nichtzum Erfolg führen.

(Jörg van Essen [FDP]: Der Aspekt der Prävention!)

Herr Kollege van Essen, Sie haben natürlich recht:Bisher ist in Deutschland zum Glück nichts passiert.Aber was die Kofferbomber anbelangt, so war das nichtdas Verdienst deutscher Ermittlungsbehörden. Man hatvergessen, dem Gasgemisch Sauerstoff beizumischen.Wäre es nicht viel besser gewesen, man hätte diese Kof-ferbomber schon in dem Stadium festnehmen können, indem sie die ersten Vorbereitungshandlungen durchge-führt haben?

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Konnte man!)

Vorbereitungshandlungen unter Strafe zu stellen, istüberhaupt nichts Neues.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sobald sie anfingen zu basteln, konnteman!)

Warum haben wir denn den § 30 des Strafgesetzbuches?Er betrifft die typische Bestrafung einer Vorbereitungs-handlung, die dazu dient, ein Verbrechen vorzubereiten.Warum haben wir § 234 a Abs. 3 des Strafgesetzbuches,in dem es um die Strafbarkeit einer Vorbereitung zu ei-nem Verschleppungsverbrechen geht? Genau deshalb,

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21842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

weil wir nicht wollen, dass Menschen verschleppt wer-den! Vielmehr sollen sie vom Staat rechtzeitig davor ge-schützt werden.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Wieland?

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Gerne doch.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege Kauder. – Ist Ihnen denn

nicht aufgefallen, dass Sie sich im Rahmen Ihrer Aus-führungen zu den Kofferbombern gerade widersprochenhaben? Sie fragten: Wäre es nicht gut gewesen, sie vor-her festzunehmen? Gerade diese Menschen haben sichoffenbar vorher zu einem Sprengstoffverbrechen verab-redet, das als Vorbereitungshandlung nach § 310 Straf-gesetzbuch bereits unter Strafe steht.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

War das Problem bei den Kofferbombern nicht viel-mehr, dass unsere Sicherheitsbehörden – sowohl dieNachrichtendienste als auch die Länderpolizeien alsauch irgendjemand anders – sie nicht im Visier hatten?Man hatte keine Anknüpfungspunkte, sich diese beidenPersonen anzusehen. Was wäre denn anders, wenn wirdas neue Gesetz schon hätten?

(Jörg van Essen [FDP]: Eine sehr berechtigteFrage! – Zuruf von der LINKEN: Völlig rich-tig!)

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Kollege Wieland, ich bin Ihnen für Ihre Frage außer-ordentlich dankbar. Das Zauberwörtchen heißt „verfah-rensrechtliche Bezugsnorm“. Schauen Sie sich einmal§ 100 a der Strafprozessordnung an; dort geht es um dieTelekommunikationsüberwachung. Meinen Sie, einStaatsanwalt kann aufgrund eines vagen Verdachtsmo-mentes hingehen und eine Telefonüberwachung anord-nen? Meinen Sie, ein Richter würde diese Maßnahmezulassen? Nein, man braucht bestimmte Tatsachen, auf-grund deren man eine Ermittlungsmaßnahme einleitenkann.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja!)

Deswegen wollen wir, dass die Strafbarkeit vorverlagertwird, damit man durch die bestimmten Tatsachen desvorverlagerten Deliktes einen Anknüpfungspunkt hat,um Ermittlungsmaßnahmen durchführen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

So viel zur verfahrensrechtlichen Bezugsnorm. Damithabe ich Ihnen die Antwort gegeben.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, die wollten wir hören!)

Das Wesentliche ist, dass wir verfahrensrechtlicheBezugsnormen schaffen, die es bisher nicht gibt. § 30des Strafgesetzbuches reicht nicht aus – das ist schonerwähnt worden –, weil man am Anfang eines Ermitt-lungsverfahrens die Existenz einer terroristischen Verei-nigung nicht nachweisen kann, da man die Tatbestands-elemente noch nicht aufgedeckt und enttarnt hat.

§ 30 des Strafgesetzbuches eignet sich auch wegender Rechtsprechung nicht. Ich verweise auf die Entschei-dung des Bundesgerichtshofs, Band 18, Seite 160 ff.Dort wurde der Straftatbestand nach § 30 des Strafge-setzbuchs deutlich eingeschränkt. Um im Vorfeld ermit-teln zu können, muss man eine konkrete Tat nachweisen.Die Vorbereitung dieser Tat muss so weit fortgeschrittensein, dass der Täter nur noch zur Tat ansetzen muss. Ge-nau das ist nach den in unserem Gesetzentwurf enthalte-nen Vorschriften nicht der Fall.

Einiges ist in der Diskussion durcheinandergegangen.Frau Kollegin Jelpke, ich empfehle Ihnen, einmal in denGesetzentwurf hineinzuschauen. Es ist ein Unterschied,ob man von § 89 a Strafgesetzbuch oder von § 89 bStrafgesetzbuch spricht. In § 89 a werden ganz konkretvier Vorbereitungshandlungen unter Strafe gestellt. Eshandelt sich also nicht um ein Gesinnungsstrafrecht,sondern um gesetzlich genau umschriebene Vorberei-tungshandlungen. Nach § 89 a des Strafgesetzbuchesmuss aber den Vorbereitungshandlungen ein Vorsatz hin-zukommen. Bei einer Ausbildung im Terrorcamp mussalso kein konkreter Vorsatz für eine Straftat vorliegen.Ich bitte Sie, diese beiden Straftatbestände auseinander-zuhalten.

Wir erreichen mit diesem Gesetz eine Verbesserungder Sicherheitslage in Deutschland. Wir eröffnen den Er-mittlungsbehörden die Möglichkeit, Telekommunika-tionsüberwachung und Wohnraumüberwachung durch-zuführen. Genau das ist es, was zum Erfolg führt: sichnicht darauf zu verlassen, dass wie in der Vergangenheitnichts passieren wird und dass das Glück einem weiter-hin hold ist. Wir müssen dieses Instrumentarium zurVerfügung stellen, damit Staatsanwaltschaften und Poli-zeibehörden gegen terroristische Angriffe rechtzeitigvorgehen können.

Ich möchte gern noch das Beispiel der Sauerland-Gruppe ansprechen: Es waren nicht die Ermittlungsbe-hörden, deren Arbeit zum Erfolg geführt hat, sondern dieInformationen eines V-Manns der Amerikaner. Man darfsich nicht auf der sicheren Seite wähnen und sagen: Eswird schon weiterhin so funktionieren. Wir müssen straf-prozessual und strafrechtlich mit entsprechenden Straf-vorschriften reagieren. Deswegen muss der, der Sicher-heit in Deutschland will, diesem Gesetz zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion.

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Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Wir Innenpolitiker der CDU/CSU-Fraktionhaben uns gestern die Terrorvideos angeschaut. MeinesWissens haben die Kollegen aus der SPD-Fraktion indieser Woche dasselbe getan. Ich kann Ihnen, Herr vanEssen, und den anderen Kollegen aus der Opposition nurempfehlen, dies auch zu tun,

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wir haben uns dasauch angeschaut! Das können Sie sich sparen!Das kennen wir!)

weil Sie dann erleben, dass es sich bei Bekkay Harrach,einem jungen Marokkaner, der in Deutschland eingebür-gert wurde, um einen fanatisierten Islamisten handelt.Auf der einen Seite ist er sicherlich ein verwirrter Geist– den Eindruck gewinnt man, wenn man ihn erlebt –, aufder anderen Seite aber ein finster entschlossener Selbst-mordattentäter, der bereit ist, das, was er dort ankündigt,auch zu tun.

(Jörg van Essen [FDP]: Aber kein Einzeltäter!)

– Ein Einzeltäter.

(Jörg van Essen [FDP]: Ach?)

Die Bedrohung, die von diesem Mann ausgeht, müssenwir sehr ernst nehmen, Herr van Essen.

(Jörg van Essen [FDP]: Das sehe ich genausowie Sie! Das habe ich in meiner Rede auch sogesagt!)

Er ist mittlerweile zum Planungschef von al-Qaida auf-gestiegen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann ist er wohl kein Einzeltäter!)

Was er tut, hat Parallelen zu dem, was in Spanien2004 drei Tage vor der Parlamentswahl geschehen ist.

(Jörg van Essen [FDP]: Auch keine Einzeltäter!)

Er will uns Abgeordnete einschüchtern. Er bedroht unsin dem Video: Wir sollen vor der nächsten Bundestags-wahl dafür sorgen, dass die deutschen Soldaten ausAfghanistan abziehen; dann haben wir eine Chance, denTerroranschlag abzuwenden.

Dies ist die Ausgangslage. Bei dieser Ausgangslagemuss man darüber nachdenken: Was kann der Staat tun,um seine Bürger zu schützen? Gibt es eine vornehmereAufgabe eines Staates als die, seine Bürger vor Gefahrenfür Leib und Leben zu schützen?

Damit komme ich zu den Paragrafen und zu den Tat-beständen, die wir hier besprechen. Derzeit dürfenPersonen, die in Terrorcamps ausgebildet wurden, inDeutschland straffrei herumlaufen. Es gibt bereits einenFall; vom Berliner Kammergereicht entschieden. Das istnicht nur lebensbedrohlich, das ist absurd.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Rechtslücke müssen wir schließen.

Es tut weh, wenn ein Selbstmordattentäter, der eineBombe im Auto hat und als Bedrohung gesehen werdenmuss, mit einem Ladendieb verglichen wird. Einem, dereinigermaßen Gespür für Sicherheit und Ordnung hat,tut das weh.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das Beispiel kam nicht von uns!)

Bei einem Ladendieb kann man zu jedem Zeitpunkt ein-greifen, die Tat verhindern, alles Mögliche klären undaufdecken. Es ist aber zu spät, Herr Wieland, wenn derSelbstmordattentäter mit dem Auto losgefahren ist.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das mit dem Ladendieb war nicht meinBeispiel!)

Das heißt, wir müssen die Strafbarkeit sozusagen vor-verlagern, wenn wir eine Chance haben wollen, den An-schlag zu verhindern.

Wir haben es bei dem neuen § 89 a StGB – das istmehrfach betont worden – mit einem subjektiven und ei-nem objektiven Tatbestand zu tun. Beide müssen erfülltsein. Es muss Mord, Totschlag geplant sein, gewünschtsein, es muss die Absicht darauf ausgerichtet sein, undder Betreffende muss zu diesem Zweck zum Beispiel dasErlernen des Baus einer Autobombe beabsichtigen. Esgeht um einen doppelten Vorsatz; das muss man immerwieder hervorheben.

Es kann nicht richtig sein, dass wir tatenlos zu-schauen, wie Menschen, radikalisierte Islamisten, sichaus Deutschland auf den Weg ins Grenzgebiet zwischenAfghanistan und Pakistan machen, um sich in Terror-camps ausbilden zu lassen, und dass wir sagen: Das isteben so; das nehmen wir hin; wir müssen halt schauen,dass wir sie erwischen, bevor sie zurückkommen. – Istdas Ihr Verständnis von einem Staat? Das frage ich mich.

Wir müssen die Vorverlagerung der Strafbarkeit defi-nieren. Wir definieren sie richtig, indem wir in einemneuen § 89 b StGB festlegen, dass bereits bei der Kon-taktaufnahme – natürlich nicht irgendeiner Kontaktauf-nahme, sondern der Kontaktaufnahme mit dem Ziel, dieAusbildung zum Terroristen zu ermöglichen – Strafbar-keit gegeben ist.

Das Totschlagargument vom Gesinnungsstrafrecht istalso völlig abwegig. Es passt nicht hierher. Es müssenganz konkrete Vorbereitungshandlungen gegeben sein.

Herr van Essen, wenn wir sagen, bisher hätten wirGlück gehabt, auch bei den Kofferbombenattentätern,und dies mit einem Lob an die Sicherheitsbehörden unddie Nachrichtendienste garnieren, uns jetzt aber zurück-lehnen und sagen, daher machen wir so weiter, dannkann ich vor dieser Haltung nur warnen.

(Widerspruch des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Damit werden wir der Gefahr nicht gerecht.

(Jörg van Essen [FDP]: Symbolische Gesetzge-bung ist das Schlechteste, was wir tun können!)

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Dr. Hans-Peter Uhl

Wenn wir zu den beiden Vorschriften, die wir hier hin-sichtlich dieser Vorverlagerung der Strafbarkeit vor-schlagen, nicht bereit sind, sollten wir offen zugeben,dass der Staat bei solchen Bedrohungslagen durchSelbstmordattentäter dann eben kapitulieren muss.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch Unsinn!)

Dann ist es eben Schicksal der betroffenen Opfer;

(Jörg van Essen [FDP]: Das tun wir doch garnicht! Die Kofferbombenattentäter haben dochhöchste Strafen erhalten!)

das ist dann für die Opfer dumm gelaufen.

(Jörg van Essen [FDP]: Die sind doch zuHöchststrafen verurteilt worden, und das zuRecht! Und das ist gut so!)

Wir von der Union sind nicht bereit, vor dieser Bedro-hung zu kapitulieren. Wir wollen den Rechtsstaat gegen-über dieser Bedrohung wehrhaft machen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg van Essen[FDP]: Die Kofferbombenattentäter sind dochzu hohen Strafen verurteilt worden, zu Recht,und das ist gut so!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 16/11735 und 16/7958 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? –

(Jörg van Essen [FDP]: Ja!)

Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungenso beschlossen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und b:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Regelung der Verständigung imStrafverfahren

– Drucksache 16/11736 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ab-sprachen im Strafverfahren

– Drucksache 16/4197 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat fürdie Bundesregierung Frau Bundesministerin BrigitteZypries das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit den beiden genannten Gesetzentwürfen, über die wirheute in erster Lesung beraten, schaffen wir mehrRechtsstaatlichkeit für einen Vorgang, der tägliche Pra-xis in deutschen Gerichten ist.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – Zuruf von der LINKEN: Traurig genug!)

Seit über 20 Jahren gibt es Absprachen im Strafpro-zess, und der Bundesgerichtshof hat diese Tatsache inmehreren Entscheidungen für richtig erklärt und ihrKonturen gegeben. Wir haben gesagt: Dass der Bundes-gerichtshof Konturen eingezogen hat, mag das eine sein;wir aber wollen diese Konturen durch die Übernahme inden Gesetzestext verstärken. Wir wollen, dass derRechtsstaat an dieser Stelle noch mehr Korsettstangeneinzieht.

(Zustimmung des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Diese Absprachen im Strafprozess gibt es entgegeneinem weitverbreiteten Vorurteil, das insbesondere durchdie Boulevardpresse genährt wird, keineswegs nur fürReiche und Mächtige in diesem Lande.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es, ja! – Beifallbei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Prozesse gegen die Reichen und Mächtigen sind nursolche Prozesse, die von der Boulevardpresse aufgegrif-fen und breit getreten werden; aber man weiß, dass essolche Absprachen in jedem Landgericht in Deutschlandjeden Tag gibt und dass sie insbesondere bei den Delik-ten der Drogenkriminalität, bei vielen Delikten der All-tagskriminalität, wenn es in einem Fall um viele Strafta-ten geht, oder bei Sexualstraftaten inzwischen gang undgäbe sind.

Gerade bei Sexualstraftaten ist diese Möglichkeitganz besonders wichtig,

(Jörg van Essen [FDP]: Opferschutz!)

denn bei Sexualstraftaten – vielen Dank, Herr van Essen –kommt der Gesichtspunkt des Opferschutzes hinzu, ganzgenau. Ein Täter, der geständig ist und sich mit seinemGeständnis auf eine Absprache in diesem Prozess ein-lässt, verhindert, dass die Opfer als Zeugen gehört wer-den müssen; er erspart damit den Opfern dieser Strafta-ten eine Wiederbegegnung mit dem Täter und einevielleicht sehr schmerzhafte Aufwühlung des Gesche-hens. Von daher ist bei der Möglichkeit einer Abspracheim Strafprozess auch der Gesichtspunkt des Opferschut-zes zumindest mir wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21845

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Bundesministerin Brigitte Zypries

Es geht aber, meine Damen und Herren – –

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Dann hät-ten Sie bei den Nebenklagen auch Rechtsmit-tel schaffen müssen!)

– Sie können gern Zwischenfragen stellen, HerrNešković, aber nicht dauernd dazwischenblöken.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Das ist mein Recht!)

Bei der Verständigung geht es nicht nur um Opfer-schutz; es geht natürlich auch – das will niemand bestrei-ten – um effektiven Ressourceneinsatz. Das wurde in derVergangenheit auch häufiger kritisiert. Es wurde kriti-siert, die Justiz mache das nur, um die Einstellung vonweiteren Richterinnen und Richtern vermeiden zu kön-nen. Das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. In jedemEinzelfall muss ordnungsgemäß geprüft werden: Machtes Sinn, Ressourcen in der Art und Weise zu verwenden,

(Joachim Stünker [SPD]: Das ist es! Richtig!)

dass man ein Verfahren mit vielen einzelnen Punktenvollständig aufklärt, oder ist es im Sinne eines effektivenRessourceneinsatzes, auf den die Justiz natürlich ge-nauso achten muss wie der gesamte öffentliche Dienst,nicht sinnvoller, darauf zu verzichten, wenn ein Ge-ständnis vorliegt und das Gericht davon überzeugt ist,dass der Angeklagte schuldig ist?

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da muss sogar ich Ihnen recht geben!)

Wir ziehen mit diesem Gesetzentwurf Korsettstangenein; ich habe es eben schon erwähnt. Eine dieser Kor-settstangen ist: Wir schaffen mehr Transparenz. Wir ho-len nämlich die Verständigung aus den Hinterzimmernheraus und bringen sie in die Hauptverhandlung. Künftigkönnen Verständigungen im Strafprozess nur noch in deröffentlichen Hauptverhandlung beraten und beschlossenwerden.

Des Weiteren bleibt es bei den Prinzipien der Straf-prozessordnung. Das Gericht muss von der Wahrheit desGeständnisses des Angeklagten überzeugt sein. Es darfkeinen Angeklagten verurteilen, wenn es Zweifel an des-sen Schuld hat.

Die Schuld des Angeklagten bleibt auch weiterhin derMaßstab für das Urteil. Die Verständigung kann sich nieauf den Schuldspruch als solchen, sondern immer nurauf das Strafmaß beziehen. Deswegen werden auch inZukunft die Regelungen zur Strafzumessung so gelten,wie sie im StGB stehen.

Ein weiterer Punkt, bei dem ich davon überzeugt bin,dass er die Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrens unter-streicht, ist die Regelung, dass es keinen Rechtsmittel-verzicht geben darf. Auch bei einer Absprache im Straf-verfahren muss klar sein, dass sowohl Staatsanwaltschaftals auch Verteidigung nach Abschluss des Verfahrens einRechtsmittel einlegen können. Der Verzicht auf einRechtsmittel darf nicht Gegenstand der Verständigungsein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit entfällt das oft verwendete Argument, es werdedann in der Form gekungelt, dass der Richter ein Ge-ständnis unter Verzicht auf ein Rechtsmittel anstrebt, da-mit der Angeklagte im Wege einer Verständigung verur-teilt werden kann. Genau das wollen wir nicht.Deswegen ist ganz klar: Die Verständigung muss in öf-fentlicher Hauptverhandlung erfolgen, ein Verzicht aufRechtsmittel ist nicht zulässig, und das Gericht muss vonder Schuld des Angeklagten überzeugt sein.

Wir halten also mit diesem Gesetzentwurf an denrechtsstaatlichen Prinzipien des Strafprozesses fest. Wirschaffen mehr Rechtsklarheit, mehr Rechtssicherheitund mehr Rechtsgleichheit.

Trotzdem möchte ich noch einmal auf einen Punkthinweisen: Auch wenn die Justiz ihre Ressourcen effizi-ent einsetzen soll, sind wir Rechtspolitiker alle gemein-sam – sowohl im Bund als auch in den Ländern – ver-pflichtet, dafür zu sorgen, dass die Justiz mit Personalhinreichend ausgestattet ist.

(Iris Gleicke [SPD]: Wohl wahr! – Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Zwar ist es so, dass das Gericht den Vorschlag einer Ver-ständigung macht. Aber es kann ihn besser aus einerstarken Position heraus machen. Klar muss sein: Wennes bei der Verständigung Probleme gibt, ist es selbstver-ständlich, dass der Prozess bis ins letzte Detail durchge-führt und dann ein Urteil gefällt wird.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Darauf müssen wir Wert legen. Deswegen ist es so wich-tig, dass die Justiz personell und sachlich gut ausgestat-tet ist,

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist sie aber nicht!)

dass wir die notwendigen Ressourcen auch zur Aufklä-rung komplexer Steuer- und Wirtschaftsdelikte habenund dass völlig klar ist, dass es nicht aus der Not herauszu einer Verständigung kommen muss. Jeder Angeklagtemuss wissen, dass bei einem Scheitern der Verständi-gung der Prozess bis ins letzte Detail geführt und danngeurteilt wird.

Sie wissen, dass ich immer und überall dafür werbe,dass wir uns für die personelle Ausstattung der Justizeinsetzen. Wie Ihnen bekannt ist, haben wir für den Ge-neralbundesanwalt 21 zusätzliche Stellen erreicht, umden rechtsstaatlichen Anforderungen durch die Verände-rung der Gesetze auch an dieser Stelle Rechnung tragenzu können. Aber wir müssen uns gemeinsam auch dafüreinsetzen, dass die Kolleginnen und Kollegen in denLändern die nötige Rückendeckung von uns bekommen,um gegen-über ihren Finanzministern klare Kante zeigenzu können.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die gehen bei jedem Konjunkturpaketleer aus!)

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Bundesministerin Brigitte Zypries

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jörg van Essen (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir konnten in der letzten Zeit – der Referentenentwurfdes Bundesjustizministeriums ist ja schon mehrere Jahrealt; ich war sehr überrascht, dass es jetzt plötzlich sehrschnell gehen soll – mehrfach sehr kritische Stellung-nahmen lesen. Dazu gehört beispielsweise ein Beitragvon einem Richter an einem Oberlandesgericht in derDeutschen Richterzeitung im Mai 2007. Auch der frü-here Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Pro-fessor Hassemer, hat sich kürzlich dahin gehend geäu-ßert.

Ich muss gestehen, dass ich persönlich positiv zuDeals in Strafverfahren und zu einer entsprechenden ge-setzlichen Regelung stehe. Frau Ministerin, ich glaube,Sie haben recht, dass es gut ist, dass Korsettstangen ein-gezogen werden. Denn es ist schon Praxis. Wenn esschon Praxis ist, die auch von den Obergerichten aner-kannt worden ist, dann macht es Sinn, das Ganze ausdem Hinterzimmer herauszuholen und öffentlich in dieHauptverhandlung einzuführen. Das dient – das ist dasWichtigste, was wir hier beachten müssen – dem Ver-trauen in den Rechtsstaat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das muss auch für uns der wesentliche Maßstab sein.

Die Frau Ministerin hat es schon angesprochen: DasVertrauen in den Rechtstaat ist deshalb in der Öffentlich-keit beeinträchtigt, weil eine bestimmte Berichterstat-tung den Eindruck erweckt, dass man einer gewissenGehaltsklasse angehören muss, um in den Genuss einessolchen Vorteils zu gelangen. Frau Ministerin, Sie habenzu Recht darauf hingewiesen, dass es solche Deals invielfältiger Form schon in der Praxis gibt und dass viele,insbesondere Opfer, davon profitieren.

Ich will zusätzlich die Einstellung wegen Geringfü-gigkeit nach § 153 a der Strafprozessordnung anführen.Gemäß diesem Paragrafen wird mit dem Beschuldigtengesprochen und mit ihm eine Übereinkunft über einemögliche Geldbuße getroffen. Er muss somit nicht vorGericht erscheinen. Solche Absprachen kommen vielenBürgern in unserem Lande entgegen, weil sie dann nichtvor Gericht erscheinen müssen. Jeder, der sich mit Straf-verfahren auskennt, weiß, wie sehr ein solches Verfahrenden Einzelnen belastet. Eine solche Vorgehensweisekennen wir also schon. Wir kommen jetzt im Hinblickauf Absprachen ebenfalls zu einer gesetzlichen Rege-lung.

Aber in einem Punkt bin ich nicht so optimistisch wieSie, Frau Ministerin. Ich war als Angehöriger einer Ge-neralstaatsanwaltschaft selbst daran beteiligt, Druck aufdie unterstellten Behörden auszuüben, öfter Ermittlungs-verfahren nach § 153 a der Strafprozessordnung wegenGeringfügigkeit einzustellen, um die Justiz zu entlasten,weil nicht genug Richter und Staatsanwälte zur Verfü-gung standen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieübergeordneten Behörden und die Justizminister derVersuchung widerstehen können, auf Absprachen zudrängen.

Wir sollten darauf achten – das ist der erste Punkt,den wir in unseren Beratungen behandeln sollten –, dassin solchen Fällen die jetzt vorgesehene Regelung nichtdazu führt, dass Kammern, die eigentlich verhandelnwollen, unter dem Druck stehen, zu einem Deal zu kom-men. Das gilt insbesondere dann, wenn möglicherweisemehrmonatige, vielleicht sogar mehrjährige Hauptver-handlungen anstehen, die den Justizhaushalt natürlich fi-nanziell ganz erheblich belasten.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eine große Gefahr!)

Wir müssen diese Gefahr sehen und sie in unseren Bera-tungen berücksichtigen.

Ein zweiter Punkt, der in unseren Beratungen beach-tet werden muss, ist die Frage, welche Rolle der jewei-lige Angeklagte hat. Er darf nicht unter Druck gesetztwerden, beispielsweise indem ihm eine besonders hoheStrafe für den Fall angedroht wird, dass er nicht mit-macht. Er darf auch nicht mit der Ankündigung gelocktwerden, dass das Verfahren sehr viel günstiger ausgeht,wenn er mitmacht. Auch das beeinträchtigt ganz selbst-verständlich das Vertrauen in den Rechtsstaat. Wir müs-sen aufpassen, dass so etwas nicht passiert.

Ein dritter Punkt, der mir wichtig ist, ist von der Mi-nisterin schon angesprochen worden: Absprachen imStrafverfahren können dazu führen, dass beispielsweiseOpfer nicht als Zeuge erscheinen müssen. Jeder, der diePraxis in Gerichten kennt, weiß, wie schwierig es oft fürOpfer ist, plötzlich dem Täter wieder in die Augen sehenzu müssen. Wenn durch eine Absprache verhindert wird,dass ein Opfer zum zweiten Mal zum Opfer wird, ist dasein ganz wichtiger Erfolg. Das wird von uns, von derFDP-Bundestagsfraktion, nachdrücklich unterstützt.

Einen Aspekt sollten wir uns noch einmal ansehen.Das ist die Frage der Nebenklage.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Richtig!)

Wir haben die Nebenklage – auch das ist eine Stärkungder Rolle des Opfers – in den letzten Jahren ganz be-wusst gestärkt. Wir sollten uns anschauen, wie dieRechte und die Möglichkeiten der Nebenklage bei einemDeal ausgestaltet sind.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sehr gut! – Wolfgang Nešković [DIELINKE]: Genau!)

Ganz wichtig ist, dass auch der Nebenkläger daran betei-ligt ist, dass er nicht ausgeschlossen ist, dass er seine In-teressen einbringen kann. Das ist mir persönlich ganzaußerordentlich wichtig.

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Jörg van Essen

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Von daher ist das Signal meiner Fraktion: Wir werdenuns gerne in die Diskussionen einbringen. Wir werdeneine Anhörung dazu durchführen. Ich glaube, dass wirhier einen guten und richtigen Schritt tun. Das, was Pra-xis ist, nun mit einem gesetzlichen Korsett zu versehen,ist ein richtiger Ansatz, der von uns unterstützt wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Daniela Raab [CDU/CSU])

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb für

die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

immer noch dieselbe Kollegenschaft. Heute ist einrechtspolitischer Tag. Man kommt endlich einmal vor22 Uhr zu Wort. Ob das immer so gut ist, weiß ich nicht,nachdem ich mir so manchen Redebeitrag angehörthabe. Aber immerhin, das zeigt die Wertschätzung fürdie Rechtspolitik.

Nicht selten habe ich von diesem Pult aus in Anleh-nung an Montesquieu gesagt: Wenn es nicht nötig ist, einGesetz zu machen, dann ist es nötig, keines zu machen.Heute möchte ich mit der gleichen Verve betonen: Hierist es nötig, ein Gesetz zu machen. Wer die Begriffenicht beherrscht – den Begriff „Verständigung im Straf-prozess“

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie haben sicherlich einen lateinischenauf Lager!)

möchte ich besonders betonen; bitte nicht die Begriffe„Vereinbarung“, „Absprache“ oder gar „Deal“ verwen-den; ich komme gleich darauf zu sprechen, wie unsäg-lich das im Zusammenhang mit Herrn Nešković war –,kann die Diskussion nicht beherrschen. Ich ärgere michauch immer wieder, wenn vom Großen Lauschangriffgesprochen wird. Wer greift denn eigentlich beim Gro-ßen Lauschangriff an? Bei der elektronischen Wohn-raumüberwachung geht es um die Abwehr terroristischerAngriffe, und wir reden vom Großen Lauschangriff.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weil er einer ist! – Jerzy Montag[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem Volkaufs Maul schauen!)

Achten Sie deshalb bitte auch auf die Begrifflichkeit undsprechen Sie von Verständigung.

Es ist schon gesagt worden: Die Verständigung imStrafprozess ist keine neue Idee. Sie ist ständige Praxis.Nicht nur ich habe eben gefordert, dass wir ein Gesetzbrauchen, sondern der Große Senat für Strafsachen desBundesgerichtshofes hat mit Beschluss vom 3. März2005 geradezu einen Appell an den Gesetzgeber gerich-tet, indem er gesagt hat: Die Möglichkeiten der Rechts-fortbildung sind jetzt erschöpft. Einer so wichtigen Sa-che muss sich der Gesetzgeber selber annehmen. –

Schon in den 90er-Jahren war dies auf dem DeutschenJuristentag ein Thema. Es war schon immer ein streitigesThema. Ich will gar nicht die Bedenken, die manche ha-ben, als abwegig abbügeln. Wir haben hier vielmehrwieder das Phänomen des Streits zwischen der materiel-len Gerechtigkeit und der formell richtigen Verfahrens-ausgestaltung. Gelegentlich wirkt das wie Antipoden;aber zusammen machen sie die Sache rund.

Meine Damen und Herren, wenn der Eindruck ver-mittelt wird – wie man gelegentlich lesen kann –, dassdie Richter bei der Verständigung von dem Prinzip derErforschung der Wahrheit absehen, ist das schlichtwegfalsch. Auch der Bundesgerichtshof hat als eine wesent-liche Forderung aufgestellt: Im Vordergrund steht die Er-mittlung der Wahrheit; materielle Gerechtigkeit mussalso erzielt werden. – Die Frage ist nur, ob etwa bei ei-nem Verfahren mit 30 angeklagten Taten alle 30 bis zumletzten Tezett aufgeklärt werden müssen, wenn die ers-ten 28 bereits aufgeklärt sind und die Beweiserhebungfür die letzten beiden Punkte möglicherweise drei Jahredauert. Damit zieht man im Grunde genommen einenProzess so in die Länge, dass auch schon wieder verfas-sungsrechtliche Bedenken bestehen. Denn Effektivitätund Rechtsschutz sind auch eine Frage der Zeit.

Herr Stünker, Sie erinnern sich: Wir haben gerade dieFrage der Untätigkeitsbeschwerde wegen überlangerVerfahren behandelt. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:Ich habe Verständnis für die sachlichen Argumente, dievielleicht gegen eine solche Verständigung sprechen – je-denfalls dann, wenn sie falsch verstanden ist, und vor al-len Dingen dann, wenn sie in den Dunstkreis von Hinter-zimmern gestellt wird; das findet wenig Anerkennung.Wenn dann auch noch Sätze wie „Die Kleinen hängtman, die Großen lässt man laufen“ vorgebracht werden,dann – das muss ich Ihnen ehrlich sagen – werden wirauch in der Bevölkerung wenig Verständnis dafür erhal-ten, dass wir solche Vorurteile auch noch nähren.

Ein Großmeister dieses Nährens – Sie ahnen es, Siegucken mich schon ganz ängstlich an – sind Sie, HerrNešković.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Ängstlich bin ich bestimmt nicht!)

Sie haben sich vorgestern in einem Interview imDeutschlandradio zu der Bemerkung verstiegen, dasStrafgesetzbuch sei kein Handelsgesetzbuch.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Daswerde ich heute auch noch mehrfach wieder-holen!)

– Ja, Sie werden das noch mehrfach vorlesen, weil es Ih-nen aufgeschrieben worden ist.

Sie haben gesagt, es sei kein Handelsgesetzbuch, wo-bei ich fragen muss, ob bei der Auslegung des Handels-gesetzbuches gehandelt oder nicht auch nach Recht undGesetz entschieden wird.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stimmt! – Wolfgang Nešković[DIE LINKE]: Wenn Ihr Verständnis so einfäl-tig ist, ist das Ihr Problem!)

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Dr. Jürgen Gehb

So ist es ja nun nicht; auch im Zivilrecht geht alles nachRecht und Gesetz. Aber das war ja nicht einmal dieschlimmste Bemerkung. Dann haben Sie nämlich nochgesagt: Ich habe als Richter nie gedealt. Allein eine sol-che Bemerkung! Wenn man morgens um sechs auf-wacht, dann ist die Welt nicht mehr in Ordnung, wennman hört, wie der Nešković sagt, er habe nie gedealt.Das aus seinem Munde! Dealen und Nešković, da kannman Zusammenhänge herstellen, für die Sie dann selbstverantwortlich sind.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – WolfgangNešković [DIE LINKE]: Sie sind und bleibenein Büttenredner!)

Er sagt also: Ich habe nie gedealt. Dann kommt die Be-merkung: Weil seine Kollegen dies gewusst hätten, hät-ten sie ihn nie eine Wirtschaftsstrafkammer führen las-sen.

(Joachim Stünker [SPD]: Das war auch besser so!)

Ich kann dazu nur sagen: Herr Pontius Pilatus Nešković,lieber Herr St. Florian, schütz unser Haus, steck anderean! Selbst sich in Wirtschaftsstrafsachen nicht die Fingerschmutzig machen lassen und dann davon reden, manhabe nie gedealt!

(Widerspruch des Abg. Wolfgang Nešković [DIE LINKE])

Ich kann Ihnen eines sagen, Herr Nešković: Je länger ichSie hier erlebe, desto mehr komme ich zu der Überzeu-gung, dass Ihre ohnehin sehr umstrittene Berufung zumBundesrichter eine der größten Personalfehlentscheidun-gen war, seit der Kaiser Caligula im 1. Jahrhundert nachChristus eines seiner Pferde zum Konsul ernannte.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)

Wenn man das so macht, muss man sich auch nichtwundern, dass dieses Thema mit einem Hauch von Ge-heimnistuerei und Schlüpfrigkeit behaftet ist. Ich habe eseben in der Debatte auch schon gesagt: Als Rechtspoliti-ker haben wir bei allem rechtsdogmatischen Streit dafürSorge zu tragen, dass wir eine ohnehin schon durch dieBoulevardpresse hochgepeitschte emotionale Stimmungnicht noch mehr befeuern. Daher appelliere ich auch andiejenigen, die sich mit dem Phänomen der Verständi-gung im Strafprozess nicht anfreunden können, die Dis-kussion wenigstens so zu führen, wie sie etwa auf Rich-tertagen geführt wird. Sie, Herr Nešković, haben demnicht nur mit Ihrem Interview, sondern auch mit Ihrerheutigen Presseerklärung einen Bärendienst erwiesen.Ich fürchte, dass es bei Ihrer Vorlesung, die hier gleichstattfinden wird, auch nicht besser werden wird. Alseben Frau Jelpke gesprochen hat, habe ich noch gesagt:Da ist ja der Nešković noch besser. Sie müssen alsodurch ein Zielfinish entscheiden, wer bei der Unsach-lichkeit der Beiträge als Erster über die Linie geht.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Bei Ihnen ist es im-mer nur einer!)

– Bei mir ist es immer nur einer.

Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mitdieser Regelung über die Verständigung muss man, ob-wohl es heute nicht Gegenstand der Debatte ist, auch dieKronzeugenregelung sehen. Der Strafprozess läuft si-cherlich nicht so wie der Zivilprozess ab. Bei Letzteremwird natürlich auch die Wahrheitserforschung in denVordergrund gestellt; trotzdem liest man nicht selten:Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslageschlossen die Beteiligten auf eingehendes Drängen desGerichts folgenden Vergleich: Zur Abgeltung der mitder Klage erhobenen Ansprüche verpflichtet sich der Be-klagte zur Zahlung von soundso viel Euro.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das steht da nie drin!)

So geht es natürlich im Strafprozess nicht, weil dann derEindruck erzeugt würde, als sagte der eine, er biete an-derthalb Jahre, und der andere, er verlange dreieinhalbJahre, und am Ende kämen nach einigem Gemauschelein Jahr und acht Monate heraus. So geht es doch nicht,meine Damen und Herren!

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Viel anders ist es nicht! – Jerzy Montag[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So geht es!)

Denjenigen, die als interessierte Bürger oben auf derTribüne sitzen und sich nicht von Sonnenaufgang bisSonnenuntergang mit Strafrecht beschäftigen, sage ich:Das ist gar nicht Gegenstand einer Verständigung imStrafprozess. Der Schuldspruch muss natürlich festste-hen, und die Wahrheit soll so weit wie möglich ermitteltwerden. Wenn aber die Effizienz baden zu gehen droht,werden eine Strafuntergrenze und eine Strafobergrenzegewählt. Aber man darf bitte nicht nach außen den Ein-druck vermitteln, es würden wie auf dem orientalischenBasar Punktstrafen vergeben. Das ist nicht der Fall.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Beinahe! Das muss man klar sagen! Ichkann Ihnen Beispiele bringen! Die Jahre wer-den ausgehandelt! – Gegenruf des Abg.Joachim Stünker [SPD]: Aber nur, wenn derHerr Wieland beteiligt ist!)

– Beinahe? Nun gut. – Das wollte ich in diesem Hauseeinmal klipp und klar feststellen.

Auch die berühmte Sanktionsschere – die Frau Minis-terin hat es eben gesagt – funktioniert nicht so, dass mansagt: So, mein Lieber, wenn du jetzt nicht gestehst, danngeht es ab, dann kommst du mit einem Sexualstraftäterin eine Zelle. Das ist doch kein Junktim. Deswegen ha-ben wir gesagt: Gegenstand einer solchen Verständigungkann weder das Geständnis noch der Rechtsmittelver-zicht sein. Man kann nicht sagen: Nur wenn du auf dasRechtsmittel verzichtest, bekommst du einen schönenBonus. – Das ist nicht der Fall. Damit auch der Anscheineiner solchen Absprache vermieden wird, haben wir denRechtsmittelverzicht aus dem ursprünglichen Entwurfwieder herausgenommen.

Man muss einmal sagen, dass es Peter Danckert undSiegfried Kauder zu verdanken ist, dass wir in großerRunde – mit Bundestagsabgeordneten, die sich hauptbe-

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Dr. Jürgen Gehb

ruflich mit dem Strafrecht auskennen, und unter Zuhilfe-nahme externen Sachverstandes – einen guten Gesetz-entwurf gebastelt haben.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: „Gebas-telt“ ist der richtige Ausdruck!)

Vielleicht kann man ihn noch weiter optimieren; wirwerden sicherlich eine Anhörung dazu durchführen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, der Herr Kollege Montag würde gerne

eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Das hätte ein so schöner Tag werden können. Aber

ich möchte das hören, ja.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er wird noch schöner, Herr Kollege. – Ihre letzten

Ausführungen bringen mich dazu, eine Frage zu stellen:Es ist unbezweifelbar – das werde ich auch nicht bezwei-feln –, dass es positiv ist, dass mit diesem Gesetzentwurfdie Elemente, die Sie erwähnt haben – Rechtsmittelver-zicht und Sanktionsschere –, abgeschnitten bzw. abge-mildert werden. So, wie Sie den bedauernswerten derzei-tigen Zustand in deutschen Strafgerichten schildern,erwecken Sie den Eindruck, alles sei in Ordnung.

Deswegen frage ich Sie: Ist Ihnen die Entscheidungdes Bundesgerichtshofs bekannt, mit der ein Urteil in ei-ner Strafsache mit der Begründung aufgehoben wurde,dass der Verständigung eine Erklärung des Gerichts vor-ausgegangen ist, die in etwa so lautete: Wenn wir unsnicht verständigen, gibt es sieben Jahre, und bei Verstän-digung gibt es zwei Jahre? Weil das zufällig schriftlichfestgehalten wurde, hat der BGH die Möglichkeit ge-habt, zu sagen: Solche Fälle darf es nicht geben. Das isteine Pression, wenn nicht gar eine Erpressung der einenSeite.

Ist Ihnen die Entscheidung des Bundesgerichtshofsbekannt, mit der er eine Verständigung in einem anderenStrafverfahren ebenfalls als rechtswidrig bezeichnet hat?Auch da ist es gelungen, festzuhalten, dass das Gerichtvom Angeklagten einen Rechtsmittelverzicht eingefor-dert hat. Dazu hat der Bundesgerichtshof gesagt: So et-was ist unzulässig.

In der Praxis deutscher Strafgerichte gibt es heute lei-der tausendfach ein solches Vorgehen, das mit diesemGesetz dankenswerterweise unterbunden werden soll.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Zunächst muss ich zugeben, dass diese BGH-Ent-

scheidung zu den drei Entscheidungen in der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland gehört, die ich nichtkenne. Herr Kauder wird Ihnen sicherlich gleich dieFundstelle nennen.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Schicke ich Ihnen!)

Ihre Äußerungen sind ein beredter Beweis dafür, dasses nötig ist, das durch den Gesetzgeber zu regeln.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte diesen einen Fall damit nicht zum Regelfallhochstilisieren. Es geht schließlich um die Unabhängig-keit der Richter. Ich möchte mich ein bisschen schützendvor meine früheren Kollegen stellen. Man darf hier nichtden Eindruck erwecken, dass es bei diesem Chaosbliebe, wenn der Gesetzgeber jetzt keine Korsettstangeneinziehen würde, wie Sie so schön gesagt haben. Mansollte sich davor hüten, aus Einzelfällen Regelfälle zumachen. Es gibt viele Entscheidungen der Revisionsge-richte, des BGH, des Bundesverwaltungsgerichts undanderer Gerichte. Wenn man mit diesen Urteilen immereinen fast stigmatisierenden Vorwurf an die unteren In-stanzen verbinden würde, dann würden wir unseren In-stanzenzug insgesamt infrage stellen und einen Zweifelin die Richterschaft hineintragen, der nicht angebrachtist.

Ihre Frage ist, wie gesagt, ein super Beleg dafür, dasses notwendig ist, dieses Gesetz zu machen. Dem kannich nichts mehr hinzufügen. Deswegen höre ich auf undbedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort der Kollege Wolfgang Nešković für

die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen[FDP]: Ich wusste gar nicht, dass er eine Kra-watte besitzt!)

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zypries! HerrDr. Gehb, Sie werden von mir nicht erwarten, dass ichauf Ihrem Niveau, also dem Niveau eines Büttenredners– eines schlechten noch dazu –, antworte.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh!)

Zu den beherrschbaren Herausforderungen im Lebeneines Abgeordneten der Linken gehört das Folgende:Wenn wir morgens die Zeitungen aufschlagen, dann fin-den wir eher selten unsere Auffassung bestätigt. Dasliegt daran,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dass die Auffassung falsch ist!)

dass wir meist gegen den Strom schwimmen oderschwimmen müssen. Sie als geübte Populisten – HerrDr. Gehb, Sie haben es eben bewiesen –

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das sagt der Richtige!)

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Wolfgang Neškoviæ

schwimmen hingegen gern und komfortabel mit demStrom. Gelegentlich ändert sich aber die Strömungsrich-tung.

Ich zitiere aus meiner Presseerklärung vom 21. Januardieses Jahres zum sogenannten großen Deal im Strafver-fahren:

Der Deal muss nicht gesetzlich erlaubt, sondern ge-setzlich verboten werden.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh!)

Er stellt einen unwürdigen Handel mit der Gerech-tigkeit dar.

Dann kommt der von Ihnen so geliebte Satz:

Das Strafgesetzbuch ist kein Handelsgesetzbuch.

Weiter:

Der Deal bevorzugt die finanziell Bessergestelltenund führt zu einem Zweiklassenstrafrecht.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stimmt nicht! – Joachim Stünker[SPD]: Unsinn!)

Dieser Gesetzentwurf ist die Kapitulationsurkundedes seit Jahren finanziell und personell ausgezehr-ten Rechtsstaates.

(Joachim Stünker [SPD]: Oh! Oh!)

Statt eine unwürdige und ungerechte Praxis in Ge-setzesform zu gießen, ist es vielmehr notwendig,die Gerichte personell so auszustatten, dass sie auchkomplizierte und langwierige Wirtschafts- undSteuerstrafverfahren ohne Deals führen können.

(Beifall bei der LINKEN)

Am 22. Januar dieses Jahres konnten Sie dann in derSüddeutschen Zeitung Folgendes lesen:

Das neue Gesetz befördert immerhin den Deal ausder Heimlichkeit in die Öffentlichkeit; … Aberauch der protokollierte Deal bleibt ein Deal. … Dasist falsch, und das bleibt falsch, …

(Beifall bei der LINKEN)

Dieser Paragraph wird der Akzeptanz des Rechtsschaden. Weil das Dealen eine Kunst ist, für die esbesonders gute und teure Anwälte gibt, werden dieAngeklagten dabei besser wegkommen, die sichdiese Anwälte leisten können.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Nešković.

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Ich lasse keine Zwischenfrage zu.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Auch nicht von mir?)

Daher ist die Kassenjustiz auch eine Klassenjustiz.In der Gesetzesbegründung steht, dass das Gesetz

keine finanziellen Auswirkungen habe. Das stimmtnicht. Der Deal spart dem Staat Richter und Staats-anwälte. Der Preis ist der Abschied von den Prinzi-pien des Strafprozesses.

Das habe nicht ich geschrieben, das hat HeribertPrantl in der Süddeutschen Zeitung geschrieben.

Am selben Tag schrieb Die Welt – also nicht die Süd-deutsche Zeitung –:

Und dennoch bleibt der Deal eine Kapitulation desStaates vor der Überlastung seiner Gerichte. … Andie Stelle der Wahrheitsfindung … tritt der Konsens… darüber, was als Wahrheit gelten soll. Der Pro-zess wird zur bloßen Kulisse.

Selbst die FAZ schreibt am selben Tag:

Eine gängige wilde Übung wird so in eine Form ge-bracht. … Es bleibt aber dabei, dass so unseremSystem grundsätzlich fremde Mauscheleien abge-segnet werden.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genauso ist es!)

Sie sehen also: Diese kleine Presseschau, die Bei-spiele von einer liberalen bis zu einer wertkonservativenZeitung umfasst, bestätigt genau das, was in meinerPresseerklärung enthalten ist. Die Linke schwimmt dies-mal mit dem gesellschaftlichen Strom. Der Deal imStrafverfahren trifft in der Gesellschaft auf eine breiteund deutliche Ablehnung.

Weil Sie das hier immer so gerne durcheinanderbrin-gen: Niemand hat etwas gegen Verständigung mit demGericht oder der Staatsanwaltschaft, wenn es um Baga-telldelikte geht. Der Deal Ihres Entwurfes zielt abernicht auf die Kleinkriminalität mit geringer Schuld ab,die in der Regel leicht aufzuklären ist. Er betrifft dieFälle mit großer Schuld, die in der Regel schwer aufzu-klären sind. Das ist eine völlig andere Sachlage.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Woran kann man das erkennen?)

– Das sehen Sie an Anklageschriften, die 800 Seiten langsind.

Hier kann man nicht sagen: Was soll es, der Fall ist jaschließlich nicht so wichtig. Diese Fälle sind meistenswichtig. So ist zum Beispiel eine Steuerhinterziehungvon mehreren Millionen Euro eine grobe Asozialität ge-genüber der Gesellschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Fehlen des hinterzogenen Geldes trägt dazu bei,dass die Kassen des Staates leer bleiben und Schulen,Kindergärten und Universitäten, Polizei und Gerichtenicht über genügend personelle und sachliche Mittel ver-fügen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja! Deswegen werden sie verurteilt!)

Oft genug erfolgt die Hinterziehung mit einem hohenMaß an krimineller Energie. Es ist die geschickte Ver-schleierung der Vermögenslagen und die listige Vertu-

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schung der Geldwege, die gerade Staatsanwaltschaftenund Gerichten einen erheblichen Arbeitsaufwand berei-ten, dem sie angesichts ihrer personellen Ausstattungnicht gewachsen sind. Hinzu kommt, dass die Angeklag-ten in solchen Verfahren regelmäßig über erheblicheMittel verfügen, mit denen sie teure und hervorragendausgebildete Strafverteidiger – von denen reden hier ge-legentlich welche – bezahlen können. Diese drohen denGerichten dann mit der sogenannten Konfliktverteidi-gung.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, genau!)

Die Justiz steht wegen ihrer schlechten personellen Lagemit dem Rücken zur Wand und ist deswegen für einenDeal besonders empfänglich.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh, Herr Kollege! Das erzähle ich derStaatsanwaltschaft! Mal sehen, was die dazusagt!)

Dem hochgerüsteten Angeklagten steht eine schlechtausgerüstete Justiz gegenüber. Es herrscht keine Waffen-gleichheit, weil die Politik nicht die für eine wehrhafteund starke Justiz notwendigen Mittel zur Verfügungstellt. Statt die Justiz wehrhaft zu machen und ihr dienotwendigen Mittel zu verschaffen, will die politischeMehrheit in diesem Parlament nunmehr den großen Dealin diesem Land einführen.

Selbst Sie, Frau Zypries, haben noch im Sommer2007 in Hannover und zuletzt auf dem Deutschen Juris-tentag im September 2008 gefordert: Die Justiz muss soausgestattet sein, dass sie insbesondere komplexe Fälleauch ohne Mithilfe des Angeklagten aufklären kann. –Nun kapitulieren Sie. Denn jetzt wollen Sie den unwür-digen Handel von reichen Angeklagten mit einer ärmlichausgestatteten Justiz sogar in Gesetzesform gießen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es geht nicht nur um Reiche, Herr Kol-lege! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Ach dumeine Güte!)

Indem Sie kapitulieren, verletzen Sie das wichtigeund für den Rechtsstaat unerlässliche Prinzip, dass alleMenschen vor dem Gesetz gleich sind. Sie sagen, dassSie den Deal zumindest aus den dunklen Hinterzimmernin den würdigen Gerichtssaal holen. In Wahrheit entwür-digen Sie aber den Gerichtssaal, weil Sie ihn zu einemMarktplatz für wohlhabende Angeklagte machen.

(Beifall bei der LINKEN – Daniela Raab[CDU/CSU]: Wovon reden Sie denn da? –Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich sage nur:Mackie Messer!)

Im Übrigen ist Ihre Darstellung nur die halbe Wahr-heit. Die Vorgespräche, die den Deal tragen, finden näm-lich weiterhin in Hinterzimmern statt. Warum verbietenSie nicht wenigstens diese Vorgespräche bzw. warumverlagern Sie nicht sämtliche Vorgespräche in die Haupt-verhandlung?

(Jan Mücke [FDP]: Ja, ja! Am besten auch noch alle Telefongespräche!)

Dann könnte sich die Öffentlichkeit zumindest ein Bildvon diesem unwürdigen Geschacher machen.

Sie sagen, Sie würden mit Ihrem Gesetz für eine bes-sere Überprüfbarkeit von Deals sorgen, weil Rechtsmittelweiterhin möglich bleiben. Das ist völlig lebensfremd.Warum sollten Staatsanwaltschaft und Angeklagte, diesich gerade geeinigt haben, das Ergebnis dieser Einigunganfechten?

(Jörg van Essen [FDP]: Zum Beispiel, weil derDienstvorgesetzte der Staatsanwaltschaft da-mit nicht zufrieden ist!)

Die Linke bleibt dabei: Der Deal muss nicht gesetzlicherlaubt, er muss gesetzlich verboten werden. Das Straf-gesetzbuch ist kein Handelsgesetzbuch.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen[FDP]: Unsinn wird auch durch Wiederholungnicht besser! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]:Jetzt bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob dasnach Ulla nur die zweitschlechteste Rede waroder nicht! – Gegenruf des Abg. WolfgangWieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Was? Ulla war besser!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Bundesministerin Zypries, Sie haben in Ihrer Rededarauf hingewiesen, dass Sie mit Ihrem Gesetz dieGrundlagen des Strafprozesses schützen und bewahren.Ich will mich in meinem Redebeitrag mit den Grundla-gen und dem Zustand des Strafprozesses beschäftigen.

Die Grundnormen des rechtsstaatlichen Strafprozes-ses sind Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, Strafenach dem Maß der Schuld, Unmittelbarkeit der Beweis-aufnahme, Öffentlichkeit des Verfahrens, die Unschulds-vermutung aufseiten des Angeklagten, sein Recht, zuschweigen, sein volles Antragsrecht in der Hauptver-handlung, Rechtsmittel und das Verböserungsverbot, dieReformatio in Peius. Das ist geronnenes Verfassungs-recht und aus der Verfassung in die Strafprozessordnungeingeflossen.

Wie ist es darum bestellt? Ich frage das deswegen,weil gewichtige Stimmen – nicht etwa populistischeStimmen, nicht Herr Prantl oder andere, sondern Stim-men, die wir in einer sachlichen Debatte zur Kenntnisnehmen sollten – auf genau diese Grundsätze und ihreEntwicklung in den letzten 20 Jahren rekurrieren. Stattvieler will ich an dieser Stelle nur die Überschrift einesAufsatzes von Herrn Professor Thomas Fischer, einemRichter am Bundesgerichtshof, zitieren. Er schrieb in derNStZ vom August 2007 einen Artikel mit dem Titel „Re-gelung der Urteilsabsprache – ein Appell zum Innehal-

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Jerzy Montag

ten“. Übrigens hat auch Herr Hassemer in der Süddeut-schen Zeitung von Geschäften mit der Wahrheitgesprochen.

Es ist richtig, dass es für den deutschen Strafprozessschon einmal bessere Zeiten als heute gab. Es gab aberauch schon schlechtere Zeiten; das dürfen wir nicht ver-gessen. In den letzten 30 Jahren, seit den 60er-Jahren– damals haben die Kollegen Stünker, Gehb, van Essenund ich im Jurastudium etwas über den Strafprozess ge-lernt –,

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Mich darfst du auch erwähnen!)

fand allerdings eine Entwicklung statt, in deren Verlaufan den Grundlagen des Strafprozesses gesägt wurde, undzwar immer in Richtung des Abbaus von Grundrechtenund der Verkürzung von Rechtspositionen.

Urteil und Strafe sollen auf Wahrheit und Gerechtig-keit fußen. In Wirklichkeit fußen sie auf dem Aktenin-halt. Das Maß der Strafe sollte von dem Maß an Schuldbestimmt sein. Es wird aber von den Ressourcen der Jus-tiz bestimmt. Die Unmittelbarkeit des Verfahrens istlängst in das Vorverfahren verlagert. Der Öffentlich-keitsgrundsatz ist zigfach durchlöchert. Die Rechte desAngeklagten, von denen ich gesprochen habe, haltennoch. Aber es wird im politischen Diskurs darüber dis-kutiert, ob die Unschuldsvermutung überhaupt allge-mein gelten soll, es wird darüber diskutiert, ob dennSchweigen nicht doch ein Teil von Schuldeingeständnisist. Es wird seit Jahren darüber diskutiert, ob man dieAntragsberechtigung im Strafprozess nicht einschränkensoll. An den Rechtsmitteln wird auch herumgesägt.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Unglaublich!)

Nochmals der Bundesrichter Fischer. Ich zitiere ausseinem Beitrag in der NStZ:

Daher sind vor allem die Fragen offen geblieben,die sich aus den gravierenden Macht-Verschiebun-gen ergeben, welche in den vergangenen Jahrzehn-ten den Strafprozess bereits verändert haben. Des-sen Schwerpunkte haben sich, Stück für Stück, vomHauptverfahren in das Ermittlungsverfahren, vonden Gerichten zur Staatsanwaltschaft, von derStaatsanwaltschaft zur Polizei verschoben … man-che Bereiche der Strafverfolgung sind fast vollstän-dig von der Polizei bestimmt. Die komplizierteAusbalancierung von Schutz-Rechten und Macht-Positionen, welche den Kern sozialer und normati-ver Geltung des Strafprozessrechts bildet, ist … ausden Fugen geraten.

Das sagt nicht irgendein Kämpfer, irgendein Populist,das sagt ein Richter am Bundesgerichtshof. Wir solltendiese Bedenken bei unseren Überlegungen aufnehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Politik ist an dieser Entwicklung schuld. Siehat diese Entwicklung gesetzlich begleitet und manch-mal sogar verschärft. Wir machen immer kompliziertereund unklarere materielle Strafnormen. Die heutige De-

batte über § 89 a StGB ist ein Beleg dafür. Die Richter-schaft, die Staatsanwaltschaft wird im Stich gelassen:keine Stellen, keine Ausstattung, kein Geld. Der Bun-desgerichtshof schreibt in einem seiner Urteile vom letz-ten Jahr: Die Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke. GroßeWirtschaftsstrafverfahren sind nicht mehr zu bewältigen.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: So ist es!)

Deswegen sage ich Ihnen: Der Deal im Hinterzim-mer, die Geschäfte mit der Wahrheit, die Sanktions-schere als gerichtliche Erpressung, das ist ein Teil derAntwort einer hilflosen Justiz auf diese zwanzig, dreißigJahre Fehlentwicklungen. Das müssen wir bei unserenÜberlegungen bedenken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier setzt meine Kritik an den Kritikern an. Ich sage:Die Regelung des Deals begrenzt diese Missstände, be-wahrt Grundsätze vor weiterer Erosion.

(Joachim Stünker [SPD]: So ist es! – WolfgangNešković [DIE LINKE]: Wer überprüft dasdenn?)

Das sind nicht, wie Professor Hassemer es gesagt hat,„Schritte in eine andere Welt“, das ist in der realen Weltdes Strafprozesses ein einzelner Schritt in die richtigeRichtung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – Dr. JürgenGehb [CDU/CSU]: Mehr Anspruch haben wirauch nicht erhoben!)

Dieser Gesetzentwurf hat viele Vorläufer. Er ist besserals mancher der Vorläufer, über die wir gelesen haben.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Über einige wenige Punkte werden wir in der Beratungnoch diskutieren müssen; ich will diese Punkte jetztnicht im Einzelnen aufführen. Ich werde jedenfalls dazubeitragen, dass wir in den Ausschussberatungen zu ei-nem vielleicht noch besseren Gesetzentwurf kommen,als er uns schon vorliegt.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Peter Danckert

für die SPD-Fraktion.

Dr. Peter Danckert (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben, ich glaube, seit den späten 70er-Jahren, An-fang der 80er-Jahre das Phänomen, dass es in den Ge-richten mehr und mehr um Verständigung, Vergleich,Deal geht. Darum geht es auch in unserem Gesetzent-wurf. Lieber Kollege Gehb, es ist nicht so, dass nur derBegriff „Verständigung“ gebraucht wird. In der Begrün-dung unseres Gesetzentwurfes steht:

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21853

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Dr. Peter Danckert

Diese Verfahrensweise ist auch unter den Begriffen„Absprache“, „Vergleich“ oder „Deal“ bekannt.

Seit dieser Zeit behandeln wir dieses Thema. Mankann sich über dieses Phänomen in vielfältiger WeiseGedanken machen. Ich persönlich, als jemand, der dieseZeit und auch die Entwicklung dazu miterlebt hat,glaube, dass das auch etwas damit zu tun hat, dass Endeder 60er, in den 70ern und Anfang der 80er-Jahre eineGeneration von Verteidigern in den Gerichten erschien,die Strafsachen nicht mehr nur nebenbei behandelte,sondern sich ausschließlich mit dieser Materie beschäf-tigte und sehr viel intensiver in dieser Materie war, wes-halb sie in der Auseinandersetzung im Gerichtssaal na-türlich ein ganz anderer Partner oder Gegner war – jenachdem, wie man das sieht. Sie kannte und nutzte dieRechte, die den Strafverteidigern durch die Strafprozess-ordnung geboten wurden.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was demokratisch ist!)

Daraus hat sich sukzessive etwas ergeben, was schließ-lich zu der Rechtsprechung über die Verständigung imStrafverfahren geführt hat.

Die Entscheidung des Großen Strafsenats vom3. März 2005, die der Kollege Gehb schon angesprochenhat, ist natürlich etwas sehr Problematisches. Ich sagedas ganz deutlich. Es wird dort festgehalten, dass dieStrafgerichte am Ende der Rechtsfortbildung sind undnun der Gesetzgeber gefragt ist, sodass man sich natür-lich auch fragen kann, was dieser Hinweis an der Stellesoll. Man hat das 20 Jahre lang praktiziert – mehr rechtals schlecht oder mehr gut als nicht so gut –, und dannerhält der Gesetzgeber die Aufforderung, das zu regeln.

Ich will an dieser Stelle noch eine andere Entschei-dung des Großen Strafsenats ansprechen, und zwar diezur Rügeverkümmerung – § 274 StPO. Ich finde, hierhat sich der Große Strafsenat über Recht und Gesetz, dasauch über 130 Jahre lang praktiziert wurde, hinwegge-setzt und den Verteidigern den Boden einer Revisions-rüge entzogen, indem er einfach sozusagen neues Rechterfunden hat, obwohl diese Materie über Jahrzehnte hin-weg immer wieder diskutiert und vom Gesetzgeber nichtim Sinne dieser Entscheidung des Großen Strafsenatsbehandelt worden ist. Dieser Hinweis war meines Erach-tens also überflüssig. Man kann das aber tun.

Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Ich bin keinFreund dieser gesetzlichen Regelung, weil das – daszeigt ja auch die Geschichte; durch die Rechtsprechungdes BGH wird das belegt – jahrzehntelang praktiziertworden ist. Ich weiß nicht, warum man an einem be-stimmten Punkt plötzlich zu dem Ergebnis kam, dassman das nun gesetzlich regeln muss, obwohl es vorheroffensichtlich auch ohne gesetzliche Regelung ging. Ichbin deshalb also sozusagen kein ausgesprochener Freunddieser Regelung, und ich weiß, dass es viele gibt, dieähnlich wie ich denken. Es ist aber nun einmal der Auf-trag der Koalition, diese Dinge auf den Weg zu bringen.Nun müssen wir uns mit diesen Dingen so, wie sie vor-liegen, beschäftigen.

Ich muss unserer Justizministerin und auch der Ver-treterin des Ministeriums ausdrücklich ein Komplimentmachen. Ich finde, der beschrittene Weg war wirklichbeispielhaft dafür, wie ein Gesetzentwurf entwickeltwerden bzw. entstehen kann: von dem ersten Diskus-sionsentwurf über den ersten und zweiten Referentenent-wurf sowie den ersten Regierungsentwurf bis zur heuti-gen Fassung, die wir jetzt in der ersten Lesungbehandeln. Wir haben mit vielen Sachverständigen dis-kutiert und sozusagen die Entstehung des Gesetzentwur-fes begleitet. Jeder von uns hat seinen Beitrag dazu ge-leistet. Ich finde, das ist wirklich sehr bemerkenswert.

Das Zentrum dieser Regelung bildet ohne Zweifel§ 257 c der Strafprozessordnung. Hier ist eine ganzeReihe von Dingen geregelt, die man im Einzelnen auchnoch einmal beleuchten kann. Für mich persönlich wares wichtig – das ist dann auch Bestandteil des Gesetzent-wurfes geworden –, die Folgen des Falles zu regeln, dasses zu einer Verständigung kommt, die Ober- und Unter-grenze des Strafrahmens festgelegt sind, die Hauptver-handlung weitergeht – das ist an der Stelle ja der eigent-lich kritische Punkt – und das Gericht zu dem Ergebniskommt – was nach dem Gesetzentwurf ja zulässig ist –,von der Verständigung Abstand zu nehmen, ohne genauzu sagen, woran es eigentlich liegt, dass es von der Ver-ständigung Abstand nimmt.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist der Punkt, der verbessert wer-den muss!)

Fakt ist, dass das Gericht dies kann. Nun ist der Ange-klagte, der in der Regel ja ein Geständnis abgelegt habensoll, in der Situation, dass er sich sozusagen nackt imGerichtssaal befindet. Wie geht es dann weiter? An die-ser Stelle haben wir etwas sehr Vernünftiges gemacht,indem wir in den Gesetzentwurf hineingeschrieben ha-ben, dass ein Geständnis nicht mehr verwertet werdendarf, wenn von der Verständigung abgewichen wird. Dasist ein echtes Verwertungsverbot. Ich glaube, das ist einentscheidender Schritt, weil das für die Verfahrensbetei-ligten eine neue Situation bedeutet und das Gericht vorder voreiligen Entscheidung bewahrt, von einer Verstän-digung wieder Abstand zu nehmen.

Ein weiterer wichtiger Punkt findet sich aus meinerSicht leider nur in der Begründung wieder. Ein Verteidi-ger, der von einer Verständigung ausgeht, wird vielleichtim Rahmen der Beweisaufnahme nicht mehr so fragen,wie es der Fall wäre, wenn sich keine Verständigung ab-zeichnen würde. In diesem Fall enthält die Begründungden Hinweis – das wird auch bei der Auslegung des Ge-setzes eine entscheidende Rolle spielen –, dass die Be-weisaufnahme an den entsprechenden Stellen wiederholtwerden sollte. Das stärkt auch die Rolle des Angeklagtenund seines Verteidigers.

Ich glaube, wir stehen vor einer interessanten Anhö-rung. Ich weiß, dass es unterschiedliche Meinungen gibt,die wir mit großem Ernst aufgreifen werden. Es wirdeine sehr gute Debatte geben. Wenn man die Verständi-gung im Strafverfahren will, dann ist die von uns vorge-sehene gesetzliche Regelung eine vernünftige Ausgangs-basis.

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21854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Dr. Peter Danckert

Vielleicht ergibt sich noch die eine oder andere Rege-lung, Kollege Montag. Ob es sinnvoll ist, die Nebenbe-teiligten miteinzubeziehen, bezweifle ich, weil das dasVerfahren bestimmt nicht abkürzt, sondern sehr vielkomplizierter macht.

Wir werden sehen, was die Anhörung ergibt. Ich binsehr gespannt darauf. Ich glaube, dass wir am Ende desTages zu einer guten gesetzlichen Regelung kommenwerden. Das sage ich als ursprünglicher Gegner einerVerständigung. Aber ich kann mich mit einer Mehrheits-meinung durchaus zufrieden geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Also eine Verständigung im Parlament?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Siegfried Kauder, CDU/

CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn es manche nicht glauben: Auch das Strafver-fahren und die Hauptverhandlung sind ein kommunikati-ver Prozess.

(Joachim Stünker [SPD]: Genau das ist es!)

Es stimmt nicht, wenn Kollege Nešković uns glaubenmachen will, er habe Verständigung nie praktiziert oder,wie er es ausdrückt, er habe nie gedealt.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Er versteht ja auch nichts!)

Keine Verfahrenseinstellung nach § 153 a der Straf-prozessordnung ist ohne Kommunikation möglich.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Ein Blick in § 265 a der Strafprozessordnung zeigt, Kol-lege Nešković, dass manche Weisungen und Auflagen,die bei einer Bewährungsstrafe ausgesprochen werden,nur dann verhängt werden können, wenn der Angeklagtezustimmt.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Das wol-len Sie doch nicht ernsthaft behaupten! Das istdoch Unsinn!)

Mit ihm muss man also vorher gesprochen haben.

Folgendes hat mich ein bisschen gestört: Die Verstän-digung im Strafverfahren, die es seit Anfang der 80er-Jahre gibt, wurde in die strafprozessuale Schmuddeleckegestellt. Im Strafverfahren gibt es kein Hinterzimmer; esgibt Beratungszimmer.

Sie wissen, dass sich die Absprache bzw. die Verstän-digung im Strafverfahren langsam entwickelt hat unddass diese Entwicklungen immer wieder von BGH-Ent-scheidungen begleitet wurden. Dabei wurden Regelnfestgelegt, die auch Grundlage für den jetzt zu beraten-den Gesetzentwurf geworden sind. Es gibt keine

Schmuddelecke, sondern genaue Vorgaben, was ausge-handelt werden kann.

Herr Kollege Nešković, es ist Ihrer Persönlichkeit ei-gen, dass Sie es besser wissen als manche Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts. Denn auch das Bundes-verfassungsgericht hat schon im Jahr 1987 die Verfah-rensabsprache für verfassungskonform erklärt.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Das heißtdoch gar nichts! – Widerspruch von der CDU/CSU und der SPD – Michael Grosse-Brömer[CDU/CSU]: So viel zum Thema Besserwis-sen!)

– Ich sage ja: Der Kollege Nešković weiß es besser alsmehrere Richter des Bundesverfassungsgerichts.

Weil es also eine Entwicklung praeter legem, nichtcontra legem gewesen ist, ist alles in Ordnung. Trotzdemist es gut, dass wir die Verfahrensabsprachen in einemGesetz angemessen regeln. Die Rechtsprechung ist an-gemessen eingearbeitet worden, sodass es eigentlichnichts zu kritisieren gibt. Aber wir müssen schon aufpas-sen – das ist zu Recht schon angesprochen worden –,dass nicht der Eindruck entsteht, die Verständigung imStrafverfahren finde deshalb statt, weil die Justiz wegenPersonalmangels unter Druck geraten sei.

Jetzt kann man als Bundesgesetzgeber natürlich aufdie Länder schielen und sagen: Das ist deren Aufgabeund deren Problem. Die Länder müssen das bewältigen. –Nein, auch der Bundesgesetzgeber kann mithelfen. Ma-chen wir uns doch einmal Gedanken, ob es nicht einenStrafbefehl geben sollte, in dem eine Freiheitsstrafe biszu zwei Jahren zur Bewährung ausgesprochen werdenkann. Das spart Ressourcen ein. Die Reform zur Beset-zungsreduktion bei der Großen Strafkammer, die wir seitzehn Jahren immer wieder vor uns herschieben, könntenwir verabschieden. Auch das spart Ressourcen.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Die Verständigung im Strafverfahren darf also nichtunter dem Druck knapper Ressourcen durchgeführt wer-den. Die Verständigung hat aber auch nach dem neuenGesetzentwurf durchaus ihre Tücken. Ich habe an einerSachverständigenanhörung im Justizministerium teilge-nommen. Am Ende habe ich die Frage gestellt: Wobleibt bei der Verfahrensabsprache das Opfer?

Wenn man sich den Gesetzentwurf anschaut, kannman feststellen, dass im Begründungsteil die Beteiligungdes Nebenklägers angesprochen worden ist, dass dassehr gut und differenziert angeschnitten worden ist, den-noch bin ich der Meinung, dass diese Ausführungen imBegründungsteil nicht ausreichen; denn entscheidend istder Gesetzestext. Wir werden uns also Gedanken ma-chen müssen, wie man die Beteiligung des Nebenklage-vertreters bei der Absprache in das Gesetz einbindenkann. Das lässt sich sehr wohl bewerkstelligen. Wasmich ein bisschen irritiert, ist, dass es dazu einen Ent-wurf aus den Bundesländern gibt, dessen Vorschlägeman schon in den Gesetzentwurf hätte einbauen können.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21855

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Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

Es wurde der Eindruck vermittelt, als ob das Problemder Sanktionsschere mit diesem Gesetzentwurf ausge-merzt worden sei. Darauf hat Herr Hassemer in der Süd-deutschen Zeitung am 24. Januar 2009 zu Recht hinge-wiesen. Es gibt immer wieder die Fälle, dass ein Gerichtmit einer siebenjährigen Freiheitsstrafe droht, der Ange-klagte damit unter Druck gerät und man sich am Endeauf zwei Jahre zur Bewährung einigt. Ein solcher Druckist nach der Rechtsprechung nicht zugelassen.

Aber – nun kommt ein wichtiger Punkt, Herr Kollegevan Essen – wer kontrolliert denn, ob die Spielregeln derVerfahrensabsprache eingehalten werden?

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Diejenigen, die die Verfahrensabsprache treffen, habenwenig Anlass, zu sagen: Möge das doch noch einmal je-mand kontrollieren. – Da nützt es auch nichts, dass nachder Rechtsprechung der Gegenstand der Verfahrensab-sprache nicht der Rechtsmittelverzicht sein darf. Impraktischen Leben läuft das nun einmal anders.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Man handelt das, was zulässig ist, einvernehmlich aus.Untergrenze und Obergrenze der Strafe werden bespro-chen. Man schaut sich an, man kennt sich. Bei Strafver-teidigern ist das ein überschaubarer Kreis. Jeder weiß:Wenn ein Rechtsmittelverzicht nicht folgt, ist das Ver-trauen für die Zukunft weg.

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Darüber muss man sich Gedanken machen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das wollen wir doch!)

Wie kann man so etwas regeln? Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen, da hat vielleicht der InnenministerWolfgang Schäuble mit seinen Überlegungen nicht ganzunrecht.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Der Kol-lege Nešković auch nicht!)

Es muss doch eine Instanz geben, die kontrolliert, ob dieSpielregeln eingehalten worden sind. Diese Kontrollekann auch einmal dazu führen, dass ein Fall zugunstenund nicht zulasten des Angeklagten ausgeht. Die Kon-trollinstanz könnte sagen: Hier ist die Sanktionsschereangesetzt worden. Nun stimmen wir einem Rechtsmittel-verzicht nicht zu. – Deswegen gibt es die Überlegung, obman nicht in Nr. 152 der RiStBV, der Richtlinien für dasStraf- und Bußgeldverfahren, aufnimmt, dass der Staats-anwalt eine Rechtsmittelverzichtserklärung nach einerVerfahrensabsprache nur abgeben darf, wenn er das mitdem Behördenleiter oder einem Höhergestellten derStaatsanwaltschaft abgesprochen hat. Das wäre eineMöglichkeit, eine Kontrollinstanz einzuführen. Dafürbrauchte man noch nicht einmal eine Gesetzesänderung,weil das nicht vom Bundestag beschlossen werdenmüsste.

Wir werden uns noch einem anderen Problem zuwen-den müssen. Es gibt keine Zweiklassenjustiz, auch nichtnach Inkrafttreten dieses Gesetzes. Deswegen ist es gut,

dass in der Begründung des Gesetzentwurfs darauf hinge-wiesen wird, dass auch der nicht durch einen Strafvertei-diger vertretene Angeklagte – das Verfahren wird üblicher-weise beim Strafrichter des Amtsgerichts stattfinden – ineine Verfahrensabsprache eingebunden werden kann. Ichfrage mich aber, wie das praktisch funktionieren soll. Dasmag möglicherweise ein Placebo sein. Aber auch hierwäre eine Lösung denkbar. Man könnte dem beim Amts-gericht Angeklagten dann, wenn eine Verfahrensabspra-che im Raum steht, einen Verteidiger beiordnen. Dannhätte man in der Tat gleiches Recht für alle.

Wie Sie sehen, ist der Gesetzentwurf im Prinzip gutgelungen. Er spiegelt das wider, was die Rechtsprechungentwickelt hat. Über den vorhandenen Korrekturbedarfkönnen wir sachlich sprechen. Einige Punkte habe ichangesprochen. Ich freue mich auf die Debatte im Rechts-ausschuss. Ich bin mir sicher, dass auch dieser Gesetz-entwurf in angemessener Weise und zügig über die Hür-den des Deutschen Bundestages gehoben werden wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Wolfgang Nešković.

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Herr Kollege Kauder, es wäre der Fairness angemes-

sen gewesen, wenn Sie zumindest beim letzten Punkt,den Sie kritisiert haben, darauf hingewiesen hätten – daSie auch meine Presseerklärung und meine Pressearbeitzur Kenntnis nehmen –, dass ich mich in der Frage derÜberprüfbarkeit mit Herrn Schäuble einig weiß. WennSie das bisher nicht wissen, dann gebe ich das hiermitzur Kenntnis. Die Überprüfbarkeit ist in der Tat einPunkt, über den man reden muss; denn all die Hürden,die man hier aufbaut, machen keinen Sinn, wenn manangesichts des Umstandes, dass die eigentlich Be-schwerten mit dem Ergebnis zufrieden sind und die Öf-fentlichkeit es eventuell nicht ist, nicht überprüfen kann,ob die Hürden gewahrt sind.

Herr Kauder, typisch für Ihre Form der Auseinander-setzung ist, dass Sie mir etwas unterstellen, was ich garnicht gesagt habe. Man nennt das „einen Pappkameradenaufbauen“. Diesen haut man anschließend um. Ich habenicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsfür mich in Anspruch genommen. Natürlich ist sie mirbekannt. Sie beinhaltet auch bestimmte Voraussetzun-gen. Ich habe aber rechtspolitisch und nicht verfassungs-rechtlich argumentiert.

Herr Kauder, da sicherlich der Eindruck entstandenist, dass das, was ich vorgetragen habe, durch meineSichtweise als Richter, der ich 27 Jahre lang war, geprägtist, möchte ich Ihnen die Sichtweise eines Kollegen, derVorsitzender Richter am Landgericht Bonn ist – es wur-den bereits andere Richterkollegen angeführt –, näher-bringen. Er hat zur Verständigung in der DeutschenRichter Zeitung Folgendes ausgeführt:

Verständigungen zum Verfahrensausgang führenbei den Beteiligten nahezu zwangsläufig zu einer

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21856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Verminderung der Sorgfalt bei Sachverhaltsaufklä-rung und rechtlicher Prüfung. Streitige Hauptver-handlungen sind physisch und psychisch belastend.Die Erwartung, sich eine umfangreiche und kontro-verse Verhandlung zu ersparen und lediglich ein ab-gekürztes Urteil abfassen zu müssen, ist folglichgerade in Zeiten knapper Personalausstattung verlo-ckend.

Zum Thema Begrifflichkeit, Dr. Gehb, führt er aus:

Das „Einvernehmen“ (genauer: der „Leistungsaus-tausch“) wird sich daher regelmäßig auf Vergünsti-gungen beziehen, die auf anderem – gesetzmäßigem –Wege nicht zu erreichen wären. Abschreckende Bei-spiele hierfür gibt es bereits genügend.

Zum Abschluss heißt es:

Sind sie erst einmal gesetzlich vorgesehen,

– gemeint sind die von Ihnen geplanten Absprachen –

wird der ökonomische wie anwaltliche Druck aufdie Gerichte zunehmen, sich ihrer zur „Verschlan-kung“ des Verfahrens tatsächlich auch zu bedienen.Das Strafverfahren ist aber seiner Natur und Funk-tion nach nicht darauf angelegt, dass der Ange-klagte seinem Ablauf und Ergebnis die Zustim-mung erteilt.

Herr Kauder, wie stehen Sie zu dieser Auffassung ei-nes Richters des Landgerichts Bonn?

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Kauder, bitte.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Lieber Kollege Nešković, ich bitte um Verständnis,dass ich nicht ellenlang aus Aufsätzen vortrage. Ich habezur Kenntnis genommen, dass Sie die Meinung des In-nenministers, dass bei einer Verfahrensabsprache auchdie Möglichkeit einer Kontrolle gegeben sein muss, tei-len. Aber im Gegensatz zu Ihnen posaune ich nicht po-pulistisch in Presseerklärungen über einen Deal. Viel-mehr mache ich mir Gedanken, wie man ein bestehendesProblem vernünftig regeln kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Mit dem Hinweis auf Nr. 152 RiStBV sind wir auf derrichtigen Schiene. Einen ähnlichen Vorschlag hätte icheigentlich von einem Abgeordnetenkollegen, der langegenug bei einem Gericht tätig gewesen ist, erwartet. Ichwar es nicht, ich war und bin nur Strafverteidiger.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was heißt denn „nur“?)

Lieber Kollege Nešković, Sie zitieren aus einem Auf-satz, der eine Momentaufnahme darstellt, als ob es dieVerfahrensabsprache nicht seit Anfang der 80er-Jahregegeben hätte und als ob es die flankierenden Entschei-dungen des Bundesgerichtshofs nie gegeben hätte. Ichhabe schon gesagt, dass auch der Strafprozess ein kom-

munikativer Prozess ist. Sie werden auch für sich nichtin Anspruch nehmen wollen, dass Sie, auf der hohenBühne eines oberen Gerichtes sitzend, nie mit Verteidi-gern und nie mit Staatsanwälten Kontakt aufgenommenhätten. Wie wollen Sie denn nach § 154 der Strafpro-zessordnung in einem laufenden Strafverfahren Teiledurch Verfahrenseinstellungen ausscheiden? Wie wol-len Sie § 153 a der Strafprozessordnung umsetzen, ohnemit den Verfahrensbeteiligten gesprochen zu haben?Herr Kollege Nešković, es wäre vielleicht nicht schlechtgewesen, wenn Sie sich Gedanken gemacht hätten, wieman die Interessen der Opfer von Straftaten in eine Ab-sprache einführen kann. Wir haben das miteinander dis-kutiert, und in dem Begründungsteil gibt es dafür An-sätze. Miteinander arbeiten heißt auch, vernünftigeErgebnisse zustande zu bringen,

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Dazu ha-ben wir die Beratung!)

nicht rückblickend aus heutiger Sicht zu versuchen, dieVerfahrensabsprache in die Schmuddelecke eines Ge-richts zu stellen, wo sie nie gewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Joachim Stünker für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Joachim Stünker (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmaltreibt mich die Verzweiflung um.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir sind doch bei Ihnen! – Gegenrufvon der SPD: Eben! Das ist es gerade!)

Das ist in der heutigen Debatte zu diesem Thema wiederder Fall. Ich will Ihnen etwas dazu sagen. Teilweisewurde die Debatte doch sehr nachdenklich geführt, abernur teilweise. Der Kollege Danckert hat einen Ansatz ge-bracht, den auch der Kollege Kauder aufgenommen hatund den ich nur bekräftigen kann. Die Verständigung imStrafprozess hat diese Entwicklung genommen, weil inden 70er-Jahren und danach eine andere Generation vonRichterinnen und Richtern und von Anwälten mit eineranderen Ausbildung Strafprozesse durchgeführt hat. Ichwill Ihnen ein Beispiel nennen: Ich hatte als Schöffen-richter in den 80er-Jahren einen Schöffen, der ein alterLandwirt war. Er war seit 20 Jahren Schöffe, wie es aufdem Land üblich war. Er sagte einmal zu mir: HerrStünker, zu Ihnen komme ich richtig gerne. Ich freuemich immer, wenn ich zu Ihnen zur Verhandlung kom-men darf. – Ich sagte: Das ehrt mich, aber warum denn? –Da sagte er zu mir: Sie sprechen mit dem Angeklagten.

Der deutsche Strafprozess, den ich in den 70er-Jah-ren, als ich zum ersten Mal in der Strafkammer saß, er-lebt habe, war ein ganz anderer. Da saß oben ein Gericht,das nicht mit den Verfahrensbeteiligten sprach. Essprach nicht mit dem Angeklagten. Da wurde prozes-

Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21857

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Joachim Stünker

siert. Da lief der Prozess, wie Roxin es einmal geschil-dert hat, wie in einem Schauspiel ab. Zum Schluss kamdie Keule, und dabei kam eine Entscheidung heraus.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

Das war damals der Strafprozess. Dieser Strafprozess hatsich dadurch verändert, dass eine neue Generation dieStrafprozessordnung anders gelernt hat als die, die ausanderen Zeiten kam, um das einmal vorsichtig auszudrü-cken. Die Vertreter dieser Generation haben gesagt: DieStrafprozessordnung gibt uns doch die Möglichkeit, mitdem Angeklagten, mit den Verfahrensbeteiligten zusprechen und deutlich zu machen, wie wir die Anklagesehen, anstatt zu warten, bis nachher das Urteil gefälltwird. – Das war der Hintergrund. Daher habe ich in mei-nem Leben als Strafrichter und Vorsitzender einer gro-ßen Strafkammer, auch einer Wirtschaftsstrafkammer,und eines Schwurgerichts viele solcher Verständigungenim Strafprozess herbeigeführt. Das hat mit Klassenjustiz,mit Arm und Reich und all diesen ideologischen Verklä-rungen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das ist purerPopulismus der Linkspartei.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP sowie des Abg. Wolfgang Wieland[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das ist nicht die Wirklichkeit in Deutschland.

(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Pure Heu-chelei! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: In sei-nen Augen sind Sie ein Dealer gewesen, HerrStünker!)

– Ich frage mich manchmal, ob ich es mir immer nochantun muss, Ihnen, Herr Nešković, zuzuhören, um daseinmal ganz deutlich zu sagen. – Trotzdem habe ich vomersten Tag an, als ich in den Deutschen Bundestag ge-wählt wurde, also seit 1998, dem Bundesministerium derJustiz gesagt: Das, was sich dort bei der Verständigungund Absprache im Strafprozess entwickelt hat, bedarfder Regeln in der Strafprozessordnung.

Warum bin ich im Laufe der Jahre zu dieser Überzeu-gung gekommen? Weil das, was im Wege der Verständi-gung durch Gespräche zustande gekommen ist, teilweise– so etwas kann man immer und überall erleben – zuMissbrauch geführt hat. Damit meine ich die Gesprächeim Hinterzimmer und Ähnliches, aber nicht das Ge-spräch im Gerichtssaal mit den Verfahrensbeteiligten.Darum brauchen wir neue Regelungen, wie der GroßeSenat für Strafsachen des BGH angeregt hat. Diese Re-gelungen legen wir Ihnen mit diesem Gesetzentwurf vor.

Anders als hier gesagt worden ist, führen wir nichtden großen Deal in den deutschen Strafprozess ein. Werso etwas erzählt, der hat von der Praxis keine Ahnung,der weiß überhaupt nicht – um das einmal ganz deutlichzu sagen –, was jeden Tag in den Gerichtssälen abläuft.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das Wichtige dabei ist: Jedes Verfahren mit einer Ver-ständigung endet mit einem Urteil,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Natürlich!)

mit einem Schuldspruch. Es wird also jemand bestraft.Diese Person ist von diesem Tag an vorbestraft. Das Ein-zige, worüber man überhaupt reden kann, ist die Frageder Strafsanktion. Frau Ministerin hat hier zu Recht dieFrage gestellt, warum man das macht. Nehmen wir dasBeispiel, das zuletzt durch die Presse ging: Ein nichtvorbestrafter, weit über 60-Jähriger hat Steuern in Höhevon 900 000 Euro hinterzogen. Man kann sich überle-gen, ob es prozessökonomisch sinnvoll ist, ein Jahr langeinen Prozess zu führen, obwohl man, wenn man vonStrafzumessung etwas versteht, genau weiß, dass amEnde eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt wird.Es muss entschieden werden, unter welchen Vorausset-zungen diese Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetztwird. Erfahrene Strafrechtler wissen, wie so etwas ab-läuft. Ich wiederhole meine Frage: Ist es prozessökono-misch sinnvoll, ein Jahr lang sämtliche Einzelheiten zubehandeln, oder kann man dafür sorgen, dass der Ange-klagte ein Geständnis ablegt, dass sich der Betreffendealso zur Tat bekennt, wobei die Sanktionen und alle an-deren Folgen öffentlich bekannt werden? Das und nichtsanderes ist der Hintergrund unseres Vorgehens. DieseAbsprachen sind keine Schmuddelecken, wie man esteilweise darzustellen versucht hat.

Wenn wir uns hier ernsthaft mit Missbrauch beschäf-tigen wollen – das sollten wir in der nächsten Legislatur-periode machen, sofern wir alle noch die Ehre haben,diesem Hohen Haus anzugehören –, dann muss manüber eine ganz andere Vorschrift nachdenken, nämlichüber § 153 a Strafprozessordnung. In den letzten Wo-chen und Monaten sind Vorgänge in einer Staatsanwalt-schaft in einem nicht kleinen Bundesland – angeblicheProbleme mit einer Staatsanwältin, Verwerfungen usw. –durch die Presse gegangen. Das hängt mit § 153 a Straf-prozessordnung zusammen. Der Ausgang des Mannes-mann-Prozesses ist in meinen Augen in der Tat ein Skan-dal gewesen: Einstellung des Verfahrens ohne Urteil undohne Geständnis. Das ist der Hintergrund unseres Vorge-hens. In Prozessen wie dem Mannesmann-Prozess wer-den Absprachen in einem Bereich getroffen, der ganzanders als die Hauptverhandlung ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN – Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist aucheine ganz andere Dimension!)

– Das ist eine ganz andere Dimension: Durch die Presseging, dass dort Millionenbeträge verteilt worden seinsollen.

Ich bitte Sie wirklich – ich denke, wir werden dasüberwiegend im Rechtsausschuss machen –: Lassen Sieuns das sehr ernsthaft behandeln! Der Rechtsstaat ist einhohes Gut. Wir sollten daher mit Sachverstand und nichtmit Ideologie an die Themen herangehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 16/11736 und 16/4197 an

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten PatrickDöring, Horst Friedrich (Bayreuth), JoachimGünther (Plauen), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern –Zurück zur Verhältnismäßigkeit

– Drucksache 16/10313 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne damit die Aussprache. Das Wort hat Kol-lege Patrick Döring von der FDP-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Patrick Döring (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland hat zur Bekämpfung des Feinstaubproblemsvielerlei Maßnahmen diskutiert und auch ergriffen. Es istdennoch heute von der EU-Kommission ermahnt wor-den, mehr zu tun, um Feinstaub zu bekämpfen. Dasmacht deutlich, dass mit der Einrichtung von Umweltzo-nen und dem Erlass von Fahrverboten ganz offensicht-lich nicht die Ziele erreicht werden, die man sich vorge-nommen hat. Die Einrichtung von Umweltzonen hat,gelinde gesagt, fast keine Wirkung auf den Feinstaubaus-stoß in Deutschland.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Renate Blank [CDU/CSU])

Das alles sage ich vorweg, damit hier nicht insinuiertwird, wir als FDP wollten den Feinstaub nicht bekämp-fen oder wollten das Problem an die Seite schieben; ganzim Gegenteil: Wir sind dafür, den Feinstaub zu bekämp-fen, aber an der Quelle, dort, wo er wirklich entsteht, undnicht pauschal über das Fahrverbot, über die Einrichtungvon Umweltzonen. Das war der falsche Weg.

(Beifall bei der FDP)

Es ist auch falsch, den folgenden Eindruck zu erwe-cken: Wer aktuell in Hannover oder Köln oder Berlin indie Umweltzone einfährt, aber keine Plakette hat odereine rote Plakette hat, begeht genauso einen Verkehrs-verstoß wie jemand, der zum Beispiel verkehrt herum ineine Einbahnstraße fährt oder ein Einfahrverbot insge-samt missachtet. – Das ist nicht vergleichbar. Ersteres istauch nicht verkehrsgefährdend.

(Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD]: Aber ge-sundheitsgefährdend!)

Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, geben wirIhnen mit unserem Antrag die Gelegenheit, in der weite-ren Beratung im Ausschuss sehr konstruktiv und sach-lich darüber nachzudenken, ob es bei der so stark zer-splitterten Landschaft von Umweltzonen in Deutschlandmit unterschiedlichsten Ausnahmeregelungen – in jederKommune gibt es andere Regelungen, etwa dazu, obOldtimer ein- und ausfahren dürfen,

(Christian Carstensen [SPD]: Oldtimer! Da-rauf haben wir gewartet!)

ob Schaustellerfahrzeuge ein- und ausfahren dürfen, obReisebusse ein- und ausfahren dürfen; Letzteres ist einSonderproblem, das wir im Ausschuss seit längerem voruns herschieben; Sie alle kennen die Problematik – ver-nünftig und verhältnismäßig ist, jedem, der sich keinePlakette besorgt hat, etwa aus Unwissenheit, weil er viel-leicht ganz selten in eine der Städte fährt, in denen eineUmweltzone eingerichtet worden ist, sofort nicht nureine Ordnungswidrigkeit anzulasten, sondern ihn vor al-len Dingen auch mit einem Punkt im Flensburger Zen-tralregister zu bestrafen. Das ist nicht verhältnismäßig.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben die Zahlen für das erste Halbjahr 2008 imAntrag aufgeführt. Ich finde es übrigens bemerkenswert– ich sage das hier ausdrücklich, weil der Herr Kasparickauf der Regierungsbank sitzt –, dass nach den mir vorlie-genden Informationen das Bundesverkehrsministeriumdem Kraftfahrtbundesamt untersagt hat, mir die Zahlenfür 2008 komplett zu geben.

(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Skandal!)

Die Auskunft des Sachbearbeiters im Kraftfahrtbundes-amt jedenfalls war, er dürfe mir die endgültigen Punkte-zahlen für unzulässiges Einfahren in Umweltzonen aufWeisung des Bundesverkehrsministeriums nicht geben.Das ist auch eine Aussage, verehrte Kolleginnen undKollegen, und ich ziehe daraus die richtigen Schlüsse.

(Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])

Vor diesem Hintergrund sind wir als FDP-Fraktionsehr dankbar dafür, dass parallel zum Verkehrsgerichts-tag in Goslar viele Akteure in der Verkehrspolitik, etwadie Automobilklubs, gemeinsam – es ist selten genug derFall, dass eine gemeinsame Position erarbeitet wird –eine Reform des Punktewesens und des Verkehrszentral-registers in Flensburg insgesamt gefordert haben. Viel-leicht ist unser Antrag zu dieser speziellen Frage auchAnlass, im Ausschuss einmal darüber zu sprechen, ob in-zwischen nicht für zu viele kaum wichtige, jedenfallsnicht verkehrsgefährdende Verstöße Punkte gegebenwerden und wirklich schwere Ordnungswidrigkeiten,vielleicht auch Straftaten im Straßenverkehr zu wenigbestraft werden. Dieser Diskussion über das Bußgeld ha-ben Sie sich in den letzten Monaten verwehrt, liebe Kol-leginnen und Kollegen.

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Patrick Döring

(Beifall bei der FDP – Horst Friedrich [Bay-reuth] [FDP]: Symbolpolitik ist viel einfa-cher!)

Es ist an der Zeit, gemeinsam über Folgendes nachzu-denken: Was soll nach unserer Meinung, die wir uns umVerkehrssicherheit sorgen, streng verfolgt werden? Womuss schon nach wenigen Verstößen klar sein, dass dieFahrerlaubnis in Gefahr gerät?

Und wo schießt man mit Kanonen auf Spatzen, wennman jemanden, der einmal unerlaubt in eine Umwelt-zone einfährt, weil er vergessen hat, die Plakette zu be-antragen, oder gar nicht weiß, dass in der Stadt, in die erfährt, eine Umweltzone eingerichtet ist, mit einem Punktin Flensburg bestraft?

(Sören Bartol [SPD]: Das sind ja so viele Städte!)

– Auch Sie werden nicht alle Städte kennen, in deneneine Umweltzone eingerichtet ist. Keiner der hier anwe-senden Kollegen wird all diese Städte benennen können. –Die gleiche Strafe bekommt man, wenn man verkehrsge-fährdend in falscher Richtung in eine Einbahnstraße ein-fährt oder einen Rotlichtverstoß begeht. Das ist nichtvergleichbar; wir sollten nicht der Versuchung erliegen,das zu vergleichen. Es ist in hohem Maße verwunder-lich, dass es überhaupt zu dieser Regelung gekommenist.

Wir Parlamentarier sollten die Gelegenheit nutzen, imAusschuss über Änderungen zu beraten. Wir machen Ih-nen hierzu einen Vorschlag und hoffen auf Unterstüt-zung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP – Christian Carstensen[SPD]: Wenigstens hat er einmal den Oldtimeruntergebracht!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Gero Storjohann, CDU/

CSU-Fraktion.

Gero Storjohann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Seit März 2007 gilt in Deutschland die soge-nannte Plakettenverordnung, die Verordnung zum Erlassund zur Änderung von Vorschriften über die Kennzeich-nung emissionsarmer Kraftfahrzeuge. Pkw, Lkw undBusse werden je nach Schadstoffgruppe mit einer Fein-staubplakette versehen.

Ich möchte gerne zugestehen, dass es in der Einfüh-rungsphase immer Leute gibt, die vergessen, so etwas zubeantragen. Nun ist aber eine gewisse Zeit ins Land ge-gangen; nun erwarte ich, dass jeder überprüft hat, was erfür ein Auto hat, welcher Schadstoffklasse es angehörtund ob er eine Plakette benötigt. Ich kann erwarten, dasssich alle Verkehrsteilnehmer mit ihren Fahrzeugen be-schäftigt und diese gegebenenfalls mit einer entspre-chenden Plakette versehen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Einführungsphase ist inzwischen abgeschlossen.Jetzt geht es um die Frage: Wie gestaltet sich die Praxis?Die Kennzeichnung ist erforderlich, um bei zu hohenFeinstaubbelastungen Fahrverbote aussprechen und um-setzen zu können: Besonders gekennzeichnete Verbots-zonen dürfen dann nur von Kraftfahrzeugen mit einerentsprechenden Zulassung befahren werden.

Wir sprechen hier über diese Verordnung; wir spre-chen nicht über die Umweltzonen. Die Verordnung setztvoraus, möglichst passgenau und lokal begründet denSchutz der Bevölkerung zu gewährleisten. Darum küm-mern sich die Kommunen, nicht der Bundestag oder derLandtag.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Kom-munen vergeben doch nicht die Punkte! Dasmachen doch wir!)

Die Bürger wählen vor Ort ihre Vertreter. Insofern sinddie Bürger in diesen Prozess eingebunden; das halte ichfür richtig und sinnvoll. Dies wird auch von den Antrag-stellern, der FDP, offenbar nicht geleugnet; denn der An-trag richtet sich gegen die Höhe der Sanktionierung undbeschäftigt sich mit der Frage, ob die Höhe der Strafe et-was bewirkt. Darüber kann man sich trefflich streiten.

Das Bußgeld von 40 Euro bewirkt dann ja auch denberühmten Punkt in Flensburg. Das schafft Arbeit inmeiner Heimatregion Schleswig-Holstein.

(Christian Carstensen [SPD]: Ein entscheiden-des Argument für diese Regelung!)

Ich mache darauf aufmerksam, dass der Bundesrat imletzten Jahr der Neufassung des Bußgeldkataloges zuge-stimmt hat. Es ist interessant, dass in Baden-Württem-berg, wo traditionell die FDP an der Regierung beteiligtist,

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nur kein Neid!)

besonders viele Umweltzonen eingerichtet worden sind.Ich weiß nicht, wie es um die kommunalen Mehrheitensteht, aber ich glaube, dass auch hier die FDP häufig be-teiligt ist.

Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es viele Umweltzo-nen; auch hier sind Sie von der FDP an der Regierungbeteiligt. In Hannover gibt es eine Umweltzone; auch inNiedersachsen sind Sie an der Regierung beteiligt.

(Patrick Döring [FDP]: Das beschließen aberdie Kommunen, wie Sie richtigerweise gesagthaben!)

– Das ist richtig; aber auch in den Kommunen haben Siesicherlich Einfluss.

(Patrick Döring [FDP]: Leider nein! Aber die CDU!)

Mir ist nicht bekannt, dass Sie einen Vorstoß im Bundes-rat unternommen haben, um diese Regelung zu ändern.Im Bundesrat hätten Sie sicherlich gute Möglichkeiten

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Gero Storjohann

dazu. Aber nein, Sie versuchen es über den Bundestag;das sei Ihnen zugebilligt.

Sie schreiben, viele Auswärtige wüssten nicht, ob beider Einfahrt in eine andere Stadt eine Plakette notwendigsei. Ich mache darauf aufmerksam, dass alle Umweltzo-nen mit riesengroßen Schildern gekennzeichnet sind.Auch ein Lkw-Fahrer, der eine Brücke befahren möchte,muss Schilder zur Kenntnis nehmen; wenn die Last, dieer transportiert, nicht zulässig ist, muss er damit rechnen,dass man es ihm zum Vorwurf macht, wenn er dieseSchilder nicht beachtet. Das gilt bei Umweltzonen natür-lich genauso.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. AntonHofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], andie CDU/CSU gewandt: Ihr dürft klatschen,das ist euer Redner!)

Es geht ja nicht um eine Plakette für den einen Tag,sondern um die Plakette, die Sie sich generell für IhrAuto besorgen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, näm-lich die Überlegung: Habe ich noch das richtige Auto,oder sollte ich mir – technisch innovativ – ein neues an-schaffen, wenn ich mich hauptsächlich in Umweltzonenbewege?

(Patrick Döring [FDP]: Es berät Sie der Abge-ordnete Storjohann! – Horst Friedrich [Bay-reuth] [FDP]: Bei eurer Politik kann man sichja kein neues Auto leisten! Ihr lasst einem janichts!)

Das ist ein Anreiz, ein überlegenswerter Punkt. Insofernkann jeder selbst bestimmen, ob er das Risiko eingeht, ineine Umweltzone ohne Plakette oder mit einem Fahr-zeug, das dafür nicht geeignet ist, zu fahren.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Erst dieSteuern erhöhen, dass es kracht, und sich dannwundern, dass keiner mehr neue Autos kauft! –Gegenruf des Abg. Christian Carstensen[SPD]: Nur weil ihr eure Oldtimer nicht ab-wracken wollt!)

Meine Damen und Herren, wer, wie die FDP, jetzt be-hauptet, dass 20 Euro als Strafe ausreichend seien, demmuss ich sagen, dass es bei den Einfahrtverboten, wieSie, Herr Döring, das hier vorgetragen haben, durchausUnterschiede gibt. Sie begehen eine größere Verkehrsge-fährdung, wenn Sie in eine Einbahnstraße falsch hinein-fahren. Deswegen wird das geahndet.

(Patrick Döring [FDP]: Aber es gibt keinen Punkt!)

Dann bekommen Sie einen Punkt.

(Patrick Döring [FDP]: Wenn Sie verkehrt indie Einbahnstraße fahren, kriegen Sie keinenPunkt!)

– Gut, dann bekommen Sie keinen Punkt. – Es handeltsich aber um eine erhöhte Gefährdung, wenn Sie nichtmit einem vernünftigen Fahrzeug und entsprechendemMotor in eine Umweltzone hineinfahren. Sie gefährdendie Umwelt, die Mitmenschen. Wenn das Verhalten der

Menschen generell verändert werden soll, dann müssenHinweise gegeben werden. Dieser Bußgeldkatalog istdas entsprechende Instrument. Wenn die Menschen sichnicht daran halten, wird das geahndet. Wir hoffen auf dieVernunft der Menschen.

Die jetzige Regelung im Bußgeldkatalog ist also zurDurchsetzung des geltenden Rechts geeignet und erfor-derlich. Wir halten ihn auch für angemessen. Wer etwasanderes will, muss einen Vorschlag machen, wie er dasVerhalten der Menschen dann ändern will.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich schlagevor, dass der Hausbesitzer mit offenem Kaminund einem Auto auch noch einen Punkt kriegt,wenn er den Kamin anzündet!)

Derzeit haben wir Umweltzonen, und wir möchten, dasssich die Menschen daran halten. Wenn wir als PolitikerRegeln aufstellen, ist die Frage, wie wir es bewirkenkönnen, dass sich die Menschen daran halten. Freiwilliggeschieht das nämlich nicht.

(Patrick Döring [FDP]: Wer mit einem Pkw ineine Fußgängerzone fährt, kriegt keinenPunkt! Das ist doch abenteuerlich!)

Es stellt sich die Frage, ob sie sich bei einer Strafe von20 Euro eher daran halten oder nicht. Daher denke ich,das, was Sie hier vorschlagen, ist keine Lösung.

Die Einführungsphase ist vorbei. Wir werden jetztauch weniger Verstöße feststellen. Deswegen empfehleauch ich meiner Fraktion, Ihren Antrag an den Aus-schuss zu überweisen. Dort werden wir uns sehr kritischmit ihm beschäftigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Lutz Heilmann für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

FDP befindet sich auf einem Kreuzzug gegen Umwelt-zonen als vermeintliche Hüterin des Heiligen Grals derAutolobby – freie Fahrt für freie Bürger. Kaum ein Mo-nat vergeht, in dem die FDP nicht eine Ausnahmerege-lung für irgendeine Gruppe fordert.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ein Quatsch auf hohem Niveau!)

Erst waren es die Oldtimer, dann die Reisebusse, undjetzt ist es das Bußgeld selbst. Wenn die FDP damit Er-folg hätte, sähe die Umweltzone bald aus wie einSchweizer Käse. Aushöhlen, bis nichts mehr davon üb-rig ist, ist offenbar Ihr Ziel. Aber dann lamentieren,wenn wir von der EU die Rote Karte bekommen!

(Patrick Döring [FDP]: Es geht um Verhältnis-mäßigkeit bei der Bestrafung!)

Dabei geht es bei den Umweltzonen um nicht wenig.Es geht um den Schutz der Gesundheit der Menschen

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Lutz Heilmann

durch die Verbesserung der Luft. Nach Auffassung derLinken ist das Recht auf saubere Luft ein Menschen-recht, ein Grundrecht.

(Patrick Döring [FDP]: Das bestreitet doch gar keiner!)

Wir haben als Gesetzgeber die Pflicht zum Handeln.

(Patrick Döring [FDP]: Das bestreitet auch keiner!)

Das hat uns der Europäische Gerichtshof letztes Jahrnoch einmal ganz deutlich aufgegeben.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Alles un-strittig, Herr Heilmann! Sie haben es nicht ge-rafft!)

Mit seiner Entscheidung vom 25. Juli des vergangenenJahres hat er das Recht der Menschen auf saubere Luftgestärkt. Das dürfte auch Ihnen bekannt sein.

(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring[FDP]: Wir führen keine Umweltzonendebatte,falls Sie es noch nicht gemerkt haben!)

– Warum stellen Sie dann permanent Anträge, die daraufausgerichtet sind, die Umweltzone ad absurdum zu füh-ren?

(Patrick Döring [FDP]: Überhaupt nicht! Siehaben den Antrag entweder nicht gelesen odernicht verstanden!)

Wir haben uns in Deutschland für die Einrichtung vonUmweltzonen entschieden. Ich bin dafür, dass wir ge-meinsam dafür sorgen, dass die Umweltzonen effektivausgestaltet werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie re-den viel von Nachhaltigkeit und Generationengerechtig-keit.

(Christian Carstensen [SPD]: Machen die doch gar nicht!)

Aber was machen Sie? Mit Ihrem Kreuzzug gegen dieUmweltzonen vergeben Sie eine Chance, etwas für un-sere Kinder und Enkel zu tun, deren Gesundheit zuschützen und nicht zu gefährden.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Oh Gott!)

Umweltzonen haben noch einen zusätzlichen Effekt.Sie setzen Impulse für Handwerk und Handel. Warum?Etliche Fahrzeuge erfüllen die Anforderungen hinsicht-lich der Umweltzonen nicht; das ist uns bekannt. DieseAutos umweltzonentauglich zu machen oder zu ersetzen,bringt einiges an Arbeit für unsere Kfz-Werkstätten oderauch für den Handel, falls man sich entscheidet, einneues Auto zu kaufen.

Erlauben Sie mir, auf den FDP-Antrag mit dem Titel„Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern – Zurück zurVerhältnismäßigkeit“ zurückzukommen. Ich möchte da-rauf verzichten, hier über den Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit zu debattieren. Das würde meine Redezeitsprengen.

(Patrick Döring [FDP]: Das hat Ihnen Ihr Re-ferent nicht aufgeschrieben!)

Aber ich frage Sie: Was ist denn an dem Bußgeld inHöhe von 40 Euro unverhältnismäßig?

(Patrick Döring [FDP]: Der Punkt ist unver-hältnismäßig!)

Zum Vergleich: Für einen Verstoß gegen das Sonntags-und Feiertagsfahrverbot für Lkws werden 40 bis200 Euro fällig. Bei Gefährdung der Umwelt durch denTransport gefährlicher Güter auf gesperrten Straßen wer-den 100 Euro fällig.

(Patrick Döring [FDP]: Weil ein wirtschaftli-cher Vorteil damit verbunden ist! Das wissenSie doch!)

– Ich bitte Sie, Herr Kollege: Ist es kein Vorteil, dass wirunsere Kinder und die Menschen in den Städten vorFeinstaub schützen?

(Patrick Döring [FDP]: Keine Ahnung auf ho-hem Niveau!)

Ich frage Sie deshalb noch einmal: Was ist an den40 Euro unverhältnismäßig?

Sie behaupten, dass Auswärtige nicht über die Um-weltzone Bescheid wüssten. Ich muss da dem KollegenStorjohann von der CDU/CSU – ich tue das nur ungern –ausnahmsweise zustimmen,

(Christian Carstensen [SPD]: Oh! Da hat der aber was falsch gemacht!)

weil ich mit ihm inhaltlich übereinstimme: Unwissenheitschützt nicht vor Strafe. Das sage ich Ihnen als ausgebil-deter Jurist. Die Hinweisschilder sind so groß und sodeutlich sichtbar, dass man sie gar nicht übersehen kann.

(Patrick Döring [FDP]: Wo soll denn jemandam Samstagnachmittag eine Plakette bekom-men? Das ist doch lebensfremd!)

Größtenteils weisen Reiseveranstalter und Hotels daraufhin, dass es Umweltzonen gibt. In Berlin sind die Hotelssogar dabei behilflich, fehlende Plaketten zu besorgen.

Es ist richtig, dass es Probleme gibt. Das bestreitetkeiner. Probleme gibt es insbesondere bei der Nachrüs-tung von Autos. Die Bundesregierung ist jetzt angesichtsder Tatsache gefordert, dass Filter fehlen oder Schrottfil-ter verkauft wurden. Ich erspare mir jetzt Bemerkungenzum Filterskandal, den wir im Hause und in den Aus-schüssen hinreichend debattiert haben. Das mache ichbeim nächsten Mal, wenn die Bundesregierung meineAnfrage beantwortet hat. Mit Ruhm hat sich die Bundes-regierung bei dem Thema weiß Gott nicht bekleckert.Die Zahlen der ausgetauschten Filter machen dies deut-lich. Hier werden Probleme vertuscht und nicht bewäl-tigt.

Die Probleme müssen freilich gelöst werden. Falschist es, Umweltzonen abzuschaffen. Das wird mit der Lin-ken nicht zu machen sein. Deshalb fordert die Linke:erstens den Austausch aller Schrottfilter und Entzug derBetriebserlaubnisse, um dafür einen wirksamen Anreiz

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Lutz Heilmann

zu setzen; zweitens die Verlängerung der Förderdauerzur Nachrüstung bei Pkw über das Jahr 2009 hinaus so-wie eine Differenzierung und Erhöhung der Förder-summe; drittens Förderprogramme zur Umrüstung vonLkws und Reisebussen;

(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht!)

viertens Ausnahmeregelungen zur Abfederung von Här-tefällen, solange es keine wirksamen Filtersysteme gibt.Das sind die Forderungen der Linken.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Solange diese Forderungen nicht erfüllt sind, werden

wir jegliche Debatten über Umweltzonen ablehnen.Selbstverständlich lehnen wir auch den Antrag der FDPab.

(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring[FDP]: Dann hätten Sie Ihre Redezeit auchspenden können!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter

für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! An dem Titel Ihres An-trags „Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern – Zu-rück zur Verhältnismäßigkeit“ gefällt mir ganz beson-ders, dass Sie zur Verhältnismäßigkeit zurückkehrenwollen. Ich möchte Sie im Gegenzug auffordern: Kom-men Sie auf den Boden der Tatsachen zurück! Ich emp-finde es nämlich als unverhältnismäßig, wie Sie uns hiermit Anträgen zuschütten, in denen Sie versuchen, Um-weltzonen zu umgehen und Ihre Klientel bei Laune zuhalten, indem Sie sie in ihrer Auffassung, dass Umwelt-zonen nichts bewirken, immer wieder bestärken.

(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay-reuth] [FDP]: Im Gegensatz zu euch sind wirlangsam Volkspartei! Das wollen wir einmalfesthalten! Ihr wisst ja nicht einmal mehr, waseine Klientel ist!)

Angesichts der Tatsache, dass die EU-Kommission eineBuße androht, muss man schon fragen: Was ist denn IhreAlternative, um die Feinstaubbelastung zu reduzieren?

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was ihr macht, hilft offensichtlich auch nicht!)

Unverhältnismäßig finde ich auch, dass die FDP Aus-nahmeregelungen für alle möglichen Fahrzeuge fordertoder das Bußgeld heruntersetzen will, obwohl die Um-weltzonen zum Schutz der Anwohnerinnen und Anwoh-ner vor Feinstaub eingerichtet worden sind.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie nützen nur nichts!)

– Darauf komme ich noch. Hören Sie mir erst einmal zu!

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kauch?

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Nein.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie beiAbgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN – Iris Gleicke [SPD]: Klare Antwort!)

– Klare Ansage.

Sie vergessen, welche Auswirkungen diese Fein-staubbelastung hat. Sie vergleichen das mit einer Ein-bahnstraße und wissen ganz genau, welche gesundheitli-chen Belastungen Feinstaub mit sich bringt:Atemwegserkrankungen,

(Patrick Döring [FDP]: Das ist nicht Teil desAntrags! – Gegenruf des Abg. ChristianCarstensen [SPD]: Aber das Ergebnis!)

Zunahme der Sterblichkeit. Wie sieht das eigentlich IhreBeauftragte für die Kinderkommission? Es sind doch ge-rade die Kinder in den Städten, die unter Feinstaub lei-den, wenn Sie hier Ausnahmen zulassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Es wurde bisher eine Menge an Umweltzonen einge-richtet, angefangen in Berlin, Hannover und Köln zuJahresbeginn 2008. Es folgten weitere. Manche wieStuttgart haben sogar ein Lkw-Durchfahrverbot. In derZwischenzeit gibt es Umweltzonen in 30 Städten. Nachdieser kurzen Zeit – der Zeitraum beträgt erst ein Jahr; essind noch nicht einmal alle Umweltzonen eingerichtet –sagt sogar der Städtetag, dass Umweltzonen wirken. Dasist die erste Zwischenbilanz. Berlin sagt, man habe guteErfahrungen mit der Einrichtung einer Umweltzone ge-macht.

(Ingo Schmitt [Berlin] [CDU/CSU]: Wer sagt das?)

Dreckschleudern mit besonders hohen Emissionen müs-sen draußen bleiben.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Deswegensind die kommunalen Fahrzeuge nämlich mitmodernsten Aggregaten ausgerüstet! Die dür-fen alle hineinfahren!)

Nach jüngsten Untersuchungen steht schon heute fest,dass die Berliner Fahrzeugflotte sauberer geworden ist.Ich habe immer gedacht, die FDP interessiere sich fürdie Wirtschaft und für Wirtschaftsförderung. Sie müsstedoch ein Interesse daran haben, dass vermehrt innova-tive, emissionsarme Fahrzeuge auf den Markt kommen.

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Rita Schwarzelühr-Sutter

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ver-hindert ihr ja mit eurer Politik am laufendenBand! Das ist ja das Problem! – Patrick Döring[FDP]: Thema verfehlt! Sechs! Das ist nichtdie Frage! Der Antrag hat ein anderes Thema!Sie weigern sich, das zu diskutieren! – Gegen-ruf des Abg. Christian Carstensen [SPD]: Ihrhabt ein Ergebnis mit eurem Antrag! Das istklar!)

– Ihr Antrag zielt darauf ab, über eine Hintertür Umwelt-zonen auszuhebeln.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen ganz genau, welche Auswirkungen mit derEinführung von Umweltzonen verbunden sind. Man er-wartet in der ersten Stufe eine 2-prozentige Verminde-rung der Emissionen und eine Reduzierung der Über-schreitungstage um fünf Tage. In der zweiten Phase,wenn nur noch Fahrzeuge mit einer grünen Plakette indie entsprechenden Zonen fahren dürfen, erwartet maneine Verminderung von 10 Prozent und eine Reduzie-rung der Überschreitungstage um 25 Tage.

(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])

– Hören Sie doch einfach einmal zu! Vielleicht habendann auch Sie einen Erkenntnisgewinn.

(Patrick Döring [FDP]: Sie diskutieren ja nicht über das Thema, das wir beantragt haben!)

Wissen Sie eigentlich, dass wir seit den 90er-Jahrenim Zusammenhang mit Smog eine Bußgeldkatalogver-ordnung haben? Für eine Missachtung von Fahrverbotenwurde damals ein Bußgeld von 80 DM vorgesehen. Soweit müsste Ihr Erinnerungsvermögen noch vorhandensein.

(Heiterkeit des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Jetzt sind es 40 Euro.

Wir wissen ja, wie es im Alltag mit Selbstverpflich-tungen ist: Wer hält sich daran? Ich finde es ganz sinn-voll, dass man im Verkehrszentralregister einen Punktbekommt, wenn man gegen das Verbot der Einfahrt indie Umweltzone verstößt. Wenn man das nämlich nichtmacht, dann hält sich auch keiner an dieses Verbot. Werdas Verbot einmal umgeht und eine Buße von nur20 Euro zahlen muss, wird es auch ein zweites Mal ma-chen. Dies ist dann sehr wohl eine Umgehung unseresZiels, die Städte von Feinstaub zu entlasten.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Deutschen haben in der Zwischenzeit durch dieMedien mitbekommen, dass es in bestimmten StädtenUmweltzonen gibt. Ich hätte gedacht, Sie schlagen statteiner Reduzierung der Buße die Benutzung des ÖPNV inden großen Städten vor, der dort gut funktioniert. Abernichts dergleichen ist der Fall.

Auch die Touristen, die nach Deutschland fahren, ha-ben in ihren Ländern Umweltzonen. Für sie gilt dieselbeEU-Luftreinhalterichtlinie wie für uns.

(Patrick Döring [FDP]: In keinem europäi-schen Land gibt bisher es Umweltzonen! Daswissen Sie doch!)

– Herr Döring, es gibt in den Städten anderer LänderLow Emission Zones. Schauen Sie einmal im Internetnach. Dort heißt es nämlich: „Why low emission zo-nes?“

(Patrick Döring [FDP]: Aber kein Plaketten-system, wie wir es haben! Sie wissen es! Sieweigern sich, die Wirklichkeit zur Kenntnis zunehmen! – Gegenruf des Abg. ChristianCarstensen [SPD]: Aber es heißt dort nicht„Umweltzone“! Deswegen hat Patrick Döringdas nicht verstanden!)

„Health! In short, pollution kills.“ Ich denke, in jedemReiseführer steht, dass wir eine Plakettenpflicht haben,wie ebenso darin steht, dass es in Berlin einen Fernseh-turm gibt. Das gehört dazu. Man kann die Plakette onlinebestellen; man kann sie bei den Fahrzeughändlern, inden Werkstätten – es gibt 30 000 –, in Zulassungsstellenund bei den Technischen Überwachungs-Vereinen kau-fen. Kommen Sie zurück auf den Boden der Realität undzur Verhältnismäßigkeit! Ich erwarte – ich freue michdarauf –, dass Sie einmal einen Antrag zur Bekämpfungdes Feinstaubs an der Quelle vorlegen und dazu guteVorschläge auf den Markt bringen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat der Kollege Anton Hofreiter für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Manche Debatten hier im Hause verblüffeneinen schon: Es werden Themen ganz unterschiedlicherWichtigkeit verhandelt, und bei manchen Themen kom-men dann richtig die Emotionen hoch. Interessanter-weise kommen bei der FDP die Emotionen dann hoch,wenn es darum geht, einen Bußgeldkatalog zu verän-dern. Dies empfinde ich als mehr als verblüffend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Patrick Döring [FDP]: Emotionenkommen hoch, wenn man unsere Argumentenicht zur Kenntnis nimmt!)

– Die Argumente der FDP werden zur Kenntnis genom-men.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und abge-lehnt!)

Aber das Tragische ist, dass die FDP grundlegende Zu-sammenhänge nicht versteht.

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Dr. Anton Hofreiter

Eine Umweltzone wirkt dann, wenn Autos, die erheb-liche Mengen an Feinstaub abgeben, die sogenanntenStinker, nicht in die Umweltzone einfahren dürfen. Jetztwissen wir: Nicht alle Menschen sind so gesetzestreuwie die hier Versammelten.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb hat der Gesetzgeber für Übertretungen Strafenvorgesehen. Diese Strafen müssen eine Wirkung haben.Wenn ich ohne Plakette in eine Umweltzone einfahrenkann und dafür nur 20 Euro zahlen muss und somit kei-nen Punkt bekomme, dann lohnt es sich in vielen Fällen,das Verbot immer wieder zu übertreten, anstatt das Autonachzurüsten, auf den ÖPNV umzusteigen oder sichvielleicht ein neues Auto zu kaufen. Damit ist der Zu-sammenhang zwischen dem, was die Kollegin und dieKollegen der anderen Fraktionen dargelegt haben, klarhergestellt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen ge-sundheitlichen Gefährdungen und dem Bußgeldkatalog.Wenn ich eine Regelung erlasse und das Bußgeld so fest-setze, dass sich niemand bemüßigt fühlt, sich an dieseRegelung zu halten, dann kann ich diese Regelung auchsein lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab-geordneten der LINKEN)

Diesen Zusammenhang haben Ihnen die Kollegin unddie Kollegen der anderen Fraktionen mehr oder wenigerredegewandt zu erklären versucht. Durch Ihre Zwischen-rufe haben Sie aber bewiesen, dass Sie es nicht verstan-den haben. Das ist das Problem, und das verblüfft mich,weil Sie im Ausschuss manchmal viel geschickter sind.

Da dies jetzt der dritte Antrag ist, mit dem Umweltzo-nen ausgehebelt werden sollen, würde mich von der FDPFolgendes interessieren: Sie haben am Anfang davon ge-sprochen, dass auch Sie die Menschen vor Feinstaubschützen wollen, und dann haben Sie, Herr Döring, zudiesem Thema beredt geschwiegen. Wir freuen uns alsodarauf, von Ihnen im Verkehrsausschuss einmal etwasKonstruktives zum Schutz der Menschen vor Feinstaubzu hören.

Man muss zwar nicht immer glauben, was an Ergeb-nissen auf europäischer Ebene bekannt gegeben wird.Aber es gibt eine Untersuchung, die besagt, dass reinrechnerisch in Europa aufgrund von Feinstaubbelastungim Straßenraum pro Jahr über 300 000 vorzeitige Todes-fälle zu verzeichnen seien. Das ist eine gigantische Zahl,die auf den ersten Blick kaum glaubwürdig wirkt.

(Patrick Döring [FDP]: Es kommt darauf an,woher der Feinstaub kommt! Verkehr ist nichtdie Hauptquelle, darin sind wir uns doch ei-nig!)

In Deutschland sind es rechnerisch immer noch mehrereZehntausend vorzeitige Todesfälle. Was man aus dieserStudie aber auf alle Fälle erkennen kann, ist, dass es sichum ein gravierendes Problem handelt. Natürlich ist dieUmweltzone nicht die komplette Lösung für all dieseProbleme. Aber sie ist ein Teil der Lösung. Um diesen

Teil der Lösung wirkungsvoll werden zu lassen, brau-chen wir einen sinnvollen Bußgeldkatalog.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die

Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/10313 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-sichtlich so der Fall. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 bauf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Umsatzsteuergesetzes

– Drucksache 16/11340 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzHaushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den AbgeordnetenGudrun Kopp, Jens Ackermann, Dr. KarlAddicks, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuer-gesetzes

– Drucksache 16/11674 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat KolleginLydia Westrich für die SPD-Fraktion.

Lydia Westrich (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Nach einer großen Studie nehmen93 Prozent der Bevölkerung der Europäischen UnionPostdienstleistungen in Anspruch. Das ist das drittgrößteInfrastrukturbedürfnis der Menschen nach der Wasser-und Abwasserversorgung. Damit ist klar, dass dieseLeistungen einen wichtigen Teil der Daseinsvorsorgedarstellen. Es liegt im allgemeinen Interesse, sie flächen-deckend und kostengünstig bereitzuhalten, und zwar zunormierten Preisen.

Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruchauf ein öffentliches Postnetz, das als Universaldienst zurVerfügung steht. Dieses Netz muss keineswegs staatlichsein; es muss lediglich die dem Allgemeinwohl dienen-den Leistungen zuverlässig erbringen. Die Universal-dienstleistungen sollen zwar kostenorientiert, aber trotz-

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Lydia Westrich

dem zu erschwinglichen Preisen angeboten werden undvon den Inseln bis zu den Bergdörfern die gleiche Quali-tät haben. Wir wollen in ländlichen Gebieten, wo ichherkomme, genauso gut und zu den gleichen Preisenversorgt werden wie die Menschen in den Großstädten.Eine Belastung dieser notwendigen Dienstleistungendurch die Erhebung von Mehrwertsteuer steht der gebo-tenen Daseinsvorsorge entgegen.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungist geeignet, um die Bedürfnisse unserer Bürgerinnenund Bürger weiterhin kostengünstig zu befriedigen.

(Beifall bei der SPD)

Die Regelung zur Steuerbefreiung, die bisher nur für dieDeutsche Post AG galt, wird für alle Anbieter geöffnet,die die Universaldienstleistungen in gleicher Qualitätflächendeckend und kostengünstig aus einer Hand anbie-ten können. Das ist der richtige Weg. Unser Gesetzent-wurf ist daher besser als der Entwurf der FDP-Fraktion,Herr Wissing, weil dieser die Belastung aller Postdienst-leistungen mit der Mehrwertsteuer und damit die Verteue-rung der Leistungen vorsieht.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist doch schon am teuersten in Deutschland!)

Die Liberalisierung des Postmarktes ist in Deutsch-land schon weit fortgeschritten. Exklusivlizenzen undVerpflichtungen sind weggefallen. Vor zwei Jahren, alsFDP und Bündnis 90/Die Grünen schon einmal dieseDienstleistungen mit der Mehrwertsteuer belegen woll-ten, haben wir uns noch in einem anderen Umfeld be-wegt. Damals galt der Verpflichtungsauftrag für dieDeutsche Post AG und die dadurch berechtigte Befrei-ung von der Mehrwertsteuer. Das ist nun alles weggefal-len. Wir hatten Zeit, um zu überlegen und darüber zudiskutieren, wie wir den Service für die Bürger am bes-ten gewährleisten können.

Die FDP-Fraktion fährt in ihrem Gesetzentwurf diepure, harte Wettbewerbslinie. Der von den Koalitions-fraktionen unterstützte Gesetzentwurf bietet Chancen.Wir räumen allen Unternehmen die Möglichkeit ein,diese Universalleistungen flächendeckend aus einerHand für die Menschen zu erbringen. Wir werden dieseChance nicht durch das Geschenk einer Mehrwertsteuer-belastung erschweren. Wir fordern den Nachweis, dassdie entsprechenden Unternehmen die Bedürfnisse derDaseinsvorsorge im postalischen Bereich erfüllen kön-nen. Wenn, wie in der bereits erwähnten EU-Studie an-geführt, so viele Menschen Postdienstleistungen in An-spruch nehmen, ist das ein durchaus lohnender Marktmit ganz großen Chancen.

Mir ist wichtig, dass die Menschen die Sicherheit ha-ben, alles in erreichbarer Nähe aus einer Hand zu be-kommen. Die Erfüllung von Daseinsvorsorgepflichtenbedeutet, dass man nicht mühsam herausfinden muss,wer welche Leistungen anbietet. Es muss einen Anbieterfür alle Universaldienstleistungen geben, um die flä-chendeckende Sicherheit für alle Bürger zu tragbarenPreisen zu gewährleisten.

(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing[FDP]: So kann man ein Monopol auch recht-fertigen!)

Nur die Erfüllung dieser Kriterien – überall, bezahlbarund zu einer bestimmten Qualität – ist Grund für dieMehrwertsteuerbefreiung. Eine Steuerbefreiung alleinfür Dienstleistungen bietet diese Sicherheit nicht, undeine gänzliche Steuerbelastung, wie sie im FDP-Entwurfgefordert wird, sowieso nicht. Nicht ohne Grund warnendie kommunalen Spitzenverbände unisono davor, diePost-Universaldienstleistungen allein den Wirtschaftsin-teressen der Marktteilnehmer unterzuordnen; denn dieswürde eine Unterversorgung der Bevölkerung bedeuten.

Den Spitzenverbänden ebenso wie vielen in der SPD-Fraktion gefällt auch nicht, dass die bisher gewohntenPost-Universaldienstleistungen nun auch im Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf die europäischen Mini-malforderungen heruntergefahren wurden. Aber wirwerden in der Anhörung mit den Sachverständigen undin den nachfolgenden Beratungen noch genügend Zeithaben, gute Lösungen zu finden.

Ich halte diesen Gesetzentwurf für eine gute Chancefür Unternehmen, die ich jedem gönne, nicht nur derPost. Allerdings will ich mit einer Steuerbefreiung keineGeschäftsidee unterstützen, die ihren Erfolg nur daraufgründet, Menschen für Niedrigstlöhne für sich arbeitenzu lassen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Norbert Schindler [CDU/CSU])

Eines muss man dem FDP-Entwurf lassen:

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Er ist besser als Ihrer!)

Wenn Sie schon befürworten, dass durch Niedrigstlöhnedie Daseinsvorsorge für unsere Bürger gewährleistetwerden soll,

(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Nein! Nicht durch Niedrigstlöhne!)

dann schlagen Sie wenigstens die Mehrwertsteuer drauf,von der wir dann die ergänzenden Hartz-IV-Leistungenbezahlen können.

(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das ist mir neu!)

Als Sozialdemokratin habe ich es aber lieber umgekehrt:ordentliche Löhne und Mehrwertsteuerbefreiung für diepostalischen Dienstleistungen, die die Menschen auch inden entlegenen und schwach besiedelten Gebieten drin-gend brauchen. Das wird von den Koalitionsfraktionennach unseren Beratungen mit der Verabschiedung diesesGesetzentwurfs geleistet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing, FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)

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Dr. Volker Wissing (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass die SPD so argumentiert, wundert mich nicht. Aberich will mich einmal der CDU/CSU zuwenden.Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Mindestlöhne,ALG II – es gibt doch inzwischen kaum noch einen Be-reich, in dem die Union nicht umgefallen ist.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja!)

Wo heute Union draufsteht, ist nur noch ordnungspoliti-scher Wackelpudding drin.

(Beifall bei der FDP)

Ihr Gesetzentwurf zur Umsatzsteuerbefreiung derPost AG ist ein weiterer ordnungspolitischer Sündenfall.Sie schreiben, Sie wollen eine „Umsatzsteuerbefreiungfür alle Unternehmer, die Post-Universaldienstleistungeninsgesamt, tatsächlich flächendeckend und zu einem er-schwinglichen Preis anbieten“. Ehrlicher wäre es gewe-sen, von vornherein klar zu sagen: Wir wollen die Privi-legierung der Deutschen Post AG, um sie dauerhaft vorprivater Konkurrenz zu schützen. Es wäre ehrlich gewe-sen, wenn Sie das in ihren Gesetzentwurf geschriebenhätten.

(Beifall bei der FDP – Lydia Westrich [SPD]: Das ist Unfug!)

Sie legen hier heute einen Gesetzentwurf vor, der einegigantische staatliche Wettbewerbsverzerrung vorsieht.Die Postpolitik der Großen Koalition hat bisher immernur ein Ziel gehabt: den Monopolisten hätscheln undseine private Konkurrenz zerschlagen.

(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Genau so ist es!)

Das ist der Geist Ihres Gesetzentwurfes.

(Beifall bei der FDP)

Es ist schon ein einmaliger Vorgang, wie sich CDU/CSUund SPD zum Büttel eines einzelnen Unternehmens inDeutschland machen. Ihre scheinheilige Begründung,liebe Kollegin Westrich, ist ungeheuerlich.

(Lydia Westrich [SPD]: Was? – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Quatsch!)

Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie sagen: Wir wollendiesen Monopolisten schützen; wir wollen nicht, dassprivate Konkurrenz entsteht. – Aber den Preis dafür zah-len die Bürgerinnen und Bürger mit völlig überhöhtenPreisen.

(Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [SPD]:Durch die Mehrwertsteuer wird es billiger,oder was?)

Zuerst haben Sie einen Mindestlohn eingeführt unddamit die private Konkurrenz der Post plattgemacht.57 Unternehmen mit 6 000 Arbeitsplätzen hat diese Ko-alition damit bereits vernichtet. Es grenzt an Zynismus,wenn die Bundesregierung auf eine parlamentarischeAnfrage der FDP antwortet, dass den ehemaligen Be-schäftigten der privaten Postdienste nunmehr die Instru-mente der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen.

Kein Mitarbeiter der Post bekommt durch Ihren Min-destlohn einen Cent mehr, aber Tausende Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter der privaten Postdienste verlierenihre Arbeit. Die Existenz Tausender Arbeitsloser ist derKollateralschaden Ihrer Politik.

(Beifall bei der FDP)

Ihre Mindestlohnpolitik hat nicht zu höheren Löhnen,sondern zu höherer Arbeitslosigkeit geführt. Ihr Mottoist offenbar: Besser gar kein Lohn als ein Lohn unterdem staatlich festgesetzten Mindestlohn. – Diese Politikwar damals falsch; sie ist auch heute falsch und hat gra-vierende Auswirkungen. Mit der für die Deutsche Postmaßgeschneiderten Umsatzsteuerbefreiung setzen Siedem noch eines drauf. Damit verhindern Sie dauerhaftdie Entstehung neuer Arbeitsplätze.

(Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [SPD]: So ein Unsinn!)

Es ist mehr als fraglich, ob die Konjunkturpakete, dieSie derzeit in Serie auflegen, auch nur ansatzweise soviel Beschäftigung sichern können, wie Sie durch IhrePolitik in Deutschland vernichtet haben.

(Lydia Westrich [SPD]: Bei 3,50 Euro Stun-denlohn! Mein lieber Mann!)

Der Bundesfinanzminister legt der deutschen Wirtschaftmit Zinsschranke, Funktionsverlagerung und Hinzurech-nungsbesteuerung in schwierigen Zeiten eiskalt Fesselnan. Angeblich braucht er jeden Cent Steuereinnahmen.Nur bei der Post ist er großzügig und verzichtet gerneauf Millionen. Ich frage Sie: Was haben eigentlich dieBürgerinnen und Bürger von der Umsatzsteuerbefreiungder Deutschen Post? Die Bürgerinnen und Bürger zahlenmit einem überhöhten Porto dafür, dass die Post in Ame-rika investieren kann. Das ist die Realität. Das unterstüt-zen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf.

(Beifall bei der FDP)

Die Folge wird sein, dass die Portokosten in Deutsch-land auch künftig europaweit am höchsten sind. In ande-ren Ländern wird ein Brief für 19 Cent befördert. DiePost verlangt fast das Dreifache. Sie sorgen dafür, dasskeine Konkurrenz entsteht. Sie sichern bei den Post-dienstleistungen Monopolpreise, fordern hier aberscheinheilig, die Preise durch Steuersenkungen im Inte-resse der Menschen zu senken.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie sorgen für Steuerer-höhungen!)

In Wahrheit sorgen Sie für überhöhte Preise, indem Sieden Wettbewerb auf dem Postmarkt zerstören.

(Beifall bei der FDP)

Die Union macht diese Politik Schritt für Schritt mit.Sie nicken alles ab. Das ist ungeheuerlich. Mit Ord-nungspolitik und sozialer Marktwirtschaft hat der Ge-setzentwurf, den sie vorlegen, nichts, aber auch garnichts mehr zu tun. Sie, die Christdemokraten, habenheute die Chance, ein Signal für Wettbewerb und für diesoziale Marktwirtschaft zu senden,

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Dr. Volker Wissing

(Lydia Westrich [SPD]: Und für Dum-pinglöhne!)

indem Sie sich für den Gesetzentwurf der FDP ausspre-chen. Sie könnten den Staatsprotektionismus Ihres Ko-alitionspartners, der sich für einen Monopolisten ein-setzt, beenden. Ich bin sicher, dass sich die Menschen inDeutschland gerade in diesen wirtschaftlich schwierigenZeiten freuen würden, wenn neben den Freien Demokra-ten noch eine andere Fraktion in diesem Hohen Hausewieder einmal das Wort ergreifen und sich für Wettbe-werb, soziale Marktwirtschaft und Ordnungspolitikstarkmachen würde.

(Klaus Barthel [SPD]: Was ist an dem, was Sie erzählen, denn sozial?)

Ich fordere Sie auf: Sagen Sie die Wahrheit! Sie wissendoch genau, dass diese Politik unserem Land schadet.Sie ist in der aktuellen konjunkturellen Krise unverant-wortlich. Mit diesem ordnungspolitischen Unsinn, denSie verbreiten, schwächen Sie die BundesrepublikDeutschland.

(Beifall bei der FDP)

Der Inhalt des Gesetzentwurfes, den Sie uns vorlegen,widerspricht allen ordnungspolitischen Prinzipien. WennSie von der Union so weitermachen und Sündenfälle die-ser Art immer wieder absegnen, dann müssen Sie IhrGrundsatzprogramm überarbeiten. Sie sind nämlich ge-rade dabei, sich selbst zu verleugnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Norbert Schindler für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Norbert Schindler (CDU/CSU): Einen schönen Tag, meine Damen und Herren, vor al-

lem den Besuchern auf der Tribüne! Lieber VolkerWissing, eigentlich müsste man fragen: Ist schon Wahl-kampf?

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was istdenn Wahlkampf? – Priska Hinz [Herborn][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na klar! Ha-ben Sie das etwa noch nicht bemerkt?)

Da der Kollege gerade richtig losgelegt hat, möchte ichnoch einige Sätze zur Klarstellung sagen. Für die Unionstelle ich fest: Die soziale Marktwirtschaft hat die Bun-desrepublik Deutschland in den letzten 60 Jahren in Eu-ropa auf Erfolgskurs gebracht. Ihr von der FDP wart indieser Zeit an vielen Regierungen beteiligt.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja! Aber jetzt seidihr dabei, die soziale Marktwirtschaft abzu-schaffen!)

Da ihr jetzt die brutale Marktwirtschaft nach amerikani-schem Vorbild fordert,

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wie bitte? Wermacht das denn? – Weiterer Zuruf von derFDP: Oh nein! Immer die gleiche Leier!)

frage ich mich: Was wollt ihr von der FDP eigentlich?Wollt ihr die Steuer überall erheben,

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Nein!)

oder wollt ihr sie überall abschaffen?

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Nein! Was wir wollen, ist Wettbewerb!)

Wir legen heute einen Vorschlag vor, um die Post-Grundversorgung unseres Staates zu sichern. Nach die-sem Vorschlag soll nicht mehr nur der MonopolanbieterDeutsche Post das Privileg der Steuerbefreiung haben.Lieber Volker Wissing, Sie haben diesen Vorschlag mitder Diskussion über das Konjunkturprogramm verknüpftund sich aufgeregt. Sie haben sogar verkündet, wir wür-den auf diesem Wege 6 000 oder 7 000 Arbeitsplätzewegrationalisieren.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja! Das habt ihrdoch auch getan! Das sind schließlich die Zah-len der Bundesregierung, eurer Regierung!)

Lieber Freund, stellen wir nüchtern fest – das wird so-gar vom FDP-Chef anerkannt –: In den letzten drei Jah-ren wurden 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja, dasstimmt! Die sind aber gerade dabei, wiederwegzubrechen!)

Mittlerweile ist die Zahl sozialversicherungspflichtigBeschäftigter höher als je zuvor. Übrigens hat die FDPgroßen Teilen des Konjunkturprogramms zugestimmt.Ich finde, das ist durchaus honorig und sollte festgehal-ten werden.

Allerdings hatte die Rede, die wir gerade gehört ha-ben, auch mit Wahlkampf zu tun; denn du, lieber Volker,hast in Anbetracht der gegenwärtigen Vertrauenskrise inder Finanzwirtschaft behauptet, die Regierung würdeArbeitsplätze gefährden. Ich möchte dich in einem per-sönlichen, freundschaftlichen Ton darauf hinweisen: ImJanuar ist es mit Sicherheit noch etwas zu früh, um mitdem Bundestagswahlkampf zu beginnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wahlkampfist für uns ein völlig fremdes Wort! Wir wissengar nicht, was das ist!)

– Im Moment hat man den Eindruck, als könntet ihr vorKraft nicht laufen. Euer Parteivorsitzender hatte schoneinmal die „18 Prozent“ auf den Schuhsohlen. SeineSchuhe waren aber schnell abgelaufen. Warten wir ersteinmal das nächste halbe Jahr ab! Ich bin da sehr gelassen.

Wir reden hier über die Änderungen des Umsatzsteu-ergesetzes auf Bundestagsdrucksache 16/11674. Um wasgeht es dabei? Es geht darum, dass die Exklusivlizenz,die die Deutsche Post AG zur Beförderung von Briefenunter 50 Gramm hatte, im Dezember 2007 ausgelaufenist. Das Monopol der Deutschen Post AG ist damit weg.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Briefge-wicht!)

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Norbert Schindler

In der Zwischenzeit sind viele Anbieter, allein oder inGemeinschaft, in den Markt eingetreten, welche Post-dienstleistungen aller Art erbringen. Neben der Beförde-rung von Briefen über 50 Gramm und Paketen gab es aufAntrag auch Genehmigungen für die Beförderung vonBriefen unter 50 Gramm. Täglich bekommen wir alleBriefe nicht nur von der Deutschen Post, sondern auchvon der PIN AG, der Citypost und Pakete von Hermes.Die Öffnung des Postmarktes ist damit vollzogen, lieberVolker Wissing.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mit19 Prozent Wettbewerbsnachteil! Die zahlenMehrwertsteuer, die Deutsche Post hingegennicht! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir wollenfairen Wettbewerb!)

Ich will der FDP etwas zum Mindestlohn sagen: Ichhabe schon immer etwas dagegen gehabt, dass inSchlachthöfen in Oldenburg oder sonstwo Osteuropäerfür 1,80 Euro oder 2,90 Euro die Stunde gearbeitet unddamit die deutschen Arbeitskräfte vor Ort verdrängt ha-ben. Wenn das Wettbewerb am Arbeitsmarkt sein soll,dann sage ich: Ein unteres Netz muss eingezogen wer-den.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der LINKEN – Dr. Volker Wissing[FDP]: Jetzt ist der Schlachthof geschlossen!)

Die Städte und Gemeinden mussten für die arbeitslos ge-wordenen Deutschen aufkommen. Menschen sind ohneNot in die Arbeitslosigkeit getrieben worden. Deswegenbrauchen wir für die Löhne ein unteres Netz. So verste-hen wir die soziale Marktwirtschaft.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist die Sozial-demokratisierung der Union!)

Postdienstleistungen stehen im Wettbewerb um Preis,Qualität und Zustellgebiet. Die Zustellung von Briefenoder Paketen ist allerdings keine einfache Dienstleis-tung. Die förmliche Zustellung mittels Postzustellungs-urkunde ist Grundlage eines jeden Vollstreckungsverfah-rens. Auch Liebesbriefe, Postkartengrüße, Einladungenund Mitteilungen, Urkunden, Gerichtsbescheide, Rech-nungen und Mahnungen müssen zuverlässig befördertwerden – und sei es bis nach Sylt oder auf die HalligGröde. Wie komme ich auf die Hallig Gröde? Gröde istdadurch bekannt geworden, dass die sieben Einwohner,die wählen dürfen, immer die CDU gewählt haben – biseines Tages einer SPD gewählt hat. Da gab es ein großesRätselraten auf dieser Hallig.

(Heiterkeit – Horst Friedrich [Bayreuth][FDP]: Und jetzt werden sie von der Deut-schen Post nicht mehr bedient!)

Dass man flächendeckend, von Aachen bis in denOderbruch, Briefe versenden kann, ist eine der Kommu-nikationsgrundlagen unserer Gesellschaft. Dass alle Uni-versaldienstleister diese Qualitäten erfüllen müssen, da-rum geht es heute.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Realität ist doch Wettbewerbsverzerrung!)

Der deutschlandweite Wettbewerb ist gegeben. Mankann doch nicht sagen, das wäre nicht so. Indem wirjetzt Universaldienstleister von der Umsatzsteuer be-freien, ermöglichen wir es ihnen, mit dem Monopolan-bieter der Vergangenheit gleichzuziehen.

Jetzt geht es noch um die Beförderung von Briefenbis 2 000 Gramm und darum, was als Postwurfsendungbedient werden können soll. Nach dem vorliegenden Ge-setzentwurf sollen Universaldienstleister von der Um-satzsteuer befreit werden. Allerdings wird derzeit nichtzwischen paketbezogenen und briefbezogenen Univer-saldienstleistungen unterschieden. Wer einen Brief undein Paket bis 10 Kilogramm von der Zugspitze bis nachSylt befördert, muss keine Umsatzsteuer abführen, dochwer lediglich Pakete befördert, wird von der Umsatz-steuer nicht befreit. Ein Beispiel: Wenn ich ein Paket beider DHL-Packstation am Aldi-Markt einwerfe, wird die-ses umsatzsteuerfrei befördert. Wenn ich es jedoch beiHermes nebenan aufgebe, muss Umsatzsteuer gezahltwerden. Das ist ein Thema, über das wir innerhalb derKoalition jetzt, da wir mit dieser ersten Lesung in dieBeratungen eintreten, noch einmal diskutieren müssen.Da muss der Gesetzentwurf der Regierung nachgebes-sert werden.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)

Der Antrag auf Umsatzsteuerbefreiung ist beim Bun-deszentralamt für Steuern zu stellen; das sage ich nur,damit das jeder weiß. Dieses prüft dann, ob das Unter-nehmen Post-Universaldienstleistungen erbringt. Wirwerden aufpassen, dass sich nicht Rosinenpicker in denBallungszentren reich und fett verdienen. Die könnendort übrigens mehr zahlen als den Mindestlohn; das gibtder Umsatz her. Die Grundlage muss nämlich sein: Werfür die Gesellschaft Universaldienstleistungen erbringt,den müssen wir als Gesetzgeber unterstützen.

(Klaus Barthel [SPD]: Das ist der Punkt!)

Das ist der Punkt, wo der Gesetzentwurf der FDP ein Ri-siko birgt. – Ich muss jetzt erst mal etwas trinken. Ichhabe hier ein Glas Wasser; Wein wäre mir im Übrigenlieber.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nicht übertreiben.

Norbert Schindler (CDU/CSU): Nein, Wein ist gesund. – Hier steht die Formulierung

„bis 10 Kilogramm“. Das heißt, dass man drei FlaschenWein versenden und verschenken kann.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Pro-millegrenze soll dank der SPD herabgesetztwerden!)

Lieber Volker Wissing, du müsstest den Weinbauverbün-den sofort zustimmen, dass Wein nicht nur Genuss, son-dern für alle, die ihn in Maßen trinken, eine gesunde Me-dizin ist.

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(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da spricht der Winzer!)

Das politische Ziel, das mit dieser Vorlage verfolgtwird, ist absolut richtig. Über den Zeitpunkt der Inkraft-setzung – im April, im Juni oder erst im kommendenJahr – werden wir mit unserem Partner, der SPD, mit Si-cherheit noch einmal reden müssen. Wir finden hier mitSicherheit eine Einigung.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Im kom-menden Jahr müsst ihr mit denen nicht mehrreden!)

Ich stelle hiermit fest: Auch für diese Grundversor-gung muss der Mindestlohn Grundlage bleiben. Hier binich Anhänger der sozialen Marktwirtschaft. LiebeFreunde, daran, dass der Wettbewerb trotzdem flächen-deckend eröffnet wurde, zeigt sich, dass das ein guterGesetzentwurf ist. Wir werden ihn mit Sicherheit auchschnell verabschieden.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein!)

Danke schön, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wann dennjetzt? Schnell oder im nächsten Jahr?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Barbara Höll für die Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Deutsche Post soll überall in Deutschland, in den Städ-ten und im ländlichen Raum, genügend Briefkästen undPostdienststellen unterhalten und natürlich ein umfang-reiches Angebot bereitstellen. Dafür erhält sie einen fi-nanziellen Ausgleich, nämlich die Mehrwertsteuerbe-freiung. Das will die Linke beibehalten.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja, klar! Sie haben ja mit Staatsmonopolen genügend Erfahrung!)

Das, was Sie von der FDP vorschlagen, ist nichts ande-res als das Infragestellen der Grundversorgung der Bür-gerinnen und Bürger mit flächendeckenden Postdienst-leistungen.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr habt jaausreichende Erfahrungen in der ehemaligenDDR gesammelt! Deswegen habt ihr auch sogut dagestanden! Deshalb haben wir die Deut-sche Reichsbahn als Schrott geerbt!)

Wir sagen klipp und klar: Die Post soll diese Steuer-vergünstigung erhalten. Wir sagen aber auch: Sie erhältdiese Steuervergünstigung dafür, dass sie hier eine gutePostversorgung gewährleistet und nicht in Übersee einenGlobal Player spielt und sich dort eine blutige Nase holt.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das tut sie aber!)

Sie erhält sie auch nicht dafür, dass, wie vor einiger Zeit,darüber geklagt wird, dass die Briefe aufgrund von Per-sonalkürzungen nicht mehr ordnungsgemäß zugestelltwerden; das lehnen wir natürlich ab.

(Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg[CDU/CSU]: Dann halten wir es doch mit derChristel von der Post!)

Die Postdienstleistungen sind für alle Bürgerinnen undBürger, insbesondere für die Älteren, ein wesentlicherFaktor der Lebensqualität; Frau Westrich sagte das be-reits.

Trotz allem, liebe Kolleginnen und Kollegen von derGroßen Koalition, bin ich auch mit Ihrem Gesetzentwurfnicht zufrieden. Worum geht es? – Sie wollen die Mehr-wertsteuerbefreiung auf all die Unternehmen erweitern,die die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Post flä-chendeckend mit Postdienstleistungen versorgen undden Universaldienst erfüllen. Gut! Das könnte die Linkemittragen. Die Linke kann aber nicht mittragen, dass Siebei dieser Mehrwertsteuerbefreiung einen anderen Maß-stab anlegen. Ich sehe nicht ein, warum wir von dem ho-hen Niveau in der Bundesrepublik abgehen und es aufdas europäische Niveau absenken sollten. Dazu sind wirnicht verpflichtet. Sie wollen das aber. In Ihrem Gesetz-entwurf steht:

Nicht mehr umsatzsteuerbefreit sind: – Paketsendungen mit einem Gewicht von mehr

als 10 Kilogramm bis zu 20 Kilogramm,– adressierte Bücher, Kataloge, Zeitungen und

Zeitschriften mit einem Gewicht von jeweilsmehr als 2 Kilogramm,

– Expresszustellungen, – Nachnahmesendungen sowie – Leistungen, die individuell vereinbart werden …

Das ist ein erster Schritt, das Universalangebot aufzu-weichen. Das werden wir nicht mittragen.

(Beifall bei der LINKEN – Norbert Schindler[CDU/CSU]: Wenn es Rechts und Links nichtrichtig finden, dann machen wir es richtig!)

Sie mögen vielleicht sagen, dass das zu vernachlässi-gende Größen sind. Das ist aber nicht so. Wir fordern Sievielmehr auf, im Interesse der Postkundinnen und -kun-den hier die Universaldienstleistungen in vollem Um-fang zu erhalten.

Schauen wir uns einmal an, was in den letzten15 Jahren vor sich gegangen ist! Laut Städte- und Ge-meindebund ist die Zahl der Postfilialen um 5 000 aufcirca 12 000 gesunken. Die Zahl der Briefkästen hat umcirca 30 000 auf jetzt 110 000 abgenommen. Man musszum Teil schon ganz schön suchen, um einen Briefkas-ten zu finden. Zudem gibt es derzeit 180 bis 190 Kom-munen in Deutschland, die sogenannte Bürgermeister-filialen betreiben und damit die Aufgaben der DeutschenPost übernehmen. Bei der Deutschen Post gingen zwi-schen 1999 und 2006 15 000 Vollzeitarbeitsplätze und5 000 Teilzeitarbeitsplätze mit Sozialversicherungs-pflicht verloren. Das ist ein Skandal.

(Beifall bei der LINKEN)

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Dr. Barbara Höll

Sie mögen zwar darauf verweisen, dass 20 000 Arbeits-plätze neu entstanden sind, aber das sind Arbeitsplätzeim Niedriglohnsektor oder Minijobs.

Diese Politik tragen wir auf keinen Fall mit. Wir wol-len diese Umgestaltung des Arbeitsmarktes nicht, auchnicht bei der Deutschen Post. Wer eine bürgernaheDienstleistung will, darf nicht auf Teufel komm raus pri-vatisieren und mit dem Eurozeichen im Auge agieren. Ermuss vielmehr an die Irma auf Rügen, den Opa in derLausitz und an die alleinerziehende, nicht mobile jungeFrau im Allgäu denken, die auf diese Universaldienst-leistungen der Post angewiesen sind. Deshalb werdenwir in den Gesetzesberatungen unseren Schwerpunkt aufdie Beibehaltung der Umsatzsteuerbefreiung ohne Ab-senkung der Standards legen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Andreae, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Höll, Sie haben gesagt, man dürfe nicht auf Teufelkomm raus privatisieren, und eine Philippika für dieDeutsche Post AG vorgebracht. Sie sind im Berliner Se-nat vertreten. Der Berliner Senat verschickt seine Briefeüber die PIN AG. Ich muss Ihnen deshalb leider eine ge-wisse Scheinheiligkeit zusprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir diskutieren zurzeit zwei Gesetzentwürfe zu demThema „Post und Umsatzsteuer“. Heute geht es um dieUmsatzsteuerbefreiung für alle Unternehmen, die flä-chendeckend Post-Universaldienstleistungen anbieten.Der Gesetzentwurf soll federführend an den Finanzaus-schuss überwiesen werden. Parallel dazu gibt es einenGesetzentwurf der FDP-Fraktion, der im Wirtschaftsaus-schuss beraten wird. Insofern habe ich Ihre Rede nichtverstanden, Herr Wissing. Die FDP schlägt nämlich inihrem Gesetzentwurf vor, die Mehrwertsteuerbefreiungaufzuheben. Das bedeutet de facto eine Preiserhöhungbei den Postdienstleistungen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: So ein Quatsch!)

– Natürlich. Wenn Sie die Befreiung von der Mehrwert-steuer aufheben, dann steigen die Preise entsprechend.Das können Sie nicht leugnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie werden diePreise der Konkurrenz wegen senken müssen!Das wissen Sie genauso gut wie ich, Frau Kol-legin! Das sind Monopolpreise!)

– Moment, ich komme noch zu den Monopolen.

Sie alle haben in ihren Reden im Zusammenhang mitder Aufgabe der Postversorgung als Daseinsvorsorge diehohe Gemeinwohlorientierung angeführt. Auch wir fin-den, dass diese Aufgabe sichergestellt werden muss. Da-

bei ist es völlig egal, ob ein Brief von München nachBerlin oder von St. Peter nach St. Peter-Ording gesandtwird. Diese Universaldienstleistung, die der Daseinsvor-sorge dient, muss gewährleistet sein.

Aber Sie müssen auch sehen, dass die Post massiv indie Kritik geraten ist.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Völlig zu Recht!)

Die Post dünnt Leistungen aus. Es sind Beispiele disku-tiert worden. Die Kommunen fangen selber an, Post-agenturen zu betreiben. Im Weihnachtsgeschäft habensie selber – –

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist ganz ty-pisch für Monopolisten!)

– Jetzt seien Sie doch mal ruhig, und hören Sie zu! Dasirritiert. – In der Zustellung werden Poststellen ausge-dünnt.

Wenn man die Daseinsvorsorge gewährleisten will,dann ist es aus grüner Sicht absolut notwendig, auch denWettbewerb zu gewährleisten und den Zugang zu diesemMarkt auch für private Anbieter zu ermöglichen.

(Zuruf von der FDP: Aha!)

An dieser Stelle haben Sie völlig recht, Herr Wissing.Der Gesetzentwurf der Großen Koalition ist eine Schein-lösung. Wenn Sie vorsehen, dass nur diejenigen die Um-satzsteuerbefreiung genießen, die flächendeckend Uni-versaldienstleistungen anbieten – und zwar in ganzerBreite –, dann betrifft das ausschließlich die Post. Keinanderer Anbieter wird in der Lage sein, alle Teilbereicheder Universaldienstleistungen derzeit flächendeckendanzubieten. Deswegen sollten Sie berücksichtigen, dasses einen großen Anbieter gibt, der nach wie vor ein De-facto-Monopolist ist und

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Nein! Den gibt es nicht mehr!)

derzeit in die Kritik geraten ist. Liberalisierung hin oderher: Der Wettbewerb ist nicht in der Weise ausgestaltet,dass man von einem fairen und funktionierenden Wett-bewerb sprechen kann.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Sie reden zu ei-nem Kollegen, der täglich diese Anbieter nutzt!)

Die Post steht stark in der Kritik. Sie werden gewährleis-ten müssen, dass auch privaten Anbietern der Zugang zudiesem Markt ermöglicht wird.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das machenwir doch! – Iris Gleicke [SPD]: Die Rosinen-pickerei geht weiter!)

Deshalb finde ich Ihren Vorschlag sinnvoll, HerrSchindler, und empfehle, darüber nachzudenken, ob Siein der Lage sind, die Universaldienstleistungsverord-nung in Teilbereiche aufzuteilen. Diese Diskussion gibtes schon länger. Es geht um die Frage, was man mit ei-nem Paketdienstleister oder einem Briefzusteller macht.

(Lydia Westrich [SPD]: Das ist doch keine Universaldienstleistung!)

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Kerstin Andreae

Ich finde den Vorschlag, den Sie gemacht haben, sinn-voll. Überlegen Sie sich, ob Sie diese Universaldienst-leistungsverordnung in Teilbereiche aufteilen.

(Iris Gleicke [SPD]: Dann ist es nicht mehr universal, oder?)

Für diese Teilbereiche lässt sich Wettbewerb schaffen,indem festgelegt wird, dass, wenn die flächendeckendeVersorgung gewährleistet ist – es ist ein Unterschied, obSie über eine Briefzustellung oder eine Paketzustellungsprechen –, die Anbieter für diese Teilbereiche in glei-chem Maße mit einer Steuer belegt werden.

(Iris Gleicke [SPD]: Dann ist es aber keineUniversaldienstleistung! – Klaus Barthel[SPD]: Dann soll sich jeder das heraussuchen,was er möchte, oder?

Das sollten Sie diskutieren, weil in der Situation, wie wirsie derzeit haben – auch wenn Sie es betonen –, kein fai-rer Wettbewerb auf dem Postmarkt gegeben ist. DieserDiskussion müssen Sie sich stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Volker Wissing [FDP]: Den will die GroßeKoalition auch nicht!)

Wettbewerb an dieser Stelle heißt Verbraucherfreund-lichkeit, Bezahlbarkeit und flächendeckende Versor-gung. Aber so, wie die Situation derzeit ist, und mit die-sem Gesetz, das, wenn es nicht verändert wird, eineabsolute Scheinlösung ist, kommen Sie nicht zurande.Von daher hoffe ich, dass Sie sich in dieser Diskussionnoch bewegen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Klaus Barthel für die SPD-

Fraktion.

Klaus Barthel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sollten uns darauf besinnen, um was es heute geht. Esgeht darum, dass es einen Anpassungsbedarf zwischeneuropäischem und deutschem Umsatzsteuerrecht gibt.Es geht um die Formulierung in unserem jetzigen Um-satzsteuergesetz, dass „die unmittelbar dem Postwesendienenden Umsätze der Deutsche Post AG“ von derSteuer zu befreien sind. In der Tat kann man diese For-mulierung nicht mehr halten. Da hat die Bundesregie-rung mit ihrem Gesetzentwurf völlig Recht. Die EU-Kommission kann sich mit ihrem Vertragsverletzungs-verfahren, das letztlich diesen Gesetzentwurf ausgelösthat, nur auf diesen Passus im Umsatzsteuerrecht bezie-hen.

Nun behauptet die FDP – Herr Wissing ist geistigschon wieder abwesend –,

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Er kann immer zuhören!)

dass nur eine völlige Abschaffung dieser Mehrwertsteu-erbefreiung markt- und EU-konform sein könnte. Aberdas ist völliger Unsinn; denn das Vertragsverletzungs-verfahren der Kommission richtet sich im Kern gegendie unterschiedliche Praxis in den unterschiedlichen Mit-gliedsländern. Deswegen gibt es eine Klage zum Bei-spiel gegen Schweden, weil die das FDP-Modell haben,das heißt, bei denen gibt es keine Umsatzsteuerbefrei-ung. Dagegen wird genauso geklagt.

Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie – das ist gelten-des europäisches Recht – sieht zwingend vor, „von öf-fentlichen Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistun-gen“ von der Umsatzbesteuerung auszunehmen. Es wareines der zentralen Ergebnisse der Anhörung im Wirt-schaftsausschuss – vielleicht lesen Sie das im Protokollnach – dass die Einführung der Mehrwertsteuer auf allePostdienste dem europäischen Recht widersprechenwürde.

Mittlerweile liegt der Schlussantrag der Generalan-wältin des EuGH vor. Sie sagt eindeutig: Erstens.Öffentliche Posteinrichtungen im Sinne der Mehrwert-steuerrichtlinie sind diejenigen Anbieter von Postdienst-leistungen, die den Universaldienst gewährleisten.Zweitens. Die Universaldienstdefinition liegt in der Ver-antwortung der Mitgliedstaaten. Wir müssen uns alsonicht an dem europäischen Mindeststandard orientieren.Drittens. Der Universaldienst – das ist ganz wichtig fürFrau Andreae – meint eine Gesamtheit von Diensten undInfrastruktureinrichtungen und nicht irgendwelche Teilleis-tungen. Wenn man sich für die Trennung von Briefenund Paketen ausspricht, warum werden dann nicht auchNachnahmesendungen, Filialen usw. getrennt? Viertens.Die Befreiung kann sich nur auf allgemein zugänglicheTarife beziehen und nicht auf rabattierte Konditionen.

Wir raten dazu, den Gesetzentwurf der FDP abzuleh-nen. Wir tun das schon deswegen, weil wir nicht wollen,dass Briefe, Pakete und andere Postdienstleistungen um19 Prozent teurer werden. Das wäre nämlich die eindeu-tige Folge der FDP-Initiative.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist völlig ab-surd! Das sind Monopolpreise!)

Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, was das fürIhr Image als Steuersenkungspartei bedeutet.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das geht ganz schön durcheinander!)

Damit werden letztendlich die kleinen Postkunden belas-tet, bei denen die Einführung der Mehrwertsteuer landenwird.

(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing[FDP]: Sie sind jetzt keine Steuersenkungspar-tei, das steht fest!)

Im Übrigen wollen wir beim Vierklang der Postlibera-lisierung bleiben. Diesen Zusammenhang möchte ichherstellen. Erstens geht es um die Erbringung eines flä-chendeckenden Universaldienstes und nicht um Rosinen-pickerei nach dem Motto „Jeder sucht sich das heraus,was er will, und erklärt das dann zur Universaldienstleis-tung“.

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Klaus Barthel

Zweitens wollen wir faire Wettbewerbsbedingungenfür das oder die universaldienstleistenden Unternehmen.Das kann jedes Unternehmen machen. Wenn es dasmacht, dann bekommt es die Umsatzsteuerbefreiung,nicht aber die anderen, die Rosinenpicker.

Drittens streben wir die Sicherung guter Arbeit durchMindestarbeitsbedingungen – Stichwort Postmindest-lohn – an. Da es viele Wettbewerber gibt: Wer von die-sen offen erklärt – das ist in Zeitungen nachzulesen –,dass man rechtswidrig nicht den Mindestlohn zahlenwill, der hat das Recht verloren, sich bei Themen wie derMehrwertsteuer zu Wort zu melden. So kann Wettbe-werb nicht laufen.

Schließlich und endlich ist fairer Wettbewerb in Eu-ropa entscheidend. Die EU-Kommission hätte genug zutun, fairen Wettbewerb in der EU durchzusetzen. Es mu-tet etwas gespenstisch an, wenn Unternehmen, die zuHause einen geschützten Bereich haben bzw. aus einemreservierten Bereich kommen, in der BundesrepublikDeutschland auftreten und plötzlich bei der Mehrwert-steuer den fairen Wettbewerb in der EU einfordern. Dasist eine seltsame Logik.

(Beifall bei der SPD)

Es geht nicht um Arbeitsplätze oder nicht, um Mehr-wertsteuer oder nicht, sondern darum, ob gute, qualitativabgesicherte Arbeitsplätze durch Sozial- und Lohndum-ping verdrängt werden können oder ob der Universal-dienst erbringende Unternehmer bzw. die Universal-dienst erbringenden Unternehmen von denen, die sichnur die Rosinen herauspicken, verdrängt werden. Hiergeht es um einen Verdrängungswettbewerb, nicht um zu-sätzliche Arbeitsplätze und zusätzliche Wertschöpfung.Diesen entscheidenden Gedanken darf man bei derSchaffung eines fairen Wettbewerbs nicht vergessen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 16/11340 und 16/11674 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 sowieZusatzpunkt 4 auf:

9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordneten SevimDağdelen, Cornelia Hirsch, Ulla Jelpke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für eine erleichterte Anerkennung von imAusland erworbenen Schul-, Bildungs- undBerufsabschlüssen

– Drucksachen 16/7109, 16/11732 –

Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg Gesine Multhaupt Patrick Meinhardt Sevim Dağdelen Krista Sager

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten SibylleLaurischk, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Lebensleistung von Migrantinnen und Mi-granten würdigen – Anerkennungsverfahrenvon Bildungsabschlüssen verbessern

– Drucksache 16/11418 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenMarcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Marcus Weinberg (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser

Land blickt auf eine lange, mittlerweile traditionelle Zu-wanderungspolitik mit zahlreichen Beispielen erfolgrei-cher beruflicher Integration – man sollte auch die positi-ven Beispiele erwähnen –, aber sicherlich auch mit vielenBeispielen weniger erfolgreicher beruflicher Integrationzurück. Mit der Zuwanderung müssen neue Herausforde-rungen gemeistert werden. Wir sollten allerdings nichtnur über Herausforderungen sprechen, sondern gerade inder Integrationspolitik auch über Chancen und Möglich-keiten, die erkannt und genutzt werden sollten. Ange-sichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Inte-ressen Deutschlands, des demografischen Wandels unddes weltweiten Wettbewerbs um die besten Köpfe stehenwir für einen positiven und pragmatischen Umgang mitIntegration, gerade wenn es um berufliche Perspektivengeht. Dafür ist eine nachhaltige Integrationspolitik drin-gend erforderlich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies wurde in den letzten Jahren durch den NationalenIntegrationsplan und viele Maßnahmen einer konzen-trierten, systematischen Integrationspolitik deutlich, dieauch – das ist das Thema der heutigen Debatte – Ant-worten auf die Frage nach der beruflichen Integrationgeben muss.

Im Zusammenhang mit Globalisierung und gesell-schaftlicher Pluralisierung ist allerdings nicht nur dieWirtschaft immer stärker auf differenzierte sprachlicheund interkulturelle Kenntnisse von Beschäftigten ange-wiesen, sondern auch andere Bereiche. Ich nenne als Bei-spiel den öffentlichen Dienst; denn gerade der öffentlicheDienst muss mit seinen Angeboten einer zunehmend dif-ferenzierten Nachfrage nach öffentlichen Dienstleistun-

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Marcus Weinberg

gen Rechnung tragen. Wir brauchen mehr Migranten imöffentlichen Dienst.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Danntun Sie mal was!)

– Schauen Sie nach Hamburg! Da gibt es klare Zielvor-gaben unter einer CDU-geführten Regierung. – Es istnicht zu bestreiten, dass wir bei der beruflichen Integra-tion noch große Probleme haben. Die Arbeitslosenquotevon Migrantinnen und Migranten ist im Zuge der aktuel-len Konjunktursituation zwar zunächst gesunken, trotz-dem sind durchschnittlich nur 68 Prozent der Migrantenund nur 58 Prozent der Migrantinnen erwerbstätig. Das istim Vergleich zur deutschen Bevölkerung mit 75 Prozentnatürlich nicht ausreichend. Fehlende oder unzureichendeSprachkenntnisse, fehlende berufliche Abschlüsse undmangelnde Qualifikationen tragen in hohem Maße dazubei. Das sind auch die Themen, über die wir im Zusam-menhang mit der Schule und bei der Frage des Übergangsvon der Schule in den Beruf diskutiert haben, das warendie Themen auf dem Bildungsgipfel, und es sind die The-men der Qualifizierungsoffensive. Man sieht also deut-lich, dass diese Thematik aufgenommen wurde und dieBundesregierung dieser Thematik Rechnung getragenhat.

Trotzdem gibt es noch Probleme. Die im Ausland er-worbenen Qualifikationen, Schul-, Bildungs- und Be-rufsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten werdenin der Bundesrepublik nicht oder häufig nur unter er-schwerten Bedingungen anerkannt. Dies führt dazu, dassdie Arbeitslosenquote von Migranten mit einem akade-mischen Abschluss mit 12,5 Prozent fast dreimal sohoch ist wie die von deutschen Hochschulabsolventen.Potenziale und Qualifikationen von Migranten gehen da-mit der Wissenschaft und dem Arbeitsmarkt verloren.Dieser Zustand ist auch für uns nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Arbeitsgruppe „Wissenschaft – weltoffen“ desNationalen Integrationsplans hat sich unter anderem mitdem Potenzial beschäftigt und deutlich gemacht, welcheProbleme es in diesem Bereich gibt. Ich will drei Pro-bleme exemplarisch herausgreifen: Erstens. Angabenzum Qualifikationsniveau von Zuwanderern bei der Ein-reise nach Deutschland lassen sich nicht machen, da be-rufliche und schulische Qualifikationen bei der Ankunftnicht erhoben werden. Zweitens. Die Daten des Mikro-zensus geben zwar Auskunft über die Qualifikations-struktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund,differenzieren aber nicht nach im Ausland oder im In-land erworbenen Abschlüssen. Drittens. Auch in derDatenaufnahme der Bundesagentur für Arbeit zu denformalen Qualifikationen sind nur deutsche bzw. inDeutschland anerkannte Berufsabschlüsse vorgesehen;selbst ausländische Hochschulabschlüsse gehen bei feh-lender Anerkennung nicht in die formalen Qualifika-tionsprofile der Arbeitslosen ein.

Das hat zur Konsequenz, dass nach Schätzungen desOldenburger Instituts für Bildung und Kommunikationmittlerweile über 500 000 zugewanderte Akademiker

keine anerkannten Abschlüsse haben und sie im Verhält-nis zu ihrem Abschluss teilweise minderqualifizierten Tä-tigkeiten nachgehen müssen. Das heißt im Ergebnis: DieNichtanerkennung beruflicher Qualifikationen erschwertbzw. verhindert nicht nur individuell die Aufnahme einerdem Bildungsstand entsprechenden Erwerbstätigkeit,sondern bedeutet auch in volkswirtschaftlicher Perspek-tive, dass erhebliche Qualifikationsressourcen im Er-werbssystem brachliegen. Auch das ist ein Zustand, dernicht hinnehmbar ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Entscheidend ist, dass das Problem erkannt wurde,auch von der Großen Koalition. Nach wie vor ist es so,dass für die Anerkennung von ausländischen Zeugnissendie Länder zuständig sind. Die KMK hat für diese Auf-gabe die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen,ZAB, eingerichtet. Das ist die zuständige Stelle für dieBewertung und Einstufung ausländischer Bildungsnach-weise. Im Frühjahr 2009 beginnt die ZAB mit der Aus-stellung von Zeugnisbescheinigungen auch für Privat-personen. Das ZAB im Sekretariat der KMK ist diezuständige Stelle, und ich will zwei, drei, vier wesentli-che Aufgaben skizzieren, die deutlich machen, dass ge-nau die offenen Punkte abgearbeitet werden. Zu denAufgaben der ZAB zählt, dass sie auf Anfrage der zu-ständigen Stellen die ausländischen Bildungsnachweiseindividueller Antragsteller bewertet, dass sie allgemeineÄquivalenzgrundlagen und Einstufungsempfehlungenfür ausländische Bildungsnachweise erstellt, dass sie diezuständigen Stellen bei der Vorbereitung bilateraler Ab-kommen mit den Regierungen ausländischer Staatenüber die gegenseitige Anerkennung von Bildungsnach-weisen unterstützt, dass sie dokumentiert, dass sie Insti-tutionen, wie Hochschulen, und Gremien unterstützt, diein diesem Bereich Verantwortung haben, dass sie Stipen-dien vergebende Stellen und die Organisation für denStudentenaustausch unterstützt. Ich glaube, dass im Hin-blick auf die Aufgabenstruktur deutlich wird, dass diePunkte abgearbeitet werden, die noch offen sind. Inso-weit sind die Einrichtung und die Arbeit dieser zentralenStelle von elementarer Bedeutung.

Ich möchte aufgrund der Zeit nur in Kürze noch aufweitere Dinge –

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ich hätte jetzt gerne geklatscht!)

– Dafür haben Sie immer Zeit, Herr Dr. Rossmann.

Ich würde gern auf zwei, drei Dinge eingehen, die dendeutschen bzw. nationalen Rahmen noch erweitern:

Erstens. Die Schaffung von Vergleichbarkeit vonHochschulabschlüssen auf EU-Ebene im Rahmen desBologna-Prozesses muss endlich vorangetrieben wer-den, auch im Bereich der beruflichen Abschlüsse.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig!)

Zweitens. Wir müssen mit der Einführung eines euro-päischen Qualifikationsrahmens, EQR, diese Vergleich-barkeit schaffen und einen Rahmen für die Anerkennungvon Qualifikation im Bereich der allgemeinen und der

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21874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Marcus Weinberg

beruflichen Bildung erstellen. Das wird keine zehn Jahremehr dauern, wie ich von der FDP-Fraktion geradehörte,

(Zuruf von der FDP: Sie regieren schon zehnJahre! Ist ja toll, dass Sie schon auf die Ideekommen!)

zumindest nicht dann, wenn wir das in Verantwortungbetreiben werden.

Drittens. An dieser Stelle möchte ich noch auf denAntrag der Linken zu sprechen kommen sowie auf dieFrage: Welche Verantwortung haben die Kammern indiesem Zusammenhang? Natürlich ist es so, dass die An-erkennung und die formale Vergleichbarkeit von Berufs-abschlüssen bilateral nur mit Österreich, Frankreich undfür das Handwerk nur mit der Schweiz geregelt sind.Trotzdem muss man sagen, dass die Kammern in vielenFällen informelle Hilfsleistungen und Anerkennungs-möglichkeiten anbieten. An dieser Stelle wird nachge-bessert; das fällt in den Bereich des EQR. Die Industrie-und Handelskammern erklären sich bereit, ihre Leistungzur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifi-kationen vor allem im Bereich der gutachterlichen Stel-lungnahmen zu ausländischen Zeugnissen weiter zu ver-bessern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann[SPD]: Endlich!)

– Jetzt war Zeit, zu klatschen.

Die Kammern haben eine hohe Verantwortung. ImAntrag der Linken wird aber deutlich, dass das kritisiertwird. Ich kann nur eines sagen: Wir müssen auf die Stan-dards achten. Wir dürfen – bei allem Respekt und bei al-ler Bedeutung des Themas für unsere Gesellschaft, aberauch für die europäische Gesellschaft insgesamt – nichtaußer Acht lassen, dass wir und natürlich auch die Kam-mern verpflichtet sind, Standards einzuhalten. Die zen-trale Aufgabe ist, dies passgenau zu machen. Die Stan-dards dürfen nicht abgesenkt werden. Es nützt denMigranten nichts, wenn Sie im Hinblick auf die Stan-dards im Vergleich zu der Zeit davor schlechter daste-hen.

Gern kann ich noch auf weitere Maßnahmen eingehenwie das Modellprodukt des Bundes „AQUA – zugewan-derte Akademikerinnen und Akademiker qualifizierensich für den Arbeitsmarkt“. Das Programm wurde seitOktober 2007 von 4 auf 13 Berufsfelder erweitert. Es istübrigens nicht zutreffend, dass das Akademikerpro-gramm des BMBF im Hinblick auf die Haushaltsansätzeseit 2006 zurückgefahren worden sei. Es ist in das be-reits seit Oktober 2006 angelaufene Programm „AQUA“überführt worden.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Von der insti-tutionellen zur Projektförderung!)

Das heißt: Die bisherigen Zielgruppen, insbesondereim Migrantenbereich, werden weiterhin berücksichtigt,und die gemeinsame Qualifizierung zugewanderter undhiesiger arbeitsloser Akademiker steht im Mittelpunkt.Der Mittelansatz für das Jahr 2009 ist „AQUA“ zugeord-

net worden. Erwähnt werden soll außerdem das Pro-gramm „Interkulturelle Bildung“ der Universität Olden-burg, das es seit 2006 gibt. Das sind Einzelmaßnahmen,die deutlich machen, dass es hier sehr viel Bewegunggibt.

Was bleibt als Fazit festzuhalten? Es ist deutlich ge-worden, dass wir dies, gerade was die Anerkennung vonBerufsabschlüssen anbelangt, als zentralen Bereich derIntegration sehen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dass über 500 000 Menschen damit hierzulande Pro-bleme haben, ist nicht hinnehmbar. Die meisten von unsführen wahrscheinlich in diesem Bereich aktive Gesprä-che. Ich war letztens in Hamburg und habe mit jungenMigranten gesprochen, die gerade Probleme haben, dassihnen bei den Zeugnissen etwas fehlt oder dass ihnen beider Zulassung etwas fehlt. Sehen Sie das als Herausfor-derung an! Die Bundesregierung hat bereits geantwortetund gute Programme erstellt. An dieser Stelle sei bei-spielhaft die ZAB genannt. Ich glaube, wir sind auf demrichtigen Weg.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Sibylle Laurischk (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine der

frustrierendsten Erfahrungen von Migranten in Deutsch-land ist die Odyssee zur Anerkennung ihrer Bildungsab-schlüsse. Odysseus’ Irrfahrten dauerten zehn Jahre; dieErfahrungen von Zuwanderinnen und Zuwanderern sindähnlich.

Wer seine Bildungsabschlüsse komplett anerkannt be-kommen möchte, hat sich mit einer Unzahl von zustän-digen Stellen, Vorschriften, Formularen und föderalenEigenheiten auseinanderzusetzen. Dabei gibt es kaum ei-nen Rechtsanspruch auf eine Einstufung. Dieser ist aufwenige Gruppen wie etwa Spätaussiedler begrenzt. Da-mit sind ganze Bildungskarrieren entwertet. So habenwir hier jahrelang viele den Weg vom ausländischenAkademiker zum inländischen Taxifahrer beschreitenlassen. Das ist absurd.

Das Potenzial, das wir dabei verschenken, ist groß.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Wir wissen, dass wir in Zukunft auf qualifizierte Ar-beitskräfte auch aus dem Ausland angewiesen sind, inmanchen Berufsfeldern schon heute. Trotzdem erschlie-ßen wir die individuellen Fähigkeiten der Zuwanderernicht, sondern setzen Zeichen gegen Integration.

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Sibylle Laurischk

Die Bereitschaft, sich in die Gesellschaft zu integrie-ren, wird auch wesentlich von dem Willen getragen, et-was erreichen zu können, beruflich voranzukommen.Die Versagung der Anerkennung eines vorhandenen aus-ländischen Bildungs- oder Berufsabschlusses wird alsZurückweisung, ja Demütigung empfunden.

Wir haben kein System, Menschen, deren Bildungs-leistungen teilweise nicht anerkannt werden, adäquataufzufangen. Nur weil ihre herkömmlichen Lern- undAbschlussstrukturen nicht unseren Standards entspre-chen, sind diese Menschen keine Ungelernten.

(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])

Allgemein eine Berufserlaubnis zu erteilen, reicht nichtaus.

(Beifall bei der FDP)

Wir pflegen in Deutschland ein stark formalisiertesBildungssystem mit einem hohen Bildungsstandard, andem wir festhalten wollen. Leider werden Anerken-nungsverfahren zu stark von formalisierten Kriterien derAusbildung und leider zu wenig von inhaltlichen Ver-gleichen bestimmt. Deshalb müssen wir das zentraleKriterium der Gleichwertigkeit der Abschlüsse erwei-tern, und zwar um das Kriterium der Adäquanz. Könnenfehlende Ausbildungsteile durch andere, hier nicht ge-lehrte Ausbildungsteile ausgeglichen werden? WelcheVorteile ausländischer Ausbildungen wiegen erkannteNachteile der deutschen Ausbildung auf? Dafür brau-chen wir aber einen vorurteilsfreien Blick auf unser Bil-dungssystem, der die eigenen Defizite klar erkennt undbenennt.

(Beifall bei der FDP)

Dies fehlt unserer Bildungsverwaltung.

Ein Beispiel dafür ist der Vorschlag des Bundesbil-dungsministeriums zur Umsetzung der sogenanntenLisabonner Anerkennungsrichtlinie für Hochschulab-schlüsse. Wer starr an alten Regeln festhält und damitdie Einsicht in die Veränderungsnotwendigkeiten ver-missen lässt, ist – vorsichtig gesagt – nicht in der Reali-tät angekommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Mit der Einarbeitung der deutschen Bildungsab-schlüsse in den Europäischen Qualifikationsrahmen ha-ben wir die Chance, über die Einstufung von Bildungs-leistungen einen Vergleichsmaßstab zu erstellen, derauch auf Abschlüsse aus Nicht-EU-Staaten ausgedehntwerden kann. Damit würde eine gleiche inhaltliche Be-wertung von Abschlüssen möglich.

Bis zur Erarbeitung der Qualifikationsrahmen könnenwir Verbesserungen auf der Verfahrensebene vorneh-men. Wir brauchen dringend einheitliche Verfahrensab-läufe in den Ländern und vor allem einen zentralen,fachlich versierten Ansprechpartner für die Zuwanderer.Wir brauchen einen Informationspool für alle Ab-schlüsse, wie ihn die Zentralstelle für ausländisches Bil-dungswesen bisher nur für Hochschulabschlüsse auf-baut. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf eine

Einstufung der Bildungsabschlüsse aller Migranten, ver-bunden mit einem Bildungsplan, der den Weg zur ge-wünschten Qualifikation aufzeigt. Das wäre ein Paradig-menwechsel und endlich ein Signal, dass Zuwanderermit ihren Qualifikationen bei uns willkommen sind.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Wir würden damit tatsächlich einen neuen Weg be-schreiten. Wir sollten Mut dazu haben; denn die Zuwan-derer, die wir in einem Einwanderungsland integrierenwollen, brauchen diese klaren Signale. Es ist überfällig.Das war auch Thema des letzten Nationalen Integrations-gipfels. Dort haben wir gesehen, dass das Thema zwarverstanden worden ist. Aber die Umsetzung lässt aufsich warten – zu lange schon. Wir möchten dies ändern.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gesine Multhaupt für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gesine Multhaupt (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Cornelia Schmalz-Jacobsen, die frühere Ausländer-beauftragte der Bundesregierung, hat einmal gesagt:

Integration ist ein Anspruch und eine Anstrengung,zu der es keine Alternative gibt –

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

weder für die aufnehmende Mehrheitsgesellschaftnoch für die zugewanderte Minderheitsgesellschaft.Dies anzuerkennen, ist für beide Seiten Grundvo-raussetzung eines erfolgreichen Integrationsprozes-ses.

Die Anstrengung, von der sie damals sprach, hat füruns bis auf den heutigen Tag Gültigkeit. Wir müssen sieeben auf uns nehmen.

Valentina Mazur beispielsweise kommt aus Usbekis-tan. Die heute 45-jährige Frau hat Kunstwissenschaftstudiert und in Pädagogik den Doktortitel erworben. Sieist also eine hochqualifizierte Frau. Man könnte denken,alle Möglichkeiten stünden ihr offen. Doch ValentinaMazur geht putzen. Das in Usbekistan – mit besten No-ten übrigens – erworbene Diplom wird bei uns ebensowenig anerkannt wie ihr Doktortitel. Deshalb ist sie un-geachtet ihrer Qualifikationen eine ungelernte Arbeits-kraft.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das geht nicht!)

Gut ausgebildete Bautechniker werden zu Anstreichern,Lehrerinnen arbeiten als Putzfrauen, Mediziner undFachärzte arbeiten als Haushaltshilfen oder in anderenBereichen des Niedriglohnsektors, obwohl sie mit ihrenFähigkeiten und Fertigkeiten gut qualifiziert sind.

Alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tra-gen, eine Stimme und einen Auftrag haben, sind darum

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Gesine Multhaupt

dringend gefragt, diese Fähigkeiten zu erkennen, anzuer-kennen und wertzuschätzen.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen deutlich machen, dass wir darin eine großeChance sehen. Integration erfordert eben auch eine sach-gerechte Anerkennung von guten Qualifikationen der beiuns in Deutschland lebenden Menschen.

Wir Sozialdemokraten bekräftigen seit langem, dasseine moderne Migrationspolitik auch das Ziel hat, Zu-wanderungsprozesse in unserem eigenen Interesse zusteuern und zu gestalten. Bei jeder Gelegenheit machenwir deutlich, dass wir eine koordinierte Zuwanderung,gerne auch von qualifizierten und hochqualifiziertenMenschen, befürworten. Wir sehen darin eine Verwirkli-chung von Chancengleichheit, empfinden die Potenzialeund Fähigkeiten der Zuwanderer als eine Bereicherungfür unsere Kultur und unser Arbeitsleben. Die Migrantenkönnen einen Beitrag dazu leisten, dass Wohlstand undBeschäftigung dauerhaft gesichert werden.

Für uns Sozialdemokraten ist all dies viel wichtigerals ein Integrationsgipfel, der zwar in aller Munde ist,aber an den Realitäten nichts verändert. Solange jugend-liche Ausländer – wie beispielsweise im Wahlkampf2008 in Hessen geschehen – pauschal als Kriminelle ab-gestempelt werden, ist ein Integrationsgipfel nicht mehrals Schönfärberei und Kosmetik.

(Beifall bei der SPD)

Wenn eine Landesregierung – wie aktuell in meinemHeimatland Niedersachsen bei den Haushaltsberatungengeschehen – die Mittel für Integrationsberatung und denFlüchtlingsrat kürzt oder sogar streicht, setzt sie in derFlüchtlingspolitik offensichtlich ganz andere Akzente,als wir sie wünschen. Den Menschen im Land und auchden Zugewanderten wird sehr schnell der Widerspruchzwischen der Arbeit einer Integrationsbeauftragten undden realen Fakten einer Politik deutlich, die beispiels-weise hart gegen Flüchtlinge vorgeht. Sie bemerken die-sen Widerspruch; davon bin ich zutiefst überzeugt.

Gute Anregungen für eine verantwortliche Politik fin-den wir – um nur zwei Beispiele zu nennen – in Rhein-land-Pfalz, aber auch hier in Berlin: Konkrete Ziele undWege werden festgelegt, um die Anerkennung von Leis-tungen voranzubringen. Durch zusätzliche Finanzmittel– das möchte ich nicht verschweigen – erhält die Integra-tionsarbeit vieler Landesregierungen und Kommunen ei-nen hohen Stellenwert.

In den letzten Tagen hat das Berlin-Institut für Bevöl-kerung und Entwicklung eine aktuelle Studie zur Inte-gration vorgelegt. Die Studie stellt gemischte Integra-tionserfolge fest.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was macht denn Ihre Bundesre-gierung? Das wäre doch interessant zu erfah-ren!)

Sie macht deutlich – das wurde vorhin schon von mei-nem Kollegen gesagt –, dass die bei uns lebenden Mi-granten immer seltener am öffentlichen Leben teilneh-

men, häufiger arbeitslos sind und wir das, was sie leis-ten, viel zu wenig anerkennen. Ein Integrationsgipfelund immer neue Appelle an den Leistungs- und Lernwil-len der betroffenen Menschen reichen hier nicht aus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, indiesem Zusammenhang möchte ich sagen: Wir bedau-ern, dass wir mit unseren Bemühungen um die doppelteStaatsbürgerschaft und das kommunale Wahlrecht nichtweitergekommen sind.

(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Rolf Meinhardt, Migrationsforscher an der Universi-tät Oldenburg, hat – auch das wurde schon erwähnt – füreine Studie bei uns lebende Ausländer nach ihren Ab-schlüssen in der Heimat befragt. Rund 40 Prozent der imAusland erworbenen Universitätsabschlüsse von Mi-grantinnen und Migranten werden bei uns nicht aner-kannt. 20 Prozent der Befragten trauen sich gar nichterst, die Anerkennung anzustreben. Dies scheitert offen-sichtlich daran, dass sie nicht gut genug integriert sind,um überhaupt die vorhandenen Netzwerke zu nutzen undeine Anerkennung zu betreiben.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die wissen doch gar nicht, wo siehingehen sollen!)

Die Carl-von-Ossietzky-Universität – das Beispiel istschon erwähnt worden – hat konkret auf das Problem re-agiert: Vor einigen Jahren wurde mit Mitteln des Euro-päischen Flüchtlingsrats der Studiengang InterkulturelleBildung eingerichtet. Hier können diejenigen Migranten,die einen Abschluss haben, der bei uns bislang nicht an-erkannt wird, unkompliziert einen Bachelor erwerben.Auf europäischer Ebene – auch davon ist gesprochenworden – sind wir dabei, für mehr Durchlässigkeit zusorgen und mehr Rahmenbedingungen zu schaffen, umdie Vergleichbarkeit von Abschlüssen im europäischenRahmen voranzubringen und so die Anerkennung zu er-leichtern.

Es gibt also Beispiele – wenn auch nur sehr wenige –,die deutlich machen, in welche Richtung es gehen muss.

Lange Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, war dievon mir erwähnte Studie der Universität Oldenburg daseinzige Datenmaterial, das bei diesem Thema hilfreichwar. Natürlich brauchen wir – da sind wir uns einig – füreine auf Kontinuität angelegte Integrationspolitik wei-tere statistische Informationen und weiteres Datenmate-rial. Eine im Auftrag der Bundesregierung durchgeführteStudie hat festgestellt, dass – obwohl die WirtschaftFachkräfte nachfragt – von den 86 Prozent der für dieStudie befragten Migranten, die bereits mit einemAbschluss nach Deutschland gekommen sind, nur16 Prozent einen Arbeitsplatz bekommen haben. Das isteine traurige Entwicklung.

Integrationspolitik im Bildungsbereich – da bin ichsehr nah bei dem, was die Kollegin von der FDP gesagthat – ist darum für uns die wichtigste Zukunftsaufgabe.Allerdings wird unserem Bildungssystem regelmäßigbescheinigt, dass es zu wenig durchlässig ist, dass es zu

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Gesine Multhaupt

wenig Aufstiegsmöglichkeiten bietet, dass es aussondertund ausgrenzt. Darum werden wir Sozialdemokratennicht nachlassen, auf jeder Ebene für mehr integrierteSysteme im Bildungsbereich zu sorgen, die Durchlässig-keit garantieren und Menschen, die besondere Unterstüt-zung und Hilfe brauchen, eine Chance bieten.

(Beifall bei der SPD)

Untersuchungen belegen beispielsweise, dass insbe-sondere qualifizierte Migranten ihre Kinder auf inte-grierte Gesamtschulen schicken, wo sie einen guten Ab-schluss bekommen. Die Universitäten, die Studiengängefür Migranten anbieten – Beispiele sind schon genanntworden –, geben deutliche Signale: Hier seid ihr will-kommen, hier habt ihr ein Angebot, nutzt es!

Integration kann und wird nur gelingen, wenn alleAkteure im Bildungssystem gemeinsam handeln und er-kennen, dass wir ein flächendeckendes Angebot an inte-grierten Systemen benötigen, mit dem wir die Grundvo-raussetzungen für Bildung schaffen. Solange das nichtgelingt, wird Anerkennung immer nur Gerede bleiben.Der Nationale Integrationsplan, in dem sich Bund, Län-der und Wirtschaft darauf verständigt haben, Anerken-nungsverfahren zu verbessern, ist hierfür ein durchausgelungenes Beispiel; das will ich nicht unerwähnt lassen.Aber für uns Sozialdemokraten ist und bleibt das Strei-ten für integrierte Systeme mit das wichtigste Projekt dernächsten Jahre.

Die FDP hat in ihrem Antrag einen Informationspoolzur Vergleichbarkeit von internationalen Abschlüssengefordert. Mit der Datenbank ANABIN sind wir hierschon ein Stück vorangekommen. Gemeinsam mit denKammern wird – Sie haben es zu Recht erwähnt – anbesseren, durchlässigen Anerkennungsverfahren gear-beitet.

Ich komme zum Schluss. Wir Sozialdemokraten wol-len die volle gesellschaftliche Teilhabe aller in unseremLand lebenden Menschen. Natürlich werden wir mitNachdruck daran arbeiten, die bei der Anerkennung vonLeistungen bestehenden Barrieren aus dem Weg zu räu-men und hier zu einer dauerhaften Lösung zu kommen.

(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Einige Analysen in den heute zur Abstimmung vorlie-genden Anträgen sind sicherlich zutreffend und werdenvon mir durchaus geteilt. Aber Sie werden Verständnisdafür haben, dass wir mit Blick auf das, was wir schonerreicht haben und was wir noch gemeinsam voranbrin-gen müssen, die Anträge heute ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Uwe Barth [FDP]: Wir wol-len unseren Antrag eigentlich erst einmal nurüberweisen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich bezweifle, dass diese Bundesregierung undauch die sozialdemokratische Fraktion wirklich etwasverändern möchten. Denn das Problem ist seit Längerembekannt, ebenso die Analyse; die Studien liegen vor.Aber die Bundesregierung setzt das, was sie weiß, nichtum. Sie tut so, als ob sie es nicht wüsste, und verliertsich in Absichtserklärungen im Nationalen Integrations-plan oder auf irgendwelchen Gipfeln, wo sie von Schein-werfern angestrahlt wird, und das war es.

Das Problem der Menschen beheben Sie nicht, seitJahrzehnten nicht. Sie berauben die Menschen ihrer ge-sellschaftlichen Teilhabe und der Möglichkeiten, die sieaufgrund ihrer Erwerbsbiografien und ihrer Qualifikatio-nen haben. Es ist nicht so, dass das Problem nicht er-kannt wurde. Es fehlt nur einfach der Wille, dieses Pro-blem zu lösen. Es gibt keinen Integrationswillen seitensder Bundesregierung. Wir haben in den letzten Tagenüber die Studie des Berliner Instituts mehrfach in denMedien hören und lesen können.

Am Montag überraschte uns die Integrationsbeauf-tragte Frau Maria Böhmer – ausnahmsweise ist sie heutebei dieser Debatte anwesend –

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

mit ihrer vermeintlichen Entschlossenheit, den Betroffe-nen der von ihr mitzuverantwortenden Desintegrations-politik helfen zu wollen. Sie will sich nun dafür einset-zen, dass sich die Situation der halben Million Menschenin Deutschland, die über einen ausländischen akademi-schen Abschluss verfügen, der aber nicht anerkanntwird, ändert. „Dringendsten Handlungsbedarf“ sah sieauch im Focus vom 20. Oktober 2008. Da kündigte sieauch an, dass sie den „Anerkennungsdschungel lichten“wolle.

Wie ich gesagt habe: Das Problem ist bekannt. DieVersuche, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden, führen inDeutschland viele Migrantinnen und Migranten mit imAusland erworbenen Abschlüssen oft in Sackgassensi-tuationen. Das hat Frau Kollegin Laurischk hier schondeutlich gemacht. Bildung allein ist eben nicht derSchlüssel zur Integration, was die Sozialdemokraten seitJahrzehnten immer herunterbeten.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Kommen Sie herunter! Haben Sie Feindbilder?)

In der Studie des Berliner Instituts wird das ganzdeutlich gesagt. Darin heißt es:

Bildung bedeutet aber nicht automatisch eine ge-lungene Integration, denn nach wie vor baut die Ge-sellschaft Hürden für Migranten auf: Selbstständi-gen wird die Niederlassung erschwert, Abschlüssewerden nicht anerkannt …

Wenn man das Problem seit Jahren kennt, dann frageich mich, warum man es nicht behebt. Dieses Problem

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wurde schon im ersten Memorandum des ersten Auslän-derbeauftragten aus dem Jahre 1979 angesprochen.

(René Röspel [SPD]: Sie werden es garantiert nicht beheben!)

Ich sage für meine Fraktion: Es geht nicht, dass manden Menschen die Möglichkeit nimmt, am gesellschaft-lichen Leben teilzunehmen. Ich sage auch: Frau Böhmer,Sie haben genug geredet. Es ist Zeit für Taten. Viele Mi-grantinnen und Migranten in Deutschland haben dankIhrer Politik und der Politik der Bundesregierung vieleJahre verloren.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir habendas BAföG verbessert! Wir haben das Meister-BAföG verbessert! Registrieren Sie das, Kol-legin!)

Versuchen Sie doch einmal, in der Integrationspolitiknicht hinter anderen Ländern der Europäischen Unionhinterherzuhinken! Schaffen Sie eine gesetzliche Grund-lage wie zum Beispiel in Dänemark! Eine Website, dienur die Aufgabe hat, das Chaos zu verwalten, brauchenwir nicht. Sorgen Sie stattdessen dafür, dass ein Konzeptentwickelt wird! Sorgen Sie dafür, dass die Anerken-nung von im Ausland erworbenen Qualifikationen bun-desweit vereinheitlicht, vereinfacht und beschleunigtwird! Wir brauchen ein System mit Rechtsansprüchenzur Feststellung, Einordnung und auch Zertifizierungvon Abschlüssen. Dafür zu sorgen, ist die Aufgabe derBundesregierung und nicht die Aufgabe von einzelnenPersonen. Die Bundesregierung muss die Rahmenbedin-gungen dafür schaffen; sie trägt dafür die Verantwortungund nicht einzelne Personen.

Wenn Sie wollen, finden Sie auch einen Weg. Des-halb plädiere ich dafür, endlich Taten folgen zu lassenund nicht immer nur darüber zu sprechen, dass man Inte-gration wolle. Der Wille allein genügt nicht. Die Bun-desregierung ist dazu aufgerufen, endlich zu handeln.

(Beifall bei der LINKEN – René Röspel[SPD]: Mit solchen Reden integriert man aberauch nicht!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.

(Zuruf des Abg. Marcus Weinberg [CDU/CSU])

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Weinberg, ich weiß nicht, ob ich Sie mit dem,was ich heute sage, glücklich machen kann. – Sie habendas Problem erkannt und haben auch gesagt, dass dasProblem erkannt wurde. Aber die Tatsache, dass wirheute die beiden vorliegenden Anträge beraten, zeigt,dass das Problem noch nicht gelöst ist. Nach wie vorsind die Anerkennungsverfahren zu kompliziert, zulangwierig und unüberschaubar. Das Problem ist, dassdie Akteure wie Hochschulen, IHKen, Bundesagenturfür Arbeit, Bund und Länder nicht miteinander kooperie-

ren und ihre Anstrengungen, zu einem guten Anerken-nungsverfahren zu kommen, nicht koordinieren.

Das Problem ist, dass viele Zugewanderte über Jahrehier leben und gar nicht wissen, an wen sie sich wendensollen, weil es keine effiziente Beratungsstruktur gibt.Auch die BA hat in ihren örtlichen Arbeitsagenturenkeine ausreichend gut ausgebildeten Mitarbeiter, die dieZugewanderten beraten können. Es gibt noch nicht ein-mal eine entsprechende EDV, mit der die Kompetenzender zugewanderten Menschen, deren Abschlüsse formalnoch nicht anerkannt sind, überhaupt festgehalten wer-den können.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ich kennehervorragende Menschen bei den Arbeits-ämtern, die sich mit großem Engagement da-rum bemühen, sie zu beraten! Es ist nichtwahr, dass es keine Leute gibt, die das kön-nen!)

Insofern geht ein riesiges Potenzial verloren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir tun so, als ob wir keinen Fachkräftemangel hät-ten. Wir tun so, als ob die individuelle Leistung der Zu-gewanderten nichts wert wäre. Das ist das falsche Signalfür eine Zuwanderungsgesellschaft. Ich glaube, dassdringend etwas getan werden muss, vor allen Dingenauch seitens der Bundesregierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Rachel, es gab einen Bildungsgipfel. Was habenda Bund und Länder gemacht? Sie haben vereinbart, zuprüfen, ob es Ausweitungsmöglichkeiten für Anerken-nungsverfahren gibt. Danke schön! Es ist nun wirklichder Gipfel, so etwas zu vereinbaren,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

anstatt Butter bei die Fische zu geben und zu sagen, wastatsächlich geändert werden soll. Im Rahmen des Natio-nalen Integrationsplanes wurde vereinbart, dass Kon-zepte und Empfehlungen erarbeitet werden und dannModellversuche in die Erprobung gehen. Wir brauchenaber keine Erprobung von Modellversuchen mehr. Wirbrauchen einen Rechtsanspruch für die Zugewanderten,dass ihr Anerkennungsverfahren durchgeführt wird,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann[SPD])

damit sie überhaupt eine Chance haben, dass ihre Kom-petenzen erhoben und sie dann auch eingegliedert wer-den.

Wir brauchen modulare Anpassungsqualifizierungenfür diejenigen, die zwar im Ausland einen Abschluss er-worben haben, aber vielleicht noch eine Anpassungsqua-lifizierung brauchen. Es wäre gut, wenn wir das Ausbil-dungssystem insgesamt modernisieren würden, weil sichso etwas dann leichter durchführen ließe.

Wir brauchen dringend die Ausgestaltung des DQR,damit nicht nur die Kompetenzen der Höchstqualifizier-ten mit akademischer Ausbildung, sondern auch derjeni-

Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

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Priska Hinz (Herborn)

gen, die mit anderen Berufsabschlüssen ins Land ge-kommen sind oder noch kommen, tatsächlich eingestuftwerden können. Auch das macht Anerkennungsverfah-ren leichter. Zudem brauchen wir eine verbesserte Bera-tung der Individuen.

Der politische Wille, der hier erklärt wurde, ist wohl-feil. Solange er nicht umgesetzt und durchgesetzt wird,stehen solche Anträge, wie wir sie heute beraten, zuRecht auf der Tagesordnung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen werden wir weiter darauf drängen, dass dieBundesregierung ihre Pflicht erfüllt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mitdem Titel „Für eine erleichterte Anerkennung von imAusland erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufs-abschlüssen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/11732, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7109abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses ange-nommen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11418 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Börnsen (Bönstrup), Maria Michalk,Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten Rainer Arnold, Klaus Uwe Benneter,Clemens Bollen, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Zehn Jahre anerkannte Regional- und Min-derheitensprachen in Deutschland Schutz –Förderung – Perspektiven

– Drucksache 16/11773 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeWolfgang Börnsen, CDU/CSU-Fraktion.

1) Anlage 3

(Beifall bei der CDU/CSU –Zuruf von der CDU/CSU: Nu ward Platt snackt!)

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Es wird sprachlich ein wenig bunter in unse-rem Parlament. Ich weiß, dass viele das außerordentlichbefürworten und auch respektieren. Wat mutt, dat mutt!

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Watt kütt, datt kütt!)

Teihn Johr is dat all her, dat uns lütte Spraken inDüütschland „hoffähig“ wurrn sünd: dat Plattdüütsche,Däänsch, Freesch und de Spraak vun de Sorben und vunde Sinti und Roma. An’n 1. Januar 1999 weer dat sowiet: Die Europäische Sprachencharta für Regional- undMinderheitensprachen erhielt Rechtskraft in Deutsch-land. Man, dat weer een Festdag för de Lütten. DieCharta gilt für die traditionell in unserem Land gespro-chenen Minderheitensprachen. Gleichwohl hat sie, wieich finde, auch eine positive Wirkung für eine prakti-zierte Sprachentoleranz gegenüber den vielen neuenMinderheitensprachen in Deutschland, ob Türkisch,Russisch, Kasachisch oder andere.

Vun 47 Länner in de Europarat hemm nur 23 Ja seggtto de Charta. De annern hemm seggt, dat weer „zu kom-pliziert“. Dat heet, 50 Prozent hemm bit jetzt Nee seggt.Dat finn ik een Truerspeel; dat dörf nich so blieven.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP und der LINKEN –Zurufe von der SPD: Übersetzung!)

Der Deutsche Bundestag hat vor zehn Jahren, wie ichfinde, vorbildlich gehandelt. Er hat seinen Sprachmin-derheiten Anerkennung, Schutz und Förderung zugesagtund dazu beigetragen, dass diese Sprachencharta denStellenwert einer Magna Charta für inoffizielle Spracheneinnimmt. Magst glöven oder nich, 70 lütte Spraken al-leen in Europa sünd in ehrn Bestand bedroht. Op unsWelt gifft dat bi 7 000 Spraken; vun 4 000, dat heet fast60 Prozent, seggt man: Wenn wi se nich schützen doon,dann gahn se doot. Dat, finn ik, weer een groten Verlustför de Minschheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Auch drei Minderheitensprachen bei uns und die Re-gionalsprache Niederdeutsch stehen auf der Roten Listeim Atlas der Weltsprachen. Auch sie sind in ihrem Be-stand existenziell gefährdet, wenn, ja, wenn se in de Kin-nergoorn, in de Scholen un to Huus in de Familie nichmehr snackt warrn, wenn se bi de Lehrerutbildung, in’tRadio, in de Kieckkist un in de Presse nich mehr vörka-men doon.

Bedroht ist auch das Plattdeutsche, eine eigenständigeSprache, die Kurt Tucholsky geliebt und Klaus Grothselbstbewusst gemacht hat. In der Hansezeit war sie diebeherrschende Sprache in ganz Nordeuropa. Heute wirdsie noch von 9 Millionen Menschen verstanden und vonknapp 3 Millionen Menschen gesprochen. Allein 170 li-terarische Neuerscheinungen gibt es jährlich.

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21880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Man, dat Ministerkomitee ut Brüssel, dat de Char-tapraxis jede dree Johr kontrolleern deit, seggt: Ok datPlattdüütsche is noch lang noch nich hulpen. Dor muttmehr doon warrn: in de Bildung, bi de School, bi de Be-hörden un ok bi de Plegekräfte för de ölleren Lüüd. Mo-derspraak, dat is Heimat. Moderspraak, dat is een Kul-turgoot.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sprache ist – das wissen wir – Identität, ist derSchlüssel zum Weltverstehen. Mehrsprachigkeit ist dasGebot der Stunde. Das ist europäisch gehandelt. Deshalbhaben Minderheitensprachen Förderung verdient; dennwer Plattdüütsch oder een annere lütte Spraak snackendeit, de kann eben mehr as Broot eten.

Der Deutsche Bundestag unterstreicht heute mit die-ser Debatte sein Bekenntnis zur Sprachenvielfalt in un-serem Land. Er anerkennt damit das Bemühen Tausen-der von Menschen, von Bürgern, von Gruppen undVerbänden für den Spracherhalt und erwartet, dass dieErfordernisse, die wir ihnen heute vorgelegt und präsen-tiert haben, auch übernommen werden. Dazu gehörtauch die Initiierung eines Sprachenkongresses, um allerWelt deutlich zu machen, was wir alles tun und was nochzu tun ist.

Man, dat is kloor, all mööt wi mit anpacken, dat datwedder bargop geiht mit de Lütten. Bi mi in Sleswig-Holsteen süht dat gor nich so ring ut mit dat Plattdüütschun de annern Spraken. In meiner Heimatstadt Flensburggibt es eine Zeitung, die in Dänisch und Deutsch er-scheint, un es gifft Masse Amtsstuven, dor is een, desnackt Plattdüütsch, de snackt Däänsch, de snacktFreesch. Dormit warrt de Lüüd ok hulpen, un dat is okgoot so.

Man, mi maakt doch besorgt, dat hüüt Plattdüütschnich mehr in jede Kinnermund is. Aber hoffnungsvollstimmt – auch für meine Kollegen und für Sie alle; auchfür die Zuhörer –: Jeder Mann, jede Frau könnte Platt-deutsch lernen und Fan dieser Sprache werden. Einenhat die plattdeutsche Sprache gefunden, den Sie alle ken-nen: Asterix. Asterix snackt op platt, Obelix ok,

(Heiterkeit des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

un beide fallt de Himmel op Plattdüütsch op de Kopp,wenn se nich oppassen doon.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Michael

Goldmann, FDP-Fraktion.

Hans-Michael Goldmann (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Geachte Daamen un Hee-

ren!

Ik bün heel blied, dat wi hier vandaag binanner ko-men sünt, um teihn Jahr „Europäische Charta der Regio-nal- oder Minderheitensprachen“ to fiern.

As wi dat letsde Mal daröver heer satten hier in’tBundesdag in dat Jahr 2004, wassen wi uns all eenig: Wisünd up een goode Padd.

Besünners platt ward in de letsde Tied weer mehrproot. Lüü prooten platt in Huus, up’t Straat, bi d’Arbeit,up Böskoop un ok in de Amtsstuuven. Ok bi de Lüükannst best toraan komen up Platt, de verstahn Platt unprooten ok Platt. Mien leeve Lüü, dat is mi neet genog.Platt mut ok lehrt worden.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Studeren kann man platt up Hochskool man bloot inKiel. Schleswig-Holstein is dar wall een Vörbild.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!)

Ik dä mi freien, wenn dat annersworens ok so was.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wi ok!)

In acht Bundesländer word d’r Platt proot in Bedrie-ven un Vereinen. Was een heel Bült beter, wenn Plattdann ok mehr in’t Radio to hören was. Wi betahlen darok ja all mehr för. Dann können wi ok uns eegen Spraakverwachten wesen. Is ja heel moij, dat NDR all een paarJahr lang so wat hett as Hör mal ’n beten to.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Mi dünkt, WDR kunn ok een bietje maken.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU], an Abg.Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU] ge-wandt: Bei dir war es flüssiger!)

– Das ist meine erste Rede in Platt. Ich habe sechs Stun-den geübt.

(Heiterkeit und Beifall)

In’t Fernsehen kenn ik bloot Talk op platt. Heel an-ners is dat mit Bairisch un so. Dat hören wi alltied in’tFernsehen

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

un dar gifft’t ok keene Unnerschrift. Mit Platt is dat heelanners. 1982 gaff dat wall mal een Tatort „Wat Recht is,mutt Recht bliewen“. Man dar is’t dann ok bi bleven.Sülst de Lüü van dat Ohnsorg-Theauter ut Hambörgprooten alltied düts in’t Fernsehen. Dat mutt anners wor-den.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Un wo is dat mit dat Friesisch. Dar gifft dat in Schles-wig-Holstein een „Gesetz zur Förderung des Friesischenim öffentlichen Raum“. Man dat hett nich veel hulpen

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21881

(A) (C)

(B) (D)

Hans-Michael Goldmann

(Zuruf des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Een betken doch!)

– een bietje –; gifft neet mehr Lüü, de friesisch prootenkönnen. Ik denk mi, wenn uns Kinner nu bold een heelDag in’t Skool sitten söllen, dann könen se dar ok walleen bietje Platt lehren.

Engelsk is seeker van Belang, man uns eegen Spraakun Kultur düren wi neet heel vergeeten.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Dar mutten dann de Regeerens van de Bundesländerun van Berlin uns mit een bietje Geld stönen. Wor is datdann mit lüttje Koppels in uns Gesellskup? Dar sünt deDänen, de geiht dat noch goot. De hebben Dänemark,wor de Spraak alltied proot un uprecht hollen word. Undann gifft dat ok de Sorben. De hebben all een heel Bültdörmaakt, de hebben leeden, um dat se Germanen wor-den sullen in Preußen. Un in’t Darde Riek of in d’ DDRbünt se ok neet besünners maal west mit de Sorben. Pas-toren un Meesters hett man her eenfach weghaalt, un sowurr dat mit de Spraak gau minner. Nu bünt se darbi, datse de Lüü twee Spraaken lehren willen, Sorbisch unDüts. Dat Witaj-Projekt is darbi een heel Stön, dat weermehr Lüü her Moderspraak prooten. Dat kann dann okso wat as een Brüch na Oosten wesen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Sietdem dat wi de Charta hebben, is all een heel Bültpasseert, dat mutt man seggen. Spraaken, de minn Lüüprooten, sünt neet unnergahn, se sünd erhollen bleven unok de Kultur van disse lüttje Koppels. Dat is besünnersgood, um dat lüttje Koppels dat alltied good stur hebbenin disse Welt, is ok good. De kommen neet so faak toWord, dar gifft dat een Bült Striet un Elend um. LüttjeKoppels mutten ok to her Recht komen, ok mit herSpraak un Kultur. Friesen, Sorben, Sinti, Roma un Dä-nen wull ik neet missen, de bünt heel wat Besünners föruns Gesellskup.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Darum mutten wi all mitnanner wat daarfor doon, dat datok in Tokunft so blifft.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und derSPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Fein Snack!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin

Karin Evers-Meyer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Karin Evers-Meyer (SPD): Verehrte Fro Präsidentin! Leve Fruenslüüd! Leve

Mannslüüd! Teihn Johr is de Europäische Charta för Re-gional- oder Minderheitenspraken nu in DüütschlandGesetz. Na so’n lange Tiet is dat nödig – un mi dücht,

dat is ok uns Plicht as Düütsche Bundesdag –, dat wi na-kieken doot:

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Wat is dor bi ruutsuert? Wat hett sik an de Laag vun delüttjen Spraken in us Land ännert? Un: Wat mööt wi inGang setten, dat allens dat, wat in düt Regelwark binnensteiht, ok würklich un wohrhaftig bi de Minschen an-kummen deit?

Ik will vör allen vun dat Plattdüütsche snacken, denndat is de Spraak un de Kultur, bi de ik mi utkennen do.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

Dat is nu goot een Johr her, dor hett dat Institut för ned-derdüütsche Spraak in ganz Norddüütschland en reprä-sentative Ümfraag maakt. Rutkamen is, dat de Tall vunde Platt-Snackers in blots een Generatschoon op datHalbe trüchgahn is. 23 Johr vörher geev dat noch goot5 Millionen Platt-Snackers, un nu sünd dat noch2,6 Millionen. Un wenn sik een de Öllers-Pyramide be-kieken deit, denn kann een bang warrn. Dor gifft dat nichveel glatt to snacken: bi de Lüüd ünner 35 kummt Plattmeist gor nich mehr an.

Man düt is dat anner Gesicht vun de Ümfraag: deSympathie-Werte för Platt weern noch nienich so hooch.Vele Minschen hebbt dat begrepen: dor geiht wat verlo-ren: an Spraak, an Kultur, an Lebensoort. De jungenLüüd wunnert sik doröver, dat se sülbst de Spraak nichmehr köönt, de Oma un Opa noch ganz normaal Dag förDag snackt hebbt. Un: De Lüüd möögt Platt, se höörtgeern den Klang, se freit sik to Plattdüütsch in’t Theater,in de Zeitung oder in’t Fernsehn. Dat is al en snaakscheLaag: all möögt se Platt – man nüms snackt de Spraak.

Mit de Spraken-Charta bekennt Düütschland sik tosiene lütten Spraken. Man dat warrt ok konkret: Bund unLänner hebbt en Bült Plichten övernahmen. Wat dorbibabenan steiht, is: Strukturen schaffen un Anreize setten.Un hier sünd wi in de letzten Johren en ganz Stück wie-derkamen: So hett 2006 dat Bundes-Binnenministeriumen Utschuss inricht, de Raat geben schall in all spraakpo-litische Fragen, de mit dat Plattdüütsche to doon hebbt.Dat is dat Gremium, wo de Platt-Snackers mit de Bun-desdags-Fraktschonen an een Disch sitt un wo se all datvördag bringen köönt, wat för jüm wichtig is. Mi düchtaber: Düsse Opgaven schullen wi doch noch een betenwat eersthaftiger bedrieven. Ik meen dormit ok uns Ver-treters vun de Fraktschonen, denn vun de sünd dor niemehr as een oder twee Lüüd hin gahn. Prioritäten hinoder her: Gode Sprakenpolitik op internatschonaal Ni-veau heet ok, dat wi us hier in Berlin darum kümmernmööt. Un wi köönt ok op düsse Oort de Lüüd wiesen, datwi sülbst dat Thema wichtig nehmt.

Ji weet ok, wer keen Geld in de Knipptasch hett, kannkeen Kulturarbeit leisten. Dorüm is dat för mi ok enSchritt in de richtige Richtung, dat in den Bundes-Huus-hollt siet 2008 en extra Posten för de Förderung vun denedderdüütsche Spraak binnen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

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21882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

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Karin Evers-Meyer

– Ja, dat köönt wi ruhig anerkennen. – De Beopdragteför Kultur un Medien hett düsse Opgaav annahmen, undor schullen wi em Dank för seggen. Dat Geld is deGrundlaag för en ganze Reeg vun Projekten, de Anre-gungen geevt, sik mit Platt to befaten und de Spraak okto lehren. En Deel vun dat Geld is dorför, dat sik dePlattdüütschen överhaupt politisch organiseren köönt.Düsse Arbeit hett de Bundesraat för Nedderdüütsch in deHand nahmen.

De Spraken-Charta verlangt ok, dat de Staat mehr deitför de Regional- un Minnerheiten-Spraken. Eenmal heetdat: De Lüüd, de düsse Spraken snackt, de schüllt dorkeen Nadeel vun hebben. Man wo süht dat konkret ut inus Olenheime un in de Krankenhüüs? Ok dor gifft dat enArtikel in de Spraken-Charta för, man so richtig küm-mert hett sik dor nüms um. Anner Johr hett in Schleswigde eerste lütte Sozial-Konferenz stattfunnen. Dor weer tohören vun en Fro, to de seggt de Plegers in dat Heim:Dat dor is use Chinesin.

(Heiterkeit)

Nüms kann ehr verstahn. Se is in ehr Demenz nämlichganz trüchfullen in ehr eerste Spraak – un dat is datPlattdüütsche.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ja!)

„De Chinesin“ – dat is en Tostand, den wi so nich hin-nehmen köönt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Babenan aber steiht de Fraag: Wo kriegt wi vör allende jungen Minschen dorhin, dat se Platt as Spraak lehrt.Toeerst is dat natürlich en Opgaav för de Familien. Wennde nich mitmaakt, denn bringt dat allens nix. Man wiweet ok: De Mudder-un-Vadder-Generatschoon is meistutfullen, un Oma un Opa alleen schafft dat ok nich. Jüstin de Kinnergoorns is hier in de letzten poor Johr överallin Norddüütschland en Barg op de Been kamen. Se singt,se speelt, se snackt Platt. Hier geiht de eenfache Rekenop: Twee is mehr as een. Dat heet: Wenn du twee Spra-ken kannst, denn is dat för dien Kopp beter, as wenn datblots een Sprak is.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

De Europaraat hett vör en poor Johr för dat Spraken-lehren dat Motto utgeven: twee plus een. Also: Lehr dienNatschonaal-Spraak – dat is ja bi uns Düütsch –, un dennlehr en anner grote Spraak – also Engelsch oderSpaansch oder Russisch –, un denn lehr ok en lütteSpraak, an besten de, de dat bi di to Huus geven deit – undat is bi us ja Plattdüütsch. Noch aber fehlt in us Bil-dungslandschaft en orntlichen Platz för Platt – un ikmeen dormit ok: för dat Lehren vun de Spraak. Hierbruukt wi endlich Lösungen, de över dat enkelte Bun-desland rutgaht. Ik will geern dorto anregen, dat en nord-düütsche Kultusministerkonferenz endlich sik mit düsseFraag befasst.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr schön!)

Leve Kolleginnen un Kollegen, ik kaam to‘n Sluss.Mi dücht, de Kurs stimmt. De Bundesregerung hett al enganzen Barg in Gang sett. Man wi sünd jüst eerst loos-fohrt. Un wi mööt ok noch mehr Fohrt opnehmen. Do-rüm is dat wichtig, dat wi den Andrag vun de Fraktscho-nen vun de CDU/CSU un de SPD annehmt un dat wi emok wieder to Siet staht.

Velen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Ilja Seifert, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Ich mag Folklore, undich weiß um den Wert von Sprachen. Wenn hier im Ho-hen Hause aber jedes Mal vor Bundestagswahlen aussehr durchsichtigen Gründen ein paar Sätze auf Plattund, wie nachher auch noch, auf Sorbisch gesagt werdenkönnen,

(Sönke Rix [SPD]: Ich habe das auch schonvorher gemacht, nämlich in meiner Jungfern-rede!)

dann ist das angesichts der Minderheitenpolitik IhrerKoalition für mich Feigenblattfolklore.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist eine blöde Unterstellung!)

Noch schlimmer ist allerdings ein zweiminütiger Fo-totermin, für den Ex-Kanzler Schröder 2005 die Spitzeder Domowina missbrauchte. Mehr Zeit hatte er für sienicht. In diesem März soll es ja nun einen Termin vonMinderheitenvertretern mit Frau Merkel geben.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: Wer sagt das?)

Vielleicht hat sie etwas mehr Zeit. Ich will das hoffen.

Reden wir einmal darüber, worum es eigentlich geht.Der vom Europarat eingesetzte Sachverständigenaus-schuss für die Sprachencharta fällte am 3. April vergan-genen Jahres ein unmissverständliches Urteil:

Trotz einiger positiver Entwicklungen hat sich dieLage im Hinblick auf die Regional- und Minderhei-tensprachen seit der Unterzeichnung des Abkom-mens durch die Bundesrepublik nicht wesentlichverändert … Der Sachverständigenausschuss stelltmit Bedauern fest, dass die Lage einiger besondersgefährdeter Sprachen sich offensichtlich sogar ver-schlechtert hat, insbesondere die Lage des Nieder-sorbischen. Die Lage des Saterfriesischen bleibtsehr prekär.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21883

(A) (C)

(B) (D)

Dr. Ilja Seifert

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Siegehen in Ihrem Antrag, der heute Gegenstand der De-batte ist, mit keinem Wort auf diese Kritik ein. Ihre soge-nannten Forderungen sind in ihrer Allgemeinheit kaumzu toppen. So soll die Bundesregierung dafür Sorge tra-gen, „dass mehr als bisher im Bereich von Bildungsein-richtungen, Schule, Hochschule, Verwaltung und Me-dien die Regional- und Minderheitensprachen zurGeltung kommen“.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja! Das ist doch schön!)

Was soll denn das heißen? Oder: Die Regierung soll „ih-ren Beitrag zur Aufarbeitung und Behebung von Defizi-ten“ leisten. Ja welchen, bitte?

Diese Forderungen schrieben Sie aus einem Antragvon SPD und Grünen von Juni 2004 übrigens wortgleichab.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was?)

Mit der Übernahme belegen Sie selbst, dass sich seit derdamaligen Debatte nichts geändert hat. Das ist ebenfallseine Feigenblattdebatte.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das geht nicht alles auf einmal!)

Die notwendigen strukturellen Veränderungen, dieder Europarat fordert, sind Ihnen keine Erwähnung wert.Wie auch? Die Bundesrepublik hat ja, wie Sie betonen,„eine erfolgreiche Minderheitenpolitik geleistet.“ Das istein sehr traurig stimmendes Selbstlob.

Was wir wirklich brauchen, ist ein eindeutiges Be-kenntnis des Bundesstaates zu seinen autochthonen Min-derheiten und deren umfassender Förderung. Das, meinelieben Kolleginnen und Kollegen, gehört ins Grundge-setz! Das ist unser Job hier!

(Beifall bei der LINKEN)

Damit bin ich beim nächsten Punkt. Sie behaupten al-len Ernstes, „Minderheitenpolitik mit den alteingesesse-nen Volksgruppen“ würde auf Augenhöhe stattfinden.Die Minderheiten seien „in der Gesellschaft anerkannt,geachtet und verankert“.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Ja, ist doch so! Fragen Sie sie doch mal! –Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmtdoch!)

Unglaublich!

Die Linke steht für den Schutz und die Förderung deranerkannten Minderheiten: der Dänen, der Friesen, derSinti und Roma und natürlich auch der Sorben und ihrerSprachen.

(Beifall bei der LINKEN)

Minderheitenpolitik braucht konkrete politische Maß-nahmen. Wir reden hier nämlich nicht über Folklore. Da-für demonstrierten unter anderem die Sorben 2008 inBerlin.

(Uwe Barth [FDP]: Sie konnten wenigstensdemonstrieren! Bei Ihnen in der DDR durftenSie überhaupt nicht demonstrieren!)

Bezogen auf die Oberlausitz will ich feststellen:Wenn wirklich eine offizielle Minderheitenpolitik aufAugenhöhe stattfände, dann würde man keine Schulenschließen, in denen Sorbisch Unterrichtssprache ist,

(Beifall bei der LINKEN –Dr. Barbara Höll[DIE LINKE]: Das hat die Landesregierunggemacht!)

dann würde der Bundesrechnungshof nicht auf die Ideekommen, den Einigungsvertrag in Bezug auf die Förde-rung der Sorben als „verbraucht“ zu bezeichnen,

(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist dochschon von gestern! Das wissen Sie dochschon!)

und dann würde keine Bundes- oder Landesvertretung inder Stiftung für das sorbische Volk mal eben über denTisch hinweg die Schließung des Sorbischen National-Ensembles vorschlagen, das im Übrigen das Einzige sei-ner Art ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Siewollen Ihren Antrag ja nicht einmal zur Beratung in dieAusschüsse überweisen. Damit gehen Sie doch einfachnur einer Anhörung von Sachverständigen und Betroffe-nen aus dem Wege. Das ist sehr durchsichtig.

Bei der von Ihnen heute geforderten Sofortabstim-mung über Ihren Folkloreantrag wird sich die Linke derStimme enthalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die

Grünen, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1)

Deshalb gebe ich jetzt der Kollegin Maria Michalk,CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Maria Michalk (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Seifert, bevor ich meine eigentliche Redebeginne, will ich ein Wort zu Ihrem Beitrag sagen. Ichfinde, es handelt sich, wenn sich alle Fraktionen an deröffentlichen Darstellung der Sprachenvielfalt beteiligenkönnen, nicht um Wahlkampf. Ich jedenfalls bin dank-bar, dass wir diese Debatte heute führen dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

3. rozprawa zwjazkoweje republiki k stawje přesad-źenja europskeje charty za regionalne a mjeńšinowe rěčeje dobry instrument, so na zwjazkowej runinje ze situa-ciju rěčneho stawa, wosebje tež serbskeje rěče, zaběrać.Přepytowanje Europskeje rady je wujewiło, zo su sew-

1) Anlage 4

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21884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Maria Michalk

jerna a saterska frizišćina kaž tež delnjoserbšćina najbólewohrožene rěče němskeje.

Serbšćina změje jenož přichod, hdyž změjemy šule,hdźež so maćeršćina našim dźěćom a młodostnym wepřeco lěpšej kwaliće a konsekwentnje posrědkuje a hdyžwostanu šule tam, hdźež serbske swójby a ći, kotřižchcedźa našu rěč nawuknyć, bydla. Tu smy we zańdźe-nych lětach dobre ale tež Bohužel serbsku rěč wohrožacerozsudy dožiwili. Naspomnju šulsku syć a naše wojo-wanje wo financne dorozumjenje za załožbu za serbskilud.

(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da hat aber die CDU allein regiert!)

Das sorbische Volk ist nur in Deutschland anzutref-fen. Seit Jahrhunderten leben Deutsche und Sorben inder Lausitz miteinander und befruchten sich sprachlichund kulturell. Das macht die Besonderheit der Lausitzaus. Das zieht viele an, vor allem Touristen, aber auchHistoriker und Wissenschaftler. Manche bleiben für im-mer hier und lernen die sorbische Sprache. Wenn sie denGeist der sorbischen Sprache für sich entdeckt habenund feststellen: Sorbisch ist zwar eine schwere, aber au-ßerordentlich reiche und schöne Sprache; es ist auch einelebendige Sprache, die ständig weiterentwickelt wird,deshalb also auch eine moderne Sprache, dann kennensie die Seele der Sorben. Nur über die Sprache kommtman zur Seele eines Volkes.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Das hat eine politische, eine wirtschaftliche und einekulturelle Dimension.

Deshalb fühlen wir uns auch als Brücke zu unserenslawischen Nachbarn, deren Sprache wir sehr gut verste-hen. Ich wünsche mir, dass das politisch noch stärker ge-nutzt wird.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)

Die europäische Sachverständigenkommission sprichtaber deutlich aus, was wir vor Ort überall sehen, nämlichdass unser kleines sorbisches Volk kleiner wird, undzwar aus demografischen Gründen und deswegen, weiljunge Leute der Arbeit und der beruflichen Herausforde-rung nachziehen. Wir sind zweisprachig und integriert,aber der wachsenden Assimilation müssen wir uns ent-gegenstemmen.

Sprachlich machen wir das seit zehn Jahren mit demProjekt Witaj, das ich allen ans Herz lege. Immer mehrKinder lernen im frühkindlichen Alter beide Sprachengleichzeitig, Deutsch und Sorbisch. Diese Witaj-Kinderhaben in der Schule nachweislich in allen Fächern über-durchschnittliche Ergebnisse.

Wědomosć wupokazuje: za ludnosć wjetšiny je zhro-madne žiwjenje z mjeńšinami jasnje konstatujomna nad-hódnota. Wo tym měło so jenož časćišo rěčeć.

Der sorbische Schriftsteller Jurij Brězan, der sich seinLeben lang mit der sorbischen Sage des Krabat – unse-rem Faust – beschäftigt hat, schreibt in seinem Werk

Krabat oder die Verwandlung der Welt im Prolog – ichzitiere –:

Wie die Atlanten, so kennt auch das Meer den Bachnicht, aber es wäre ein anderes Meer, nähme esnicht auch das Wasser der Satkula auf.

Satkula ist ein kleiner Bach in der Lausitz.

Ich finde, besser kann man die gemeinsame Verant-wortung nicht umschreiben.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Clemens Bollen, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Clemens Bollen (SPD): Hooggeachte Mienfroo Präsidentin, hooggeachte Da-

men, mien Heren, as oostfreeske Abgeordnete is dat förmit natürlich wat Besünners, hier in’n Bundesdag inPlattdütsk över Regionaal- un Minderheitenspraak toproten. Ik bün plattdüts upwussen un ik proot geernPlatt.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Fein!)

Bi uns in Ostfreesland un Eemsland is de plattdütskeSpraak, de de meesten proten – of to Huus oder bi d’ Ar-beid, Un för heel völ Minschen is dat de Olldagsspraak,de normaal Spraak. Un faken is dat natürlich so, dat deOllerden beter Platt proten as Hoogdütsk.

Problem is bi de plattdütske Spraak, dat besünners dejunge Lü immer weniger Platt proten. Wi hebben dor enUnnersökung van de Oostfreeske Landskupp in Auerk,woor Helmut Collmann Präsident is, de hett faststellt,dat 1997 noch immerhin 10 Prozent van de oostfreeskSchölerinnen un Schölers van de eerste Klass Plattdütskproten. Teihn Jahr later, 2007, was dat blot noch en bietjemehr as 5 Prozent. Dit maakt dütlich, dat wi dat Erhollenun Unnerstützen van Regionaal- un Minderheitenspra-ken mehr maken möten, dat wi dat stärker unnerstüttenmöten as bisher.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Daarum is ok de Andrag, de hier vandaag to Afstim-mung steiht, un disse Diskussion vandaag so wichtig! Inde Andrag Punkt 6 is en besannern Punkt, woor dat Kon-zept fordert warrt to de Sekerung van de Regionaalspra-ken. Un dat dat ok maakt worden sall, gerade de teihnPunkte, de wi in de Hand hatt hebben, is ganz konkret enwieten Schritt. Un daarum verstah ik ok de Kritik ebengor nich so richtig.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Den Antrag hett he nich verstahn!)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21885

(A) (C)

(B) (D)

Clemens Bollen

Insofern begrüße ich gerade diesen Antrag as wieden unwichtigen Schritt, weil ok de Bund in Verantwortung is,un völ weet nu gaar nich, dat dat Bundesgesetz is.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Natürlich sünd besünners ok de Landesregierungen inde Plicht, all Punkten van de Sprakencharta natokomen.Un besunners mööt wi ok kieken, of dat ok maakt word.Un deshalb bruuken wi ok den Bundesraad bi de Diskus-sion, wat de Spraken dor anbelangt. Blot so könt wiPlattdütsk as en egen un lebennigen Spraak erhollen.Vör allen mööt wi ok daarför sörgen, dat bi Ämter unBehörden Plattdüütsch proot word, un vör allen Dingenok, dat’t vundaag un ok in twintig Jahr noch Mitarbei-ders gifft, de ok en Woord up Platt verstahn könen un enWoor up Platt maken könen, sowiet möglk.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Böns-trup] [CDU/CSU]: So mutt dat sien!)

Dejenigen, de menen dat Kinner, de mit plattdütskeSpraak upwassen sünd, naher dat later stuurder hebbento lehren, de liggen verkehrt. Ganz in’n Gegenteil. Degoot Plattdütsk proten hebbt ok mehr Fähigkeiten, annerSpraken to lehren. Besunners is dat Plattdütske ok engverwandt mit dat Engelske un dat Nederlandske. Un vörallen Dingen, de Unnersöken seggt, well vun froh mitPlattdütsk upwasst, kann um so eenfacher ok annereSpraken lehren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb geiht dat hier um de Identität, aber sehr wohlok um de Fähigkeiten, ok dor in de Region sünd. Un des-halb kann – dat keem hier ja al to’n Utdruck – nich vor-rangig bloß an Schölen, Hochschölen un Bildungsein-richtungen rekent worrt, sondern Spraak lehrt manbesonners dordör, dat man dat proot. Un dor mööt wi na-türlich ok för sörgen, so wie hier, un deshalb glööv ik, isdat ok en wichtigen Anlass, för uns gemeinsam as Bot-schafter för de Spraak to fungieren.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Un vör allen Dingen, dat de plattdütske Spraak ok mehrin de Verwaltung un de Medien to Spraak kummt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

En lüttj Bispill: bi mi ut de Gemeente Oostrhauder-fehn, woor ik herkaam, dor gifft dat – un in völ annerGemeenden ok bi uns – Beauftragte för Plattdütsk. Ikglööv, dat is en good Beispiel to överdragen, ok besun-ners in anner Bereiche – bi mi un bi Gabriele Groneberg,is eine saterfriesische Sprachinsel. Saterfriesisch ist einebesondere Sprache, bei der Unterstützung notwendig ist.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Disse Beupdragten för Plattdüütsk, as Netzwerk ok toverbreiten in de Kommunen, arbeiten na dat Motto:

„Vörsörgen – Stön geven – un umsetten!“ De kümmernsük um de Pleeg un de Stön van de plattdütsche Spraakun ok sükse Projekte wie Plattdütsch bi’d Arbeid. Völlehren besunners doch bi de Arbeit vun de, de dat oftmalin jungen Jahren nich lehrt hebbt. Dat de Quote, de wi sosehn, doch wedder en beten hochhoben ward. Dorum: Jeehrder Plattdüsch in de Olldag inbrocht word, um sosekerder is dat Overleven van disse Regionaal- un Min-derheitenspraak.

Mienfroo Präsidentin, hooggeachte Damen, mien He-ren, Plattdütsch is en egen Spraak un is Kulturgood. Okwi van’n Bundesdag könen mit daarför sörgen, dat ditKulturgood nich unnergeiht. Nich blot proten – Doon, isok wichtig!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

Helpt mit, dat mehr geböhrt un de Minderheitenspraakenok erholden blieben. Spraak is Heimat!

Besten Dank för Jo Tohören.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort zu einer persönlichen Erklärung zur Ab-

stimmung gebe ich dem Kollegen Uwe Barth.

Uwe Barth (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Debatte liefert einen eindrucksvollen Beweis da-für, wie groß die kulturelle Vielfalt und die Sprachen-vielfalt in unserem Land ist. Ich will zugestehen, dassich im Moment offenbar einer Minderheit angehöre,nämlich denjenigen, die kein Plattdeutsch verstehen. Ichstimme dem vorliegenden Antrag zu, möchte aber hinzu-fügen, dass ich das ausdrücklich nur aufgrund der Lek-türe des Antrages und in großem Vertrauen in die Kolle-ginnen und Kollegen, die hier gesprochen haben, tue, dasie bei diesem gemeinsamen Anliegen in den unter-schiedlichen Sprachen sicherlich das Richtige gesagt ha-ben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache16/11773 mit dem Titel „Zehn Jahre anerkannte Regio-nal- und Minderheitensprachen in Deutschland – Schutz –Förderung – Perspektiven“. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-trag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grü-nen, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der FraktionDie Linke angenommen.

(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Page 114: Plenarprotokoll 16/202 - Linklaters · 2019. 10. 27. · Plenarprotokoll 16/202 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 202. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 Inhalt:

21886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Alexander Bonde, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bankenrettung neu ausrichten

– Drucksache 16/11756 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort demKollegen Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben zurzeit eine intensive Diskussion über dieFragen, ob eine Bad Bank errichtet werden soll odernicht, ob eine große Bad Bank oder viele kleine BadBanks errichtet werden sollen, ob Ausgleichsforderun-gen erhoben werden sollen, ob eine Versicherungslösungwie in Großbritannien sinnvoll ist oder ob sogar eine Än-derung des Entschädigungsgesetzes notwendig ist. Es istrichtig, dass wir in dieser schwierigen Situation nicht nurin der Öffentlichkeit, sondern auch hier über den richti-gen Weg diskutieren. Nach dem Ende des vierten Quar-tals 2008 hat sich wieder eine Verschärfung ergeben. Wirmüssen daher feststellen, dass die Ziele mit dem Finanz-marktstabilisierungsgesetz, dessen Entwurf Anfang Ok-tober letzten Jahres verabschiedet wurde, nicht erreichtwurden.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mitte Okto-ber, Herr Kollege!)

Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Wir wollenmit unserem Antrag erreichen – ich glaube, das ist dieAufgabe dieses Hauses –, dass man in zwei Richtungennicht zu kurz springt. Eine Lex Hypo Real Estate wirdnicht ausreichen, genauso wenig wie der Versuch, mitBlick auf einen Einzelfall kurzfristig nachzusteuern.Vielmehr ist es notwendig, an verschiedenen Stellen dieFehler des geltenden Finanzmarktstabilisierungsgesetzeszu korrigieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der eine Fehler hat sich bei der chaotischen Situationder SoFFin gezeigt. Zwei von drei Mitgliedern des Lei-tungsausschusses sind in kurzer Zeit zurückgetreten, eindrittes Mitglied dieses Leitungsausschusses hat offen-sichtlich – das haben wir gestern in der Befragung derBundesregierung gehört – öffentlich für eine Verände-rung des Gesetzes plädiert, während die Verhandlungenzwischen der Europäischen Kommission und der Bun-desregierung zu dem entsprechenden Punkt schon statt-

gefunden hatten. So äußerte sich zumindest der Finanz-minister gestern in der Befragung der Bundesregierung.Das zeigt doch: Es ist nicht geklärt, wie die Zusammen-arbeit zwischen Regierung und Leitungsausschuss statt-finden soll. Deswegen wird es, wie es bisher geschehenist, nicht ausreichen, die personelle Lücke zu schließen,sondern es ist notwendig, organisatorisch wirklich etwaszu verändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was denn?)

Sie haben, ohne das wirklich zu kommunizieren, ei-nen Strategiewechsel vorgenommen, der auch im Parla-ment nicht diskutiert worden ist. Sie haben am Anfanggesagt, Sie wollten sich nur mit stillen Einlagen beteili-gen, möglichst keine Aktien erwerben und möglichstkeine Eigentümerrolle einnehmen. Bei der zweiten Ret-tungsaktion für die Commerzbank hat ein Strategie-wechsel stattgefunden, der jetzt offensichtlich bei derHypo Real Estate fortgeführt wird. Ich meine, es ist not-wendig, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wir habenvon Anfang an für eine konsequente Teilverstaatlichungplädiert, für Gegenwerte, wenn der Staat den BankenKapital zur Verfügung stellt. Es ist deswegen richtig,dass Sie diese Richtung einschlagen, aber dafür mussjetzt die gesetzliche Grundlage angepasst werden. DieDetails dazu liegen in unserem Antrag vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Schonin der Debatte im Oktober hat der Kollege Runde, dergerade sehr aufmerksam zuhört, wie ich merke, festge-stellt, dass wir eigentlich einen europäischen Ansatzbrauchen. Diese Ansicht haben wir ausdrücklich immergeteilt. Aber die Bundesregierung hat sich den europäi-schen Ansätzen, die bisher diskutiert worden sind, im-mer verweigert.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Welche gab es denn?)

Ich glaube, es wird, wenn man sich die Situation in derEuropäischen Union anschaut, notwendig sein, stärkereuropäisch koordiniert vorzugehen. Die EuropäischeKommission hat bereits vor den Auswirkungen auf denFinanzplatz gewarnt. Ich glaube, es ist notwendig, dassSie hier eine Korrektur vornehmen. Dazu fordern wir Siemit dem vorliegenden Antrag auf, und wir bitten Sie umIhre Zustimmung.

Eines ist in dieser heiklen Situation, in der sich die Fi-nanzmärkte befinden, ganz wichtig: Wenn Sie auf denFinanzmärkten Vertrauen schaffen wollen, dann mussPolitik vertrauenschaffend agieren. Das bedeutet: stabileGrundlagen bei dem Fonds, stabile Grundlagen im Ge-setz, das nicht nur für eine Einzelaktion gilt, sondernüber den Tag hinaus auch künftigen Rettungsaktionendient, und ein stabiler Ansatz für die Rettung des Finanz-markts Europa. Das ist genau das, was wir Ihnen hiervorlegen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21887

(A) (C)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Leo Dautzenberg,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Bereits vor einer Woche ha-ben wir ausführlich in einer Aktuellen Stunde über dieFunktionsfähigkeit des Finanzmarktstabilisierungsgeset-zes und möglichen Änderungsbedarf diskutiert. HerrKollege Schick, es ist legitim, dass Sie einen Antrag aufdie Tagesordnung setzen, aber wir sollten uns davor hü-ten, jetzt in jeder Sitzungswoche aktuell über diesePunkte zu beraten; denn wir können im Grunde die not-wendigen Analysen noch nicht vornehmen und dieSchlüsse, die Sie in Ihrem Antrag schon ziehen, nochnicht ziehen. Daher geht Ihre Kritik fehl, dass das Gesetzdie bisherigen Zielsetzungen nicht erreicht hat.

Gehen wir doch einmal die einzelnen Punkte durch.Sie sagen, es hätte besser funktioniert, wenn es auf euro-päischer Ebene eine Abstimmung gegeben hätte.Schauen Sie sich doch einmal einige europäische Länderan, angefangen mit England. Wie oft schon haben sievon Oktober bis heute ihren Grundansatz geändert? Dasbrauchten wir noch nicht, weil der Dreiklang von Garan-tien, Rekapitalisierung und Übernahme von Risikopa-pieren von der Gewichtung und von der Ausrichtung hernach wie vor richtig ist.

Es ist auch unfair. Sie sollten vielleicht ihr Mitgliedim sogenannten Geheimausschuss fragen, ob das Lei-tungsgremium chaotisch gearbeitet hat und ob dort einechaotische Situation herrschte. Viele haben erklärt, dassihnen die damit verbundene Arbeitsbelastung zu hochwar, was vorher nicht zu erkennen war. Was mit HerrnMerl als Vorsitzendem bisher abgewickelt und auf denWeg gebracht worden ist, ist etwas mit einer hohen Ex-pertise. Es ist Herrn Merl zu danken, weil er es auf denWeg gebracht hat. Das Leitungsgremium ist neu besetzt,und zwar wiederum mit Personen mit hoher Expertise,sodass diese Kritik fehlgeht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist auch nicht richtig, zu sagen: Die Rekapitalisie-rung als ein Teil der drei Maßnahmen ist als stille Ein-lage angelegt. Im Rahmen der Gesetzesbegründung ha-ben wir überwiegend darüber diskutiert, dass esVorzugsaktien sein sollten; das war der erste Weg. Wennman jetzt bei einer Maßnahme den Weg der stillen Ein-lage wählt, dann hat das seinen Grund. Das ist auf derrichtigen Grundlage entschieden worden.

Der erste Punkt, Garantiegewährung, ist vor Verab-schiedung des Gesetzes Mitte Oktober beschlossen wor-den, also ehe alles dafür Erforderliche vorlag. Sie müs-sen neben dem Interesse für den Schirm und neben derAntragstellung in diesem Zusammenhang berücksichti-gen, dass die erforderlichen Unterlagen vorliegen müs-sen, ehe eine Entscheidung fallen kann. Das war beimanchen Entscheidungen nicht der Fall. Das kann mannicht dem Gesetz zur Last legen, sondern der Hand-

lungsweise verschiedener Institute, die ihrer Aufgabenicht nachgekommen sind, nach dem Motto: Der Bundist jetzt zuständig; da gibt es irgendwo Geld; alles vorzu-legen, was wir für die Beantragung brauchen, das ma-chen wir nicht. – So geht es nicht. Wir Parlamentariermüssen mit diesen Entscheidungen sehr sorgfältig umge-hen.

Sie sprechen von „intelligenten Verstaatlichungen“.Was ist das? Begründen Sie einmal, was Sie darunterverstehen. Ich bin nicht für intelligente Verstaatlichung.Nur wenn es, ordnungspolitisch gesehen, der letzte Aus-weg ist, sollte man sich dem nicht verschließen. Aber dieVerstaatlichung als Konzeption darzustellen – dies siehtunser Gesetzentwurf nicht vor –, verstehe ich nicht.

Es besteht großer Aufklärungsbedarf. Gott sei Dankkristallisiert sich in den letzten Tagen heraus, was mitdem Begriff „Bad Bank“ gemeint ist und was es nur be-deuten kann. Der Finanzminister hat heute einen Vor-schlag gemacht, der unseres Erachtens in die richtigeRichtung geht: Mit uns gibt es keine Sozialisierung dertoxischen Papiere,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

sondern es muss individuelle Lösungen geben, die nachwie vor nah an der Verantwortlichkeit liegen. Es darfnicht alles nur zulasten des Steuerzahlers gehen.

Herr Kollege Schick, man kann über einzelne Punktedes Antrags diskutieren. Manche Wertungen gehen aberfehl, weil Sie ein Ergebnis nennen, obwohl es noch kei-nes gibt. Von daher ist es angebracht, diesen Antrag andie Ausschüsse überweisen, um danach vernünftig zuberaten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Florian Toncar, FDP-Frak-

tion.

Florian Toncar (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Aus Sicht der FDP ist die Sozialisierung vonSpekulationsverlusten zu vermeiden; denn sie zwingt zurVerschwendung von Steuermitteln oder von staatlichemVermögen; sie verhindert die Rückführung der Steuer-und Abgabenlast, gefährdet die Haushaltskonsolidie-rung, engt den Spielraum für Zukunftsinvestitionen einund untergräbt letztendlich auch das Vertrauen der Bür-ger in unsere Wirtschaftsordnung.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Wir wollen Verluste nicht sozialisieren.

Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist kein Persil-schein für eine unbegrenzte Ausweitung der Staatstätig-keit im Finanzsektor. Im Fokus stehen deswegen nichtnur die Wirkung der Medizin, sondern auch die Notwen-digkeit und die Verhältnismäßigkeit ihrer Verabreichung.

(B)

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21888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Florian Toncar

Die Grünen wollen den Steuerzahler offensichtlichmehr als notwendig an der Sanierung des Finanzsektorsbeteiligen; denn anders ist die Forderung nach einer ge-nerellen und stärkeren Kapitalbeteiligung des Staatesnicht zu verstehen. Was Sie „intelligente Teilverstaatli-chung“ nennen – Sie führen das übrigens wenig präziseaus –, ist in Wahrheit eine Fehlkalkulation; denn imFalle einer stillen Einlage, im Falle einer stillen Beteili-gung erhalten wir mit Vorzugsrechten eine 9-prozentigeRendite auf die Einlage.

(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wer denkt denn, dass die bei der Com-merzbank jemals gezahlt wird?)

Das geht dem vor, was die Aktionäre bekommen. WennSie generell lieber eine Beteiligung am Aktienkapitalwollen, dann bedenken Sie: Die Steuerzahler tragennicht nur das Verlustrisiko im operativen Geschäft, son-dern auch das Risiko von Wertverlusten. Das ist denSteuerzahlern in der jetzigen Situation nicht zuzumuten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie wollen einerseits eine stärkere Inanspruchnahmedes Rettungsschirms – das schreiben Sie in Ihrem An-trag –, planen aber andererseits die Schaffung zusätzli-cher psychologischer Hürden bei freiwilliger Inan-spruchnahme durch Finanzdienstleister. Die Ausweitungder aktiven politischen Einflussnahme auf Geschäfts-politik und Kreditvergabe, die Sie ausdrücklich befür-worten, sowie die zahlreichen geforderten Dokumenta-tions- und Nachweispflichten sind abschreckend. Wenndie Banken aber alles tun, um die Inanspruchnahme vonHilfen durch den SoFFin zu vermeiden, gefährdet dasdie Kreditvergabe eher, als dass es sie erleichtert.

(Zuruf von der FDP: Richtig!)

Auch deswegen sollte man sehr vorsichtig damit sein,solche Hürden aufzubauen.

Eines ist mir bei Ihrem Antrag noch aufgefallen – dasfand ich sehr bemerkenswert –: Sie haben auf der zwei-ten Seite in zwei dürren Zeilen ganz nebenbei eine neueAufgabe für die Europäische Zentralbank erfunden. DieEuropäische Zentralbank soll zum Wertpapierhändlerwerden. Sie soll den Banken Wertpapiere abkaufen. Da-mit machen Sie die Europäische Zentralbank faktisch zuder Bad Bank, die Sie eine Seite weiter vehement und zuRecht ablehnen.

(Beifall bei der FDP)

Wenn die Europäische Zentralbank Wertpapiere auf-kauft, dann werden Risiken und Verluste möglicher-weise sozialisiert. Bei den Wertpapieren, über die wirdort reden, ist das durchaus zu erwarten.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die kann auch gute Wertpapiere auf-kaufen!)

– Herr Schick, dann müssen Sie hineinschreiben, wasSie meinen. Wenn in dem Antrag steht, die EZB solleWertpapiere aufkaufen,

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da steht nicht, dass sie schlechte, toxi-sche aufkaufen soll!)

dann kann man das nur so verstehen, dass sie die Wert-papiere aufkaufen soll, für die es derzeit keinen Marktgibt; denn für marktgängige Wertpapiere gilt: Es bestehtüberhaupt kein Bedarf dafür, dass die Zentralbank sieaufkauft.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Ein Blick in den EG-Vertrag zeigt, dass das auch nichtAufgabe der EZB ist. Deren Aufgaben sind darin ab-schließend aufgeführt. Der Aufkauf von Wertpapieren istnach geltendem Europarecht nicht möglich. Im Übrigen:Wenn wir hier beschließen, wie Sie formulieren, näm-lich: „Der Deutsche Bundestag … fordert die Europäi-sche Zentralbank auf“, dann ist das eine politische Ein-flussnahme auf die Europäische Zentralbank, die nachArt. 108 EG-Vertrag ausgeschlossen sein sollte und aufdie sich die EZB auch überhaupt nicht einlassen darf.Schon deshalb kann man diesem Antrag in der Formnicht zustimmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist als ein Ge-setz für Notfälle konzipiert. Es ist ein Gesetz, das befris-tet gilt, das nach seinem Regelungsgehalt und wegen derscharfen Eingriffe, die es möglich macht, auch nur be-fristet gelten kann. Es muss flexibel gehandhabt werden.Es gibt viele Fälle, in denen ein Geschäftsmodell vor-liegt, bei dem eine stille Einlage im Interesse des Steuer-zahlers und auch sonst geradezu geboten ist, sodass mannicht pauschal sagen kann, dies sei ein falsches Instru-ment.

Bessere Kreditvergabe ist ein wichtiges Ziel in derjetzigen Situation. Aber das, was wir über das Finanz-marktstabilisierungsgesetz dazu beitragen können, istbegrenzt. Wir brauchen stattdessen eine kluge Geldpoli-tik, die bei der Europäischen Zentralbank und bei denNotenbanken vernünftig aufgehoben ist. Wir brauchenauch eine kluge Wirtschaftspolitik, die die Kreditver-gabe begünstigt, die die Liquidität in den Unternehmensichert, beispielsweise dadurch, dass man bei der Mehr-wertsteuer endlich von der Soll- auf die Istbesteuerungumstellt. Das würde schlagartig Liquidität bringen undvielen Unternehmen einiges leichter machen.

(Beifall bei der FDP)

Wir brauchen nicht zuletzt verlässliche Rahmenbe-dingungen beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Nie-mand hat etwas dagegen, dass wir dazulernen und Kon-sequenzen aus den Entwicklungen ziehen; aber wennman das immer stärker zerredet und so prinzipiell kriti-siert, wie das zum Teil geschieht, dann trägt man nichtunbedingt dazu bei, dass die Möglichkeiten in Anspruchgenommen werden und das Gesetz wirken kann. Inso-fern sollten wir etwas vernünftiger diskutieren.

Der Antrag ist an vielen Stellen

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21889

(A) (C)

(B) (D)

Florian Toncar

(Florian Pronold [SPD]: Eine Selbstanklage!)

unscharf, und im Übrigen geht er, gerade was die vorge-schlagenen Maßnahmen zur Bankenrettung betrifft, indie falsche Richtung, sodass wir – vermutlich auch nachden Ausschussberatungen – wenig Neigung haben wer-den, dem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei der FDP – Leo Dautzenberg[CDU/CSU]: Aber überweisen sollten wirihn!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Ulrich

Krüger, SPD-Fraktion.

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Um das gleich voranzustellen: Unsere bishe-rige Strategie, mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetzdie angeschlagenen Finanzmärkte zu stützen, hat nachwie vor uneingeschränkt Bestand und wird auch zukünf-tig das letztendlich richtige Mittel sein, die Krise zu be-wältigen. Der Mix aus Garantien, Risikoübernahmenund Rekapitalisierungen im Umfang von insgesamt480 Milliarden Euro – Kollege Dautzenberg sprach ihnan: Garantien in Höhe von 400 Milliarden Euro, Rekapi-talisierungen und Risikoübernahmen im Umfang von80 Milliarden Euro – ist sehr vernünftig. Wir alle in die-sem Hause dürfen stolz darauf sein: Wir haben schnellund effizient reagiert, um das Vertrauen in die Finanz-märkte wiederherzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Aktuell höre ich immer wieder, dass diese Hilfsmaß-nahmen – das ist Gegenstand unserer heutigen Debatteund der Debatte der letzten Woche – angeblich nicht aus-reichen, um die heimische Finanzwirtschaft effektiv undnachhaltig zu stützen. Dazu sage ich ganz offen: Ichwürde mir wünschen, dass diejenigen, die aktuell nachimmer größerer und umfangreicherer Hilfe schreien, zu-nächst einmal die Mittel in Anspruch nehmen, die vomGesetzgeber bereits im letzten Jahr zur Verfügung ge-stellt worden sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Fakt ist nämlich: Von den Garantien im Umfang von400 Milliarden Euro sind erst gut 100 bis 110 Milliardenabgerufen worden. Von den 80 Milliarden Euro für Re-kapitalisierungen sind erst knapp 20 Milliarden Euro ab-gerufen worden. Es sind also – salopp formuliert – nochMittel da, wenn sich Banken dem SoFFin zuwenden unddort schlicht und einfach ihre Geschäftspolitik auf denPrüfstand stellen lassen.

Ich sage ganz deutlich – es kann, um bestimmteTräume zu zerstören oder gar nicht erst aufkommen zulassen, gar nicht oft genug gesagt werden –: Allen Forde-rungen nach Gründung einer sogenannten Bad Bank, beider die faulen Kredite der Privatbanken auf den Rücken

der Steuerzahler abgeladen werden, erteile ich hier eineklare und deutliche Absage.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ziel ist vielmehr, dass künftig alle betroffenen Instituteunter die vorhandenen Rettungsschirme schlüpfen.

Eines muss bei den Diskussionen, die wir heute undin den nächsten Wochen führen, klar sein: Wir alle – da-von gehe ich aus – wollen stärker aus dieser Krise he-rauskommen, als wir hineingegangen sind; unser Ziel,Arbeitsplätze zu erhalten und die Investitionsfähigkeitder Betriebe zu gewährleisten, steht im Mittelpunkt allunserer Überlegungen.

Im weiteren Arbeitsverlauf kann es natürlich auf Ba-sis des bereits verabschiedeten Gesetzes Modifikationengeben. Wie Sie wissen, haben wir in dem Gesetz für dieGarantien des staatlichen Rettungsfonds eine Frist von36 Monaten festgelegt. Wenn es denn nötig ist und dieErfahrungen mit dem SoFFin dafür sprechen, diese Fristzu verlängern, dann ist dies selbstverständlich vorstell-bar: Die staatlichen Garantien könnten den deutschenBanken – allerdings auf Basis dieses Gesetzes – nichtnur für drei Jahre, sondern für vier oder fünf Jahre zurVerfügung gestellt werden, damit diese über einen länge-ren Zeitraum günstig mit frischem Geld versorgt werdenkönnen.

Wie Sie ebenfalls wissen, enthält das grundlegendeGesetz bereits ein Instrument zum Aufkauf von Risiko-papieren. Nun müssen die Banken dieses Instrumentaber auch nutzen und dürfen nicht – wie bisher – damitargumentieren, dass Risikopapiere nach drei Jahren wie-der an den Fonds zurückgegeben werden müssten; denndas ist schlichtweg falsch. Eine solche Befristung gibt esweder im Gesetz, noch wird sie von der EU-Kommis-sion generell gefordert. Richtig ist vielmehr, dass imWege einer in diesem Fall einfach zu erzielenden Einzel-notifizierung auch für den Ankauf von RisikopapierenFristen von mehr als drei Jahren festgelegt werden kön-nen. Wenn nötig – da gilt das Gleiche wie soeben –, kön-nen wir uns gern über eine Ausdehnung der Frist für denerstmaligen Ankauf von Risikopapieren – mit allen Kon-sequenzen für die Eigentümerseite – unterhalten.

Wenn nötig, müssen wir auch die betroffenen Privat-banken darauf hinweisen, dass sie sich als Erste Gedan-ken darüber machen, was sie selbst, kraft ihrer Eigenver-antwortung, mit toxischen Papieren machen. Muss eineBank sich nicht fragen, ob sie nicht die faulen Kredite,über die sie verfügt, im Rahmen einer eigenen Gesell-schaft, einer eigenen Bank verwalten und dort einenPlatz für die aktuell nicht verkäuflichen Wertpapiereschaffen sollte? Das hätte den Vorteil, dass unsere Fi-nanzmittel nicht mit diesen faulen Krediten belastet wür-den.

Eines ist klar: Die Banken sind in erster Linie beru-fen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sichselbst effizient, mit den Maßnahmen, die das Gesetz ih-nen anbietet, helfen können. Sich aus der Verantwortungzu stehlen und nach irgendeinem Hilfesteller zu rufen,ist nicht der richtige Weg. Das ist jedenfalls mit der weit

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21890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Dr. Hans-Ulrich Krüger

überwiegenden Mehrheit dieses Hauses nicht zu ma-chen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei allem, was wir aus der Finanzkrise lernen odernoch lernen müssen, bleiben wir in der Strategie desFinanzmarktstabilisierungsgesetzes. Wir werden in die-ser schwierigen Situation unter den vorhandenen Alter-nativen diejenigen aussuchen, die mit den geringstenNebenwirkungen verbunden sind.

Wir haben in diesen Wochen über die Konjunktur-pakete I und II und über die Frage zu diskutieren, wie wirim Rahmen der Finanzmarktkrise – wiederum parteiüber-greifend – die Interessen der Verbraucherinnen undVerbraucher am besten schützen. Es geht darum, ob dieaktuellen Regelungen hinsichtlich Schlecht- oderFalschberatung richtig sind, ob die Verbraucherinnenund Verbraucher vielleicht einen längeren Zeitraum ein-geräumt bekommen müssen, um ihre berechtigten An-sprüche gegen schlechte Berater durchsetzen zu können,ob das Gesamtprotokoll, mit dem sie ihre Lebensent-scheidung für oder gegen eine gewisse Anlage begrün-den, ganz anderen Eckpunkten unterliegt.

Über das alles haben wir zu diskutieren, um zu bewir-ken, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Landletzten Endes zu der Überzeugung gelangen, dass derStaat handlungsfähig ist, dass er die Krise annimmt undentsprechend ihren Erfordernissen handelt. Modifikatio-nen am Rettungsschirm, entsprechend Art und Umfangder Krise, widersprechen daher nicht dem Finanzmarkt-stabilisierungsgesetz, sondern entsprechen ihm.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich gehöre wahrlich nicht dem Stamme derUntergangspropheten an. Aber ich glaube, dass nach wievor niemand in diesem Hause einen Überblick über daswahre Ausmaß der Gesamtkrise hat und dass wir unsdeshalb – auch das ist meine Prophezeiung – im nächs-ten halben Jahr hier wiedersehen und über ganz andereDimensionen von Rettung reden werden. Noch im De-zember hieß es ja, auch wir bräuchten kein zweites Kon-junkturprogramm, aber im Januar lagen dann neue Zah-len vor.

In einer Umfrage der BaFin in der letzten Woche ha-ben wir zum ersten Mal gehört, dass es faule Papiere ineiner Höhe von angeblich um die 300 Milliarden Eurogibt; manche sagen sogar, es könnten auch 800 Milliar-den bis 1 Billion Euro sein. Diese Zahlen haben wirnicht durch eine normale Prüfung der BaFin erfahren,sondern durch eine Umfrage. Das zeigt, wie groß die Ge-

samtdimension des Problems ist und dass wir in der Tatanfangen müssen, hier über ganz andere Maßnahmen zureden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Troost, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dautzenberg?

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ja.

Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Herr Kollege Troost, würden Sie, weil Sie von einer

„Umfrage“ der BaFin sprachen, konzedieren, dass es ei-nen Unterschied zwischen Abfrage und Umfrage gibtund dass es sich bei der BaFin um eine Abfrage zum ak-tuellen Stand bei den Risikopapieren handelte? Das istein himmelweiter Unterschied. Wir sollten nicht zulas-sen, dass Ihre Unterstellung einer „Umfrage“ den An-schein erweckt, die BaFin wäre hier im Grunde ihrerAufsichtspflicht nicht nachgekommen; denn das wärefalsch.

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ob man „Abfrage“ oder „Umfrage“ sagt, ist völlig

egal.

(Joachim Poß [SPD]: Nein!)

Entscheidend ist, dass die Zahlen nicht das Ergebnis derStandardprüfungen der BaFin sind, sondern dadurch be-kannt geworden sind, dass die Banken zum Zeitpunkt Xindividuell abgefragt worden sind, was zu den entspre-chenden Meldungen geführt hat. Darin liegt aber genaudas Problem; denn das wahre Ausmaß der Krise ist derBaFin nicht zu jedem Zeitpunkt bekannt, sondern mussimmer erst durch Umfragen bei den Instituten ermitteltwerden.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie sind alsonicht bereit, den Unterschied zwischen Ab-frage und Umfrage zur Kenntnis zu nehmen!)

– Von mir aus können wir sagen: Abfrage bei den20 größten Banken. Ansonsten sehe ich aber keinen Un-terschied zu alldem, was ich vorhin gesagt habe.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte einmal rekapitulieren. Als es um den Ret-tungsschirm ging, hat die Linke gesagt, dass so etwas imPrinzip erforderlich ist. Sie hat aber aus drei Gründendagegen gestimmt:

Erstens hat sie aufgrund des parlamentarischen Ver-fahrens dagegen gestimmt; dazu will ich an dieser Stelleaber nichts sagen.

Zweitens hat die Linke von Anfang an gefordert:Wenn am Schluss dieser Rettungsaktionen ein Minus fürdie öffentliche Hand herauskommt, dann muss diesesMinus die Kreditwirtschaft übernehmen. Das ist abernicht vorgesehen, sondern es ist völlig offen, was amSchluss mit diesem Minus passiert.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21891

(A) (C)

(B) (D)

Dr. Axel Troost

Drittens haben wir gefordert – das ist noch wichtiger –:Wer Geld in Form von Einlagen bekommen will, dermuss auch Stimmrechte zulassen. Es kann nicht sein,dass Geld in Banken gesteckt wird, ohne dass der Geld-geber Stimmrechte bekommt.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist im Falle der Commerzbank aber passiert: 16 Mil-liarden Euro wurden der Commerzbank inzwischen alsstille Einlagen gegeben.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Was ist mit dem SED-Vermögen, das ihr noch habt?)

– Können wir vielleicht bei der Sache bleiben?

Angesichts dieser stillen Einlagen von 16 MilliardenEuro habe ich an die Verzinsung in Höhe von 9 Prozentgedacht, wovon wir schon eben in dem Beitrag der FDPgehört haben. Doch weit gefehlt! Die 9 Prozent Zinsengibt es nur, wenn Gewinn gemacht wird, sonst nicht.Dann hätte man aber auch Aktienanteile kaufen könnenund hätte nicht auf eine stille Einlage zurückgreifenmüssen.

Was wir bei der Commerzbank vorfinden, ist das typi-sche Beispiel halbherzigen Handelns. Wir halten eineBeteiligung von 25 Prozent. Der aktuelle Börsenwertliegt zwischen 4 und 5 Milliarden Euro. 18 MilliardenEuro wurden inzwischen in die Commerzbank investiert.Zu Deutsch: Mit dem Geld, das insgesamt geflossen ist,hätte man vier oder fünf Banken wie die Commerzbankübernehmen können, und zwar zu 100 Prozent. Das istfür meine Begriffe der eigentliche Skandal.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Antrag der Grünen geht nach meiner Meinungin die richtige Richtung. Wir sind in der Tat der Ansicht– „intelligent“ ist immer gut –, dass eine Vergesellschaf-tung des Privatbankenbereiches auf der Tagesordnungsteht. Vergesellschaftung heißt nicht nur, dass der Bundeinsteigt, sondern heißt in der Tat auch, zu schauen, wieman in Zukunft mit diesem Bereich vor dem Hintergrundeines funktionierenden Sparkassensektors und eines funk-tionierenden Genossenschaftsbankensektors umgeht. Eskann nicht sein, dass jetzt mit öffentlichen Mitteln Pri-vatbanken gestärkt werden und diese anschließend in dieMarktsegmente der Sparkassen und der Genossen-schaftsbanken gehen.

Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Wirkönnen das Problem nur lösen, wenn wir nach vorne ge-richtet handeln. Auch das ist völlig klar: Nach einer öf-fentlichen Übernahme kommen gigantische Kosten aufdie öffentliche Hand zu. Da braucht man sich nichts vor-zumachen. Das ist keine Vermeidungsstrategie, sonderneine Offensivstrategie.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir stehen vor einer völlig neuen Herausforderung, fürderen Bewältigung es weder Lehrbücher noch Muster-fälle gibt. Das bedeutet, dass wir in kurzer Frist ein In-strumentarium entwickeln mussten. Wir müssen nun ab-warten und die weitere Entwicklung kritisch beobachten.Wenn neue Fakten und neue Erkenntnisse vorliegen,müssen wir entsprechend nachsteuern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Europäisierung der Bankenrettung hätte zumErsten bedeutet, dass es viel länger gedauert hätte, bisman in Gang gekommen wäre. Denn es ist nun einmalso, dass es einfach länger dauert, wenn man mit mehre-ren Nationen über eine Lösung verhandeln muss. ZumZweiten hätte die große Gefahr bestanden, dass dabeikein Maßanzug herausgekommen wäre. Denn in denLändern gibt es unterschiedliche Systeme. Beispiels-weise gibt es unser Dreisäulensystem in anderen Län-dern nicht. Deswegen wäre diese Lösung gar nicht ange-messen gewesen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dass es neue Erkenntnisse gibt, liegt doch daran, dasssich die Fakten verändert haben. Wenn sich das Ratingeiner ganzen Gruppe von Forderungen, nämlich das derinternationalen Forderungen, plötzlich anders darstellt,dann ist das eine andere Faktenlage, und dann muss manaus dieser veränderten Faktenlage Konsequenzen zie-hen. Dann hat man nicht mehr die Situation, die man einpaar Tage zuvor hatte. Deswegen muss man auch hierhandeln.

Wir haben ein klares Instrumentarium und eine klareReihenfolge: Bürgschaften, Rekapitalisierung, Forde-rungsübernahme. Für uns kommt eines nicht infrage,Herr Kollege Troost: die Verstaatlichung. Das heißtnämlich, dass man davon ausgeht, dass der Staat grund-sätzlich der bessere Banker ist. Das ist eben nicht derFall.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dassagt doch keiner!)

– Wenn die öffentliche Hand das Eigentum zu 100 Pro-zent übernimmt, wie Sie es wollen, dann führt dies amEnde zu einem staatlichen Bankensektor. Wir wollen dasnicht, und deswegen kommt dieser Lösungsweg nicht in-frage.

Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass die Erfolgeschneller eintreten. Aber es gibt Erfolge: Die Einlagenüber Nacht bei der Europäischen Zentralbank und derBundesbank sind erheblich weniger geworden. Dasheißt, es wird wieder Geld ausgeliehen. Dieser Prozesskommt in Gang. Dies geschieht zwar nicht in der Ge-schwindigkeit, die wir uns vorgestellt haben; das bedeu-tet aber nicht, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind.Deswegen werden wir an dieser Stelle weiter so verfah-ren.

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Jochen-Konrad Fromme

Zum internationalen Bereich. Warum müssen alle an-deren Länder ständig nachbessern? Hier ist ein kühlerKopf gefordert und kein hitziges Handeln. Wir sind mitunserem Instrumentarium deutlich sicherer aufgestelltals die anderen Länder, die jeden Tag etwas Neues ma-chen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! Richtig!)

Deswegen bleiben wir dabei: anschauen bzw. beobach-ten, und dann handeln bzw. nachsteuern, wenn es nötigist.

Ich kann die Auffassung, dass das Instrumentariumgescheitert ist, überhaupt nicht teilen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir haben keine Panik bekommen. Wir haben ein immernoch funktionierendes System – zwar nicht sehr gut;aber es läuft noch. Es soll rund laufen; deswegen habenwir Maßnahmen ergriffen. Ich sage es noch einmal: Wirhaben ein klar abgestuftes Instrumentarium. Warum sindwir gegen die Übernahme eines höheren Aktienanteils?Weil wir die operative Verantwortung des Bankers ge-rade nicht übernehmen wollen. Wir wollen vielmehr dasjeweilige Institut unterstützen. Eine Beteiligung von25 Prozent ist richtig.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Geld hinüberschieben, aber keineKontrolle! Das passt doch nicht!)

So kann keiner dieses Institut für wenig Geld schlucken,nachdem wir sozusagen die Mittel für den Reparatur-aufwand hineingesteckt haben. Dies ist der richtige Weg.Wir werden Ihnen auf Ihrem Weg auf keinen Fall folgen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. GerhardSchick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aberdas machen Sie doch schon teilweise!)

Sie sagen, die Gremien arbeiteten nicht richtig. Dazukann ich nur sagen: Der SoFFin-Ausschuss ist ein Be-richtsgremium. In diesem Gremium werden Berichteentgegengenommen.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das sollte ein Kontrollgremiumsein!)

Daraus werden Konsequenzen gezogen, wenn dies ange-bracht ist. Das werden wir in den zuständigen Ausschüs-sen tun.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11756 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Zivilschutzgesetzes (Zivil-schutzgesetzänderungsgesetz – ZSGÄndG)

– Drucksache 16/11338 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 16/11780 –

Berichterstattung:Abgeordnete Beatrix Philipp Gerold Reichenbach Hartfrid Wolff (Rems-Murr)Petra Pau Silke Stokar von Neuforn

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff(Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. KarlAddicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Bevölkerungsschutzsystem reformieren – Zu-ständigkeiten klar regeln

– Drucksachen 16/7520, 16/11780 –

Berichterstattung:Abgeordnete Beatrix Philipp Gerold Reichenbach Hartfrid Wolff (Rems-Murr)Petra Pau Silke Stokar von Neuforn

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.

Beatrix Philipp (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Zivil- und Katastrophenschutz ist kein be-sonders attraktives Thema. Es ist ein Thema, das manchevon uns über viele Jahre hinweg begleitet haben. Fürmich und viele Kolleginnen und Kollegen hier im Hausetrifft das zu. Sie haben, so wie ich, die unterschiedlichenEntwicklungen und Schwerpunktsetzungen, also gewis-sermaßen die Konjunktur des heute anstehenden The-mas, begleitet. Nun erspare ich Ihnen, an dieser Reisedurch die Jahrzehnte teilzunehmen. Ich erinnere michaber noch gut an die Konsequenzen, die der DeutscheBundestag nach dem Fall der Mauer und nach dem Zer-fall des Warschauer Paktes gezogen hat. Plötzlich wardie jahrzehntelange Bedrohung durch ebendiesen War-schauer Pakt weg. So wurden Einrichtungen und Vorhal-tungen für den Zivilschutz mit gutem Gewissen und re-gelrecht getragen von einer Sehnsucht nach greifbaremFrieden drastisch zurückgefahren. Ich erinnere nur anden Abbau von Sirenenanlagen.

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Beatrix Philipp

Umso fassungsloser waren wir – zum Teil verspürtenwir regelrecht Hilflosigkeit –, als wir durch die An-schläge vom 11. September 2001 wieder auf den Bodender Tatsachen zurückgeholt wurden. Neben dieser Kata-strophe, die eine internationale Dimension hat und eineErschütterung auslöste, die bis heute zu spüren ist, ereig-nete sich bei uns eine nationale Katastrophe völlig ande-rer Art: Das Elbehochwasser machte deutlich, dass es er-heblichen Handlungsbedarf im Bereich des Zivil- undKatastrophenschutzes gab. Bis zu diesem Zeitpunkt galtzwischen den Beteiligten eine klare Kompetenzabgren-zung bzw. Kompetenzbeschreibung: Der Bund war fürden Zivilschutz im Verteidigungsfall und die Länder wa-ren für den Katastrophenschutz in Friedenszeiten zustän-dig. Damals wurde aber, wie gesagt, klar, dass man denneuen Anforderungen mit dieser Teilung nicht gerechtwerden würde und diese Teilung auch nicht angemessenwar.

So wurde schon 2002, also relativ schnell, die „NeueStrategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“vereinbart, die im Gegensatz zu der eben beschriebenenTrennung eine grundsätzliche Zusammenarbeit zwi-schen Bund und Ländern unter Beibehaltung der Zustän-digkeiten zum Inhalt hatte. Wir wissen natürlich alle:Grundsätzliche Zusammenarbeit ist gut, aber der Teufelsteckt im Detail. So ist es eigentlich gar nicht verwun-derlich, dass im Rahmen der Föderalismusreform deut-lich wurde, dass es auch und gerade hinsichtlich des Zi-vil- und Katastrophenschutzes sehr unterschiedlicheAuffassungen gab. Dabei denke ich nicht nur an den fi-nanziellen Bereich, der für manche immer noch einBuch mit sieben Siegeln ist, sondern auch an die uralteFrage – das will ich noch einmal deutlich unterstrei-chen – der Bedeutung und Einbindung der Ehrenamtli-chen. Das ist etwas, was nicht nur von Bund und Län-dern, sondern auch von den Koalitionsfraktionen nichtimmer einhellig bewertet wird.

Jedoch sind Tausende von Menschen ehrenamtlich inHilfsorganisationen unterwegs: zum Beispiel bei denMaltesern, den Johannitern, dem Lazarusorden, dem Ro-ten Kreuz, den Arbeiter-Samaritern und dem Techni-schen Hilfswerk. Ich denke, es ist immer angebracht,egal an welcher Stelle, diesen Ehrenamtlichen zu dan-ken, weil sie freiwillig auf Freizeit verzichten. Außer-dem ist es angebracht, den Arbeitgebern Dank zu sagen,die diese Ehrenamtlichen für manche Stunde freistellen.Das wird oft vergessen. Man muss es aber immer wiedersagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aus dem eben Gesagten haben wir – man höre undstaune – Schlussfolgerungen gezogen und 2005 im Ko-alitionsvertrag vereinbart, dass die Steuerungs- und Ko-ordinierungskompetenz des Bundes bei der Bewältigungvon Großkatastrophen und länderübergreifenden schwe-ren Unglücksfällen zu stärken sei. Nun muss man keinProphet sein, um zu wissen, dass die Umsetzung dieseshehren Zieles spätestens dann zu erheblichen Diskussio-nen führt, wenn es, wie ich eben schon angedeutet habe,um die Finanzierung geht.

So stehen wir heute vor dem Ergebnis eines Prozes-ses, in dem deutlich wurde, dass Föderalismus auch be-deutet, mit unendlicher Geduld und Ausdauer dickeBretter zu bohren, um am Ende zu einem Ergebnis zugelangen, das nur in einer Demokratie denkbar ist, daseben nicht von oben verordnet wird und mit dem dannalle leben können.

(Rüdiger Veit [SPD]: Schön gesagt!)

– Das ist wirklich wahr. Man betont es viel zu selten. Eserscheint fast selbstverständlich, dass wir am Ende zu-sammenkommen, auch wenn wir an völlig verschiedenenPunkten gestartet sind. Wer die Verhandlungen in einerGroßen Koalition erlebt hat, weiß, dass das schwierig ist.Wie gesagt, auch bei der Föderalismuskommission wares schwierig.

Im Ausschuss haben wir gestern von der Never-ending-Story gesprochen, aber sie hat ein Ende: der Ge-setzentwurf, der Ihnen vorliegt. Wir entsprechen damitnicht nur dem Willen der Beteiligten, sondern auch denin diesem Fall berechtigten Forderungen des Bundes-rechnungshofes und den Beschlüssen der Innenminister-konferenzen der beiden vergangenen Jahre. Wir schaffeneine gesetzliche Grundlage für das ergänzende Tätigwer-den des Bundes im Bereich des Katastrophenschutzesund stellen noch einmal die Kompetenzverteilung zwi-schen Bund und Ländern klar.

Es ist, denke ich, richtig, zu sagen, dass man mit un-terschiedlichen Auffassungen an die Lösung dieses Pro-blems herangehen kann. Wir teilen den sicherlich gutgemeinten Vorschlag der FDP überhaupt nicht. Die An-nahme des Antrages hätte nicht nur eine Änderung desGrundgesetzes erfordert, sondern auch die Aufhebungdes dualen Systems, das sich im Prinzip bewährt hat;dies würde nicht automatisch zu einer Verbesserung füh-ren. Deswegen wollen wir bewusst die bereits vorhande-nen Strukturen ergänzen und stärken. Wie gesagt: Einevöllige Neustrukturierung wäre mit dem Grundgesetznicht vereinbar.

Dass sich die Herausforderungen verändert haben,dass wir uns den heutigen Herausforderungen anpassenmüssen und dass dem Umfang und der Unterschiedlich-keit der aktuellen Bedrohungslagen Rechnung getragenwerden muss, liegt auf der Hand. Wenn wir uns heuteauf Angriffe mit atomaren, biologischen oder chemi-schen Waffen vorbereiten müssen, wenn wir an denSchutz vor und das Handeln nach eventuellen Terroran-griffen denken müssen, dann hat das nicht nur eine an-dere Qualität, sondern zeigt auch die Notwendigkeit sehrviel breiter angelegter Strategien, als sie früher erforder-lich waren, als man militärischen Angriffen mit klassi-schen Waffen der Verteidigung begegnen konnte. Wiegesagt: Die Länder werden in Zukunft für die flächende-ckende Grundversorgung zuständig sein.

Ich fasse zusammen:

Erstens. Wir weiten den Grundsatz der Katastrophen-hilfe aus, indem wir die Einrichtungen des Bundes inFriedenszeiten auch für den Katastrophenschutz nutzbarmachen.

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Beatrix Philipp

Zweitens. Wir stellen ausdrücklich klar, dass die Aus-und Fortbildungsmaßnahmen beim Bundesamt für Be-völkerungsschutz und Katastrophenhilfe auch der Vorbe-reitung von Entscheidungsträgern und Führungskräftenauf Landesebene dienen sollen.

Drittens. Die Durchführung ressort- und länderüber-greifender Ressortübungen, zum Beispiel zwischenTHW, Bundesgrenzschutz, Feuerwehr und Polizei, be-züglich eines Terroranschlages garantiert uns die Auf-wuchsfähigkeit im Katastrophenfall.

Viertens. Wir stellen klar, wer im Katastrophenfall diejeweilige Koordinierungskompetenz hat. Grundsätzlichbleibt das betroffene Land sowohl für die Festlegung derzu treffenden Maßnahmen als auch für das operative Kri-senmanagement zuständig. Nur wenn ein Land ausdrück-lich darum ersucht, kommt der Bund mit der Koordina-tion der Hilfsmaßnahmen seiner ergänzenden Funktionnach. Man kann sagen, es ist eine Art Servicefunktion aufAbruf.

Schließlich: Information und Kommunikation wollenwir weiter fördern und entsprechende Informationspro-zesse ankurbeln. Hierzu geben wir dem Bundesamt dieBefugnis, personenbezogene Daten zu verwenden, umden Ansprechpartner schnell herausfinden zu können.

Die Menschen in unserem Land erwarten zu Recht,dass wir uns ihrer berechtigten Sorgen annehmen. Die-sem Anspruch wird der Ihnen vorliegende Gesetzent-wurf gerecht. Wir hoffen auf eine breite Zustimmung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Frak-

tion.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die He-

rausforderungen im Bevölkerungsschutz steigen. UnsereGesellschaft ist vielfältig vernetzt. Die Abhängigkeitenvon kritischen Infrastrukturen, ob Stromversorgung oderIT-Sicherheit, wachsen. Der Klimawandel schafft neuebiologisch-medizinische Anforderungen. Ich sage nur:Vogelgrippe oder Malaria. Jeder kennt diese Beispiele.

Auf diese Herausforderungen will die Bundesregie-rung nun halbherzig antworten und übernimmt – zu ein-fach – die Vorgaben von der Innenministerkonferenz.

(Beifall bei der FDP – Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Da ist aber auch Ihrer dabei, oder?)

Moderne Technik und neue Herausforderungen brau-chen, liebe Frau Kollegin Philipp, eine moderne Rechts-grundlage. Das Zivilschutzgesetzänderungsgesetz ist die-ses nicht.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Wollen Sie sa-gen, dass Herr Wolf das nicht gewusst hat?)

Es greift zu kurz. Wir brauchen keinen neuen Kompetenz-wirrwarr, sondern Klarheit und einfache Strukturen, diesich an den Anforderungen ausrichten. Kirchturmpolitikist der falsche Weg.

Dass Landesinnenminister Schünemann

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Guter Mann!)

in Niedersachsen auf der Feierstunde des BBK Endeletzten Jahres auch noch schwadronierte, eigentlich hätteer sozusagen als Ziel der Verhandlungen gerne die Län-derzuständigkeit für das THW gehabt, grenzt an Zynis-mus. Ist Herr Schünemann dann auch bereit, zum Bei-spiel die wichtigen Einsätze des THW in Myanmar oderChina zu finanzieren? Dieses niedersächsische Sandkas-tenspiel ist absurd.

Es war ein irreparabler Fehler, den Bevölkerungs-schutz aus der Föderalismusreform I herauszunehmen.Im Übrigen war die Begründung nicht wirklich tragbar.Die Gründe waren das Luftsicherheitsgesetz und derEinsatz der Bundeswehr.

Daran sieht man im Übrigen, woher beim Thema zivi-ler und eben nicht militärischer Bevölkerungsschutz derWind weht.

(Beifall bei der FDP)

Wer von der Vogelgrippe nicht mehr überrascht werdenwill und wer eine Chaos-Landrätin wie damals auf Rü-gen nicht mehr erleben will, muss umdenken. Mancheine Ignoranz der tatsächlichen Anforderungen gewinntirreale Züge.

Meine Damen und Herren, im Grundsatz will ich amföderalen System nichts ändern, im Gegenteil.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Na ja! Na ja! –Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Dann sindwir ja beruhigt!)

– Sie haben unseren Antrag doch wohl gelesen. – Es gilt,unbürokratisch und schnell zu reagieren. In der Regel ge-schieht das vor Ort. Nur für besondere Fälle muss derBund eine klar umrissene, eindeutige Verantwortungübernehmen. Der bisherige Dualismus von Zivil- und Ka-tastrophenschutz ist Vergangenheit, liebe Frau Philipp.Auch wenn Sie sich dagegen stemmen, wird das nichtsnützen.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Ich stemme mich überhaupt nicht!)

Wir brauchen ein einheitliches Bevölkerungsschutzsys-tem mit allein am Schadensausmaß ausgerichteten Ver-antwortlichkeiten.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gerold Reichenbach [SPD])

Die FDP-Bundestagsfraktion hat ein Konzept für einewirkliche Reform des Bevölkerungsschutzsystems vor-gelegt. Wir streben eine Aufgabenverteilung an, bei derdie Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse bei denKommunen bzw. beim Land liegt – das betrifft nach wievor die überwiegende Mehrheit der Fälle –, bei der dieZuständigkeit für Großschadensereignisse innerhalb ei-

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Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

nes Bundeslandes bei den Ländern verbleibt und bei derdie Zuständigkeit für den hoffentlich extrem seltenenFall länderübergreifender Schadenslagen beim Bundliegt. Die Elbeflut macht nicht vor Ländergrenzen halt.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Ach was!)

Großflächige Stromausfälle, wie wir sie zum Beispiel imFalle der Emsfähre erlebt haben, hatten zur Überra-schung vieler, damals übrigens auch zu Herrn BosbachsÜberraschung, sogar internationale Auswirkungen.

Innerhalb dieses Rahmens sind die Ressourcenverant-wortung und die Zusammenarbeit zu regeln, um schnellst-möglich und effektiv helfen zu können. Ein neues, zeit-gemäßes Ausstattungskonzept ist dabei ohne einenschlagkräftigen und wirkungsvollen Beitrag des Bundesnicht denkbar. Die Konzentration des Bundes auf die Be-reitstellung von Spezialressourcen für Sonderlagen darfnicht zu einem schleichenden Rückzug aus der Flächeführen. Das ehrenamtliche Engagement ist die bürger-schaftliche Grundlage für die Sicherheit der Bürgerinnenund Bürger in Deutschland. Dieses Ehrenamt ist die tra-gende Säule für unsere Sicherheit, für den Bevölke-rungsschutz.

(Beifall bei der FDP)

An dieser Stelle muss ich sagen: Das Zivilschutzge-setzänderungsgesetz, das Sie vorlegen, ist in gewisserWeise tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung.Wir brauchen eine größere Kultur der Anerkennung derHelfer;

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

ich glaube, hier sind wir uns einig. Wir brauchen einegezielte Öffentlichkeitsarbeit, auch zur Sensibilisierungder Bevölkerung.

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Und wir brauchen eine zeitgemäße Ausstattung vor Ortund finanzielle Anreize zur Übernahme ehrenamtlicherVerantwortung. Dass der Finanzminister die Rettungsor-ganisationen, als es damals im Zusammenhang mit denPauschalen um die Unterstützung des Ehrenamtes ging,leider vergessen hat, war aus meiner Sicht nicht hilf-reich. Was hilft, sind eine bessere und koordinierte Aus-bildung, moderne Risikomanagementmethoden und vorallem mehr Forschung.

Die FDP wird auch in den Ländern weiter für ihrKonzept werben. Wir fordern auch die Bundesregierungauf, dies noch deutlicher, zielbewusster und intensiverzu tun als in der Vergangenheit. Wir wissen, dass Sie zu-nächst ganz andere Vorstellungen hatten als jetzt in Ih-rem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt. Wir solltenan diesem Thema dranbleiben. Im Sinne der Sache rateich Ihnen dringend: Machen Sie weiter!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Gerold

Reichenbach das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Gerold Reichenbach (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Heute geht es um die Verabschiedungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zivil-schutzgesetzes. Es wird deutlich: Das ist der Ausdruckdes politisch Möglichen. Sowohl unter Wissenschaftlernals auch unter Praktikern ist weitgehend unbestritten,dass sich die Risiken und Bedrohungen, denen die Be-völkerung ausgesetzt ist, im Laufe der letzten Jahre starkverändert haben und dass noch weitere Veränderungenauf uns zukommen werden. Nicht nur der Terrorismusstellt eine Bedrohung dar, sondern auch der Klimawan-del, die Globalisierung und die hohe nationale und inter-nationale Vernetztheit können für Katastrophen großenAusmaßes ausschlaggebend sein.

Wir leben in einer stark vernetzten Welt, von der wirgenauso stark abhängig sind. Wir müssen davon ausge-hen, dass heute auch bei zivilen Katastrophen eine um-fassende länderübergreifende Beeinträchtigung derFunktionsfähigkeit des öffentlichen und wirtschaftlichenLebens eintreten kann, etwa durch den Zusammenbruchkritischer Infrastrukturen oder durch Pandemien. Dassind Schadenspotenziale in Friedenszeiten, wie wir siebisher nur für den Verteidigungsfall im Blick hatten.Diese Risiken sind real, und sie nehmen zu. Das zeigtauch das Grünbuch unserer überfraktionellen Initiative„Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit“.

Lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, mich nocheinmal bei allen zu bedanken, die an dieser Initiativemitgewirkt haben. Mein Dank gilt insbesondere meinenParlamentskollegen Frau Stokar von Neuforn, HerrnGöbel und Herrn Wolff. Ich glaube, wir haben hier eingutes Beispiel für an der Sache, am Schutz der Bevölke-rung orientierte fraktionsübergreifende Parlamentsarbeitgeliefert.

Die jüngsten Stürme in Frankreich haben uns deutlichvor Augen geführt, dass aufgrund des Klimawandels dieZahl großflächiger Katastrophen, die sich nicht an Län-der- oder Staatsgrenzen halten, zunehmen wird.

Bereits im Rahmen der Föderalismusreform I hat dieSPD-Fraktion einen Vorstoß unternommen, die grundge-setzlich zugewiesene Aufteilung zwischen Bund undLändern an die neuen Herausforderungen anzupassen.Unser Vorschlag war, die Aufgabenteilung nicht nachKrieg und Frieden vorzunehmen, sondern sie an Größeund Umfang der Schadensereignisse auszurichten undein effektives Koordinierungsinstrument zu schaffen.Unser Vorstoß scheiterte am Widerstand der Länder.Auch alle weiteren Vorstöße in dieser Richtung sind amWiderstand der Länder – ohne deren Zustimmung esnicht gehen wird – gescheitert.

Die FDP weist in ihrem Antrag, den wir heute mitbe-raten, darauf hin, dass wir bei der Aufgabenzuweisungzu einer strukturellen Änderung kommen müssen. Dasind wir uns einig, Herr Wolff. Aber, liebe Kolleginnenund Kollegen von der FDP, in fast allen Ländern, diesich heftig gegen jede Änderung sperren, trägt die FDP

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21896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Gerold Reichenbach

mit Regierungsverantwortung. Ihr Antrag ist somit fastso etwas wie eine öffentliche Selbstgeißelung.

(Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP])

Wir wollen Ihnen helfen, diese zu beenden: Wir werdenden Antrag ablehnen.

Der Bundestag ist nicht der richtige Ort für diesenAntrag. Der richtige Ort wären die Länderparlamente.Wenn Sie es schaffen würden, Ihren Antrag in den Parla-menten all der Länder, in denen Sie mit Regierungsver-antwortung tragen, zur Abstimmung zu bringen, wärenwir einen entscheidenden Schritt weiter. Unsere Unter-stützung dabei hätten Sie. Doch solange dies nicht ge-lungen ist, muss sich unsere Gesetzgebung in den vorge-gebenen Strukturen bewegen.

Trotzdem werden wir mit diesem Gesetz den Zivil-schutz und die Katastrophenhilfe des Bundes hinsicht-lich des Schutzes unserer Bevölkerung besser auf dieveränderten Rahmenbedingungen, Herausforderungenund Gefahren ausrichten können. Dieses Gesetz ist einSchritt im Rahmen dessen, was politisch möglich ist.Wir versetzen den Bund mit diesem Gesetz in die Lage,auf Anforderung des betroffenen Landes oder der betrof-fenen Länder Koordinierung und Ressourcenmanage-ment zu übernehmen. Wir geben dem Bund die Möglich-keit, die zur Vorbereitung notwendigen Daten zuerheben. Um dem Missverständnis vorzubeugen, hierwerde Datenschutz abgebaut, sage ich: Es geht um Res-sourcen wie Sandsäcke oder Gerät, um Daten für dieAlarmierung von Spezialisten und um Daten im Hin-blick auf das Risikopotenzial von Überschwemmungs-gebieten oder Anlagen.

Wir gelangen mit diesem Gesetz zu einer Präzisierungder Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf derGrundlage der Amts- und Katastrophenhilfe. So wirdnoch einmal ausdrücklich festgehalten, dass die Einrich-tungen und Vorhaltungen des Bundes für den Zivilschutzden Ländern auch bei Naturkatastrophen und besondersschweren Unglücksfällen zur Verfügung stehen.

Die Katastrophe an der Elbe hat Schwächen in Füh-rung und Management offengelegt, die insbesonderedurch fehlende Einheitlichkeit sowie durch mangelndeÜbung und Ausbildung verursacht waren. Bereits unterRot-Grün sind wir diese Mängel angegangen, unter an-derem durch die Gründung des BBK, durch abgestimmteAus- und Fortbildungsmaßnahmen sowie durch länder-übergreifende Krisenmanagementübungen wie LÜKEx.Letztere werden nun im Gesetz verankert.

Die von Bund und Ländern unter Otto Schily verein-barte neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung orien-tiert sich sinnvollerweise nicht mehr am Zivilschutz,sondern an den Gefährdungslagen. Dem daraufhin zwi-schen Bund und Ländern im Sommer 2007 vereinbartenneuen Ausstattungskonzept geben wir jetzt eine gesetzli-che Grundlage, soweit es sich an den Zivilschutzaufga-ben des Bundes orientiert.

Die ergänzende Ausstattung des Bundes für den Zivil-schutz, die den Ländern zur Verfügung gestellt wird,

können diese auch für ihre Aufgaben und für die Vor-sorge im Katastrophenschutz nutzen. Eines müssen wirjedoch eingestehen: Das Gesetz schafft nicht die Grund-lage, die für eine notwendige breitere Ausrichtung erfor-derlich wäre. Der Bund kann weiterhin nur Ausstattungfinanzieren, die sich aus dem Zivilschutz begründet.Durchaus sachlich begründbare Ausstattungswünscheder Länder, die darüber hinausgehen, etwa bezogen aufspezifische Gefahren wie Hochwasser, lassen sich imRahmen des vorliegenden Gesetzes nicht legitimieren.Einfachgesetzlich war dies nicht möglich. Dazu hätte eseben jener Grundgesetzänderung bedurft, die gegenüberden Ländern nicht durchsetzbar war.

Auf einfachgesetzlicher Ebene schaffen wir aber zu-mindest für die aus eindeutigen Zivilschutzgründen an-zuschaffende Ausstattung die Rechtssicherheit, die wirgerade auch den Ehrenamtlichen schuldig sind. Dabeihat die SPD-Fraktion in der Gesetzesberatung darauf ge-achtet, dass die Nutzung und Verwendung nur zusätzlichzu den Anstrengungen der Länder im Katastrophen-schutz erfolgen darf, damit diese ihre Anstrengungennicht einfach im gleichen Umfang zurückfahren. Ichglaube, auch das liegt sehr im Interesse der Feuerwehrenund Hilfsorganisationen und dient dem Ausbau unseresSchutzniveaus.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wir kommen bei der Vorbereitung auf mögliche Kata-strophenlagen einen wichtigen Schritt weiter. Bereits un-ter Rot-Grün wurde eine gemeinsame Erstellung von Ri-sikoanalysen zwischen Bund und Ländern vereinbart. Imvorliegenden Gesetzentwurf verpflichtet sich der Bund,zusammen mit den Ländern die gemeinsame Risikoana-lyse zu erstellen und fortzuschreiben.

Auf das Drängen der SPD-Fraktion hin wurde zu-gleich verankert, dass über diese jährlich dem Parlamentberichtet wird. Daher werden wir uns in Zukunft regel-mäßig mit den zivilen Gefahren und Bedrohungen be-schäftigen. Dieser Bereich der Sicherheit hat in der Ver-gangenheit ja oft darunter gelitten, dass er zwaranlässlich aktueller Katastrophen, wie zum Beispiel ander Oder oder Elbe, sehr im Fokus des Interesses stand,aber mit dem sinkenden Pegel, um im Bild des Hoch-wassers zu bleiben, auch sehr schnell der Aufmerksam-keitspegel sank.

Dass sich der Deutsche Bundestag ab dem Jahre 2010jährlich mit diesen Themen beschäftigt, ist auch ein kla-res Zeichen an die rund 2 Millionen haupt- und zum al-lergrößten Teil ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer,die sich täglich bei den Feuerwehren, dem DRK, derJUH, dem Malteser Hilfsdienst, dem ASB, der DLRG,dem THW, den Rettungsdiensten und in den Behördenfür unser aller Sicherheit einsetzen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir als Parlament werden ihrem Gebiet in Zukunftkontinuierlich unsere Aufmerksamkeit widmen. Glei-ches gilt für die Ergebnisse der Schutzkommission. Weilwir wissen, dass das ehrenamtliche Engagement dasRückgrat unseres Zivil- und Katastrophenschutzes ist,

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21897

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Gerold Reichenbach

haben wir dessen Förderung explizit in den Gesetzent-wurf aufgenommen. Das halte ich vor allem vor demHintergrund der Herausforderungen, die durch den ge-sellschaftlichen und demografischen Wandel an dieseehrenamtliche Basis gestellt werden, für besonderswichtig.

Der Gesetzentwurf ist ein Schritt in die richtige Rich-tung, und ich hoffe, dass wir weiterdenken und dass sichBund und Länder zu weiteren Schritten durchringen, umden Gefahren und Bedrohungen der heutigen Zeit ge-recht zu werden. Die Planungen des Bundes und seineLeistungen gegenüber den Ländern dürfen nicht dauer-haft auf den engen Rahmen der reinen Zivilverteidigungund Amtshilfe beschränkt bleiben. Wir halten dies insbe-sondere im Interesse der Helfer der Feuerwehren und derHilfsorganisationen und der betroffenen Bevölkerungfür notwendig.

Ich kann Ihnen versichern, dass wir Sozialdemokratenauch in Zukunft in unserem Bemühen nicht nachlassenwerden, uns noch besser auf die geänderten Bedrohun-gen und Gefahren einzustellen, um unsere Bürger in ei-ner modernen, hoch vernetzten Gesellschaft bestmöglichzu schützen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke, und die

Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/DieGrünen, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Ichschließe deshalb die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Zivilschutzgesetzes.

Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/11780, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache16/11338 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen.– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-tion bei Enthaltung der Opposition angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen derKoalition bei Enthaltung der Opposition angenommen.

Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung desInnenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel „Bevölkerungsschutzsystem reformieren –Zuständigkeiten klar regeln“.

1) Anlage 5

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/11780, den An-trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7520 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist damit mit den Stimmen von SPD undCDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke an-genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenSibylle Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Frauen und Migration – Die Integration vonFrauen mit Migrationshintergrund in derBundesrepublik Deutschland

– Drucksachen 16/4242, 16/7408 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Sibylle Laurischk (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

FDP hat die heute zu debattierende Große Anfrage aufden Weg gebracht, da wir der Auffassung sind, dass dieBedeutung von Frauen in der Integrationspolitik unter-schätzt wird. Dabei haben sie im Integrationsprozesseine besondere Stellung: Ihr Zugang zur Aufnahmege-sellschaft entscheidet über den Spracherwerb der Kinderund deren Zugang zum deutschen Bildungssystem. Siesind in einer Schlüsselposition für den Integrationserfolgvon Familien und ganz besonders der Kinder.

Die FDP begrüßt es ausdrücklich, dass die Integra-tionspolitik im Bundestag und in der Bundesregierungan Bedeutung gewonnen hat. Richten wir aber unser Au-genmerk auf Details der Antwort auf die Große Anfrage,dann merken wir, wie weit Deutschland noch vom Inte-grationserfolg entfernt ist und dass das Thema längstnoch nicht alle Gesellschaftsstrukturen durchdrungenhat.

Bei der Beantwortung der Frage 11, in der es um Zah-lungen von Migrantinnen in ihre Herkunftsländer geht,fügt die Bundesregierung eine Statistik der Bundesbankan, die noch im Jahr 2007 von „Heimatüberweisungender Gastarbeiter“ schreibt. Die Sprache verrät den Nach-holbedarf staatlicher Institutionen zum Thema Integra-tion in Deutschland.

Von den 15,3 Millionen Bürgern und Bürgerinnen mitMigrationshintergrund sind die Hälfte Frauen und Mäd-chen. Sie für die Belange der Integration zu gewinnen,heißt, das Thema direkt in die Familienstrukturen zu tra-gen, da die Frauen in der Familie ein zentraler Bezugs-punkt sind. Der Schlüssel zur Integration ist Bildung.

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21898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Sibylle Laurischk

Hierzu gehört eindeutig das Erlernen der deutschenSprache.

Wir müssen einerseits sehr früh anfangen, die Sprach-fähigkeit der Kinder, andererseits aber auch ganz beson-ders die Sprachfähigkeit der Frauen und Mütter zu för-dern. Denn sie sind es, die sich traditionell um dieKinder kümmern, mit ihnen lernen und sie für denSpracherwerb sensibilisieren. Die Antwort auf die GroßeAnfrage macht den Nachholbedarf auf diesem Gebietsehr deutlich. Frauen mit Migrationshintergrund nutzenund beherrschen die deutsche Sprache deutlich wenigerals die Männer, wie die Antwort auf Frage 20 ausführt.

Hier zeigt sich, dass wir das Augenmerk verstärkt aufeine geschlechterspezifische Integration legen müssen,die das Familienbild von Migrantinnen berücksichtigt.Auch wenn es überholt zu sein scheint, dass sich vor al-lem die Frau um die Familie kümmert, so ist es bei vie-len Migrantinnen die gelebte Realität, wie wir aus derAntwort auf Frage 42 erkennen. Wollen wir diese Frauenerreichen, müssen wir uns dieser Realität stellen.

Zu viele Zuwandererfamilien – insbesondere türki-sche Familien – investieren zu wenig in die Bildung ih-rer Kinder und haben zu wenig Bezug zu den Herausfor-derungen einer modernen Gesellschaft, die nur durchBildung zu meistern sind. Der am Montag dieser Wochevorgelegten Studie „Ungenutzte Potenziale“ zufolgesind sie unter allen Migranten und Migrantinnen inDeutschland am schlechtesten integriert: 30 Prozent ha-ben keinen Schulabschluss; nur 14 Prozent schaffen dasAbitur.

Junge Migrantinnen sind besonders betroffen: Ob-wohl ihre Schulabschlüsse besser sind als die ihrermännlichen Kollegen, ergreifen weniger einen Ausbil-dungsberuf. Diejenigen, die es also trotz der bekanntenDefizite in unseren Schulen schaffen, gehen dann viel zuselten weiter. Bei anderen Migrantengruppen ist diesvöllig anders. Keine andere Einwanderergruppe inDeutschland hat in der Schule mehr Erfolg als die Viet-namesen: Über 50 Prozent schaffen den Sprung aufsGymnasium. Damit streben prozentual mehr vietnamesi-sche Jugendliche zum Abitur als deutsche. Im Vergleichzu ihren Alterskollegen aus türkischen oder italienischenFamilien liegt die Gymnasialquote fünfmal so hoch.

Die Leistungen vietnamesischer Schüler stehen in ei-nem eklatanten Gegensatz zu dem Bild, das wir sonstvon Kindern mit Migrationshintergrund haben. An die-sem Beispiel kann man auch gut erkennen, dass Bil-dungsarmut nicht stets soziale Ursachen hat. An diesemErfolg haben vor allem Frauen einen großen Anteil, dieihre Kinder fordern und fördern.

Gerade diese Erkenntnisse zeigen, dass wir bei der In-tegrationspolitik die Herkunft stärker berücksichtigenund auch Migrantinnen gezielter ansprechen müssen.Die Große Anfrage zeigt aber auch deutlich, dass esganz erheblich an statistischem Material und an Erfah-rungswerten mangelt.

Viele Fragen werden von der Bundesregierung nurmit einem Verweis auf fehlende Daten beantwortet. Beianderen Fragen ist in der Fußnote nachzulesen, dass die

statistische Grundgesamtheit der Erhebung aus 99 Per-sonen bestand. Zielgenaue Integration und Maßnahmenbedeuten auch, dass man belastbares Wissen über denStatus quo haben muss. Dies ist eindeutig nicht der Fallund muss stark verbessert werden. Hier könnte eine En-quete-Kommission zur Integration, wie von der FDP-Fraktion vorgeschlagen, Wirkung zeigen.

(Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nichtmehr bis zum Ende der Wahlperiode!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Große Anfrage der FDP-Fraktion ist zwei Jahre alt, dieAntwort der Bundesregierung über ein Jahr alt. FrauKollegin Laurischk, ich glaube, wenn man betrachtet,was sich in der Zwischenzeit getan hat, dann kann manwahrlich behaupten – gerade auch mit Blick auf Integra-tionsmaßnahmen für Mädchen und Frauen –: So viel In-tegration gab es noch nie.

Die Lebenssituation von Mädchen und Frauen zu ver-bessern und Gleichberechtigung zu verwirklichen, isteines der zentralen Anliegen des Nationalen Integra-tionsplans. Der Bund hat dabei mit der Umsetzung zahl-reicher Selbstverpflichtungen begonnen. Für uns alsCDU/CSU ist klar, dass ohne angemessene Berücksich-tigung der Rolle von Frauen und Mädchen im Integra-tionsprozess, ihrer besonderen Probleme und ihrer spezi-fischen Bedürfnisse Integration nicht gelingen kann.Viele von ihnen tragen elterliche Verantwortung. Oft-mals sind gerade sie es, die den Erfolg oder Misserfolgder Integration der nachfolgenden Generationen prägen.

Sie haben zu Recht die Studie des Berlin-Instituts fürBevölkerung und Entwicklung zur Lage der Integrationin Deutschland angesprochen. Dort werden viele posi-tive Beispiele gelungener Integration aufgezeigt, aberauch auf die Probleme hingewiesen, die wir insbeson-dere bei Migranten türkischer Herkunft haben.

Dort ist unter anderem zu lesen:

Ein Nachteil dieser Gruppe ist ihre Größe: Weil esvor allem in Städten so viele sind, fällt es ihnenleicht, unter sich zu bleiben. Das erschwert geradezugewanderten Frauen, die häufig nicht erwerbstä-tig sind, die deutsche Sprache zu erlernen. Damitfehlt auch den Kindern eine wesentliche Vorausset-zung für gute Integration.

Deshalb haben wir die fachliche Ausrichtung der Inte-grationskurse erheblich verändert und spezielle Frauen-kurse vorgesehen, die mit Kinderbetreuung durchgeführtwerden.

Ich will die neuesten Zahlen, die sich nicht in der Ant-wort der Bundesregierung befinden können, gerne nocheinmal erwähnen: Bis einschließlich 30. September 2008

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21899

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Reinhard Grindel

haben sich 42 000 Personen für Eltern- und Frauenkurseangemeldet, und für die Kinderbetreuung wurden alleinim Jahr 2008 467 000 Betreuungsstunden in Anspruchgenommen. Der Bund hat dafür 6,8 Millionen Euro auf-gewandt. Das ist praktische Integrationsarbeit, die es indieser Intensität für Frauen und ihre Kinder so noch niegegeben hat. Darauf können wir als Große Koalitionstolz sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Rüdiger Veit [SPD]: Das stammt von uns, aberihr habt mitgemacht! Das ist gut so!)

Sie haben das Thema „schwieriger Spracherwerb beiFrauen“ angesprochen. Sie haben auch angesprochen,dass wir jetzt den Nachweis von einfachen Deutsch-kenntnissen zur Auflage vor dem Familiennachzug ma-chen. Gerade weil gestern in einer Gesprächsrunde vonMitgliedern des Innenausschusses mit Menschenrechts-organisationen von einer gewissen Dramatik die Redewar, will ich noch einmal die neuesten Zahlen zu diesemThemenkomplex nennen: Im Jahr 2007 sind 32 466 Visazum Zwecke des Ehegattennachzugs erteilt worden. ImJahr 2008 waren es 30 767 Visa, also ein Rückgang vonnur 5,2 Prozent. Hauptherkunftsland für den Ehegatten-nachzug ist die Türkei. Rund die Hälfte des Rückgangsbei den Visa zum Ehegattennachzug betrifft türkischeStaatsangehörige.

Da wir wissen, dass fast alle, die sich bei den Goethe-Instituten um einen Sprachnachweis bemühen, den ent-sprechenden Test auch bestehen, ist für mich klar, dasswir an dieser Stelle davon ausgehen können, dass wireine Reihe von Zwangsehen verhindert haben.

Ich will aber im Zusammenhang mit dem Spracher-werb deutlich machen, dass diese Maßnahme, die wirgemeinsam beschlossen haben, über die Bekämpfungvon Zwangsehen hinaus eine integrationspolitische Be-deutung hat; denn in den Kursen der Goethe-Institutewird nicht nur Sprachkompetenz, sondern werden auchKenntnisse über Deutschland und den Lebensalltag inunserem Land vermittelt. Die Frauen, die zu uns kom-men, sind also viel besser auf ihr neues Leben in unse-rem Land vorbereitet. Es kommt darauf an, dass wir siein die Lage versetzen, einer Berufstätigkeit nachzuge-hen, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen unddamit den Bildungshunger ihrer Kinder zu wecken undnicht zuletzt etwas über unser Wertesystem zu erfahrenund eine patriarchalische Rollenverteilung nicht wider-spruchslos zu akzeptieren.

In diesem Zusammenhang will ich auf ein bemer-kenswertes Interview von Cem Özdemir, dem Vorsitzen-den der Grünen, in der taz vom 27. Januar dieses Jahreshinweisen. Darin sagt er:

Vielen der Zugewanderten, besonders aus der Tür-kei, ist die Bedeutung guter Bildung für ihre undunsere Kinder nicht ausreichend bewusst … Wennes nicht mit den Eltern geht, dann muss man esauch gegen sie machen … Wenn in einer Familieein archaisches Bild der Rollenverteilung vonMann und Frau gepredigt wird, dann müssen wir in

den Schulen andere Werte vermitteln – und vorle-ben.

Lieber Kollege Winkler, ich frage mich, was dagegenspricht, ein anderes Rollenverständnis schon vor demZuzug nach Deutschland zu vermitteln, wenn wir an diejungen Frauen in den Sprachkursen der Goethe-Institutenoch herankommen, bevor sie danach vielleicht in eineParallelwelt abtauchen. Nichts spricht dagegen, dies zuvermitteln!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben zu Recht auf die Erfolge von Kindern mitvietnamesischem Migrationshintergrund hingewiesen,Frau Kollegin Laurischk. Ich glaube, dass das ein Zei-chen und ein Beleg dafür ist, wie wichtig es ist, dass inden Familien deutsch gesprochen wird. Das ist bei die-sen Familienstrukturen in der Regel der Fall, weil es hiersehr viele binationale Ehen gibt. Das zeigt, wie wichtiges ist, dass Kenntnisse der deutschen Sprache nicht nurim Kindergarten und in der Schule erworben werden,sondern auch zu Hause.

Zu den erfolgreichen Integrationsmaßnahmen, mit de-nen wir Frauen unterstützen, gehört der Ausbau derKrippenbetreuung, der Ganztagskindergärten und Ganz-tagsschulen. Die frühe gemeinsame Bildung von einhei-mischen Kindern und Migrantenkindern fördert die Inte-gration und schafft eine bessere Bildungsperspektive.Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass es Kindergibt, die deshalb von Anfang an in der Schule scheitern,weil sie den Lehrer an der Tafel nicht verstehen. Dasdarf es nicht mehr geben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Wir verbessern auch die berufliche Perspektive vonFrauen mit Migrationshintergrund. Mit der Qualifizie-rungsoffensive wollen wir die Anerkennung von im Aus-land erworbenen Abschlüssen zügig verbessern. Wirmüssen endlich die Kompetenzschätze heben, über diegerade Frauen mit Migrationshintergrund verfügen. Esgibt – darauf wird in der Studie und auch von FrauLaurischk in ihrer Rede zu Recht hingewiesen – sehr guteErfolge bei den Bildungskarrieren von Migrantinnen. Esgibt mehr Mädchen als Jungen türkischer Herkunft in dergymnasialen Oberstufe. Die Zahl der Studentinnen mitMigrationshintergrund wächst kontinuierlich. Das ist nurzu begrüßen. Ich möchte erwähnen, dass wir bei den dreiGipfeltreffen zum Nationalen Integrationsplan – diesewurden von Maria Böhmer ganz maßgeblich beeinflusst –sehr intensiv das Gespräch mit Migrantinnen und Frau-enorganisationen gesucht haben. Es hat extra einen Ar-beitskreis gegeben, der sich intensiv mit der Lebensweltder Frauen sowie der Wirklichkeit in Schule und Berufbefasst hat. Man kann sagen – das alles konnte in dieAntwort der Bundesregierung nicht aufgenommen wer-den –, dass wir der Integration von Mädchen und Fraueneine besondere Bedeutung beimessen.

Integration gelingt nicht von allein. Sie muss von al-len staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren ge-lebt werden. Dazu gehört, die Menschen, die aus ver-

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21900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Reinhard Grindel

schiedensten Motivationen heraus ihre Heimat verlassenhaben, um hier zu leben, willkommen zu heißen.

Sie müssen am gesellschaftlichen Leben teilhabenkönnen, ihre Leistungen müssen Anerkennung finden.Deshalb wurden durch die Arbeit am Nationalen Integra-tionsplan und durch die Deutsche Islamkonferenz neueImpulse für den Dialog mit Migrantinnen und Migrantengesetzt, und es wurde nicht nur über sie geredet.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenhaben eine breite Basis für die direkte und vertrauens-volle Zusammenarbeit mit Menschen aus Zuwandererfa-milien geschaffen. Wir brauchen sie als Partner, um un-sere gemeinsame Zukunft zu gestalten. Wenn auchweiterhin – das ist keine Frage – viel zu tun bleibt, sozeigt doch die große Resonanz dieser Aktivitäten und diedadurch angeregte Diskussion in der Öffentlichkeit, dassunsere Intention angekommen ist. Ich möchte hier be-sonders die Leistung der Beauftragten für Integration,unserer Staatsministerin Maria Böhmer erwähnen. Siesteht auch ganz persönlich dafür, dass Frauen und Mäd-chen ganz oben auf der Tagesordnung stehen, wenn esum Integration und den gelebten Zusammenhalt in unse-rer Gesellschaft geht.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von

der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Lieber Herr Grindel, es war nichtanders zu erwarten: Sie haben, als Sie aus der Studie desBerliner Instituts zitierten, das zitiert, was Ihnen oppor-tun erschien, aber nicht das, was darüber hinaus darinstand. Sie haben gesagt, dass vor allem die Sprachewichtig ist, und die Situation geschildert. Sie haben aberversäumt, zu sagen, dass es bei Menschen mit Migra-tionshintergrund gerade der ausländische Pass ist, derdie Arbeitsvermittlung erschwert. Bei all den Punkten istdie Mehrheitsgesellschaft gefordert, offener auf die Mi-granten zuzugehen, um deren Potenziale für die Gesell-schaft besser zu nutzen. Es steht auch in dieser Studie,dass kostenlose Kindergartenplätze und pädagogisch ge-schultes Personal zur Sprachförderung in den Kindergär-ten unerlässlich sind, und es steht in der Studie, dassSchulen zu ganztägig offenen Integrationszentren ausge-baut werden sollen, wie es die Linke seit eh und je for-dert. Außerdem spricht sich die Studie für eine Einbür-gerung von hier Geborenen nach dem Ius-Soli-Prinzipaus, wie es in Frankreich oder in den Vereinigten Staatenüblich ist, um sie von Anfang an willkommen zu heißenund ihnen zu zeigen, dass sie gebraucht werden. Genaudas wollen Sie verhindern. Sie wollen sogar das Op-tionsmodell abschaffen und wieder zum Abstammungs-prinzip kommen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das ist unglaublich!)

Das haben Sie, Herr Grindel, hier zu sagen versäumt.

In der Antwort der Bundesregierung auf die GroßeAnfrage wird festgestellt, dass die Erwerbsquote vonFrauen ohne Migrationshintergrund im Durchschnitt um10,6 Prozentpunkte höher als von Frauen mit Migrati-onshintergrund ist. Kein Wort aber davon, dass dies zumBeispiel in den 70er-Jahren umgekehrt war. Da wiesenMigrantinnen eine Erwerbsbeteiligung auf, die erheblichüber der deutscher Frauen lag. Dies galt laut Statisti-schem Bundesamt gleichfalls für verheiratete Frauenausländischer Nationalität. Ihre Erwerbsquote lag mit64 Prozent gleichfalls wesentlich höher als die deutscherEhefrauen mit 40 Prozent. Frauen mit Migrationshinter-grund wurden und werden zunehmend aus der Erwerbs-arbeit gedrängt, so heißt es, und in geringfügige Be-schäftigung, ungeschützte Arbeitsverhältnisse sowieArbeitslosigkeit und den Verzicht auf Erwerbsarbeit ge-drängt. Zum Teil arbeiten sie weit unterhalb ihres Quali-fikationsniveaus. Herr Grindel, Sie sagten, man müsseIntegrationsschätze heben. Das hat die Bundesregierungvor einer Stunde nicht gemacht. Sie hat einen Antrag zurAnerkennung von Bildungs- und akademischen Ab-schlüssen, die im Ausland erworben wurden, wovon einehalbe Million Menschen betroffen ist, gerade Frauen,Spätaussiedler, russische Ärztinnen, die hier in diesemLande putzen müssen, weil ihre Abschlüsse nicht aner-kannt werden, abgelehnt. Daran möchte ich Sie erinnern.

Das Problem ist auch, dass gerade Migrantinnen mitKindern oftmals in gewalttätigen Beziehungen aushar-ren, um ihr Aufenthaltsrecht nicht zu verlieren. Da sageich: Wenn die Bundesregierung einen Integrationswillenhätte, dann müsste sie doch für ein eigenständiges Auf-enthaltsrecht dieser Frauen streiten und ihnen dieses ge-ben,

(Beifall bei der LINKEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Gibt es doch!)

damit sie nicht in diesen Gewaltbeziehungen enden.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch geregelt!)

Ferner werden Übermittlungspflichten von der Bundes-regierung nicht aufgehoben, was Frauen, die illegalisiertwerden, Frauen ohne Papiere in Deutschland betrifft.Mit der Aufhebung könnte man diesen Frauen helfen,sich in die Gesellschaft zu integrieren. Im Zusammen-hang mit der Diskussion über Zwangsverheiratung undZwangsehen haben Sie durch die Novellierung des Zu-wanderungsgesetzes den Ehegattennachzug erschwert.Sie konnten aber bisher nicht einen Fall benennen, woSie die Zwangsverheiratung bzw. die Zwangsehe verhin-dert hätten. Ich möchte an die Sachverständigenanhö-rung im Familienausschuss erinnern, wo zum Beispielgesagt wurde: Was die Frauen brauchen, ist ein Rück-kehrrecht. – All das wurde von der Bundesregierung bis-her nicht umgesetzt. Wenn Sie etwas für die Frauen tunwollen, bitte ich Sie, dies zu tun. Die Fakten und dieKonzepte liegen auf dem Tisch.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21901

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(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Bedauerlich ist auch – damit komme ich zumSchluss –, dass die Bundesregierung nur das tut, was siein der Vorbemerkung geschrieben hat, nämlich:

… die … zur Verfügung stehenden Kenntnisse überdie Situation von Frauen mit Migrationshintergrundin der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen dergestellten Fragen zusammenfassend darzustellen.

Und so beschreibt sie eine desaströse soziale Situa-tion von Migrantinnen. Doch die Zusammenhänge mitder eigenen Politik werden mit dem Deckmäntelchen desVerschweigens von Ursache und Wirkung verdeckt. Aufdiese Weise sind wir von einer Lösung weit entfernt.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der

SPD-Fraktion.

Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Schweizer Theologe und Literaturhistoriker Vinet hat– wenn allerdings auch schon vor mehr als 150 Jahren;so lange ist er nämlich bereits tot – zu Recht gesagt:„Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Fami-lien ab.“ Frau Laurischk, ich stimme Ihnen ausdrücklichzu, dass die Frauen in diesem Bereich eine zentrale Rolleeinnehmen.

Wenn es um die Fragen der Integration, der Sozialisa-tion und der Erziehung der Kinder in Migrantenfamiliengeht, haben Frauen möglicherweise sogar noch eine stär-kere Rolle inne, als das bei einheimischen Familien derFall ist. Damit möchte ich aber kein klassisches Rollen-bild perpetuieren, sondern nur eine Vermutung äußernund unterstreichen, wie wichtig das ist.

Insofern ist es verdienstvoll, dass Sie sich mit Ihrer inder Tat sehr umfänglichen Großen Anfrage mit 83 Fra-gen an die Bundesregierung gewandt haben. Die Bun-desregierung hat sie mit Mühe und Sorgfalt bearbeitet;es sind fast 100 Seiten Material. Die Sache hat für dieheutige Debatte aber einen nicht ganz unwesentlichenNachteil: Sowohl die Fragestellungen als auch die Ant-worten der Bundesregierung sind ein bisschen veraltet,nämlich zwei bzw. ein Jahr. In der Zwischenzeit hat sicheiniges getan.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bittedaran teil, wie ich versuche, richtig auszukosten, dassich mit den Ausführungen des Kollegen ReinhardGrindel von der CDU konform gehe.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das wird ja nicht mehr lange an-halten!)

– Sie können diese Freude und diese Teilhabe, wie ichfinde, auch noch ein bisschen emphatischer äußern. –

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Du bringst ihn schon noch auf diePalme!)

Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bundes-regierung und die Koalitionsfraktionen in der Zwischen-zeit einige Integrationsmaßnahmen angestoßen und um-gesetzt haben. An dieser Stelle kommt Frau ProfessorBöhmer und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern inder Tat eine ganz zentrale Rolle zu. Dafür wollen wir unsbei dieser Gelegenheit bedanken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Der historischen Wahrheit halber sei aber hinzuge-fügt, dass die Frage der Integration sowohl der neu zuuns kommenden als auch der bereits bei uns lebendenMigrantinnen und Migranten

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum zeigst du auf mich?)

ursprünglich von der rot-grünen Mehrheit

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so!)

und einer Regierung, die von ihr getragen wurde, veran-lasst worden ist. Insofern freuen wir uns – das sage ichohne Zynismus und Häme –, dass sich jetzt eigentlichalle in diesem Haus in Bezug auf die Realisierung vonIntegrationsmaßnahmen mehr oder weniger einig sindund gemeinsam an einem Strang ziehen.

Im Übrigen muss an dieser Stelle gesagt werden:Selbst wenn wir das Urheberrecht haben, ist es das Ver-dienst der Bundeskanzlerin und der StaatsministerinBöhmer, dass wir dieses Thema im Rahmen des Natio-nalen Integrationsgipfels aufgegriffen und Konsequen-zen gezogen haben.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit zwangsver-heirateten Frauen, die nicht zurückkommendürfen?)

– Darauf komme ich noch zu sprechen, Frau Kollegin. –Ich erinnere nur einmal daran, dass wir das Sprachange-bot erheblich verbessert haben, nämlich auf einen Um-fang von bis zu 900 Unterrichtsstunden, und dass wir dieMöglichkeit geschaffen haben, 300 weitere Stunden zuabsolvieren.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das hätten wir schon früher ma-chen können!)

Ich sage an dieser Stelle aber auch Folgendes – denndas darf nicht vergessen werden –: Gerade im Hinblickauf die Teilnahme von Migrantinnen an solchen Kursenist es unabdingbar, dass eine qualifizierte und einfacherreichbare Kinderbetreuung sichergestellt wird. Ichmahne die Bundesländer ausdrücklich, ihre Verpflich-tungen auf diesem Gebiet einzuhalten.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kostenfreie Kinderbe-treuung!)

Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

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21902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Rüdiger Veit

Ansonsten ist in der Tat einiges auf den Weg gebrachtworden: auf dem Integrationsgipfel und bei den nachfol-genden Zusammenkünften sowie in den vielseitigenSelbstverpflichtungen, die eingegangen worden sind; ichwill das nicht alles wiederholen.

Zusammenfassend kann man etwas salopp sagen: DerIntegrationsgipfel hat jedenfalls aus unserer Sicht nur ei-nen einzigen Nachteil: Auch Rot-Grün hätte seinerzeitauf die Idee kommen können, so etwas zu veranstalten.

(Heiterkeit des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU])

Das Gleiche gilt übrigens für die vom Bundesinnenmi-nister durchgeführte Islam-Konferenz.

Aber zurück zum Thema. Die Frage 10 der GroßenAnfrage greift ein wichtiges Problem auf. Die Antwortdarauf fällt unzureichend aus; sie muss unzureichendausfallen. Sie werden sich nicht wundern, wenn ich im-mer wieder auf die gleichen drei Themen komme, diemich hier ganz besonders bewegen:

Erstens geht es um die Frage, inwieweit geradeFrauen und ihre Familien, vorzugsweise alleinstehendeund alleinerziehende Frauen, die sich schon lange inDeutschland aufhalten, von der Bleiberechtsregelung derInnenministerkonferenz oder von derjenigen in dem Ge-setz, das wir geschaffen haben, profitieren können. Da-bei ist der Kern der Frage, inwieweit sie in der Lage seinwerden, sich ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel,jedenfalls höchstens unter teilweiser Inanspruchnahmesolcher Mittel, zu ernähren und den Unterhalt ihrer Fa-milien zu bestreiten. Da müssen wir noch einmal ganzbesonders sorgfältig hinschauen.

Auch wenn die Bundesregierung in der Antwortschreibt, es gebe keine statistischen Daten darüber, weildas Geschlecht derjenigen, die einen Antrag stellten,nicht erfasst werde, werden wir im Vollzug der Altfall-und Bleiberechtsregelungen darauf achten müssen, dassinsbesondere alleinstehende Frauen und alleinerziehendeMütter dabei nicht durch den Rost fallen, weil sie nichtin der Lage sind, eine adäquate Erwerbstätigkeit auszu-üben. Ich wäre Ihnen allen dankbar, wenn wir uns aufdiesen Punkt konzentrieren würden.

Zweitens. Übermittlungspflichten bei Illegalen. Dazuschweigen sowohl diejenigen, die die Große Anfrage ge-stellt haben, als auch natürlich die Antwort. DiesePflichten sind, wie Sie alle oder jedenfalls diejenigen ausdem Innenausschuss wissen, nach wie vor ein wichtigesThema. Dazu gibt es gerade in jüngster Zeit ein sehr un-rühmliches Beispiel aus Hamburg. Die Magdalena ausBolivien, die sich bereits elf Jahre lang in der Bundesre-publik aufhält und kurz vor Abschluss des zehntenSchuljahres steht, wird durch das Hamburger Schulregis-ter, das dort eingeführt worden ist, als statuslos entdecktund muss natürlich fortan genauso wie ihre Familie unterder Bedrohung leben, sofort abgeschoben zu werden.

In Berlin werden Überlegungen dazu angestellt, ent-sprechende Register einzuführen, oder sind bereits inUmsetzung begriffen, was jugend- und kinderpolitischvielleicht durchaus seinen Sinn hat. Liebe Kolleginnen

und Kollegen – damit wende ich mich an alleFraktionen –, wir können es uns einfach nicht mehr leis-ten, Kinder an der Wahrnehmung von schulischen Bil-dungsmöglichkeiten dadurch zu hindern, dass im Gesetzweiterhin die Pflicht von Lehrern und Schulämtern zurÜbermittlung an die Ausländerbehörden enthalten ist.

(Beifall bei der SPD)

Das Gleiche gilt für Migrantinnen, mindestens in-soweit, als sie womöglich davor zurückschrecken,wichtige gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen fürSchwangere wahrzunehmen und sich bei der Geburt ei-nes Kindes in qualifizierte Betreuung zu begeben. Esdarf nicht sein, dass der Staat behandelnde Ärzte, Kran-kenschwestern und Krankenhausverwaltungen ver-pflichtet, den Ausländerbehörden Mitteilung zu machen,wenn sich jemand behandeln lässt, der keinen regulärenAufenthaltsstatus hat. Das ist eine Baustelle, die ich ei-gentlich gern noch in dieser Legislaturperiode geschlos-sen hätte. Da gibt es aber viele Widerstände. Ich will dieKolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion garnicht allein dafür verantwortlich machen.

Drittens. Das ist ein wichtiger Punkt, der mir ganz be-sonders am Herzen liegt. Auf Betreiben unseres Koali-tionspartners haben wir das Nachzugsalter heraufgesetzt,durchaus noch mit einer gewissen Überzeugung, dassdas so richtig ist, aber auch den vorherigen Sprach-erwerb im Ausland zur Bedingung für den Familien-nachzug gemacht. Die Kolleginnen und Kollegen vonder Union waren der Auffassung, damit könne dem Phä-nomen der Zwangsheirat wirksam begegnet werden.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Und bessere Sprachkenntnisse!)

Nichts, aber auch gar nichts weist darauf hin, dass dieseAnnahme berechtigt ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Doch!)

Viel schlimmer ist noch – hier liegt ein ganz erheblichesDefizit –: Wir haben uns in einem wichtigen Punkt nichtverständigen können. Das bedauere ich nach wie vor. Ichappelliere an Sie, Ihre Position noch einmal zu überden-ken. Gerade was die Opfer von Zwangsverheiratungenim Ausland angeht,

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)

machen wir uns mit der sechsmonatigen Frist für dieRückkehrmöglichkeit nach Deutschland praktisch zumVollstrecker derjenigen, die andere mit Zwangsheirat be-drohen. Bei moralischer Betrachtung erkennt man: Dasdarf sich der Gesetzgeber, dieses Haus, unser Staat nichterlauben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn eine junge Frau, etwa eine sogenannte Urlaubs-braut, die im Urlaub zwangsverheiratet worden ist, durchihren zwangsverheirateten Mann, dessen Familie oderwen auch immer zunächst daran gehindert wird, in dieBundesrepublik zurückzukehren, um sich vielleicht hier

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21903

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Rüdiger Veit

aus ihrer misslichen Situation zu befreien, dann darf esnicht sein, dass wir ihr sagen: Wenn du es nicht inner-halb von sechs Monaten geschafft hast, bleibst du drau-ßen und deinem Schicksal überlassen. Wer es mit derBekämpfung von Zwangsheirat wirklich ernst meint,muss an dieser Stelle ansetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. SibylleLaurischk [FDP])

Ich komme zum Schluss. Ich bitte darum, dass wiralle noch einmal darüber nachdenken, die entsprechendegesetzliche Vorschrift zu ändern. Wir sollten die Kraftdazu haben; sonst sind wir an dieser Stelle nicht glaub-würdig.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAntwort auf die Große Anfrage zeigt, dass die Bundesre-gierung in vielen Bereichen jetzt endlich handeln muss.Die Förderung der Integration von Migrantinnen ist fürdie Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, wie siegerne sagt, eine Herzensangelegenheit. Darum frage ichmich: Wo bleibt das Herz? Vor allen Dingen: Wo bleibtdas Geld für die Umsetzung des Nationalen Integrations-plans? Von den 134 abgegebenen Selbstverpflichtungenwill der Bund nur 19 migrantinnenspezifische Verpflich-tungen finanzieren.

Gleichzeitig hat die Große Koalition unter den Augenvon Ihnen, Frau Böhmer, ausgerechnet die Haushalts-mittel für die niedrigschwelligen Kurse für besondersschwer erreichbare Migrantinnen um nicht weniger als40 Prozent gekürzt.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Welche Kurse meinen Sie denn, Frau Schewe-Gerigk?)

Herr Grindel sagt dazu: So viel Integration gab es nochnie. Ich finde das den schwer erreichbaren Migrantinnengegenüber zynisch und heuchlerisch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen: Viele Frauen in Deutschland erleben re-gelmäßig körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt.Zahlreiche Studien zeigen, dass Frauen mit Migrations-hintergrund besonders stark von Gewalt betroffen sind.Dies ist, wenn wir über die Integration von Migrantinnensprechen, ein wichtiges Thema, das die Integrationsbe-auftragte, wie eine Kleine Anfrage der Grünen gezeigthat, jedoch völlig vernachlässigt.

Frauenhäuser sind für diese Frauen die zentrale An-laufstelle. Ich möchte an die Forderungen der Sachver-ständigen bei der kürzlich stattgefundenen Anhörung er-

innern: Änderungen beim Asylbewerberleistungsgesetz,bei der Residenzpflicht sowie beim SGB II undSGB XII. Nur wenn es hier zu Änderungen kommt, kön-nen Frauenhäuser von Gewalt betroffenen Migrantinnenwirklich helfen. Ich erwarte von der Bundesregierungund von der Integrationsbeauftragten, dass sie jetzt end-lich zügig handeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Leider sehe ich keinen Anlass zum Optimismus; dennausgerechnet bei dem wichtigen Thema der Zwangsehehat die Große Koalition – Herr Veit, ich muss es sagen –grundlegend versagt. Sie haben entgegen dem einhelli-gen Votum aller Sachverständigen keine einzige aufent-haltsrechtliche Verbesserung für Migrantinnen beschlos-sen, die von Zwangsehen betroffen sind.

(Rüdiger Veit [SPD]: Das habe ich ja gerade bedauert!)

Auch in dem Entwurf der Bundesregierung für Ver-waltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz finden wir– entgegen der vollmundigen Ankündigung von FrauBöhmer in ihrem 7. Lagebericht – keine Klarstellungenzu den strittigen Punkten. Sie haben auch nichts unter-nommen, um die deutschen Auslandsvertretungen dazuzu befähigen, zwangsverheiratete Migrantinnen bei derEinreise in ihre deutsche Heimat unbürokratisch zu un-terstützen.

Das Einzige, was Sie vorgenommen haben, war dieVerschärfung beim Ehegattennachzug. Kollege Grindelbehauptet – ähnlich wie Kollege Uhl –, sie bewahrtendadurch

Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Frauendavor ..., hier in Deutschland in einer Zwangseheleben zu müssen.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja, das sage ich! Das geben die Zahlen her!)

– Herr Grindel, diese Zahlen sind, wie die Bundesregie-rung auf unsere Anfrage hin einräumen musste, voll-kommener Humbug. Vielleicht setzen Sie sich einmalmit der Bundesregierung in Verbindung.

Ich stelle fest: Die Verschärfung beim Ehegattennach-zug ist ein Eingriff in den grundrechtlichen Schutz derEhe, der weder geeignet noch erforderlich noch verhält-nismäßig ist, um den sogenannten Import von zwangs-verheirateten Ehegatten zu verhindern.

Ich will etwas zu Ihren Sprachanforderungen sagen:41 Prozent aller nachzugswilligen Ehegatten wurde dasGrundrecht auf Familieneinheit verwehrt, weil sie denSprachtest im Herkunftsland nicht bestanden haben.

Diese Zahlen wundern Sie; Sie haben etwas ganz an-deres geäußert.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die verwechseln das immer mitden Einbürgerungstests!)

Ich frage Sie: Wurde hierdurch wirklich eine einzigeZwangsehe verhindert? Nein; dieses Instrument dienteinzig und allein dazu, den von Ihnen ungeliebten Zu-

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Irmingard Schewe-Gerigk

wanderungskanal des Ehegattennachzugs insgesamt zuunterminieren.

Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,Sie sind bei Ihrem Ansatz, Zwangsehen durch den Ehe-gattennachzug bekämpfen zu wollen, einer fixen Ideeaufgesessen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Außerhalb des Plenums geben diedas auch zu! – Gegenruf des Abg. ReinhardGrindel [CDU/CSU]: Nein!)

Ich staune, wie emotional, ja geradezu fanatisch Sie aufdie sachlichen Erfahrungsberichte des Verbandes bina-tionaler Familien oder auf die Kritik des Deutschen In-stituts für Menschenrechte reagieren. Für mich ist dasein Indiz, wie sehr Sie Integrationspolitik mit ideologi-schen Scheuklappen betreiben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Sevim Dağdelen [DIELINKE])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an dieVerordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäi-schen Parlaments und des Rates vom 23. Ok-tober 2007 über die Rechte und Pflichten derFahrgäste im Eisenbahnverkehr

– Drucksache 16/11607 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Tourismus Federführung strittig

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. GünterKrings, CDU/CSU, Marianne Schieder, SPD, MechthildDyckmans, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke,Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen, und für dieBundesregierung um die Rede des ParlamentarischenStaatssekretärs Alfred Hartenbach.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Angesichts der großen Sorgen auf dem Arbeitsmarkt

und in der Wirtschaft beschäftigen die Menschen inDeutschland nach wie vor auch die kleineren Sorgen desAlltags. Wer zu einem dringenden geschäftlichen oderprivaten Termin unterwegs ist und dabei umweltfreund-lich oder aus Kostengründen die Bahn benutzt, ist aufeine pünktliche Beförderung angewiesen. Verspätungenim Bahnverkehr sind und bleiben daher ein Ärgernis, daswir gerade dann ernst nehmen müssen, wenn uns an einerStärkung des Bahnverkehrs gelegen ist.

Die Deutsche Bahn, die über Jahrzehnte hinweg eineninternational hervorragenden Ruf wegen ihrer Pünktlich-keit genoss, ist seit einigen Jahren dabei, diesen Ruf zuverspielen. Offenbar haben Fragen der Pünktlichkeit vorallem beim Marktführer der Deutschen Bahn AG keineausreichende Priorität erhalten.

Die zunehmende Ungewissheit, ob ich als Bahnkundepünktlich und nach Fahrplan mein Ziel erreiche, hatmanche Menschen davon abgehalten, die Bahn zu benut-zen. Viele, die zum Beispiel für Fernstrecken die Wahlzwischen Zug oder Flugzeug haben, entscheiden sich oftfür den Luftverkehr, weil dieser sich teilweise einen zu-verlässigeren Ruf erworben hat. Nur eine zuverlässigeund pünktliche Bahn wird aber so genutzt werden, wie wiruns das gemeinsam wünschen. Quer durch alle Fraktio-nen dieses Hauses, aber auch im Einklang mit den Bahn-unternehmen müsste uns allen daher an einer höherenPünktlichkeit des Bahnverkehrs gelegen sein.

Um diese Pünktlichkeit in Zukunft besser zu garantie-ren, braucht es offenbar flankierender Maßnahmen desGesetzgebers. Wenn Bahnunternehmen nicht erkennen,dass eine höhere Pünktlichkeit in ihrem Interesse liegt,muss der Gesetzgeber sie im wahrsten Sinne des Wortesein wenig anschieben. Entschädigungszahlungen an die-jenigen Kunden, die Opfer von erheblichen Verspätungengeworden sind, können hier sehr heilsame Wirkungen ha-ben.

Die von der Europäischen Union, aber zum Teil nochdeutlich konsequenter von der Bundesregierung vorge-schlagenen und von uns unterstützten Regelungen zurEntschädigung von Bahnkunden werden ihr Ziel nichtverfehlen. Dieses Ziel besteht gerade nicht darin, dassmöglichst viele Entschädigungszahlungen in die Taschenvon Bahnkunden fließen, sondern darin, dass die Bahnsolche Zahlungen gerade vermeiden wird, indem sie einstärkeres Augenmerk auf ihre Pünktlichkeit legt.

Die Entschädigungszahlungen selbst müssen aller-dings mit Augenmaß erfolgen. Denn Geld, das die Bahnfür Entschädigungen ausgeben muss, fehlt ihr natürlichfür Züge und Bahnhöfe. Da weite Bereiche des Schienen-verkehrs nach wie vor ein Zuschussgeschäft sind, mussdie Bahn die Entschädigungen aus ihren eigenen Mittelnerwirtschaften. Der Steuerzahler wird hierfür nicht zu-sätzlich aufkommen können; denn gerade denjenigen, dienicht die Chance haben, die Bahn zu nutzen, kann mankaum zumuten, dass sie als Steuerzahler neben dem regu-lären Bahnverkehr auch noch diese Entschädigungszah-lungen gesondert subventionieren.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schafft Ent-schädigungsregelungen, die für beide Seiten akzeptabelsind und die Position des Bahnkunden deutlich verbes-sern. Im Zentrum der Regelungen steht, dass der Bahn-kunde nicht nur einen angemessenen Entschädigungsbe-trag erhält, sondern dass er diesen auch in einemunbürokratischen Verfahren erlangen kann.

Die Regelungen sind außerdem recht übersichtlich.Zum Beispiel wird der Kunde künftig wissen, dass er un-abhängig davon, welchen Zug er benutzt hat, ob ICE, In-tercity oder Regionalbahn, bei einer Verspätung von

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21905

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Dr. Günter Krings

mindestens 60 Minuten 25 Prozent des Fahrpreises zu-rückerhält. Und er bekommt gar die Hälfte zurück, wenner mehr als zwei Stunden verspätet ist.

Es ist auch deshalb eine Verbesserung, weil bislang dieZugnutzer bei Verspätungen auf die Kulanz der Bahn-unternehmen angewiesen waren. Nach der Kundenchartader Deutschen Bahn AG fiel die Entschädigung bei einereinstündigen Verspätung zudem geringer aus.

Gerade im Nahverkehr können Bahnkunden mit sol-chen Entschädigungen aber wenig anfangen. Währendim Fernverkehr die Bahn verpflichtet ist, den Kunden beilängeren Verspätungen notfalls in einem Hotel unterzu-bringen, kann der Kunde im Nahverkehr oft wenig mitGeld oder mit einer Hotelübernachtung anfangen. Viel-mehr will er sein Ziel, das er schon relativ nah vor Augenhat, nun auch endlich erreichen. Die praktikabelste undsinnvollste Lösung ist hier, ihm die Kosten für ein Taxi zuersetzen, wenn er sein Ziel mit Zug oder Bus ansonstennicht zumutbar erreichen kann. Die Union begrüßt daherausdrücklich den Grundsatz des Gesetzentwurfes derBundesregierung, dass auch Taxikosten erstattet werden.Wir wollen den Opfern von Verspätungen auf praktikableArt und Weise helfen und sie nicht mit Entschädigungsan-sprüchen auf zugigen Bahnhöfen stehen lassen.

Wenn also der letzte Anschlusszug verpasst ist, mussdie Beförderung im Taxi möglich sein und für den Bahn-kunden keine weiteren Kosten verursachen. Bedenken ha-ben wir allerdings bei der Begrenzung dieser Taxikostenauf 50 Euro. Dieser Betrag wird gerade im ländlichenRaum nicht immer ausreichen, um den im Nahverkehr üb-lichen Radius von 50 Kilometern auch tatsächlich abzu-decken. Wer mangels Alternative abends auf eine Taxi-fahrt angewiesen ist, weil sein letzter Zug abgefahren ist,der muss die Taxikosten im Nahverkehrsradius ersetzt be-kommen, unabhängig von einer solchen Deckelung.

Aus diesem Grunde ist es auch nicht einsichtig, warumdie Regelung erst greifen soll, wenn der fahrplanmäßigletzte Zug nach 20 Uhr wegen anderer Zugverspätungennicht mehr erreicht wurde. Auch hier gilt, dass in vielenländlichen Regionen zum Beispiel am Wochenende derZugverkehr nachmittags endet. Wer hier auch vor 20 Uhrseinen letzten Zug verpasst hat, weil er Opfer von Bahn-verspätungen wurde, soll nicht bis zum nächsten Morgenwarten müssen, um nach Hause zu kommen.

Nicht immer muss der Kunde allerdings auf ein Taxiausweichen. Der Gesetzentwurf sieht zu Recht vor, dasser bei Verspätungen von mindestens 20 Minuten auch ei-nen anderen Zug benutzen darf. Das ist in der Regel diebeste Lösung, nämlich auf zweitbestem Wege an sein Zielzu kommen. Dieser Umstieg in einen anderen Zug mussunkompliziert möglich sein. Wenn also zum Beispiel dieRegionalbahn ausfällt, muss es auch zulässig sein, statt-dessen den ICE ans gleiche Ziel zu nutzen. Für Züge desgleichen Bahnunternehmens ist dies auch problemlosmöglich nach den von der Bundesregierung vorgeschla-genen Regelungen.

Wenn es uns aber ernst damit ist, mehr Wettbewerb aufdie Schiene zu bringen, müssen wir uns auch Lösungeneinfallen lassen, die einen Umstieg von den Zügen eines

Bahnunternehmens in das eines anderen ermöglichen,wenn so das Ziel auf schnellstem Wege erreicht werdenkann. Mehrere Anbieter auf der Schiene sollen dem Kun-den nützen und ihm im Verspätungsfalle nicht das Umstei-gen schwerer machen. Auch hier werden wir für eine Ver-besserung des Gesetzentwurfes im Kundeninteressesorgen.

Für den Bahnkunden, der leider nur allzu oft Opfervon Verspätungen wird, ist heute ein guter Tag. Zum ers-ten Mal beraten wir im Deutschen Bundestag klare ge-setzliche Anspruchsgrundlagen für den Verspätungsfall.Die Zeiten, wo der Bahnkunde auf die Kulanz der Bahnangewiesen war, werden bald der Vergangenheit angehö-ren. Bahn und Kunden bewegen sich endlich auf Augen-höhe. Und es ist letztlich auch gut für die Eisenbahn-unternehmen. Indem wir heilsamen Druck auf ihrePünktlichkeit ausüben, steigern wir ihre Attraktivität undtragen dazu bei, dass mehr Menschen die Bahn nutzen.

Marianne Schieder (SPD): Wenn in lockerer Runde das Thema Bahn zur Sprache

kommt, so wissen mindestens zwei von drei Leuten ir-gendwelche verrückten Geschichten über Verspätungenoder andere Pannen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt derÄrger verflogen ist und man meist schon wieder lachenkann, sollte man sich die Maßstäbe vor Augen führen, dieman an das Verkehrsmittel Bahn anlegt.

Nehmen wir an, Sie reisen von Berlin nach Regens-burg, um dort um 14 Uhr einen Termin wahrzunehmen.Mit dem Auto sind etwa vier bis fünf Stunden Fahrzeiteinzuplanen. Eine minutengenaue Auskunft über die An-kunft wird kaum jemand geben. Mit dem Flugzeug kommtman maximal bis Nürnberg oder München und hat dannnochmals etwa 1,5 Stunden Fahrzeit mit einem anderenVerkehrsmittel vor sich. Mit der Bahn kann ich die Zug-verbindung wählen, die um 13:30 Uhr in Regensburg an-kommt. Die Anreise ist mit Sicherheit die erholsamste,und zu 90 Prozent klappt sie auch.

Sollte es dennoch zu Verspätungen kommen, brauchendie Bahnkunden klare und einfach einzufordernde Rah-menbedingungen, um für die entstandenen Unannehm-lichkeiten angemessen entschädigt zu werden. Bisher be-wegen wir uns in diesen Fällen meist im Raum derFreiwilligkeit. Deshalb beraten wir heute in erster Le-sung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stär-kung der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, um Regelun-gen gesetzlich festzuschreiben. Damit werden dienationalen eisenbahnrechtlichen Vorschriften an eine eu-ropäische Verordnung angeglichen.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinwei-sen, dass unter der deutschen Ratspräsidentschaft nachlangen und zähen Verhandlungen mit der nunmehr umzu-setzenden EU-Verordnung eine doch recht akzeptable Ei-nigung erzielt werden konnte, die für Verbraucherinnenund Verbraucher in der ganzen EU wesentliche Verbesse-rungen bringen wird. Es ist unserer JustizministerinBrigitte Zypries zu verdanken, dass in Brüssel die Stär-kung der Fahrgastrechte durchgesetzt werden konnte.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Marianne Schieder

Die EU-Verordnung tritt im Dezember 2009 in Kraft.Wir werden die Vorschriften allerdings bereits so umset-zen, dass sie vor der Hauptreisezeit wirksam werden. Nungeht die Diskussion schon seit geraumer Zeit darum, obin Deutschland über die EU-Verordnung hinausgehendeAnsprüche gesetzlich verankert werden sollen. Auch derBundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Gesetzent-wurf beispielsweise weiter gehende Entschädigungsrege-lungen im Falle einer Verspätung gefordert. Dies fordernauch unsere Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion. Ich habe zum Teil Verständnis für diese Forderun-gen. Es ist völlig unbestritten, dass Nutzerinnen und Nut-zer der Bahn erwarten dürfen, schnell, sicher und vorallen Dingen pünktlich ans Ziel gebracht zu werden. Aberich denke auch, dass man die Kirche im Dorf lassen mussund das richtige Maß finden sollte.

Es hilft den Verbraucherinnen und Verbrauchernnicht, wenn sie es mit unterschiedlichsten Regelungen zutun haben. Handelt es sich um einen grenzüberschreiten-den Zug, beispielsweise von München nach Wien, mussdie EU-Verordnung angewendet werden. Der Fahrgasthat also bei einstündiger Verspätung Anspruch auf Er-stattung von 25 Prozent des Fahrpreises. Geht die Reisevon Nürnberg nach Köln, soll nach Vorstellungen desBundesrates der Fahrgast bei gleicher Verspätung50 Prozent des Fahrpreises erstattet bekommen. Nutztder Fahrgast aber bei dieser Strecke einen europäischenFernverkehrszug, zum Beispiel den österreichischen Eu-rocity, gilt wiederum die europäische Regelung. Das wäreungerecht, kompliziert und nicht vermittelbar.

Es hilft den Verbraucherinnen und Verbrauchernnicht, wenn durch überzogene Entschädigungen dasBahnfahren noch teurer wird. Es hilft ihnen nicht, wennsich die regulären Fahrzeiten wesentlich verlängern, umausreichend Puffer für mögliche Verspätungen zu haben.Und es hilft ihnen schon gleich gar nicht, wenn Reiseket-ten aus Nah- und Fernverkehr nicht mehr angeboten wer-den. Außerdem sollten die Rufer nach kürzeren Entschä-digungszeiten die ganze Rechnung aufmachen undkalkulieren, wie viel Verbraucherinnen und Verbraucherverlieren, wenn aufgrund hoher Entschädigungen diePreise steigen und wie viel sie durch Entschädigungenaufgrund von Zugverspätungen gewinnen. Selbst Vielfah-rer müssten unterm Strich zukünftig mehr auf den Tischlegen.

Wir brauchen europaweit einheitliche, klare und sinn-volle Regelungen. Kurzfristiger Populismus hilft unsnicht dabei, die Bahn attraktiver zu machen. Vielmehr giltes, den Service zu verbessern und das Entschädigungs-verfahren so einfach wie möglich zu gestalten. Dies halteich für viel wichtiger. Wenn Sie im Moment eine Verspä-tung haben, erhalten Sie erst eine Entschädigung, wennder Zug, in dem Sie sitzen, mindestens eine Stunde späterankommt. Um eine Ermäßigung zu erhalten, müssen Siesich zunächst an den Informationsschalter des Ankunfts-bahnhofs wenden. Dort erhalten Sie eine Bestätigung, mitder Sie binnen vier Wochen im Reisezentrum einen Gut-schein abholen können, der ein Jahr gültig ist. Gibt eskeinen Infopoint oder Bahnschalter, müssen Sie dasGanze auf dem Postweg erledigen.

Hier setzt der Gesetzesentwurf an, in dem zukünftig diegesamte Reisekette herangezogen wird und der Bahn-kunde seine Entschädigung unkompliziert und auch inbar erhalten kann. Außerdem können Fahrgäste auf eineFahrt verzichten und sich den vollen Preis erstatten las-sen, wenn sich bereits im Vorfeld eine Verspätung von60 Minuten abzeichnet.

Insbesondere Menschen auf dem flachen Land sollenkeine Nachteile erleiden müssen, wenn der letzte An-schlusszug aufgrund von Verspätungen nicht mehr er-reicht werden konnte. Daher ist vorgesehen, dass bei Er-fordernis Hotelunterkünfte zu gewährleisten sind oder dieWeiterfahrt mit einem Taxi ermöglicht wird. Darüber hi-naus können ab 20-minütiger Verspätung auch höherwer-tige Züge genutzt werden, um noch möglichst pünktlichanzukommen.

Wir werden mit dem Gesetzentwurf dafür Sorge tra-gen, dass Kundinnen und Kunden in Zukunft noch zuver-lässiger und mit klarer geregelten Fahrgastrechten in denZug steigen können.

Mechthild Dyckmans (FDP): Nachdem wir uns vor Weihnachten im Bundestag mit

dem Antrag meiner Fraktion „Rechte von Bahnkundenstärken“ befasst haben, geht es heute um den Gesetzent-wurf der Bundesregierung zur Anpassung eisenbahn-rechtlicher Vorschriften an die VO (EG) Nr. 1371/2007des Europäischen Parlaments und des Rates vom23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten derFahrgäste im Eisenbahnverkehr. Die Debatte im Dezem-ber, bei der einige Kolleginnen und Kollegen ja bereitsauf den heute zu diskutierenden Gesetzentwurf eingegan-gen sind, hat doch eines ganz deutlich gemacht: Richtigzufrieden mit dem Gesetzentwurf sind wir alle nicht. Wa-rum machen wir es dann nicht besser?

Einigkeit besteht fraktionsübergreifend, dass dieRechte von Bahnkunden gestärkt werden müssen. Es istdaher gut und richtig, dass endlich Regelungen zur Ent-schädigung von Bahnkunden bei Verspätungen und Aus-fall von Zügen gesetzlich festgeschrieben werden. Natür-lich ist eine Fahrpreiserstattung nicht der einzige Weg,dem Kunden zu seinem Recht zu verhelfen. Es ist aber einganz wesentlicher. Und natürlich ist es unser allerWunsch, dass Verspätungen vermieden werden und dieKunden möglichst immer pünktlich ihr Ziel erreichen.Die Realität – das wissen wir – sieht aber anders aus.Dann ist es schon entscheidend und für den Fahrgastdurchaus von großer Bedeutung, ob er erst bei einer Ver-spätung von 60 Minuten mit einer Entschädigung rech-nen kann oder ob das Eisenbahnunternehmen bereits beieiner Verspätung von 30 Minuten einen Teil des Fahrprei-ses zu erstatten hat. Auch der Bundesrat fordert aus-drücklich eine Regelung, die bereits ab 30 Minuten undnicht erst ab einer Stunde greift.

Nun höre ich immer das Argument, eine solche – vonder FDP geforderte – Regelung würde die Einheitlichkeitder Entschädigung bei grenzüberschreitendem und inner-staatlichem Verkehr verhindern. Im transnationalenSchienenverkehr sei schließlich die EU-VO zwingend an-zuwenden. Es sei doch niemandem zu vermitteln, warum

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21907

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Mechthild Dyckmans

ein Bahnkunde, der die Strecke Paris–Köln fährt, anderszu behandeln sei als derjenige, der von München nachHamburg unterwegs ist. Nun sieht aber Art. 17 Abs. 1 derEU-VO zwingend für den grenzüberschreitenden Verkehrlediglich Mindestentschädigungen bei Verspätungen vor.Wer hindert uns daran, weitergehende, also über die Min-destentschädigung hinausgehende Regelungen zu tref-fen? Andere Mitgliedstaaten haben bereits seit langemsolche über Art. 17 Abs. 1 der EU-VO hinausgehendenRegelungen und werden diese auch beibehalten. LassenSie uns also gemeinsam noch einmal darüber nachden-ken, ob wir hier nicht doch eine Lösung finden, die denberechtigten Interessen der Bahnkunden besser gerechtwird!

Wir sollten uns auch nicht von bisher nicht nachvoll-ziehbar behaupteten Mehrkosten der Eisenbahnunter-nehmen abschrecken lassen. Hier geht es nicht um„Wohltaten“ für die Verbraucher – so sieht das aber wohldie Bundesministerin der Justiz, wenn man die Stellung-nahme ihres Parlamentarischen Staatssekretärs imBundesrat liest –; hier geht es um effektiven Verbraucher-schutz. In dem vom Bundesverkehrsministerium in Auf-trag gegebenen Gutachten der Firma „Progtrans“ –Bundestagsdrucksache 16/1484 – wird eine Kostenschät-zung durchgeführt. Nach den dort geprüften Entschädi-gungsregelungen, die teilweise erheblich weiter gehen alsjetzt im Gesetzentwurf vorgesehen, würden die Kosten oh-nehin pro Fahrgast und Strecke nur maximal 80 Cent imSchienenpersonenfernverkehr und maximal 5 Cent imNahverkehr betragen.

Nachbesserungsbedarf gibt es darüber hinaus auchbei einzelnen Regelungen im Nahverkehr, die dem Kun-den bei Verspätung die Weiterfahrt durch Umsteigen aufandere Züge bzw. die Kostenerstattung eines Taxis er-möglichen sollen, wenn er den letzten Anschlusszug ver-passt hat. Hier muss wirklich durch unbürokratische Re-gelungen sichergestellt werden, dass der Kunde sein Zielschnell erreicht. Deshalb müssen wir noch darüber re-den, ob es ausreicht, dass der Fahrgast zwar einen höher-wertigen Zug benutzen darf, ihm dadurch aber zunächsteinmal weitere Kosten entstehen, die er dann wiederumgeltend machen muss. Das ist keine praxisnahe Lösung.Auch ist den besonderen Bedürfnissen des ländlichenRaumes Rechnung zu tragen. Da reicht zum Beispiel dieErstattung für eine Taxifahrt in Höhe von 50 Euro oftnicht aus, um endgültig an das gebuchte Ziel zu gelangen.

Lassen Sie uns in den Beratungen über den Gesetzent-wurf gemeinsam nach praktikablen Lösungen suchen undso ein wirklich verbraucherfreundliches Fahrgastrechtschaffen!

Dorothée Menzner (DIE LINKE): Wir behandeln heute ein Thema, das längst in Sack und

Tüten sein müsste: die Stärkung der Rechte von Fahrgäs-ten gegenüber Bus- und Bahnunternehmen für den Fall,dass diese nicht so fahren, wie sie sollen: pünktlich, zu-verlässig und schnell und vor allem zur geplanten Zeit amZielort ankommen.

Im Bereich der Fahrgastrechte wird der Bahnkunde zuoft allein gelassen oder bürokratisch abgefertigt. Ziel des

Gesetzes ist es, genau dies zu ändern. Die Beförderungs-bedingungen deutscher Bahnen stammen im Wesentli-chen aus den 30er-Jahren und sind von hoheitlichemStaatsgebaren und obrigkeitsstaatlichem Denken geprägt.Sie passen längst nicht mehr in unsere Zeit. Dass es an-ders und besser geht, machen uns unsere Nachbarländervor. In Dänemark gilt bereits seit 1934 ein umfassendesFahrgastrecht. Es ist schon verwunderlich, dass es ersteiner Initiative der EU bedurfte, dienstleistungsorientier-tes Kundendenken endlich auch im Schienenpersonen-verkehr durchzusetzen. Man sollte nicht verschweigen,dass viele Bahnunternehmen gestärkten Fahrgastrechtenimmer noch reserviert bis ablehnend gegenüberstehen.

Der Vorschlag des Bundesrates sieht vor, schon abVerspätungen von 30 bzw. 60 Minuten anteilig Reisekos-ten zu erstatten, eine Forderung, der sich auch die meis-ten Fahrgast- und Verbraucherverbände angeschlossenhaben. Doch die Bundesregierung meint, dass den Kun-den erst ab Verspätungen von 60 bis 120 Minuten der Rei-sepreis anteilig zu erstatten oder dem Fahrgast ein Rück-tritt von der Reise einzuräumen sei – ganz nach denWünschen der Bahn. Dass jedoch auch schon 30- oder60-minütige Verspätungen erhebliche Nachteile mit sichbringen können, muss ich hier nicht extra ausführen. Je-der, der aus einem solchen Grund schon einmal einen An-schluss, einen wichtigen Termin oder Flug verpasst hat,weiß das.

So kommt es mir schon befremdlich vor, wenn argu-mentiert wird, dass den Verkehrsunternehmen bei einerstrengen Verspätungsregelung Mehrkosten entstehen.Diese würden sicherlich in die Fahrpreiskalkulation ein-fließen. Nach den dänischen Erfahrungen machen dieMehrkosten nicht mehr als 1 Prozent aus, also sehr vielweniger als etwa die jüngste Fahrpreiserhöhung der DBAG. Und wenn die Bahnen, allen voran die DB AG, be-fürchten, dass die Erstattungskosten auf Dauer die Ren-dite eintrüben könnten, sollte man das einfach zum Anlassnehmen, die Ursachen für die Verspätungen abzustellen.

In den letzten Jahren mehren sich die Klagen darüber,dass Züge dem Fahrplan hinterherhinken, Anschlüssenicht funktionieren, ganze Züge ausfallen. Die Vernach-lässigung des Gleisunterhaltes und der Abbau von Aus-weichgleisen tragen mit zu den Verspätungen bei, wenn es– jeder Bahnkunde kennt das – zu „Unregelmäßigkeitenim Betriebsablauf“ kommt; Folgeerscheinungen derRenditeorientierung der DB AG für den geplanten Bör-sengang, der zum Glück derzeit gestoppt ist. Die Konse-quenzen dieser Bahnpolitik, bei der die Kundeninteressenimmer hinter den Renditen rangieren, hatten bisher im-mer nur die Reisenden zu tragen. Somit sind Erstattungs-entgelte an Reisende für den Fall von Verspätungen, Zug-ausfällen und verpassten Anschlüssen auch ein Anreiz fürdie Unternehmen, deren Ursachen zu analysieren und ab-zustellen. Wenn dem pünktlichen Betriebsablauf bei derBahn künftig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als der Si-cherung eventueller künftiger Aktienkurse, ist das sicher-lich im Interesse aller Schienenverkehrsbenutzerinnenund -benutzer im Land.

Wichtig ist – das wird in der vorliegenden Begründungzum Gesetzespaket angesprochen –, dass der Reisende

Zu Protokoll gegebene Reden

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21908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Dorothée Menzner

über seine Rechte auch ausführlich informiert wird. Fal-sche Auskunft muss ebenfalls, so sie denn Ursache fürversäumte Verbindungen und damit Verspätungen ist, einGrund sein, die Rechte des Reisenden auf Nachteils-ausgleich zu begründen.

Wichtig ist der Linken, dass für den Streitfall klare Re-gelungen dafür getroffen werden, wie der benachteiligteFahrgast auch nachträglich zu seinem Recht kommt,wenn vor Ort seine Probleme nicht gelöst werden können.Hier haben Schlichtungsstellen, wie sie vom VerkehrsclubDeutschland, VCD, in Nordrhein-Westfalen in vorbildli-cher Weise initiiert wurden, eine große Aufgabe. Die For-mulierung im vorliegenden Gesetzeswerk, dass Schlich-tungsstellen eingerichtet werden können, reicht mir dahernicht. Und vor allem: Schlichtungsstellen müssen unter-nehmensunabhängig und neutral sein. Dazu gehörenklare Regelungen, wie Schlichtungsstellen einzurichtensind, wie diese personell zu besetzen sind und wie ihre Ar-beit finanziert wird.

Natürlich wird die Schlichtungsstelle nicht jedenStreitfall zwischen Kunde und Unternehmen gütlich re-geln können. In solchen Fällen hat sich das Vorschalteneiner vorgerichtlichen Instanz wie Ombudsleuten in derVersicherungswirtschaft bewährt. Diese müssen juris-tisch gebildet und mit entsprechenden Befugnissen ausge-stattet sein, um Streitfälle vorgerichtlich klären zu kön-nen. Also auch hier bedarf es fixierter Regelungen. Dassollte uns verbesserter Verbraucherschutz wert sein.Auch Fachleute bestätigen die Richtigkeit eines solchenVorgehens. Transparenz und leichte Zugänglichkeit müs-sen gegeben sein. Es ist gesetzlich zu regeln, wie das zugewährleisten ist, etwa indem nach britischem Vorbildein Hinweis auf die Schlichtungsstelle auf jedem Fahr-schein abgedruckt ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf dieBundesratsinitiative hinweisen, ein Fernverkehrsgesetzzu schaffen. Es wäre sehr erfreulich gewesen, wenn einsolches auch ein Teil des Maßnahmepakets wäre, um dieRechte der Fahrgäste zu verbessern.

Die Richtung, die mit der Stärkung der Rechte desFahrgastes eingeschlagen werden soll, ist richtig, aberam Gesetzesbündel besteht noch großer Klärungsbedarfim Detail. Die Linke will öffentliche Personenverkehre,die sich an den Bedürfnissen der Nutzer ausrichten undnicht dem Zwecke der Gewinnmaximierung der Konzernedienen. In diesem Sinne werden wir in der folgenden Be-ratung weitere Vorschläge unterbreiten.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Endlich hat die Bundesregierung es geschafft, einen

eigenen Gesetzentwurf zu Fahrgastrechten im Plenumeinzubringen. Viel länger hätte sie sich auch nicht Zeit las-sen dürfen, sonst wäre die Bundesregierung von der am3. Dezember in Kraft tretenden Verordnung 1371/2007überholt worden. Viel mehr als die Verordnung bringt dasGesetz ja eh nicht.

Zweidreiviertel Jahre nach dem von unserer Fraktioneingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung derFahrgastrechte zieht die Bundesregierung nach. Der

Qualität ihres Gesetzentwurfes hat es aber nicht gehol-fen. Da braucht man sich nicht einmal unserer Kritik an-zuschließen. Es reicht, nachzulesen, was der Bundesrat inseiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesre-gierung geäußert hat.

Der Gesetzentwurf enthält lediglich Regelungen zumEisenbahnverkehr. Die Fahrgäste im restlichen ÖPNVbleiben weiterhin ohne Rechte. Mit der Regelung derFahrgastrechte im Allgemeinen Eisenbahngesetz und inder Eisenbahn-Verkehrsordnung hat die Bundesregie-rung den Weg verbaut, Fahrgastrechte im ÖPNV einheit-lich zu regeln. Besser wäre eine Verankerung im Bürger-lichen Gesetzbuch gewesen.

Die Einführung einer Bagatellgrenze hätte man sichsparen können. Die Regelungen zur Fahrradmitnahme imEisenbahnfernverkehr erlauben es der Deutschen BahnAG, auch weiterhin Fahrräder im ICE auszusperren. DieErstattungsansprüche entstehen erst ab Verspätungenvon einer Stunde. Außerdem gibt es eine Menge Ausnah-men und Unklarheiten. Im Zweifel trägt das Verkehrsun-ternehmen gar keine Schuld. Das Informationsdefizit beierheblichen Verspätungen wird nicht behoben. Die Rege-lungen zur Nutzung anderer Züge im Verspätungsfall sindnicht praxisgerecht.

Bizarr ist die ausdrückliche, aber abstrakte Erlaubnisdes Gesetzgebers für Fahrgäste, sich an eine Schlich-tungsstelle wenden zu dürfen. Da die Schlichtungsstellevom Gesetzgeber nicht konkret ausgestaltet wird, ist derSinn und Zweck dieser Vorschrift nicht erkennbar. Es fehlteine bundeseinheitliche Schlichtungsstelle.

Für die Masse der regelmäßigen Kunden, die mit Zeit-fahrausweisen unterwegs sind, sind keine klaren und ein-fachen Ansprüche vorgesehen.

Es bleibt festzuhalten: Der Gesetzentwurf kommt zuspät und gewährt nicht die erhoffte Verbesserung derRechtsposition von Fahrgastrechten. Dem Ziel, Fahr-gäste sicher und pünktlich zu befördern und im Falle vonLeistungsstörungen rechtsstaatlich und angemessen zuentschädigen, wird der Gesetzentwurf nicht gerecht. Dieerheblichen Verzögerungen des Verkehrs- und Justizmi-nisteriums haben sich für Verbraucherinnen und Ver-braucher nicht ausgezahlt. Das Verbraucherministeriumist völlig eingeknickt und hat die vollmundigen Verspre-chen – 20 Prozent Erstattung bei 30 Minuten Verspätung –wieder nicht gehalten. Statt überfällige Rechte zu erhal-ten, werden Fahrgastrechte mit Minimalzugeständnissenabgespeist.

Es bleibt zu hoffen, dass das Struck’sche Gesetz auchfür diesen Gesetzentwurf gilt.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin der Justiz:

Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung eisen-bahnrechtlicher Vorschriften an die EG-Verordnung überdie Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnver-kehr wird ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung derRechte der Bahnkunden geleistet. Denn mit dem Gesetzsollen die Regelungen der EG-Verordnung, die unterdeutscher Ratspräsidentschaft zustande gekommen ist,

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21909

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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

noch vor ihrem Inkrafttreten im Dezember 2009 inDeutschland angewendet werden. Außerdem sollen fürFahrgäste im Schienenpersonennahverkehr Sonderre-geln erlassen werden, soweit die EG-Verordnung keinepassenden Lösungen bereithält.

Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf für Fahrgäste imSchienenverkehr insbesondere folgende Verbesserungenvor: Der Fahrgast erhält bei Zugverspätungen einen ge-setzlichen Anspruch auf eine sogenannte Fahrpreis-entschädigung, und zwar bei einer Verspätung ab60 Minuten 25 Prozent des Fahrpreises und bei einerVerspätung ab 120 Minuten 50 Prozent des Fahrpreises.Vor allem in dem Fall, dass wegen einer Verspätung derursprünglich vorgesehene Anschlusszug verpasst wird,führt dies zu einer spürbaren Verbesserung der geltendenRechtslage.

Bei Fahrten im Nahverkehr, bei denen eine Fahrpreis-entschädigung wegen der vergleichsweise niedrigenFahrpreise für den Fahrgast ohnehin nicht sehr attraktivist, erhält der Fahrgast außerdem das Recht, ab einerVerspätung von 20 Minuten mit einem anderen Zug, unterUmständen auch mit einem Fernverkehrszug, zu fahren.Bei einer Verspätung zur Nachtzeit oder einem Ausfalldes letzten Zuges wird dem Fahrgast sogar das Recht ein-geräumt, unter bestimmten Voraussetzungen ein Taxi zuverwenden und den Ersatz der notwendigen Fahrtkostenbis zu einem Betrag von 50 Euro zu verlangen.

Im Falle der Tötung oder Verletzung eines Fahrgastswird das Eisenbahnunternehmen verpflichtet, einen Vor-schuss zu zahlen.

Zur Verbesserung der Rechte von Behinderten werdenaußerdem alle Eisenbahnunternehmen verpflichtet, ge-meinsam mit Behindertenverbänden Zugangsregelungenzu erstellen, also Regelungen darüber, wie etwa derBahnsteig oder der Zug auch mit einem Rollstuhl erreichtwerden kann.

Geregelt wird weiter, wie die Eisenbahnunternehmenihre Kunden vor Vertragsschluss und bei der Beförderungzu informieren haben. Hierzu zählen etwa Informationendarüber, welches die kürzeste und preisgünstigste Zug-verbindung ist, welche Rechte der Fahrgast hat und obder Zug Verspätung hat.

Die Einhaltung der Regelungen soll durch die Eisen-bahnaufsichtsbehörden überwacht werden. Diese sollenauch für die Bearbeitung von Beschwerden zuständigsein, die Fahrgäste einreichen wollen, wenn sie von ei-nem Eisenbahnunternehmen nicht zufriedenstellend be-handelt worden sind.

Zusätzlich bleibt die Möglichkeit bestehen, dass sichdie Fahrgäste zur Beilegung von Streitigkeiten auch aneine geeignete Schlichtungsstelle wenden. Dies wird aus-drücklich gesetzlich festgeschrieben.

Ich freue mich, dass auch der Bundesrat die mit demGesetzentwurf vorgesehene Verbesserung der Fahrgast-rechte begrüßt hat. Umso mehr bedauere ich, dass derBundesrat die Auffassung vertritt, der Gesetzentwurf be-rücksichtige die Belange der Fahrgäste noch nicht hinrei-chend. Ich teile diese Auffassung nicht. Vielmehr bin ich

der festen Überzeugung, dass mit dem Gesetzentwurf einefaire Balance zwischen der finanziellen Belastbarkeit undder Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahn-verkehrsunternehmen und den schutzwürdigen Interessender Fahrgäste erzielt wird. Eine Ausweitung der Fahr-gastrechte, die letztlich zu Fahrpreiserhöhungen oder er-höhtem Subventionsbedarf führt oder die Verkehrsunter-nehmen veranlasst, bestimmte Leistungen gar nicht mehranzubieten, sollte vermieden werden. Solche Regelungenwären letztlich auch nicht im Interesse der Verbraucher.

Wir sollten jetzt alles daransetzen, schnellstmöglichdie Rechte der Fahrgäste im Schienenverkehr zu verbes-sern. Dem dient der vorliegende Entwurf. Er sorgt dafür,dass der Fahrgast besser geschützt wird und für erlitteneUnbill eine angemessene Entschädigung erhält. Damitträgt er dazu bei, dass Bahnfahren attraktiver wird. Undgenau das wollen wir mit dem von uns vorgelegten Ge-setzentwurf erreichen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11607 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPDund der FDP wünschen Federführung beim Rechtsaus-schuss, die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen wünschen Federführung beim Ausschuss fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab-stimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ver-kehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt,und zwar mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linkeund Bündnis 90/Die Grünen.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP ab-stimmen, also Federführung beim Rechtsausschuss. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Dieser Vorschlag ist mitumgekehrtem Stimmenverhältnis angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, PetraPau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE

V-Leute in der NPD abschalten

– Drucksachen 16/9007, 16/11731 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ingo Wellenreuther Dr. Michael Bürsch Gabriele FograscherChristian Ahrendt Ulla Jelpke Wolfgang Wieland

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-tem Redner dem Kollegen Ingo Wellenreuther von derCDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Die NPD ist eine antisemitische, extre-mistische und rassistische Partei mit 7 000 Mitgliedern,die die freiheitlich-demokratische Grundordnung ab-lehnt, die parlamentarische Demokratie beseitigenmöchte und darauf aus ist, die BRD „abzuwickeln“. Da-rüber besteht – auf Grundlage dessen, was wir geradedurch die V-Leute über die NPD wissen – unter den de-mokratischen Parteien Einigkeit. Eine solche Partei, dieden Nazijargon verwendet, die die Nazidiktatur verehrt,die also den Ursprung des größten Verbrechens der Men-schengeschichte verherrlicht und deren Mitglieder Hitlerals großen Staatsmann preisen und den Holocaust leug-nen, muss von allen demokratischen Kräften geächtetwerden, und über ihre perfide Hetze muss die Bevölke-rung, gerade die junge Generation, aufgeklärt werden,um die NPD zu schwächen und zurückzudrängen.

Die heutige Debatte hat einen Antrag zum Gegen-stand, der auf die Abschaltung der V-Leute in der NPDabzielt. Dieser Antrag kann nicht isoliert behandelt wer-den. In Wahrheit geht es nämlich um die Frage, ob einerneutes Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfas-sungsgericht mit dem Ziel, die NPD als Partei verbietenzu lassen, Aussicht auf Erfolg hätte. Wir müssen unsdeshalb fragen: Ist ein Verbot der NPD unter den tatsäch-lichen und rechtlichen Gegebenheiten überhaupt mög-lich, und – wenn ja – ist dies auch sinnvoll, oder ist derPreis dafür zu hoch? Dazu ist es nötig, zunächst die Ent-stehungsgeschichte des Parteienverbots im Grundgesetzkurz zu beleuchten.

Das Ziel der Väter des Grundgesetzes war es, einefreiheitlich-demokratische Grundordnung auf Dauer zuetablieren. Dies setzt einen ungehinderten Wettbewerbvon politischen Ideen und Meinungen voraus. Die Par-teien sollen Einfluss auf die politische Willensbildungdes Volkes nehmen und die Vertretung des Volkes in denParlamenten zum Ziel haben. Das Verbot einer Parteistellt deshalb einen schwerwiegenden Eingriff in die Of-fenheit und in die Freiheit des politischen Prozesses dar.Dennoch entschied sich der Verfassungsgeber für dieMöglichkeit eines Parteiverbots im Grundgesetz auf-grund der im letzten Jahrhundert gemachten Erfahrun-gen.

Die Berechtigung eines Parteiverbots ergibt sich da-raus, dass eine auf Dauer angelegte freiheitliche Grund-ordnung nicht die Freiheit gewährleisten darf, die Voraus-setzungen der Freiheit zu beseitigen. Die Parteienfreiheitsoll also nicht dazu missbraucht werden können, dieFreiheit anderer zu zerstören. Schlagwortartig kann mansagen: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit.

Entsprechend der hohen Bedeutung, die das Grundge-setz der Freiheit des politischen Prozesses beimisst, sindallerdings die Maßstäbe, die Art. 21 Abs. 2 des Grund-gesetzes an ein Parteiverbot anlegt, sehr streng. Das Ent-scheidungsmonopol darüber obliegt dem Bundesverfas-sungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht darf einVerbot nur dann aussprechen, wenn eine Partei nach ih-ren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger daraufausgerichtet ist, die freiheitlich-demokratische Grund-ordnung zu beeinträchtigen oder den Bestand der BRDzu gefährden.

Die Partei muss entweder planvoll die Grundfestenunserer Demokratie wie die Achtung der Menschen-rechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung oderdas Mehrparteienprinzip beeinträchtigen mit dem Ziel,im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst zu beseitigen,oder sie muss die territoriale Integrität, die politischeUnabhängigkeit unseres Staates gefährden. Es muss au-ßerdem eine aktive kämpferische, aggressive Haltunghinzukommen, und zwar zum Zeitpunkt der Entschei-dung und nicht nur zum Zeitpunkt der Antragstellung.Im Übrigen muss das Verhalten der Parteianhänger derPartei zugerechnet werden können.

Das sind äußerst hohe Hürden, die angesichts unsererGeschichte und der Bedeutung eines freien politischenProzesses gerechtfertigt sind. Um mit einem Verbotsan-trag vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg zu haben,muss man das Vorliegen der genannten Tatbestands-merkmale zweifelsfrei nachweisen können.

Die erste Schwierigkeit dabei besteht darin, nachzu-weisen, dass die NPD die Ordnung des Grundgesetzesnicht nur theoretisch, sondern aktiv-kämpferisch ablehntund dass sie dabei mit der Androhung von Gewalt vor-geht. Entgegen der Auffassung der Antragsteller genügtes aber nicht, lediglich offenes Material vorzulegen, alsoErklärungen der NPD in ihrem Parteiprogramm, in ihrerParteizeitung, in gedrucktem Schulungsmaterial oder inöffentlichen Äußerungen ihrer Spitzenfunktionäre. Denndie NPD würde sich während eines erneuten Verbotsver-fahrens wieder als brave, friedliche und demokratischeOpposition in der Öffentlichkeit gerieren. Gerade des-halb benötigt man Informationen aus der Partei selbst.Um an diese Informationen aus dem Innern der Partei zugelangen, bedarf es des Einsatzes der V-Leute.

Genau hierin liegt das Dilemma. Denn nach den vomBVG aufgestellten Prozessvoraussetzungen dürfen dieInformanten in der Partei selbst nicht unmittelbar vorund während des Verbotsverfahrens auf der Leitungs-ebene Informationen sammeln. Auch auf Quellen außer-halb des Vorstandes, die Einfluss auf die Willensbildungund die Selbstdarstellung der Partei haben, darf die An-tragsbegründung nicht gestützt werden. Die Verfas-sungswidrigkeit muss aber zum Zeitpunkt der Entschei-dung gegeben sein, nicht zum Zeitpunkt des Antrages.Ich habe gerade schon darauf hingewiesen.

Insoweit besteht allein deshalb ein kaum lösbarerTeufelskreis. Soll nämlich ein Verbotsantrag gestelltwerden, müssen die Informanten abgezogen werden.Soll der Antrag Erfolg haben, müssen aber auch Infor-mationen aus der Partei selbst verfügbar sein.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21911

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Ingo Wellenreuther

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sie haben denBeitrag von Hans Peter Bull gelesen? – SevimDağdelen [DIE LINKE]: Abgeschrieben hater!)

– Ich habe ihn gelesen und sogar verstanden.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das kommt uns allen sehr bekannt vor!)

– Teilweise. Da haben Sie recht, Herr Bürsch.

Ein zweites Problem besteht in der Pflicht zur Offen-legung der Quellen im Verbotsverfahren. Hieraus erge-ben sich enorme Schwierigkeiten aufgrund des Quellen-schutzes. Denn es ist problematisch, geheime Quellen indie öffentlichen Verhandlungen einzubeziehen und derGegenseite bekannt zu geben. Die Enttarnung von gehei-men Quellen brächte erhebliche Gefahren für Leib undLeben der Informanten mit sich.

Drittens ergeben sich Schwierigkeiten auch mit Blickauf die materielle Rechtslage. Es ist also durchaus wahr-scheinlich, dass die Messlatte für die Anforderungen ei-nes Parteiverbotes in unserer stabileren Demokratie inder heutigen Zeit deutlich höher gelegt würde als beidem Verbot der Sozialistischen Reichspartei 1952 oderdem Verbot der KPD 1956.

In Anbetracht dieser Umstände liegt ein Scheitern ei-nes erneuten NPD-Verbotsantrages auf der Hand. Es istäußerst zweifelhaft, ob ausreichend verwertbare Be-weise zusammengetragen werden könnten. Ich bin derfesten Auffassung, dass wir dieses Risiko nicht eingehenkönnen. Der Schaden, der im Falle eines Scheiterns fürunsere Demokratie entstehen könnte, wöge erheblichschwerer, als wenn unsere Demokratie die NPD, beob-achtet vor allem durch V-Leute, ertragen muss.

Jedenfalls wären wir von allen guten Geistern verlas-sen, wenn wir eine kostenlose Werbekampagne zuguns-ten der NPD starteten. Genau auf diesen Effekt hatte derVorsitzende der NPD in der Welt vom 12. Februar 2005hingewiesen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Wellenreuther, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Bürsch?

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Ich bin gleich fertig. Wir können das vielleicht im

Anschluss klären.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Vielleicht können Sie das in Ihre letzten Worte einflechten?)

– Ja.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Was Sie hier vortragen, kann entweder Ihre eigene

Meinung oder die Gesamtmeinung der Fraktion sein.Frage also: Ist das, was Sie hier wiedergeben, die Mei-nung der CDU und auch der CSU unter ihrem neuenVorsitzenden?

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Sie können davon ausgehen, dass meine Meinung in

aller Regel auch die Meinung der Fraktion ist bzw. um-gekehrt.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Dann werden wir das Herrn Seehofer so mitteilen!)

In diesem speziellen Fall ist das die gesamte Meinungder CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wahrscheinlich auch Koalitionsmeinung!)

Unabhängig von der rechtlichen Bewertung bestehenzudem erhebliche Zweifel, ob ein erfolgreiches Verbots-verfahren sinnvoll wäre; denn ein Parteiverbot führt zueinem Organisations-, nicht aber zu einem Gedankenver-bot. Mit dem Verfahren kann man also zwar die Parteiverbieten, nicht aber die verfassungsfeindliche und ex-tremistische Geisteshaltung ihrer Parteianhänger.

Deshalb sollte unser Hauptaugenmerk darauf liegen,in der politischen Bildung über die Geschichte Deutsch-lands und in der Aufklärung über die Gefahren des Ex-tremismus nicht nachzulassen. Allerdings sollten wirden Vorschlag des niedersächsischen InnenministersSchünemann ernsthaft weiterverfolgen, festzustellen, obauch ohne ein Parteiverbotsverfahren rechtliche Mög-lichkeiten bestehen, der NPD den staatlichen Geldhahnzuzudrehen.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wollen Sie das Grundgesetz ändern?)

Es ist nämlich in der Tat eine schwer zu ertragende Tat-sache, dass die Verbreitung rechtsextremistischen Ge-dankenguts mit Staatsgeldern in Höhe von jährlich rund1,5 Millionen Euro finanziert wird. Auch wenn dieserAnsatz – ich komme damit auf das zurück, was Sie ge-rade eingeworfen haben – schwierige rechtliche Fragenaufwirft, sollten wir ihn trotzdem intensiv prüfen, um dieNPD möglicherweise auf diese Art trockenlegen zu kön-nen.

Wenn aber ein Verbotsverfahren keine Aussicht aufErfolg hat, dann gibt es keinen Grund, die V-Leute ausder NPD abzuziehen. Der Einsatz von V-Leuten hatnämlich einen großen Vorteil. Er liefert wichtige Er-kenntnisse, die über die offen beschaffbaren Informatio-nen hinausgehen – gerade auch über das gewaltbereiteSpektrum der neonazistischen Szene, die mit der NPDeng verflochten ist. Ein Abziehen der V-Leute würde da-her zu inakzeptablen Sicherheitslücken führen. Deshalblehnen wir den Antrag der Fraktion der Linken ab.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

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21912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Christian Ahrendt (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich will es vorweg sagen: Wir werden den Antragder Linken ablehnen. Drei Gründe sprechen dafür, die-sem Antrag nicht zu folgen. Ich will sie kurz erläutern:

Erster Grund. Wir haben nach wie vor eine gewaltbe-reite Neonaziszene. Die Neonaziszene ist mit der NPDvernetzt. Vor diesem Hintergrund brauchen wir die Auf-klärung durch V-Leute aus der Szene heraus. Wer sich anden Versuch eines Attentats auf das Gemeindezentrum inMünchen 2003 erinnern kann, wird wissen, dass dieserAttentatsversuch in erster Linie unter Mitwirkung vonV-Leuten verhindert werden konnte. Angesichts dessenkönnen wir nicht über Jahre darauf verzichten, V-Leuteim rechtsradikalen Bereich zu haben.

Damit bin ich beim zweiten Punkt. Wer jetzt glaubt,dass der Abzug von V-Leuten dazu führt, automatischein neues NPD-Verfahren durchzuführen, muss sich be-wusst machen, dass das Material, das jetzt gesammeltworden ist, nach wie vor nicht brauchbar ist. Es mussneues Material gesammelt werden – und dies über Jahre.Das heißt, es ergäbe sich ein großer Zeitraum, in demdiese verfassungsfeindliche Organisation weitestgehendunbeobachtet bliebe.

In diesem Zusammenhang wird man sich zum ande-ren klarmachen müssen, dass sich die NPD anpassenwird – diese Taktik ist nach dem gescheiterten Verbots-verfahren deutlich geworden –, um einem drohendenneuen Verbotsverfahren zu entgehen. Auch insofern istklar, dass ein Abschalten der V-Leute nicht zwingend zueinem erfolgreichen Verbotsverfahren führt. Eine er-neute Bauchlandung bei diesem Thema in Karlsruhekann man sich schlichtweg nicht leisten.

(Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Damit komme ich zum dritten und entscheidendenPunkt, der in der Diskussion immer vergessen wird: Werglaubt, ein Verbot der NPD führe dazu, dass man auchdie Gesinnung, die dahintersteht, verbieten könne, derirrt.

(Beifall bei der FDP – Dr. Michael Bürsch[SPD]: Das stimmt! Das glaubt auch keiner! –Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Soschlicht gestrickt sind wir nicht!)

Nach dem Attentat auf den Passauer Polizeichef, HerrnMannichl, haben alle geschrien: Wir brauchen ein NPD-Verbot. – Das erweckt den Eindruck, dass es zu diesemAttentat nicht gekommen wäre, wenn man die NPD ver-boten hätte. Völliger Blödsinn! Tatsache ist – und das istdas Entscheidende –, dass Sie die Gesinnung bekämpfenmüssen. Dazu ist die Politik aufgefordert. Dafür brau-chen Sie andere Instrumente, beispielsweise das Pro-gramm „Exit“. Die FDP-Fraktion hat in den letzten Wo-chen gezeigt, dass sie sich dieser Aufgabe intensivannimmt und nicht ständig mit denselben Sachen kommt.

(Beifall bei der FDP)

Es gibt im Übrigen keine einheitliche politische Wil-lensbildung. Mit dem Antrag laufen Sie ins Leere. Sie

wissen, dass Sie die Mitwirkung der Innenminister brau-chen. Solange die Innenminister der Länder nicht bereitsind, ihre V-Leute aus der NPD abzuziehen, wird sich ander Situation nichts ändern. Insofern ist dies nicht dasrichtige Haus für Ihren Antrag. Wir bleiben bei unsererAblehnung.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch von der

SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die wertvollste Ressource, über die wir verfügen, ist dieZeit. Deshalb fasse ich mich ganz kurz, halte keinen Se-minarvortrag über die Voraussetzungen für ein NPD-Verbot und nenne keine drei Gründe, die dafür oder da-gegen sprechen, sondern bleibe sehr pragmatisch.

Es gibt einen schlichten Grund, den Antrag der Lin-ken abzulehnen: Mit ihm wird das Pferd von hinten auf-gezäumt. Wenn ich einen Vergleich aus dem Fußball ver-wenden darf: Das ist so, als ob Sie entscheiden würden,wen Sie auf den Platz schicken oder vom Platz nehmen,obwohl Sie noch gar nicht entschieden haben, ob Sieüberhaupt spielen wollen. Es geht erst einmal darum,festzustellen, ob die Bereitschaft besteht, erneut einenNPD-Verbotsantrag zu stellen, und ob die Voraussetzun-gen dafür erfüllt sind. Der Innenminister des Bundes unddie Innenminister der Länder müssen sich darüber klarwerden, ob die Fallsammlung, die zusammengestelltworden ist, genügend Anhaltspunkte bietet, um einenAntrag zu stellen. Nachdem man die Fakten und Fälle,die gesammelt worden sind, bewertet hat – dazu fordereich die Innenminister an dieser Stelle auf – und entschie-den hat: „Jawohl, wir wollen einen Antrag stellen“, kannman sich mit den Fragen beschäftigen, ob das mit oderohne V-Leute geht und welche Voraussetzungen erfülltwerden müssen. Diese Forderung jetzt zu stellen, ist– Entschuldigung – blanker Aktionismus, der eine klarepolitische Linie vermissen lässt. Insofern lehnen wir denAntrag ab.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (fraktionslos): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! An

meinen Vorredner richte ich die Worte: Ihr eigener ehe-maliger Vorsitzender hat sich dafür ausgesprochen, dieNPD zu verbieten. So widersprüchlich sind die Aussa-gen der Sozialdemokraten zu dieser Sache.

(Beifall bei der LINKEN)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21913

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Gert Winkelmeier

Im September 2000 waren sich alle im Bundestagvertretenen Parteien einig: Die Zunahme rechtsextremis-tischer Gewalt muss politische Konsequenzen haben.Was dann folgte, ist bekannt: Sehr schnell, viel zuschnell, mündete die Debatte in die Forderung, die NPDzu verbieten.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die FDP war dagegen! Ehrlicher-weise!)

Das Ende des Verfahrens beim Bundesverfassungsge-richt war verheerend für die deutsche Politik. Die Öf-fentlichkeit hatte den Eindruck, dass die NPD von staat-lich finanzierten V-Leuten geführt wird.

Wir sind uns einig, dass ein NPD-Verbot das rechts-extreme und fremdenfeindliche Gedankengut nicht ausden Köpfen treiben wird. Aber es wird schwerer, diemenschenverachtenden Theorien in der Bevölkerung zuverbreiten. Seit dem ersten Verbotsverfahren wissen wir:Die V-Leute in den Führungsgremien der NPD müssenabgeschaltet werden, weil sonst Beweise für ein Verbotjuristisch keinen Bestand haben werden. Hier halte iches mit August Bebel, der sagte: Schaut den Politikernnicht so sehr aufs Maul, schaut ihnen auf die Hände.

Mit anderen Worten: Was wird konkret für die Einlei-tung eines Verbotsverfahrens getan? Kollege Edathy kri-tisiert den Antrag der Linken, in dem die Abschaltungder V-Leute gefordert wird, als polemisch und undiffe-renziert. Wo aber ist der unpolemische und differenzierteAntrag der Koalition? Er existiert nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Seehofer stellt in Aussicht, dass der bayerischeVerfassungsschutz die V-Leute aus der NPD abzieht,aber sein Innenminister macht genau das Gegenteil. Ent-scheidend ist, was der Bundesinnenminister und seineLänderkollegen wirklich tun. Das ist zu wenig und legtden Schluss nahe, dass die NPD geduldet werden soll. InErinnerung an die Große Anfrage der Linksfraktion ausdem Frühjahr 2007 muss man sich ohnehin fragen, wel-che Informationen geliefert werden. Zitat:

Hierzu liegen der Bundesregierung keine Erkennt-nisse vor.

Wenn die Antwort stimmt, dann leisten die V-Leuteüberflüssige Arbeit. Man könnte sie also getrost abschal-ten und ein neues Verfahren gegen die verfassungswid-rige NPD anstrengen.

Wen schützt eigentlich der Verfassungsschutz? DieVerfassung? Die Inkompetenz der Bundesregierung?Oder gar die NPD vor einem Verbot? Es ist eine uner-trägliche Vorstellung, dass wesentliche Mitglieder derNPD-Führungsspitze mit Steuergeldern bezahlt werden.Es ist schon ärgerlich genug, dass man dieser Partei, dierassistisches Gedankengut vertritt, Wahlkampfkosten er-statten muss. Ihr aber noch freiwillig Zahlungen zu ge-ben, widerspricht dem Geist unserer Verfassung.

Selbstverständlich brauchen wir mehr als ein Partei-verbot, um Rechtsextremismus, Menschenverachtungund Rassismus in unserer Gesellschaft Einhalt zu gebie-

ten. Aber wir sollten diesen rechten Gesinnungstäternnicht auch noch das Geld hinterherwerfen. Deshalb: Zie-hen Sie endlich die V-Leute aus den Führungsgremiender NPD! Investieren Sie das Geld in sinnvolle Dinge,zum Beispiel in die politische Prävention,

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Programme gibt es doch!)

die Jugendliche gegenüber faschistischem Gedankengutimmuner macht.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat

wollen wir die V-Leute abschalten, um den Weg für einVerbotsverfahren möglich zu machen. Das ist völligrichtig. Herr Ahrendt, niemand in der Linkspartei glaubt,dass man damit in den Köpfen Veränderungen auslösenkann. Wir glauben, dass man so einer Partei, die keineMeinung vertritt, sondern die in ihren Gewalttaten undin dem, was sie propagiert, verbrecherisch ist, die Basisentziehen muss. Sie ist in Parlamenten, bekommt Partei-enfinanzierung – im Jahr etwa 2 Millionen Euro – undhat vor allen Dingen auch durch ihre Präsenz nicht nur inden Landtagen, sondern auch auf Bezirksebene eineenorme Akzeptanz gewonnen. Die Entziehung der Basisist unser Ziel.

Dass man mit Aufklärungsarbeit in den Köpfen Ver-änderungen herbeiführen muss, ist das Einmaleins derÜberzeugungsarbeit. Jetzt haben Herr Wellenreuther undauch Herr Ahrendt das Argument – wir hören das auchimmer wieder von den Innenministern, von Unionspoli-tikern und vor allen Dingen von Herrn Schäuble – ge-nannt, dass die Erkenntnisse, die V-Leute innerhalb derrechtsextremistischen Szene gewinnen, von hoher Be-deutung und Wichtigkeit sind. Nun dürften gerade dieMitglieder des Innenausschusses wissen, dass wir schonunzählige Male danach gefragt haben, wo denn dieV-Leute tatsächlich für Aufklärung sorgen. Wo wurdenbeispielsweise Straftaten oder Anschläge durch V-Leuteverhindert? Ich finde es höchst interessant, dass ich michhier diesmal – dies sage ich insbesondere an die bayeri-schen Kollegen – gemeinsam mit Herrn Seehofer auf ei-ner Ebene befinde.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: So weit ist dasschon gekommen! – Zuruf von der CDU/CSU:Der arme Mann! – Heiterkeit bei Abgeordne-ten der CDU/CSU und der SPD)

Er hat beim Bayerischen Landesamt für Verfassungs-schutz genau nachgefragt. Als Antwort wurde ihm ge-sagt, dass man ihm darüber keinerlei Informationen ge-ben könne.

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21914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Ulla Jelpke

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Du bist dir mitSeehofer einig? Du gehst einen ganz gefährli-chen Weg, Ulla!)

Um ein NPD-Verbotsverfahren zu ermöglichen, hat ersich dafür ausgesprochen, die V-Leute aus der NPD ab-zuziehen. Unabhängig davon, was seine Begründungwar, bin ich in der Tat der Meinung, dass er das richtigerkannt hat.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sein Innenminis-ter will es aber nicht!)

Sogar das Bundesverfassungsgericht hat schon einmalfestgestellt – darauf wurde bereits hingewiesen, und andieser Stelle widerspreche ich Ihrer Analyse, HerrWellenreuther –: Wir wissen nicht mehr, wer die Geführ-ten und wer die Verführten sind.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Einzelne Richter haben damals sogar gesagt, man müssesich die Frage stellen: Wen soll man eigentlich zuerstverbieten, den Verfassungsschutz oder die NPD?

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowiedes Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] –Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wie bitte? Das hatdas Bundesverfassungsgericht so aber nichtgesagt! Wo steht das denn in den Urteilendrin? Das ist doch Unfug! – Zuruf von derCDU/CSU: Das ist doch wirklich nicht wahr!)

Das Bundesverfassungsgericht hat aufgedeckt,

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das war abernicht das Verfassungsgericht von Deutsch-land!)

dass manche Hetzschriften der NPD, beispielsweise ihrAntisemitismusprogramm – ich kann Ihnen gerne einmalvorlegen, was uns damals gesagt worden ist –,

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das wäre wirklich gut!)

von einem V-Mann geschrieben wurden. Genau deswe-gen hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, zumin-dest die V-Leute in den führenden Gremien abzuschal-ten.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das haben ledig-lich drei Richter des Bundesverfassungsge-richts gesagt, nicht das gesamte Bundesverfas-sungsgericht!)

Das ist nämlich die Voraussetzung, um ein Verbotsver-fahren durchführen zu können.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

So viel zum Material.

All die Dokumente, die wir einsehen können – daskann man ruhig sagen –, kann man sich aus dem Internetherunterladen.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: So ist es!)

Die Innenminister haben sich keine besonders großeMühe gegeben. In einem Punkt sind sich aber alle einig:Wenn man – unabhängig davon, ob man dafür oder dage-gen ist – ein NPD-Verbotsverfahren durchführen will,dann muss man die V-Leute abschalten. Man braucht so-wieso zwei Jahre, um sicherzustellen, dass kein verseuch-tes Material vorliegt – das meine ich wortwörtlich –, so-dass man ein Verbotsverfahren durchführen kann.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was istdas denn, bitte schön, für eine Sprache? Sie re-den gerade von „verseuchtem Material“! Dasist ja ein unmenschlicher Ausdruck! Und dieV-Leute wollen Sie auch noch „abschalten“!)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bis heute ist die Anwe-senheit von V-Leuten in der NPD das größte Hindernisfür ein Verbotsverfahren. Wenn die Tatsache, dass derStaat V-Leute in der NPD bezahlt, als Legitimation her-angezogen wird, um ein NPD-Verbotsverfahren zu ver-hindern, ist das ein großes Armutszeugnis.

Zur SPD. Herr Edathy ist heute nicht da.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Jelpke.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ich komme gleich zum Schluss.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt hier „gleich“? Sofort!)

Da er unseren Antrag der Presse gegenüber als pole-misch und undifferenziert bezeichnet hat, frage ich Sie:Welche Initiativen haben Sie denn ergriffen?

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Programme gegen rechts! Das sind unsere Initiativen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Jelpke, bitte kommen Sie zum Schluss.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Bei jeder Gelegenheit fordern Sie in der Öffentlich-

keit das NPD-Verbot. Das ist völlig unglaubwürdig. Ichfordere Sie im Namen der 175 000 Menschen, von denenbereits die Rede war – auch das ist nämlich eine Basis,die das NPD-Verbotsverfahren befürwortet –, und ange-sichts der Ergebnisse der Bevölkerungsumfragen auf:Schalten Sie die V-Leute in der NPD endlich ab! Dannkönnen wir diese Diskussion vernünftig fortsetzen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Rede der Kollegin Monika Lazar von Bündnis 90/

Die Grünen nehmen wir zu Protokoll.1)

Ich schließe die Aussprache.

1) Anlage 6

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21915

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „V-Leute in der NPDabschalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/11731, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9007 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke und Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grü-nen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatz-punkt 5 auf:

18 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG)

– Drucksache 16/11642 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Finanzausschuss

ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einführung er-stinstanzlicher Zuständigkeiten des Oberlan-desgerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten

– Drucksache 16/9020 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieKolleginnen und Kollegen Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion, Klaus UweBenneter, SPD, Mechthild Dyckmans, FDP, WolfgangNešković, Die Linke, Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen, und den Parlamentarischen StaatssekretärAlfred Hartenbach für die Bundesregierung.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe, die im engen

Zusammenhang zu sehen sind. Lassen Sie mich zunächstauf den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfeines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechtericht-linie, ARUG, eingehen.

Mit der Umsetzung der „Richtlinie 2007/36/EG über dieAusübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsen-notierten Gesellschaften“ wird die grenzüberschreitendeInformation und Stimmrechtsausübung der Aktionäreerleichtert. Weitere Ziele des Gesetzentwurfs sind dieErhöhung der Hauptversammlungspräsenzen und eineNeuordnung der Einberufung. Außerdem sind eineErleichterung der Stimmrechtsvertretung durch dieBanken vorgesehen sowie die Konkretisierung und Be-schleunigung des Freigabeverfahrens, um sogenannten„räuberischen Aktionären“ das Handwerk zu legen. Indiesem Zusammenhang werde ich später auch auf denGesetzentwurf des Bundesrates zur Einführung erst-instanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandesgerichts inaktienrechtlichen Streitigkeiten zu sprechen kommen.

Doch zunächst zum ARUG: Der Entwurf soll das deut-sche Aktienrecht insgesamt weiter modernisieren undderegulieren. Diese Zielsetzung begrüße ich ganz aus-drücklich, denn gerade mit Blick auf die weltweite Kriseder Finanzmärkte stärkt ein modernes und gut praktika-bles Aktienrecht den Finanzplatz Deutschland und ist einwichtiger Standortfaktor für die deutsche Wirtschaft.

Zu den Regelungen im Einzelnen. Ein wichtiger Punktsind die geplanten Maßnahmen gegen missbräuchlicheAktionärsklagen. Der Frankfurter RechtswissenschaftlerTheodor Baums geht von derzeit circa 40 sogenanntenBerufsklägern in Deutschland aus, die sich den Umstandzunutze machen, dass die Eintragung eines Hauptver-sammlungsbeschlusses in der Regel ausgesetzt wird,wenn er mit einer Klage angefochten wird. Klagebefugtist jeder Aktionär, selbst wenn er nur eine einzige Aktiebesitzt. Hat die Hauptversammlung eine Umstrukturie-rung oder Kapitalerhöhung beschlossen, muss diese biszur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage auf Eisgelegt werden. Um das Unternehmen nicht über Monateoder gar Jahre zu lähmen, kaufen die Gesellschaften denAktionären die Klagen regelrecht ab.

Bereits 2005 sind mit dem Gesetz zur Unternehmens-integrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts– kurz UMAG – erste Regelungen zur Bekämpfung spe-ziell dieses Phänomens eingeführt worden. Neue wissen-schaftliche Studien belegen zwar, dass die im Rahmen desUMAG eingeführten Einzelmaßnahmen Wirkung zeigen;in Anbetracht der weiterhin und zahlenmäßig sogar nochvermehrt auftretenden Missbrauchsfälle ist es aber uner-lässlich, insbesondere die Freigabeverfahren fortzuent-wickeln und zu präzisieren. Denn auch bis zum Abschlussdes als Eilverfahren gedachten Freigabeverfahrens überzwei Instanzen können derzeit leicht sechs und mehrMonate vergehen, in denen das Unternehmen handlungs-unfähig bleibt.

Der Gesetzentwurf sieht daher vor, das Freigabeverfah-ren weiter zu beschleunigen. Nach der Entscheidung inerster Instanz soll das Verfahren in der Regel beendet sein.Eine Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidungsoll es nur dann geben, wenn der Richter diese wegengrundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen hat. Diegrundsätzliche Beschränkung des Freigabeverfahrensauf eine Instanz findet allgemein Zustimmung. Allerdingsgibt der Bundesrat zu bedenken, die Ansiedlung der Ver-fahren beim Landgericht sei nicht effektiv. Hierdurchwerde die Gefahr begründet, dass sich Hauptsache- undFreigabeverfahren gegenläufig entwickelten. Das Risikofür die Unternehmen, dass das Landgericht im Freigabe-verfahren eine Rechtsfrage anders beurteile als das Ober-landesgericht in der Hauptsache, spiele unmittelbar in dieHände der Berufskläger, die sich diese Rechtsunsicherheitzur Durchsetzung ihrer eigenen finanziellen Interessenzunutze machen könnten. In seinem Gesetzentwurf zurEinführung erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Ober-landesgerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten fordertder Bundesrat daher eine Verlagerung der Eingangs-zuständigkeit in Freigabe- und Hauptsacheverfahren aufdie Oberlandesgerichte. Die Bundesregierung lehnt die-sen Vorschlag ab mit der Begründung mangelndenRechtsschutzes für die Aktionäre. Einzelne Verbände

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21916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Elisabeth Winkelmeier-Becker

fordern hingegen, lediglich das Freigabeverfahren beijeweils einem auf diese Verfahrensart spezialisiertenOLG eines Bundeslandes anzusiedeln. Nur so könne eineffektiver Rechtsschutz gewährleistet werden. WelcheLösung hier letztlich überzeugt, werden die Ausschuss-beratungen zeigen.

Als weitere Maßnahme zum Schutz gegen räuberischeAktionäre sieht das ARUG die Einführung eines Bagatell-quorums im Freigabeverfahren vor. Dieses Quorum sollnicht die Klagebefugnis des Kleinaktionärs abschneiden,sondern lediglich seine Möglichkeiten, eine Freigabe zuverhindern, beschränken. Ein Aktionär soll künftig seitBekanntmachung der Einberufung zur HauptversammlungAktien zu einem Nennwert von mindestens 100 Euro halten,um eine Freigabe aufhalten zu können. Der Bundesratbezweifelt die Effektivität eines Quorums von 100 EuroNennbetrag und schlägt stattdessen vor, das Quorumgegebenenfalls anstelle einer absoluten Grenze nur alsein Element der Abwägung im Rahmen der Feststellungdes vorläufigen Vollzugsinteresses auszugestalten. DieBundesregierung hat bereits zugesagt, diesen Vorschlagim weiteren Verfahren zu prüfen; ich denke, auch wir wer-den im Parlament, im Rechtsausschuss, über diesenPunkt noch ausführlich diskutieren.

Ein weiterer Schwerpunkt des ARUG ist der Einsatzneuer Medien. Aktiengesellschaften sollen diese bei Vor-bereitung und Durchführung der Hauptversammlung inweitaus größerem Umfang nutzen können als bisher. Sosollen Aktionäre künftig online an Hauptversammlungenteilnehmen können, was die Präsenz in Hauptversamm-lungen deutlich erhöhen und Beschlüsse auf eine breitereBasis stellen hilft. Gleichzeitig wird auch die Abstimmungdurch Briefwahl ermöglicht. Insgesamt soll die grenz-überschreitende Information und Stimmrechtsausübungerleichtert werden.

Eine Vereinfachung für die Unternehmen dürfte auchdie Reform sämtlicher Fristen im Vorfeld der Hauptver-sammlung bedeuten, die künftig alle nach dem gleichenSchema berechnet werden. Die bisherige Fristenregelungwar nur schwer zu handhaben und hat immer wieder zuprozessualen Auseinandersetzungen geführt.

Als weiterer Punkt soll das sogenannte Depotstimm-recht der Banken vereinfacht und flexibilisiert werden,wodurch es für Aktionäre attraktiver werden dürfte, eineBank zur Stimmrechtsvertretung zu bevollmächtigen.

Schließlich soll bei der Sachgründung künftig auf eineexterne Werthaltigkeitsprüfung zum Beispiel von Wertpa-pieren und Geldmarktinstrumenten, die auf einem geregel-ten Markt gehandelt werden, verzichtet werden, wenndiese mit dem Durchschnittskurs der letzten drei Monatebewertet werden, was den Verwaltungsaufwand derUnternehmen erheblich verringert.

Insgesamt enthält der vorliegende Entwurf zumARUG viele gute Maßnahmen zur Deregulierung undVereinfachung des Aktienrechts; beide Gesetzentwürfeenthalten unterschiedliche Vorschläge zur Eindämmungmissbräuchlicher Anfechtungsklagen. Was einzelne De-tails angeht, werden wir sicherlich in den anstehendenAusschussberatungen über einige Fragen noch einmal

intensiver sprechen müssen und nachprüfen, ob die Zieleder Entwürfe mit den vorgesehenen Regelungen aucherreicht werden können. In ihrer Gegenäußerung zumARUG ist die Bundesregierung dem Bundesrat in Einzel-fragen ja bereits entgegengekommen. Ich halte einigeEinwände und Vorschläge des Bundesrates und verschie-dener Fachverbände durchaus für berechtigt; hier wer-den wir genauer nachprüfen müssen.

Klaus Uwe Benneter (SPD): Noch treffen wir uns gewöhnlich persönlich im Parla-

ment, um Debatten zu führen – wenn es nicht so spät ist,dass wir unsere Reden zu Protokoll geben müssen. Nochkönnen wir Mitglieder der Bundesregierung leibhaftighierher ins Parlament zitieren. Genießen Sie diese altmo-dische Versammlungsform, solange es sie noch gibt!Denn: Wer weiß, ob wir uns nicht bald von unseren globalagierenden Aktiengesellschaften abschauen können, wieVersammlungen im Internetzeitalter auch ganz andersdurchgeführt werden können. Die Grundlage dafür legenwir mit diesem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Aktio-närsrichtlinie.

Sie alle wissen: Die Umsetzung von EU-Richtlinien istfür den deutschen Gesetzgeber nicht immer eine pri-ckelnde Aktion. Ich meine aber, die Aktionärsrichtliniekönnen wir freudig umsetzen. Denn was mit der Richtlinieangestrebt wird, ist gut für Aktionäre, die rechtzeitig undvollständig informiert werden wollen und die ihre Betei-ligungsrechte wahrnehmen möchten. Die Ziele der Richt-linie sind auch attraktiv für Aktiengesellschaften, dieweltweit um Kapitalgeber werben, und damit sind sie gutfür die deutsche Wirtschaft.

Um was geht es der Europäischen Union? Sie will mitihrer Richtlinie dafür sorgen, dass Aktionäre unabhängigvon ihrem Wohnsitz frühzeitige und leicht zugängliche In-formationen über Hauptversammlungen und ihre Tages-ordnungen erhalten. Sie möchte außerdem börsennotier-ten Aktiengesellschaften ermöglichen, ihre Hauptver-sammlungen so durchzuführen, dass eine Onlineteilnahmevon Aktionären möglich ist. Die grenzüberschreitende Aus-übung von Aktionärsrechten würde dadurch erleichtert.Für die Kapitalgeber wäre eine solche Praxis angenehmund kostensparend. Transparenz, Information und Beteili-gung durch Nutzung der modernen Kommunikationsfor-men – das ist begrüßenswert. Deshalb setzen wir dasgerne um.

Bisher war es nach deutschem Recht in der Hauptver-sammlung lediglich möglich, dass die Mitglieder des Auf-sichtsrates im Wege der Bild- und Tonübertragung an derHauptversammlung teilnehmen können. Auch Direkt-übertragungen der Hauptversammlung in Ton und Bildwaren bisher möglich, um ein passives Zuschauen undZuhören aus der Ferne zu ermöglichen. Künftig wäre esaber auch möglich, dass Aktionäre auf diese Weise aktivan der Hauptversammlung teilnehmen können, wenn esdie Aktiengesellschaft selbst in ihrer Satzung erlaubt.Fragen, Anträge, Redebeiträge und die Teilnahme an Ab-stimmungen können online ermöglicht werden. Ich bindavon überzeugt, dass Aktiengesellschaften sehr balddiese Regelungen nutzen werden. Gebietsfremde Aktio-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21917

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Klaus Uwe Benneter

näre, die aufwendige Flugreisen vermeiden wollen undauf ihrer Seite den technischen Aufwand nicht scheuen,werden diese Möglichkeiten einfordern. Ich bin gespanntauf diese neuen Praktiken.

Der weitere Schwerpunkt des heutigen Gesetzentwurfsliegt bei der Bekämpfung missbräuchlicher Aktionärskla-gen. Wir setzen damit die Bemühungen fort, räuberischenoder besser gesagt erpresserischen Aktionären die miss-bräuchliche Ausnutzung von Aktionärsrechten zu er-schweren. Mit dem Gesetz zur Unternehmensintegritätund zur Modernisierung des Anfechtungsrechts, dem so-genannten UMAG, haben wir hierfür bereits die Grund-lagen gelegt. Die Entwicklung zeigt aber, dass wir mehrtun müssen. Es muss beispielsweise vermieden werden,dass Anfechtungskläger Freigabeverfahren dadurch indie Länge ziehen können, dass gerichtliche Schriftstückeim Freigabeverfahren an Privatadressen nach Dubaioder in die Volksrepublik China geschickt werdenmüssen – unter Einschaltung der dortigen Behörden. DieGesetzesbegründung schildert dies schön anschaulich.Verzögerungen können aber auch durch spätes oder un-vollständiges Einzahlen des Prozesskostenvorschussesbewirkt werden. Dadurch wird das Zustellen der Anfech-tungsklage an die Gesellschaft und deren Akteneinsichtverhindert. Solchen winkeladvokatischen Tricksereienwerden wir einen Riegel vorschieben.

Der Entwurf sieht deshalb vor, dass alle erforderlichenZustellungen an den Prozessbevollmächtigten im Anfech-tungsverfahren erfolgen können. Außerdem soll im Falledes unvollständigen Einzahlens des Prozesskostenvor-schusses der Gesellschaft ein vorzeitiges Akteneinsichts-recht eingeräumt werden, damit der Freigabeantrag zü-gig vorbereitet werden kann. Das sind gute Maßnahmen.

Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass ein An-fechtungskläger Aktien mit einem anteiligen Betrag vonmindestens 100 Euro halten muss, damit er eine Freigabeaufhalten kann. Das entspricht im Mittelmaß etwa einemInvestment von 1 000 bis 2 000 Euro; vor allem abermuss diese Beteiligung an der Gesellschaft vor Einberu-fung der Hauptversammlung bestehen.

Schließlich soll mit dem Gesetzentwurf das Gerichts-verfahren abgekürzt werden. Das möchte auch der Bun-desrat, und er hat zu diesem Zweck in seinem Gesetzent-wurf, der ebenfalls auf der heutigen Tagesordnung steht,die erst- und letztinstanzliche Entscheidung bei Anfech-tungsklagen durch das Oberlandesgericht vorgesehen.Diesen Weg hat der Bundesrat auch für das ARUG emp-fohlen. Der Entwurf der Bundesregierung geht jedoch ei-nen anderen Weg. Die erste Instanz soll danach bei denLandgerichten bleiben, die allerdings die sofortige Be-schwerde nur noch bei grundsätzlicher Bedeutung derSache zulassen dürfen.

Wir werden beraten, welches der bessere Weg ist.Meine erste Sympathie gilt aber schon dem Regelungs-entwurf der Bundesregierung. Denn bei allem berechtig-ten Zorn auf Berufskläger sollten wir nicht vergessen,dass es auch, und zwar in der übergroßen Mehrzahl, red-liche Kleinaktionäre gibt und dass diese angemesseneRechtsschutzmöglichkeiten benötigen. Wir wollen auchmit diesem Gesetzentwurf die Balance halten: Der Miss-

brauch soll verhindert werden, die redliche Rechtswahr-nehmung aber weiterhin möglich bleiben.

Mechthild Dyckmans (FDP): Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Aktionärsrech-

terichtlinie, ARUG, hat einen langen Weg hinter sich.Schon im Oktober 2007 hat die FDP-Bundestagsfraktioneine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet mitdem Titel „Umsetzungsfahrplan der Aktionärsrichtliniein nationales Recht“, Drucksache 16/6860. Insbesondereauch die Umsetzung vom Referentenentwurf zum Regie-rungsentwurf war noch einmal von vielfältigen Änderun-gen gekennzeichnet. Dass wir heute endlich in der erstenLesung den Gesetzentwurf im Bundestag behandeln, be-grüßt die FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Dochauch die Wirtschaft und viele Tausend Aktionäre inDeutschland sind froh, dass sich der Deutsche Bundestagzumindest Teilen der vielfältigen Probleme des deutschenAktienrechts annimmt.

Der Titel des Gesetzentwurfes – Gesetz zur Umsetzungder Aktionärsrechterichtlinie – täuscht in gewisser Weiseüber den wahren Inhalt des Gesetzentwurfes. Denn esgeht nicht nur um die Umsetzung der „Richtlinie über dieAusübung bestimmter Rechte der Aktionäre in börsenno-tierten Gesellschaften“, 2007/36/EG. Vielmehr kommt esauch zu einer Neuregelung der Kapitalaufbringung durchSacheinlagen, zur Deregulierung des Depotstimmrechtsund zu Regelungen mit dem Ziel der Bekämpfung dermissbräuchlichen Anfechtungsklagen.

Gerade das Thema Berufskläger beschäftigt auch dieFachöffentlichkeit seit langem. Nicht zuletzt auch derDeutsche Juristentag hat sich 2008 erneut mit der The-matik beschäftigt. Die Bedeutung dieses Themas für diedeutschen Aktiengesellschaften ist nicht zu unterschät-zen. Dies gilt umso mehr in den Zeiten der Finanz- undWirtschaftkrise. Eine Studie von Professor Baums aus demJahre 2007 zeigt deutlich, dass allein die Zahl der Be-schlussmängelklagen von 1980 bis 2006 um das 60-Fachegestiegen ist. Bei Klagen gegen die Wirksamkeit von Be-schlüssen der Hauptversammlung von Aktiengesellschaf-ten ist in zunehmendem Maße ein Missbrauch der Klage-befugnis durch sogenannte Berufskläger festzustellen.Diese nutzen auf der Grundlage nur weniger Aktien diemit der Klageerhebung verbundene Sperre für Handelsre-gistereintragungen, um sich ihr Klagerecht von der Gesell-schaft gegen horrende Beträge „abkaufen“ zu lassen –zum Schaden der Gesellschaft und der Aktionäre.

Umso verwunderter war ich, dass die Große Koalitiondieses Thema ursprünglich in der ersten Lesung ohne De-batte passieren lassen wollte. Die Bedeutung, die die Re-gierung diesem Thema beimisst, kann man auch an denvorgeschlagenen Lösungswegen erkennen. Kleinschrit-tigkeit ohne erkennbare Vorwärtsbewegung bleibt dasMarkenzeichen von Bundesjustizministerin Zypries. DieVorschläge zur Interessenabwägungsklausel, zur Pro-zessvollmacht und zur Akteneinsicht stellen einen durch-aus richtigen Ansatz dar, werden dem Problem jedochkaum ansatzweise gerecht. Die Einführung eines Quo-rums von 100 Euro Nennbetrag, was einem normalenBörsenwert von 1 000 bis 2 000 Euro entspricht, wird von

Zu Protokoll gegebene Reden

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21918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Mechthild Dyckmans

den eigentlichen Berufsklägern als „lachhaft“ empfun-den werden. Und auch die erst im Regierungsentwurf ent-haltene Neuregelung, Freigabeentscheidungen nur an-greifen zu können, wenn das Landgericht die sofortigeBeschwerde zulässt, bleibt auf halbem Wege stehen.

Nötig ist deshalb eine breite Diskussion im Rahmendes Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. DieVorschläge des Bundesrates, die eine Verlagerung derEingangszuständigkeit an das Oberlandesgericht vorse-hen, sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie Vor-schläge, die eine komplette Systemänderung bezwecken.Insbesondere auch Fragen der Kostentragungspflicht beisolchen Verfahren sind dabei zu durchdenken. Für dieFDP-Bundestagsfraktion kann ich daher schon jetzt sa-gen, dass eine umfassende Sachverständigenanhörung imRechtsausschuss zu diesem Thema für erforderlich gehal-ten wird. Der Gesetzgeber ist hier gefordert; wir könnennicht darauf vertrauen, dass die Rechtsprechung – wiezuletzt das Oberlandesgericht Frankfurt – „räuberische“Aktionäre zu Schadensersatzleistungen verpflichtet unddas Vorgehen als sittenwidrig einstuft.

Lassen sie mich noch kurz auf die weiteren Schwer-punkte des Gesetzentwurfes neben der Bekämpfung derBerufskläger eingehen. Durch die Umsetzung der eigent-lichen Aktionärsrichtlinie kommt es unter anderem zu ei-ner deutlichen Verbesserung der Transparenz gegenüberden Aktionären und zu einer Neuordnung des Fristenre-gimes. Dass dabei die Satzungsautonomie der Gesell-schaften gestärkt wird, ist ausdrücklich positiv hervorzu-heben. Die Gesellschaften können in der Satzungfestlegen, dass und wie die elektronischen Mittel bessergenutzt werden. Auch können die Gesellschaften die ak-tive Teilnahme der Aktionäre an der Hauptversammlungauf elektronischem Wege sowie die Stimmabgabe mittelsBriefwahl ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, dass durchdiese Maßnahmen der chronisch geringen Präsenz aufHauptversammlungen entgegengewirkt werden kann. MitBlick auf das angesprochene Problem der Berufsklägermuss darauf geachtet werden, dass durch die neuen Mög-lichkeiten keine neuen Anfechtungsgründe geschaffenwerden. Zu klären ist in diesem Bereich insbesonderenoch die Frage der Identifizierung des „Onlineaktio-närs“.

Die Kapitalrichtlinie 2006/68/EG zielt auf eine Dere-gulierung und Liberalisierung des derzeit geltenden Sys-tems des festen Kapitals. Sie ermöglicht den Mitglied-staaten Lockerungen unter anderem im Bereich derSacheinlage und des Rückerwerbs eigener Aktien. Insbe-sondere von den Erleichterungen bei den Sacheinlagenmacht der vorliegende Gesetzentwurf Gebrauch. Warumdie bereits im Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)zum Problem des „Hin- und Herzahlens“ und der „ver-deckten Sacheinlage“ gefundenen Lösungen nicht über-tragen werden, bedarf noch einer näheren Diskussion.

Auch die Regelungen zur Reform des Depotstimm-rechts sollten wir uns noch einmal näher anschauen. Hierbedarf es einer Lösung, die sowohl für die Banken undSparkassen als auch für die Aktionäre gangbar ist.

Insgesamt bleibt somit für den Rechtsausschuss desDeutschen Bundestages noch eine Menge Arbeit.

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-

rung soll die Aktionärsrechterichtlinie aus dem Jahr 2007umgesetzt werden.

Daneben enthält der Gesetzentwurf eigene rechtspoli-tische Vorhaben der Bundesregierung auf dem Gebiet desAktienrechts. Über die Vorgaben der Richtlinie hinaussoll auf den von ihr angesprochenen Gebieten – in derSprache der Gesetzesbegründung – „modernisiert, dere-guliert und flexibilisiert“ werden. Dies ist ein Dreiklang,der – das hat zuletzt die Finanzmarktkrise gezeigt – zu-mindest Anlass geben sollte, sich die Regelungen in denAusschüssen noch einmal sehr kritisch im Detail anzuse-hen.

So sieht der Entwurf unter anderem die ersatzloseStreichung einer Vorschrift vor, die Aktiengesellschaftenverpflichtet, eine Ermächtigung zum Erwerb eigener Ak-tien der Bundesanstalt für Finanzdienstleitungen mitzu-teilen. Der Bundesrat führt dazu in seiner Stellungnahmezu dem Gesetzentwurf aus: „Der Rückzug staatlicherKontrolle aus diesem Bereich ist in der derzeitigen poli-tischen und wirtschaftlichen Lage als unangemessen an-zusehen.“ Dem ist aus Sicht unserer Fraktion nichts wei-ter hinzuzufügen.

Bei einer Deregulierung des Depotstimmrechts, wiesie jetzt im Gesetzentwurf vorgesehen ist, besteht ganzgrundsätzlich die Gefahr, dass die Kreditinstitute sich beider Stimmabgabe von eigenen Vorstellungen und Interes-sen leiten lassen und nicht von denen der Aktionäre. Ge-nau deshalb enthält das Gesetz ja bislang so detaillierteVorgaben.

Im Rahmen der Sachgründung soll zukünftig auf eineexterne Werthaltigkeitsprüfung, zum Beispiel von Wert-papieren und Geldmarktinstrumenten, die auf einem or-ganisierten Markt gehandelt werden, verzichtet werdenkönnen, wenn diese mit dem Durchschnittskurs der letz-ten drei Monate bewertet werden. Ob dies ein angemes-sener Bewertungsmaßstab ist, sollte in den Ausschüssenebenfalls noch einmal näher beleuchtet werden.

Der Gesetzentwurf nimmt sich schließlich des Themassogenannter räuberischer Aktionäre an. Damit sind Ak-tionäre gemeint, die gegen Beschlüsse der Hauptver-sammlung allein mit dem Ziel klagen, die Gesellschaftzum Abschluss eines lukrativen Vergleiches zu bewegen.Hintergrund ist, dass gerichtlich angefochtene Be-schlüsse nicht in das Handelsregister eingetragen werdenund die Gesellschaften an einer möglichst schnellen Be-seitigung der Sperrwirkung des Verfahrens interessiertsind.

Diese Materie war bereits ein Schwerpunkt des Geset-zes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung desAnfechtungsrechts, UMAG, aus dem Jahr 2005. Mit demUMAG wurde das sogenannte Freigabeverfahren auf Be-schlüsse über Kapitalmaßnahmen und Zustimmung zuUnternehmensverträgen ausgedehnt. Wird daher ein ent-sprechender Hauptversammlungsbeschluss mit der An-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21919

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Wolfgang Neškoviæ

fechtungsklage angegriffen, kann das Prozessgericht aufAntrag der Gesellschaft feststellen, dass die Erhebungder Klage der Eintragung des Beschlusses in das Han-delsregister nicht entgegensteht und Mängel des Haupt-versammlungsbeschlusses die Wirkungen der Eintragungunberührt lassen. Wird ein Hauptversammlungsbe-schluss infolge eines solchen Freigabebeschlusses in dasHandelsregister eingetragen, ist die Eintragung be-standskräftig und kann auch dann nicht mehr gelöschtwerden, wenn die Anfechtungsklage Erfolg hat.

Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt weitere Ände-rungen im Bereich des Freigabeverfahrens vor. Unter an-derem soll eine zulassungsgebundene Beschwerde einge-führt werden und das Landgericht die Beschwerde nurnoch bei grundsätzlicher Bedeutung zulassen. EineNichtzulassungsbeschwerde ist im Entwurf nicht vorgese-hen. Über die Freigabe wird so im Regelfall nur noch ineiner Instanz entschieden. Zugleich wird ein Bagatell-quorum eingeführt, mit dem die Möglichkeit von Kleinak-tionären beschränkt wird, eine Freigabe zu verhindern.

Der zur Beratung verbundene Gesetzentwurf desBundesrates geht einen anderen Weg und will eine erst-instanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes inaktienrechtlichen Streitigkeiten begründen, was für dieAnfechtungsklage selbst eine Verkürzung des Instanzen-zuges bedeutet.

Ohne an dieser Stelle eine abschließende Bewertungvornehmen zu wollen, sei lediglich darauf hingewiesen,dass die Argumentation, nach der zur Verhinderung vonRechtsmissbrauch eine Einschränkung von Rechtsmittelnvorgenommen werden müsste, selbst äußerst miss-brauchsanfällig ist. Hier haben wir Bedenken.

Des Weiteren sei darauf hingewiesen, dass dem Klage-recht des einzelnen Aktionärs eine wichtige Kontroll- undÜberwachungsfunktion zukommt. Der Gesetzentwurf desBundesrates spricht an einer Stelle davon, dass dieseKontroll- und Überwachungsfunktion eine gewisse Zu-rückhaltung des Staates bei der Aufsicht über Aktienge-sellschaften ermöglicht. Diese Einschätzung teilt unsereFraktion zwar ausdrücklich nicht. Richtig ist jedoch, dasssie eine Ergänzung zur staatlichen Aufsicht darstellenkann und deswegen die Einschränkung von Rechtsmittelnin diesem Bereich kritisch ist.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Umset-

zung der europäischen Aktionärsrechterichtlinie, ARUG,macht es sich zur Aufgabe, den Zugang zu Informationenfür Aktionäre zu verbessern sowie die grenzüberschrei-tende Ausübung von Aktionärsrechten, allen voran dasStimmrecht, zu erleichtern.

Diese Zielvorgabe deckt sich mit grünen Forderungeneiner grundsätzlichen Stärkung der Aktionärsrechte, umein ausgewogenen System der checks and balances zwi-schen Aktionären, Vorstand und Aufsichtsrat zu etablie-ren. Allein, es ist zu bezweifeln, ob der hier eingeschla-gene Weg der Bundesregierung geeignet ist, diese Ziele zuerreichen. Dabei haben gerade die Missstände im Zugeder Finanzmarktkrise oder verschiedener Korruptions-

skandale in großen deutschen Aktiengesellschaften offen-bart, wie notwendig es ist, im deutschen Aktienrecht wie-der Strukturen zu schaffen, in denen eine effektiveKontrolle der Unternehmensführung durch die Aktionärefunktioniert.

Lassen Sie mich auf einige wesentliche Punkte des Ge-setzes eingehen und anschließend aufzeigen, warum dieAktienrechtsreform in Permanenz auch mit diesem Gesetzkeinen Abschluss finden darf, sondern gegenteilig ausgrüner Sicht schnellstmöglich weitere Reformbemühun-gen notwendig sind.

Als zentrales Recht der Aktionäre gelten die Einfluss-möglichkeiten im Rahmen der Hauptversammlung. Ent-sprechend sind die seitens der Bundesregierung vorge-schlagenen Regeln zur Abgabe der Stimme via Internetund die Vorschriften zur organisierten Stimmrechtsvertre-tung von maßgeblicher Bedeutung. Wir begrüßen die da-mit verfolgte Intention, die Hauptversammlungspräsenz– und sei es auch virtuell – zu steigern. So wird einerseitsdie Kontrolle der Unternehmensführung intensiviert undandererseits verhindert, dass professionell agierendeMinderheiten unangemessene Macht ausüben und Parti-kularinteressen zulasten der Gesamtheit der Aktionäredurchsetzen.

Wir hegen aber große Zweifel, ob von den neuen Op-tionen, die das ARUG eröffnet, in der Praxis Gebrauchgemacht wird. Wir sind gespannt, ob in den Gesellschaf-ten tatsächlich per Satzungsänderung der Weg für einevirtuelle Stimmabgabe freigemacht wird. Neben dem Auf-wand, der damit verbunden ist, steht zu befürchten, dassUnternehmen Konfliktpotenzial in den Neuerungen sehenund etwa aus Angst vor Anfechtungsklagen im Zweifelbeim Status quo verharren. Und selbst wenn seitens derUnternehmen die Grundlagen für die virtuelle Teilnahmean der Hauptversammlung geschaffen werden, bleibt esfraglich, ob etwa (ausländische) Privataktionäre tatsäch-lich von der Möglichkeit Gebrauch machen werden.Denn was bleibt ist das Problem, dass die Informationenim Zusammenhang mit der Hauptversammlung und je-weiliger Tagesordnungspunkte so komplex sind bezie-hungsweise so unverständlich dargeboten werden, dassder einzelne Aktionär sie ohne professionelle Hilfe ohne-hin nicht überblickt.

Umso bedeutsamer ist der zweite Anknüpfungspunkt,von dem sich die Bundesregierung eine Steigerung derHauptversammlungspräsenz erhofft: die organisierteStimmrechtsvertretung. Es ist wichtig, dass die neuen Re-geln für das Depotstimmrecht einen echten Anreiz schaf-fen, dass Stimmrechtsvertretung überhaupt wieder inbreitem Maße angeboten wird – gegenwärtig haben sichviele Bankinstitute von diesem Service verabschiedet –und dass sie kritisch und zur Kontrolle der Unterneh-mensführung erfolgt. Hier ist der Gesetzgeber in der Ver-antwortung, einen passenden Rahmen zu entwerfen undAnreize dafür zu setzen, dass sich ein Angebot an Aktio-närsvertretungen und eine Vielfalt an professionellen Ver-tretern entwickeln kann, mit deren Ausrichtung sich Aktio-närinnen und Aktionäre identifizieren können.

Auch muss das Verfahren der Stimmrechtsübertragungso einfach wie möglich gehalten sein. Wir begrüßen da-

Zu Protokoll gegebene Reden

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21920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Dr. Gerhard Schick

her die europäische Vorgabe, für die Erteilung der Voll-macht künftig Textform im Sinne von § 126 b BGB ausrei-chen zu lassen. Dadurch ist eine Ermächtigung mittelsE-Mail möglich. Allerdings sehen wir im Vorschlag derBundesregierung weder eine Regelung, die die Bank-institute wieder zum Angebot einer Depotstimmrechts-aus-übung ermutigt, noch scheint eine Struktur gefunden,derer gemäß die unabhängigen Aktionärsvertretungenmit einem stärkeren Zulauf rechnen können. Hier muss inden Beratungen nachgebessert werden.

Das ARUG sieht ferner neue Mechanismen vor, um derZunahme von zweckentfremdeten Anfechtungsklagen ei-niger sogenannter räuberischer Aktionäre zu begegnen.Wir teilen die Auffassung, dass es sich in bestimmten Fäl-len um rechtsmissbräuchliches Vorgehen handelt. Andersals bei Anfechtungen von Beschlüssen zum Squeeze-out,deren abermalige Überprüfung allen betroffenen Aktio-nären zugutekommt, schaden provozierte Anfechtungs-gründe und teuer erkaufte Vergleiche allen übrigen Ak-tionären, dem Unternehmen und dem WirtschaftsstandortDeutschland, während einige wenige profitieren.

Gleichzeitig warnen wir vor Übereifer: Wir sind ent-schieden dagegen, jeden anfechtenden Aktionär, der dieStimme gegen das Management erhebt, zum rechtsmiss-bräuchlichen Querulanten zu stigmatisieren. Die Anfech-tungsklage ist ein wichtiges Kontrollinstrument und mussallen Aktionären einfach zugänglich bleiben. Es wird imlaufenden Gesetzgebungsverfahren genau darauf zu ach-ten sein, dass nicht unter dem Deckmantel des Kampfesgegen „räuberische Aktionäre“ über das Ziel hinausge-schossen wird und grundlegende Aktionärsrechte be-schnitten werden. Letztlich spielen „räuberische Aktio-näre“ insbesondere auf Zeit. Darauf muss die Politik vorallem durch eine bessere Ausstattung der Justiz undschlanke Verfahrensvoraussetzungen im Bereich desWirtschaftsrechts reagieren.

Neben diesen Punkten, die das ARUG behandelt, gibtes einige Schwachstellen im Aktienrecht, die ebenfalls imweitesten Sinne Aktionärsrechte betreffen und dringendangegangen werden müssen. Um einen Eindruck zu ver-mitteln, möchte ich einige Leitplanken grüner Aktionärs-demokratie skizzieren.

Zwar sind die im ARUG angesprochenen Aktionärs-rechte von zentraler Bedeutung. Ein weiteres wesentli-ches Kontrollinstrument ist jedoch das Geltendmachenvon Schadenersatzansprüchen. Obwohl der Aufsichtsratfür das Unternehmen Ansprüche geltend machen müssteim Falle, dass der Vorstand Pflichtverletzungen begehtund dem Unternehmen schadet, geschieht dies aus Inte-ressenverquickung nicht konsequent genug. Denn unterUmständen müsste sich der Aufsichtsrat den Vorwurf ge-fallen lassen, er habe das Vorstandshandeln nicht ange-messen überwacht. In diesen Fällen sind die Aktionäregefordert. Aber das geltende Recht steht dem entgegen.Deshalb fordern wir eine Absenkung der Anforderungendes Klagezulassungsverfahrens. Denn dann können Aktio-näre zukünftig die entstandenen Schadensbeträge für dasUnternehmen von den verantwortlichen Führungsorga-nen zurückfordern. Folglich können die Aktionäre mittel-bar einen Werterhalt ihrer Anteile sichern. Dabei dürfen

allerdings die Schäden nicht ausschließlich aus den Haft-pflichtversicherungen für Manager – „Directors & OfficersLiability“-Policen – kompensiert werden. Sonst verliertdas Haftungsrecht seine Steuerungsfunktion, und dieAktionäre müssten wiederum mittelbar über gestiegeneVersicherungspreise für die Fehler der Unternehmens-führung aufkommen. Vielmehr muss neben die D&O- Ver-sicherungen eine Selbstbeteiligung des Managers amSchadenersatz treten, die sich an den laufenden Bezügendes jeweiligen Vorstandes orientiert.

Diese Änderungen in der Geltendmachung von Scha-denersatzansprüchen sind insbesondere im Nachgangder Finanzmarktkrise von immenser Bedeutung. Vielesspricht dafür, dass Vorstände und Aufsichtsräte kollektivFehler bei der Unternehmensführung begangen habenund dadurch Gesellschaften nunmehr am Rande der In-solvenz stehen bzw. durch den Staat gestützt werden müs-sen. Sollte es Aktionären nicht erleichtert werden, hierSchäden des Unternehmens geltend zu machen, werdenetwaige Pflichtverletzungen wahrscheinlich nie aufge-deckt.

Schließlich fordern wir eine Verbesserung der Unter-nehmensführung. Dazu bedarf es beispielsweise einerProfessionalisierung der Aufsichtsräte deutscher Unter-nehmen, damit sie die Kontrollfunktion gegenüber demVorstand besser wahrnehmen können. Außerdem ist dasWahlverfahren für Aufsichtsräte zu reformieren. Es ist soauszugestalten, dass auch Minderheitsaktionäre dieMöglichkeit haben, zumindest ein Mitglied im Aufsichts-rat stellen zu können. Das fördert eine stärkere Diversifi-zierung der Mitglieder in den Aufsichtsräten und spiegeltdamit repräsentativer die Anteilseignerstruktur wider.

Außerdem sollen sich die sich zur Wahl stellendenKandidatinnen und Kandidaten schriftlich vorstellen undihre Qualifikationen für das Aufsichtsratsmandat sowieparallel ausgeübte Aufsichtsratsposten darlegen. Durchdiese Transparenz können mögliche Interessenkonflikterechtzeitig erkannt werden. Niemand sollte darüber hi-naus gleichzeitig in mehr als fünf Aufsichtsräten tätigsein. Wie soll jemand gleichzeitig in mehr als fünf Räteneine qualifizierte Kontrollarbeit leisten? Auch ist der di-rekte Übergang vom Vorstand in den Aufsichtsrat dessel-ben Unternehmens zu verbieten.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin der Justiz:

Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Aktionärs-rechterichtlinie – kurz ARUG – verfolgen wir im Wesent-lichen vier Ziele: die – namensgebende – Umsetzung derAktionärsrechterichtlinie, die bis 3. August 2009 erfolgenmuss; die teilweise Umsetzung der geänderten Kapital-richtlinie durch Deregulierungen bei der Sachgründung;eine Vereinfachung des Depotstimmrechts der Kreditin-stitute und schließlich Maßnahmen gegen missbräuchli-che Aktionärsklagen. Das ARUG wird der Praxis in ver-schiedener Hinsicht das Leben erleichtern, und das istvor dem Hintergrund der derzeitigen Finanzkrise beson-ders wichtig, weil ein stabiles und in der Praxis gut hand-habbares Aktienrecht ein bedeutender Standortfaktor fürdie Wirtschaft ist.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21921

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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

Bedanken möchte ich mich beim Bundesrat für diekonstruktive Stellungnahme, bei der es sich insgesamt umzahlreiche technische Details handelt, die die wesentlicheLinie des Regierungsentwurfs nicht infrage stellen.

Lassen Sie mich einige Punkte des ARUG besondershervorheben. Der Entwurf erleichtert die grenzüber-schreitende Information und Stimmrechtsausübung derAktionäre und passt dadurch das deutsche Aktienrechtder Internationalisierung der Kapitalmärkte an. Ich gehedavon aus, dass dies zu einer Erhöhung der Hauptver-sammlungspräsenzen und damit zur Absicherung wichti-ger Aktionärsentscheidungen durch eine breite Beteili-gung der Anteilseigner führen wird. Hierzu werden neueMedien in den Dienst des Aktienrechts gestellt. Unter an-derem werden die Onlineteilnahme von Aktionären unddie Abstimmung durch Briefwahl ermöglicht.

Ein besonders wichtiger Punkt für die Hauptversamm-lungspraxis ist die Neuordnung des gesamten Fristenre-gimes der Hauptversammlung. Hier gab es seit jeherZweifelsfragen, was zu Fehlern und schlimmstenfalls zurNichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen geführthat. Künftig werden alle Fristen und Termine nach einemeinheitlichen Muster von der Hauptversammlung zurück-berechnet. Alle Fristen sind aufeinander abgestimmt undharmonisiert. Das mag technisch klingen und vielleichtwenig spektakulär, man sollte die praktische Bedeutungdieser Fragen aber nicht unterschätzen. Einfache, un-kompliziert zu handhabende, eindeutige Normen erleich-tern den Unternehmen das Leben ganz außerordentlich,und Rechtssicherheit ist ein wesentlicher Teilaspekt derGerechtigkeit.

Grundlegend umgestaltet wird auch das Vollmacht-stimmrecht der Banken. Die bisherige Regelung ist un-übersichtlich und bürokratisch geworden. Sie ist von derPraxis nicht mehr angenommen worden. Der ARUG-Ent-wurf erleichtert die sinnvolle Dienstleistung des soge-nannten Depotstimmrechts, gestaltet dieses aber fair undim Interesse der Aktionäre und ihrer Entscheidungsfrei-heit.

Zuletzt möchte ich noch einen Punkt hervorheben, derin der öffentlichen Diskussion wohl die größte Aufmerk-samkeit findet. Mit dem ARUG-Entwurf werden die ge-setzgeberischen Bemühungen fortgesetzt, erpresserischeVerhaltensweisen sogenannter räuberischer Aktionäre zuunterbinden. Gerade in wirtschaftlich schwierigeren Zei-ten müssen zum Beispiel Sanierungsschritte rasch durch-geführt werden können; manchmal zählt jeder Monat.Dazu sollen verschiedene auf die Missbrauchsfälle zuge-schnittene Maßnahmen beitragen, ohne dabei allerdingszugleich die Funktion der Anfechtungsklage im Aktien-recht aufzuheben oder wesentlich zu schwächen. Besonderswichtig dabei ist aus meiner Sicht die deutliche Beschleuni-gung des Freigabeverfahrens. Um sie zu erreichen, siehtdas ARUG unter anderem eine Beschränkung der Rechts-mittel auf eine Zulassungsbeschwerde vor.

Den Vorschlag, eine erstinstanzliche Zuständigkeit derOberlandesgerichte für aktienrechtliche Klagen einzu-führen, wie das der Bundesrat in seiner Stellungnahmezum ARUG und in seinem Gesetzentwurf vom Dezember2007 vorschlägt, lehne ich ab. Bevor das Rechtsschutz-

system verändert wird, sollten die Länder die bestehen-den Möglichkeiten zur Zuständigkeitskonzentration inaktienrechtlichen Streitigkeiten ausschöpfen. Es ist be-dauerlich, dass dies bisher noch nicht überall geschehenist; denn bei den Landgerichten mit den Kammern fürHandelssachen gibt es heute zum Teil hervorragend spe-zialisierte Richter. Außerdem würde ein Systembruch ander einen Stelle zur Folge haben, dass sofort auch für an-dere wichtige Rechtsgebiete der Ruf nach einem verän-derten Instanzenzug aufkommt.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-

würfe auf den Drucksachen 16/11642 und 16/9020 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen Ar-beitnehmerschutz EU-weit sicherstellen

– Drucksache 16/11758 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden der Kollegen Michael Hennrich, CDU/CSU, Josip Juratovic, SPD, Dr. Heinrich Kolb, FDP,Werner Dreibus, Die Linke, Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11758 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten PatrickDöring, Horst Friedrich (Bayreuth), JoachimGünther (Plauen), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Technische Kriterien für Winterreifenkenn-zeichnung M+S festlegen

– Drucksache 16/11213 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll ge-nommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen

1) Anlage 7

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21922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, CDU/CSU, HeidiWright, SPD, Patrick Döring, FDP, Dorothée Menzner,Die Linke, Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Es besteht in Deutschland keine Pflicht für Winterrei-

fen. Daher ist auch keine einzige bindende europäischeDefinition zu einem Winterreifen vonnöten.

Es gab natürlich schon immer Verfechter pro und kon-tra Winterreifen; aber pauschale Aussagen wie „Bei Tem-peraturen von 7 Grad Celsius oder weniger sind Winter-reifen besser als Sommerreifen“ sind nicht hilfreich.Denn ganz unter uns: Die gegenteilige Behauptung istebenso wenig informativ wie die Behauptung selbst.

Klar ist: Bei Wintereinbruch passieren nicht nur zahl-reiche Unfälle, die auf falsche Bereifung in Verbindungmit nicht angepasster Fahrweise zurückzuführen sind; esbilden sich auch jedes Jahr erneut unzählige Staukilome-ter, weil Fahrzeuge aufgrund ihrer ungeeigneten Berei-fung im Schnee steckenbleiben.

In einem sind sich alle einig: Sobald sich eine Schnee-decke gebildet hat, ist der Winterreifen dem Sommerpneuhaushoch überlegen. Deshalb wurde gemäß Bundesrats-beschluss vom 21. Dezember 2005 der § 2 Abs. 3 a derStVO wie folgt geändert:

§ 2 Abs. 3a StVO

Straßenbenutzung durch Fahrzeuge

Bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung an die Wet-terverhältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbe-sondere eine geeignete Bereifung und Frostschutz-mittel in der Scheibenwischanlage. Wer einkennzeichnungspflichtiges Fahrzeug mit gefährli-chen Gütern fährt, muss bei einer Sichtweite unter50 m, bei Schneeglätte oder Glatteis jede Gefähr-dung anderer ausschließen und wenn nötig dennächsten geeigneten Platz zum Parken aufsuchen.

Die Bundesregierung hat zudem die Bußgeldkatalog-Verordnung dahin gehend geändert, dass künftig Auto-fahrer ein bestimmtes Bußgeld zu zahlen haben, wenn siegegen diesen genannten Paragrafen, § 2 Abs. 3 a StVO,verstoßen.

Der Gesetzgeber hat darin nämlich die Pflicht zur An-passung der Kraftfahrzeugausrüstung an die Wetterver-hältnisse konkretisiert.

Nach der neuen Winterreifenverordnung sind also alleKraftfahrzeuge den Wetter- und damit auch den Winter-verhältnissen anzupassen. Die geeignete Bereifung findethierbei eine besondere Erwähnung. Mit dieser Verhal-tensvorschrift geht jedoch keine generelle Winterreifen-pflicht einher. Wer mit seinem Wagen auf schnee- odereisbedeckten öffentlichen Straßen fährt, muss Winter-oder Ganzjahresreifen montiert haben; solche Reifensind durch die Aufschrift „M+S“ bzw. das Schneeflocken-symbol gekennzeichnet.

Mit Sommerreifen darf man sein Fahrzeug bei winter-lichen Straßenverhältnissen nicht mehr bewegen. Diesgilt nicht nur für den Fahrtantritt, sondern auch für die

Weiterfahrt bei plötzlicher Änderung der Straßenverhält-nisse.

Wer mit Sommerreifen auf schnee- oder eisbedecktenStraßen fährt, riskiert ein Verwarnungsgeld von 20 Euro.Führt dieser Verstoß ferner zu einer Behinderung desStraßenverkehrs, wird dies mit einem Bußgeld von40 Euro sowie einem Punkt in Flensburg geahndet.

Die Verwendung von Schneeketten oder Anfahrhilfenauf Sommerreifen stellt keine „geeignete Bereifung“ dar.Dies gilt auch für eine Mischung von Sommer- und Win-terreifen. Das gilt für Kraftfahrzeuge jeder Art, nicht da-gegen für Anhänger. Darüber hinaus können Unfälle mitnicht ordnungsgemäßer Bereifung im Einzelfall zu versi-cherungsrechtlichen Problemen führen. Daher ist in je-dem Fall zu empfehlen, in den Wintermonaten auf dierichtige Bereifung „umzusatteln“.

Die Änderung der StVO trat bereits am 1. Mai 2006 inKraft, sodass alle Autofahrer ausreichend Zeit hatten,sich auf die neue Gesetzgebung einzustellen. Dabei sindmit der Bezeichnung „geeignete Bereifung“ bei Schneeund Eisglätte in § 2 Abs. 3 a der StVO gegebenenfallsauch der Winterreifen gemeint. In einer Pressemitteilungvom 21. Dezember 2005 schreibt Bundesverkehrsminis-ter Wolfgang Tiefensee:

Es gibt auch künftig keine Winterreifenpflicht, jederAutofahrer ist dazu verpflichtet, mit geeigneter Be-reifung unterwegs zu sein. Das kann je nach Wetter-verhältnissen auch ein guter Sommerreifen oder einGanzjahresreifen sein. Wer auf Winterreifen ver-zichten will, muss sein Auto bei widrigen Straßen-verhältnissen stehen lassen und auf Bus und Bahnumsteigen. Wer mit abgefahrenen Sommerreifeneine verschneite Passstraße befährt, muss künftigmit einem Bußgeld rechnen.

Eine nützliche und zusätzliche Verbraucherinforma-tion stellt die Kennzeichnung mit dem „Schneeflocken-symbol“ – zusätzlich zur M+S-Kennzeichnung – dar, diedie Wintereigenschaften dieser Reifen über einen entspre-chenden Test bescheinigen. Darüber hinaus kann sich derinteressierte Verbraucher jederzeit über die Ergebnissepermanenter unabhängiger Tests von Winterreifen infor-mieren, zum Beispiel bei Stiftung Warentest, beim ADAC,bei Motorfachzeitschriften.

Die FDP strebt mit ihrem Antrag eine Definition überdie europäische Ebene an, die – wie Sie wissen – Jahreum Jahre in Anspruch nehmen würde.

Wir setzen aber lieber auf den mündigen Bürger dersich informiert, Test und Empfehlungen zurate zieht unddann danach entscheidet. Denn in einer Stadt wie Berlinsind ganz andere Anforderungen nötig als zum Beispiel inmeiner Heimat in Thüringen. Wir, die wir nahe am Thü-ringer Wald wohnen, müssen ganz andere Anforderungenan unsere Fahrzeuge und Reifen stellen als einer der nurin der Großstadt fährt.

Was Sie mit diesem Antrag vorhaben, ist der ersteSchritt hin zu einer generellen Winterreifenpflicht. Viel-leicht wollen Sie als Nächstes ab einem bestimmten Mo-nat die Menschen im Lande dazu verpflichten, bestimmte

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21923

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Volkmar Uwe Vogel

Reifen aufzuziehen. Genau dabei können wir nicht mit-spielen. Wie wir auch schon bei der Frage des Tempoli-mits gesehen haben, sind wir in Deutschland mit derRichtgeschwindigkeit von 130 km/h bei den UnfallzahlenMusterschüler. Das ist deshalb so, weil wir den Menschennicht im Detail und auf allen Streckenabschnitten vor-schreiben, wann sie wie schnell fahren dürfen oder wassie zu tun und zu lassen haben. Nein, wir appellieren anden mündigen Bürger, fördern ihn und fordern von ihm,dass er selbst entscheidet, wie er sich an bestimmte regio-nal auftretende Witterungsverhältnisse anpasst.

Lieber ist mir der Bürger, der in seiner Heimat genauBescheid weiß oder sich gegebenenfalls erkundigt, wasdaheim oder auf der Reiseroute für Witterungsverhält-nisse herrschen, der sich aufgrund dessen in Fachzeit-schriften, bei Testinstituten und dem Hersteller genau er-kundigt, welche speziellen individuellen Eigenschaftenseine M+S-Reifen haben müssen und der daraufhin seineKaufentscheidung trifft.

Einheitsbrei – besonders europäischer Einheitsbrei –hilft uns an dieser Stelle nicht weiter.

Nur zu Ihrer Information: Wussten Sie, dass die Eski-mos, die ja wohl unbestritten die Profis in Schneefragensind, nicht nur ein Wort für Schnee haben, sondern eineimmense Anzahl von Schneebezeichnungen vorweisenkönnen? Wir müssen da auch nicht unbedingt zurückste-cken. Das Deutsche ist da auch nicht viel schlechter dran:Schnee, Firn, Harsch, Hagel, Graupel, Eisregen, usw.Dieser umfangreiche Wortschatz zeigt eines ganz deut-lich: Wir können hier nicht alles über einen Kamm sche-ren. Wir setzten auf den mündigen Bürger, der seine fah-rerischen Fähigkeiten, die Witterungsverhältnisse undsein Material genau kennt und einschätzen kann. Nur sokönnen wir die größtmögliche Sicherheit auf unserenStraßen gewährleisten. Eine generelle Winterreifenpflichtvermittelt dem Autofahrer das Gefühl „Solange ich mitden gesetzlich vorgeschrieben Reifen unterwegs bin,fahre ich sicher“. Jedoch kann auch ein Winterreifennicht jedes Winterwetters Herr werden. Es sollte vermie-den werden, dem Autofahrer dieses trügerische Sicher-heitsgefühl zu vermitteln. Der Autofahrer sollte vielmehrdahin gehend sensibilisiert werden, sein Fahrverhalteneigenverantwortlich anzupassen. Wird er dazu aufgefor-dert und auch dahin gehend in der Fahrschule ausgebil-det, sich stets auf die aktuelle Wetterlage, die konkreteVerkehrsbedingung, auf den allgemeinen Straßenzustandeinzustellen, und wenn er die Sicherheit seines Fahr-zeugs, inklusive der Reifen, nicht überschätzt, werden un-sere Straßen – egal bei welchen Wetter – die sicherstenauf der Welt bleiben. Meine Fraktion lehnt daher denFDP-Antrag 16/11213 zur Winterreifenkennzeichnungab.

Heidi Wright (SPD): In dem Antrag der FDP wird die Bundesregierung auf-

gefordert, auf europäischer Ebene auf die Schaffung tech-nischer Kriterien für die Bezeichnung von Reifen als„Winterreifen“ oder „M+S-Reifen“ hinzuwirken. Diesesollen dem Zweck einer besseren Bodenhaftung bei winter-lichen Witterungsverhältnissen Rechnung tragen.

Die Antragsteller kritisieren die unkonkrete Definitionvon Winterreifen und das Fehlen technischer Kriterienfür M+S-Reifen. Sie weisen darauf hin, dass „M+S“ keingeschütztes Symbol darstellt und somit für Verbraucherweitgehend nutzlos ist. Die unkonkrete Definition erlaubees Herstellern, unter dem Namen „Winterreifen“ oder„M+S-Reifen“ de facto Sommerreifen zu verkaufen. ImSinne des Verbraucherschutzes und der allgemeinen Ver-kehrssicherheit seien deshalb Kriterien für Winterreifenfestzulegen.

Die FDP hat hier unter dem Label „Verkehrssicher-heit“ einen Antrag vorgelegt, dessen es nicht bedurft hätte.Zwar wird in dem Antrag zutreffend auf wichtige Aspektehingewiesen. Alles in allem stellt er jedoch eine „Fleißar-beit“ dar, die so nicht notwendig gewesen wäre. Denn aufdie Verkehrssicherheit haben das Bundesverkehrsministe-rium und ich als Berichterstatterin der SPD-Bundestags-fraktion ein besonders Augenmerk. Das Ministerium hatbisher stets die Auffassung vertreten, spezifische Haftungs-eigenschaften von Reifen entsprechend unterschiedlichs-ter Witterungs- und Straßenbedingungen im Geltungs-bereich der Regelungen der UN-Wirtschaftskommissionfür Europa, UNECE, bewusst nicht regeln zu wollen.Denn ohne gesetzliche Anforderungen an die Haftungs-eigenschaften von Reifen sind in den vergangenen Jahrenfür verschiedenste Einsatzzwecke stetige Verbesserungenin allen Anforderungsprofilen der Reifen zu verzeichnen.Dies konnte im Einzelnen bewirkt werden durch dasAnforderungsprofil der Automobilhersteller an die Reifen-hersteller, den Wettbewerb untereinander und nicht zuletztdie Veröffentlichung der Reifentests der unterschiedlichenInteressenvertreter.

Sicherheit wird bei Herstellern und Kunden großge-schrieben. Sicherheit ist heute einer der wichtigsten Werbe-faktoren. Sicherheit steigert sich durch ständigen Wettbe-werb – und genau das passiert. Der FDP-Antrag – und ichunterstelle nur reinste gute Absicht – hinkt der Realität hin-terher.

Eine gesetzliche Regelung, wie von der FDP verlangt,könnte nur Mindestanforderungen beschreiben, die wegender großen Anzahl der beteiligten Vertragsparteien derUNECE und wegen der unterschiedlichsten winterlichenVerhältnisse nur sehr niedrig ausfallen würden. Im Hinblickauf umweltrelevante Grenzwerte von Reifen – Geräuscheund Rollwiderstand – wurde allerdings eine Regelung fürnotwendig angesehen, weil bei Reifen mit M+S-Kenn-zeichnung ein höherer Grenzwert zugelassen wird bzw.zugelassen werden soll.

Neben Sicherheit ist insbesondere die Thematik Lärm-belastung von Bedeutung. Hier gibt es Regelungsbedarf,um Verbesserungen zu erzielen. Konkrete Vorschläge fürTypprüfverfahren liegen noch nicht vor, werden aber vonder Europäischen Kommission künftig für notwendigangesehen. Zurzeit wird deshalb im Rahmen des 98er-UN-Abkommens – 1998 Agreement – Global TechnicalRegulations – eine global gültige Regelung für Reifenberaten. Ein definiertes Verfahren für M+S-Reifen istzurzeit daher noch nicht auf internationaler Ebene vor-gesehen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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21924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Heidi Wright

Lassen Sie uns zusammen im Fachausschuss über dasAnliegen des FDP-Antrages beraten und zu guten Lösun-gen kommen.

Patrick Döring (FDP):Stellen sie sich einmal vor: Es ist Winter. Es ist kalt. Es

ist nass, ein bisschen Schneematsch, gar keine Eisschichtoder so. Sie fahren mit Ihrem Pkw auf einer Straße durchein Wohngebiet. Nicht schnell. Vor Ihnen läuft ein Kindauf die Straße. Sie bremsen, und erst mal passiert nichts.Irgendwann steht das Auto, doch viel zu spät.

Um solche Situationen zu verhindern, gibt es den § 2Abs. 3 a der Straßenverkehrsordnung. Darin heißt es:„Bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung an die Wetter-verhältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbesondereeine geeignete Bereifung und Frostschutzmittel in derScheibenwaschanlage.“ Diese situative Winterreifen-pflicht gibt es nun seit fast drei Jahren. Ihr Zweck war undist, die Straßenverkehrssicherheit bei winterlichen Witte-rungsverhältnissen zu verbessern und Unfälle zu vermei-den. So weit, so gut.

Wie erkenne ich als Autofahrer aber nun, ob es sich umeinen Winterreifen handelt? Auf einem Schild oder aufdem Reifen selbst ist das Wort „Winterreifen“ oder„M+S-Reifen“ aufgedruckt. Im Übrigen sind die Reifenalle schwarz und rund, und für viele Verbraucher ist nichtzu erkennen, für welche Witterungsverhältnisse der Rei-fen tatsächlich geeignet ist – oder eben nicht. Wenn Sieehrlich sind, verlassen auch Sie sich wohl größtenteilsauf diese Bezeichnung. Die Zusammensetzung des Gum-mis jedenfalls können wir alle nicht überprüfen – unddarauf kommt es zu einem großen Teil an. Das Einzige,was wir noch tun können, ist, die Tests von Zeitungen undAutomobilclubs zu lesen, die es glücklicherweise gibt –aber natürlich auch nicht für jeden Reifen.

Auf diese Tests alleine sind wir derzeit angewiesen;denn die Bezeichnung eines Reifens als „Winterreifen“oder „M+S-Reifen“ ist an keinerlei technische Voraus-setzungen geknüpft. Sie können theoretisch einen Reifenals Winterreifen anbieten, der sich kaum von einem Som-merreifen unterscheidet, nur ein paar Lamellen mehr hat.Leider sind manche Reifen – wie die eben erwähntenReifentests zeigen – für winterliche Witterungen völligunbrauchbar.

Ein Winterreifen muss bei Schnee, Glätte, aber selbst-verständlich auch bei Nässe und bei trockener Straßeüber ordentliche Bremseigenschaften verfügen. Dass dasgeht, zeigen die mit „Gut“ bewerteten Reifen in den Tests.Manche Reifen – vor allem sogenannte Billigreifen – sindaber untauglich auf Nässe, auf trockener Fahrbahn, beiGlätte und/oder Schnee. Winterreifen, die auf Schnee,Nässe oder Glätte sofort versagen – das ist absurd.

Teilweise erhöht sich mit schlechten Reifen der Brems-weg bei Nässe um 25 Prozent. Das heißt, dass bei einerGeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern der Brems-weg statt 39 ganze 52 Meter lang ist und bei einem Unfalldie Aufprallgeschwindigkeit um gut 10 Stundenkilometerhöher sein kann. Davon hängt dann im Einzelfall ab, obdie Fahrgastzelle standhält, die Türen verklemmen und

die Windschutzscheibe bricht. Das Verletzungsrisikosteigt enorm an. Diese Reifen sind dem Entwicklungs-stand circa 20 Jahre hinterher. Und noch einmal: Erkenn-bar ist das für uns alle nicht, wenn wir einen Satz Winter-reifen kaufen.

In der Straßenverkehrsordnung ist geregelt, dass dieMenschen ihr Auto mit an die Wetterverhältnisse ange-passten Reifen ausstatten müssen. Wenn wir von den Au-tofahrern verlangen, dass sie ihr Auto wintertauglichausrüsten, dann müssen wir auch sicherstellen, dass Win-terreifen wintertauglich sind.

Im Sinne des Verbraucherschutzes und der allgemei-nen Verkehrssicherheit müssen daher Kriterien festgelegtwerden, die Winterreifen erfüllen müssen. Wo M+S drauf-steht, muss auch ein wintertauglicher Reifen drin sein.Dies ist nicht zuletzt die Konsequenz aus der Verpflich-tung des eingangs zitierten § 2 Abs. 3 a StVO: GeeigneteReifen sind nicht Reifen, die – unabhängig von irgendwel-chen Kriterien – den Aufdruck „M+S“ erkennen lassen,sondern Reifen, die bei winterlichen Witterungsbedin-gungen über eine ordentliche Bodenhaftung verfügen.

Wenn wir bedenken, welche Detailfragen wir regeln:Wir reden über das Rollgeräusch von Reifen – sicher zuRecht. Es ist geregelt, welche Farbe Taxis haben müssen.Wir unterhalten uns darüber, ob ein paar Schilder durchandere ersetzt werden sollen und ob wir ein Zusatzzei-chen für Pferdekutschen einführen. Höchste Zeit ist es,dass wir auch darüber reden, wie durch technische Vor-gaben sichergestellt werden kann, dass Winterreifen beiWinterwetter sicher sind.

Wir wissen nicht, wie viele der mehreren Tausend Un-fälle, die es in den letzten Wochen wegen der winterlichenStraßenverhältnisse gab, mit besseren Reifen verhindertworden oder glimpflicher ausgegangen wären. Umsomehr hoffe ich auf sachorientierte und konstruktive Bera-tungen in den Ausschüssen. Es geht um viel.

Dorothée Menzner (DIE LINKE): Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, grund-

sätzlich ist Ihr Antrag zu begrüßen. Leider ist er abernicht konsequent genug formuliert. Sie mahnen schon inder ersten Zeile an, dass die Definition der M+S-Reifenunkonkret ist. Was aber fehlt, sind die technischen Anfor-derungen, die die Definition untersetzen sollen.

Was mich an dem Antrag stört, ist Folgendes. Da zitie-ren Sie in Ihrem Antrag die UN-Wirtschaftskommissiondahin gehend, dass M+S-Reifen im Winter bessere Fahr-eigenschaften haben als normale Reifen, schieben dannaber im vierten Absatz hinterher, dass für einen Winter-reifen neben der Oberflächenbeschaffenheit auch die Zu-sammensetzung des Materials, wie etwa des Reifengum-mis, wichtig ist. Also was denn nun? Wollen Sie denWinterreifen damit definieren, dass er größere Zwischen-räume und Rillen im Profil sowie eine stärkere Anfangs-profilstärke aufweist, oder damit, dass er eine bestimmteMaterialzusammensetzung besitzt, oder dadurch, dass erim Winter bessere Fahreigenschaften bietet?

Dass ausgerechnet die FDP den Herstellern die Be-schaffenheit der Reifen vorschreiben will, ist ein schönes

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21925

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Dorothée Menzner

Beispiel dafür, dass man wirklich nicht alles den Regelndes freien Marktes überlassen kann. Wo es um Verkehrs-sicherheit geht, sind Regeln und Kontrolle des Staatesnötig und angebracht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in derBegründung Ihres Antrags führen Sie aus, dass sich dieGefahr für die Fahrerinnen und Fahrer erhöht, wenndiese in der Annahme, mit Winterreifen zu fahren, nichtmit einer schlechteren Bodenhaftung rechnen. Mit Ver-laub: Das halte ich für Blödsinn! Ich jedenfalls kenne kei-nen Fahrer, der sich, nachdem er auf Winterreifen umge-schraubt hat, sagt, mit den anderen Reifen konnte ich mitfünf Sachen mehr um die Kurve fahren, oder: LetztenWinter bin ich hier mit 80 Sachen lang und dieses Jahrhab ich mich mit den anderen Reifen gedreht. Was ich da-mit sagen will: Jeder weiß, dass sich Straßenverhältnissevon Meter zu Meter und von Stunde zu Stunde ändern. EinVergleich – außer unter Testverhältnissen wie bei denender Hersteller – ist gar nicht möglich. Auch Winterreifensetzen die Gesetze der Physik nicht außer Kraft.

Daher lautet die Forderung der Linken: Der Gesetzge-ber sollte M+S-Reifen konkret definieren, aber nichtdurch Aussehen oder Profil, also wie viele Noppen oderwie breit die Rillen sind, wie viele Längs- und Querrillenein solcher Reifen zu haben hat oder welche Gummi-mischung, sondern durch seine spezifischen Fahreigen-schaften und Wettereignung: erstens durch einen gegebe-nen Bremsweg sowohl auf trockener als auch nasser undschneebedeckter Straße, zweitens durch seine Rolleigen-schaften, drittens durch die Laufzeit und viertens durchdie Alterungsbeständigkeit.

Wir wollen ja nicht die Wege für Innovationen versper-ren. Und ich denke, wenn wie im Falle Schaeffler/Conti-nental mehrere Milliarden Steuergelder als Kompensa-tion für Managerfehlleistungen und Marktgier fließen,dann könnte ein Teil dieses Geldes durchaus in die Erfor-schung wintersicherer Reifen gesteckt werden. Dann hät-ten mehr Menschen etwas von den Milliardensubventio-nen.

Wir Linken plädieren außerdem dafür, die Bezeich-nung M+S beizubehalten, weil jeder etwas damit anfan-gen kann. Zeichen wie eine Schneeflocke irritieren nurzusätzlich. Viele kaufen ihre Reifen im Super- oder Bau-markt, sehen die Schneeflocke und meinen, sie hättenWinterreifen erworben. Es muss also genau festgelegtwerden, was welche Symbole bedeuten, und es solltendeutliche Zertifizierungskriterien gelten. Die Bezeich-nung M+S sollte dabei ausschließlich für Winterreifengelten. Hier muss der Gesetzgeber Farbe bekennen, sonsttappen viele Verbraucher in die Falle, kaufen guten Glau-bens die falschen Reifen und unterliegen später dem Buß-geldbescheid, oder im Schadensfalle einem Versiche-rungsnachteil.

Bei dieser Gelegenheit: Der Allwetterreifen hat imWinter bessere Fahreigenschaften als der Sommerreifen.Wir sollten auch bedenken, dass viele Autofahrer nicht re-gelmäßig, im Winter überhaupt nicht und schon gar nichtins Gebirge fahren. Damit ist nur die Fahrt zum Einkau-fen oder zum Arzt das Maß der Dinge. Aus diesen Über-legungen heraus greifen viele zu Allwetterreifen.

Es ist inkonsequent, in der Straßenverkehrs-Zulas-sungs-Ordnung Winterräder mit M+S zu definieren, aberin der Straßenverkehrs-Ordnung nur von geeigneten Rei-fen zu sprechen.

Entgegen dem Antrag der FDP meine ich nicht, dassgeeignete Bereifung immer auch Winterreifen meint. Inder Straßenverkehrs-Ordnung sollten wir auch den Be-griff Wetterverhältnisse genauer fassen: Das genaue An-wenden der Wörter Schneeglätte oder Glatteis würde vieljuristischen Streit ersparen und den Verbraucher vor fal-schen Reifenkäufen schützen.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weil es so selten vorkommt, dass ich einen Antrag der

FDP-Fraktion begrüße und mittrage, will ich es gleich zuAnfang kundtun.

Um der notwendigen Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung aus dem Jahre 2006 im Hinblick auf die Winter-ausrüstung gerecht werden zu können, ist eine eindeutigeKennzeichnung von Reifen sicherzustellen. Es kann unddarf nicht sein, das auf dem Markt sogenannte M+S-Rei-fen als getarnte Winterreifen angeboten werden, die inWirklichkeit Sommerreifen sind. Zu einem guten Verbrau-cherschutz und zur Verkehrssicherheit gehören eine ein-deutige Kennzeichnung von Reifen. Da klimaschutzpoli-tische Anforderungen und Lärmschutz auch in diesemBereich richtigerweise an Bedeutung gewinnen, plädiereich für eine umfassende und verbraucherfreundlicheKennzeichnung aller Reifen.

In diesem Sinne fordere ich die Bundesregierung auf,die M+S-Problematik des FDP-Antrages „TechnischeKriterien für Winterreifenkennzeichnung M+S festlegen,Drucksache 16/11213“, in den aktuellen Vorschlag derEuropäischen Kommission vom 17. November 2008 – Vor-schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentsund des Rates über die Kennzeichnung von Reifen in Be-zug auf die Kraftstoffeffizienz und andere wesentliche Pa-rameter – einzuarbeiten. Es wäre sinnvoll, eine Richtlinieaus einem Guss zu erhalten, eine Richtlinie, die alle As-pekte, die die Bereifung von Kraftfahrzeugen betreffen,zusammenführt, wozu auch die Kennzeichnung gehört.Dabei soll dem Verbraucher nicht nur Klarheit über dieM+S-Reifen verschafft werden, sondern über alle As-pekte, die heute für einen guten Reifen von Bedeutungsind. Denn Fahrzeug- und Verkehrssicherheit sind nureine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite der Me-daille sollte der Kraftstoffverbrauch und damit Hinweisebezüglich des Rollwiderstandes – Stichwort: Leichtlauf-reifen – und Lärmschutzes nicht fehlen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11213 an den Ausschuss für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung vorgeschlagen. Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaHirsch, Werner Dreibus, Volker Schneider (Saar-

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21926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

brücken), Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIELINKE

Keine Ausbeutung von Praktikantinnen undPraktikanten in den Bundesministerien unddem Bundeskanzleramt

– Drucksache 16/11662 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll ge-nommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnenund Kollegen Clemens Binninger und Carsten Müller,CDU/CSU, Siegmund Ehrmann und Gabriele Lösekrug-Möller, SPD, Gisela Piltz, FDP, Volker Schneider, DieLinke, Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.

Clemens Binninger (CDU/CSU): Wir diskutieren heute – wieder einmal – über Praktika

und die Frage, unter welchen Bedingungen meist jungeMenschen ihre Praktika absolvieren. Die Linke spricht inihrem Antrag die sogenannte Generation Praktikum an,sie spricht von „Scheinpraktika“ und davon, dass Prak-tikantinnen und Praktikanten in Bundesministerien aus-gebeutet würden. Ich weiß nicht, woher die Linksfraktiondiese Erkenntnisse über Praktika bezieht. Bei Praktika inden Ministerien und dem Kanzleramt der BundesrepublikDeutschland jedenfalls kann von Scheinpraktika undAusbeutung keine Rede sein.

Dass der Vorwurf von Ausbeutung der Praktikantinnenund Praktikanten in der Bundesverwaltung nicht nurunredlich ist, sondern fernab der Realität, belegt ein-drucksvoll der Bericht des Bundesrechnungshofs an denHaushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vom7. Oktober 2008. Wir wissen, dass der Bundesrechnungs-hof seine Aufgabe immer gewissenhaft wahrnimmt undgenau hinsieht. Ich darf aus dem genannten Bericht zitie-ren: „Die mit dem Phänomen der ,Generation Prakti-kum‘ verbundenen Gefahren, den Hochschulabsolventin-nen und Hochschulabsolventen Aufgaben eines regulärenArbeitsverhältnisses zu übertragen, ohne ihnen eine an-gemessene Vergütung zu gewähren sowie Arbeitnehmer-rechte einzuräumen, bestehen in der Bundesverwaltungnicht.“ Diese Einschätzung spricht für sich.

Praktika sind Teil der Ausbildung, und dass Studie-rende während des Studiums Praktika absolvieren, sehendie meisten Studienordnungen vor. An dieser Stelle sei imÜbrigen erwähnt, dass BAföG-Leistungen selbstver-ständlich auch während der Praktikazeiten weiterlaufen.Praktika sind wichtig zur beruflichen Orientierung undEntwicklung. Genau deshalb eröffnet auch die Bundes-verwaltung Praktikantinnen und Praktikanten die Mög-lichkeit, unter fachlicher Anleitung erste praktische Er-fahrungen zu sammeln sowie die Arbeitsweise derBundesministerien und des Bundeskanzleramts kennen-zulernen. Deshalb sollten wir Praktika und insbesonderePraktika in der Bundesverwaltung auch nicht schlechtre-

den, wie es die Linken wieder einmal versuchen. Stattdes-sen sollten wir uns die Realität anschauen.

Es liegen mittlerweile zwei einschlägige Studien vor.So hat zum einen das Hochschul-Informations-System(HIS) in seiner Untersuchung „Generation Praktikum –Mythos oder Massenphänomen?“ aus dem Jahr 2007über 12 000 Hochschulabsolventen befragt. Im Februar2008 ist die inifes-Studie hinzugetreten, die zwar einekleinere Zahlenbasis hat, aber Praktika verschiedenerVorbildungen und Bildungssegmente einbezieht. Wesent-liches Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass ebenkeine „Generation Praktikum“ existiert, sondern dasPhänomen der Scheinpraktika und der sogenannten Ket-tenpraktika nur einen kleinen Teil der Absolventen be-trifft.

Sicher gibt es hier auch Ausnahmen und Problemfälle.Es lässt sich deshalb darüber diskutieren, ob und welchegesetzlichen Regelungen im großen Stil wir für Praktikabrauchen. Ich bin hier aber kritisch, denn Praktika sindletztlich auch ein freiwilliges Angebot der Wirtschaft undder öffentlichen Verwaltung. Und wer sich entscheidet,ein Praktikum anzubieten – das wissen wir vermutlichalle aus unseren Büros – der ist auch in aller Regel bereit,einen hohen Arbeitsaufwand auf sich zu nehmen, umPraktikanten sinnvoll zu betreuen. Das gilt auch für un-sere Bundesministerien und das Kanzleramt, wo Prakti-kanten entgegen der Behauptung des vorliegenden An-trags selbstverständlich eine qualifizierte Betreuungzuteilwird. Praktikanten besetzen in der Bundesverwal-tung keine regulären Arbeitsplätze und sind im Rahmenihrer Tätigkeit auch nicht verpflichtet, eine bestimmte Ar-beitsleistung zu erfüllen. Hier den Eindruck erwecken zuwollen, dass dies anders sei und dass Praktikanten in derBundesverwaltung schlecht behandelt würden, ist falschund absolut nicht nachzuvollziehen.

Ich denke auch nicht, dass wir hier für die Bundesbe-hörden neue, umfassende Regelungen brauchen. DieBundesregierung muss auch nicht erst aktiv werden undRechtsgrundlagen schaffen, um Scheinpraktika auszu-schließen und für Qualität und Gerechtigkeit bei Praktikain Ministerien und Kanzleramt zu sorgen, wie im vorlie-genden Antrag behauptet wird. Es gibt in der Bundesver-waltung selbstverständlich solche Rechtsgrundlagen.Hier gibt es zum einen die „Richtlinie über Praktikanten-vergütungen“ vom 13. August 2001. Für bestimmte be-rufsspezifische Praktika gilt der Tarifvertrag über dievorläufige Weitergeltung der Regelungen für die Prakti-kantinnen und Praktikanten vom 13. September 2005.Der Tarifvertrag regelt dabei sogar die verbindliche Zah-lung von Praktikantenvergütungen in festgelegter Höhe.Die Praktikantenrichtlinie legt Höchstgrenzen für dieZahlung von Praktikumsvergütungen fest und räumt imÜbrigen den Ressorts Ermessen ein, um je nach Art desPraktikums zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen.Diese Flexibilität ist, gerade wenn es um Praktika geht,angebracht und notwendig.

Vor dem hier dargestellten Hintergrund ist der Vor-wurf, die Bundesregierung würde ihre Praktikantinnenund Praktikanten durch unangemessene Bezahlung „aus-beuten“, absolut haltlos und die Behauptung, es fehlten

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21927

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Clemens Binninger

Rechtsgrundlagen für deren angemessene Bezahlung,nur von Unkenntnis geprägt. Die CDU/CSU-Fraktionwird deshalb diesen Antrag ablehnen.

Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Die Frage, ob es eine „Generation Praktikum“ gibt,

beschäftigt das Parlament und die Öffentlichkeit jetzt be-reits seit 2006. Anlass war ein in der Wochenzeitschrift„Die Zeit“ erschienener Artikel, der ausführlich über dieals Praktika bezeichneten Arbeitsverhältnisse jungerHochschulabsolventen berichtete. Die daraufhin einge-reichten öffentlichen Petitionen forderten den Gesetzge-ber auf, Regelungen zum Schutz von Praktikantinnen undPraktikanten zu treffen.

Grundsätzlich sind drei Formen von Praktikumsverhält-nissen zu unterscheiden: Erstens. Praktikantenverhältnisseim Sinne des Berufsbildungsgesetzes: Hier steht der Lern-zweck im Vordergrund. Zweitens. „Schnupperpraktikum“:Diese Form dient dem Kennenlernen des Berufslebensund bedingt daher auch keinen gesetzlichen Entgeltan-spruch, auch wenn von „Praktikanten“ gesprochen wird.Selbstverständlich steht es den Vertragsparteien jedochfrei, eine Vergütung zu vereinbaren. Drittens. „Scheinprak-tikum“: Hier wird formell ein „unentgeltliches Praktikum“vereinbart, tatsächlich wird jedoch echte Arbeitsleistungerbracht.

Und genau um diese dritte und letzte Gruppe geht eseigentlich. Sie umfasst diejenigen Missbrauchsfälle, die mitden Petitionen angesprochen werden. Sie können Arbeit-nehmer im Sinne des Arbeitsrechts sein, sodass ihnen einVergütungsanspruch zusteht. Wird der „Praktikant“ wieein vergleichbarer Arbeitnehmer eingesetzt und beschäf-tigt, liegt im arbeitsrechtlichen Sinne kein Praktikanten-,sondern ein Arbeitsverhältnis vor. Folglich steht dem alsPraktikanten bezeichneten Arbeitnehmer ein Vergütungs-anspruch aus dem Arbeitsvertrag in Verbindung mit § 611Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch zu. Im Zweifel ist diesnach § 612 BGB die übliche Vergütung eines vergleich-baren Arbeitnehmers.

Eine Geltendmachung seiner Ansprüche vor demArbeitsgericht darf für ihn gemäß § 612 a BGB keinenegativen Folgen mit sich bringen. Die Beschreitung desRechtsweges ist auch bereits verschiedentlich erfolgreichvon „Scheinpraktikanten“ erfolgt. Dies macht deutlich,dass Rechtsmittel zum Schutz von Praktikanten ausrei-chend vorhanden sind.

Inzwischen liegen zwei ausführliche Studien vor, die derFrage „Generation Praktikum“ eine Datenbasis gebenkonnten. Durch die Studien ist sehr deutlich geworden,dass die sogenannte Generation Praktikum keineswegs einMassenphänomen ist. Vielmehr gehört nur ein geringerTeil von Praktikantenverhältnissen zu den Missbrauchs-fällen. Es ist also vielmehr ein Mythos. Selbstverständlichmüssen wir alles tun, diese Missbrauchsfälle so weit esgeht zu verhindern. Das darf aber nicht bedeuten, dass wirgleichzeitig wichtige, richtige und notwendige Praktikums-verhältnisse verhindern! Es geht also im Wesentlichen umdie Unterstützung von Hochschulabsolventen beim Eintrittin das Berufsleben.

Die Fraktion Die Linke hat in der Vergangenheit schonmehrfach das Thema Praktikum aufgegriffen. Bedauer-licherweise ging es dabei nicht um die Unterstützung vonPraktikanten. Es ging vielmehr darum, ein wichtigesThema populistisch auszuschlachten. Mit ihrem Antragunterstellt die Fraktion Die Linke nun, dass Praktikantenin den Bundesministerien und im Bundeskanzleramt aus-gebeutet würden – es sich also um sogenannte Schein-praktika handelte. Dazu gehört für die Fraktion Die Linkeoffensichtlich auch die Unterstellung, dass Praktikantenin den Bundesministerien und im Bundeskanzleramt aus-gebeutet werden.

Der vorliegende Antrag macht das Thema Praktikumin der Bundesregierung nicht zum ersten Mal zum Themaeines parlamentarischen Vorgangs. Hier ist insbesondereauf die Kleine Anfrage auf Drucksache 16/3785 hin-zuweisen. Die Antwort der Bundesregierung auf Druck-sache 16/3976 hat meines Erachtens mehr als deutlichgemacht, dass es sich die Bundesministerien und dasBundeskanzleramt zur Regel gemacht haben, nur Prakti-kanten im Rahmen von Studium und Ausbildungsverhält-nissen zuzulassen. Das bedeutet ganz klar, dass in derMehrzahl der Fälle ein entsprechendes Praktikum in denStudien- oder Ausbildungsverordnungen vorgeschriebenwird. Diese Voraussetzung beinhaltet auch eine angemes-sene Praktikumsbetreuung und beinhaltet keinen Vergü-tungsanspruch. Es geht hier also um Praktikantinnen undPraktikanten, die für einen begrenzten Zeitraum im Rahmenihrer Ausbildung bestimmte Ausbildungsinhalte erlernen.Schon aufgrund des Ausbildungsstandes und der kurzenDauer des Praktikums ist ein Einsatz als reguläre Arbeits-kräfte in den Ministerien nicht möglich. Unter diesenUmständen kann auch eine Übernahme von Fahr- undVerpflegungskosten oder Ähnlichem als durchaus ange-messen bewertet werden.

Auch der Bundesrechnungshof hat eindeutig bestätigt,dass eine Ausnutzung von Hochschulabsolventinnen und-absolventen im Rahmen von Praktikumsverhältnissenbei den obersten Bundesbehörden nicht festzustellen ist.Darüber hinaus spielt es bei einem Praktikum in den Bun-desministerien und im Bundeskanzleramt keine Rolle,welche finanziellen Möglichkeiten die Praktikanten ha-ben. Denn auch während eines Praktikums im Rahmender jeweiligen Ausbildungsordnung werden BAföG-Leis-tungen weiterhin geleistet. Demzufolge kann von einerPrivilegierung keine Rede sein.

Insbesondere wenn man sich die kürzlich presseöffent-lich gewordenen bedenklichen Zustände von nicht versi-cherungspflichtig Beschäftigten in Hessen bei der ParteiDie Linke ins Gedächtnis ruft, zielt dieser Antrag in diefalsche Richtung. Vielmehr sollte die Linke ihre Ansprüchean sich selbst stellen und sie auf die Praktikanten in ihrereigenen Partei anwenden. Damit wäre dem Missbrauchvon Praktikantenverhältnissen wesentlich mehr entgegen-gesetzt als mit einem weiteren populistischen Versuch, dieBundesregierung in Misskredit zu bringen.

Siegmund Ehrmann (SPD): Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke soll die Bun-

desregierung aufgefordert werden, den Praktikanten in

Zu Protokoll gegebene Reden

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21928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Siegmund Ehrmann

den Bundesministerien und dem Bundeskanzleramt eineangemessene Praktikumsvergütung zu zahlen, für einequalifizierte Betreuung Sorge zu tragen, einen Prakti-kumsvertrag abzuschließen und ein qualifiziertes Zeugnisauszustellen. Das Problem der Praktikantenvergütung istgrundsätzlich nicht von der Hand zu weisen. Im Hinblickauf die Qualität der Betreuung und die Frage des zu er-teilenden Zeugnisses schießt die Linke allerdings insBlaue.

Doch zum Grundsätzlichen: Das Stichwort „Genera-tion Praktikum“ oder „Uni-Prekariat“ bezeichnet denFakt, dass nach wie vor gut ausgebildete, mitunter hoch-qualifizierte junge Menschen keine andere Chance sehen,in den angestrebten Beruf zu gelangen, und sich als Prak-tikanten verdingen. Sie leisten dann oftmals vollwertigeArbeit. Das ist nicht in Ordnung und widerspricht demCharakter von Berufspraktika. Die sind nämlich daraufangelegt, dass sich auch Studierende im Rahmen ihresStudiengangs spezialisieren und überdies einen Einblickin die konkreten Praxisfelder ihres Studiengebietes ge-winnen.

Längst ist es zum Standard geworden, dass Studie-rende auch dann Praktika absolvieren, wenn die Lehr-pläne dies nicht zwingend vorsehen. Dies ist durchwegpositiv. Doch zählt zur Realität auch, dass selbst Hoch-schulabsolventen als Praktikanten, teilweise sogar unent-geltlich, beschäftigt werden. Ich begrüße deshalb aus-drücklich die Initiative Fair Company, die sich für fairePraktika und echte Chancen für Hochschulabsolventeneinsetzt. Die Tatsache, dass Franz Müntefering und OlafScholz diese Initiative als Schirmherren unterstützen, istauch ein deutlicher Beleg für die Position der Sozialde-mokratie gegen diesen Missstand.

Inzwischen haben sich mehr als 1 000 Unternehmenan die fünf wesentlichen Fair-Company-Regeln gebun-den, die da sind: Erstens. Praktikanten ersetzen keineVollzeitstellen. Zweitens. Hochschulabsolventen werdennicht mit einem Praktikum vertröstet, wenn sie sich auffeste Stellen beworben haben. Drittens. Praktikantenwerden nicht mit der vagen Aussicht auf eine Vollzeit-stelle geködert. Viertens. Ein Praktikum wird vornehm-lich zur beruflichen Orientierung während der Ausbil-dungsphase angeboten. Fünftens. Praktikanten wird eineadäquate Aufwandsentschädigung gezahlt. Ich gehe da-von aus und erwarte, dass sich die Bundesregierung in ih-rem Verantwortungsbereich natürlich auch an diese Eck-punkte hält.

Wie ist nun die Situation? Der Sachverhalt war bereitsGegenstand einer schriftlichen Anfrage. Ich zitiere ausder Antwort des Bundesinnenministeriums:

Die Gewährung von Vergütungen an Praktikantin-nen und Praktikanten, die in der Bundesverwaltungtätig sind, regelt die Richtlinie des Bundes überPraktikantenvergütungen vom 13. August 2001.Für bestimmte berufsspezifische Praktika gilt derTarifvertrag über die vorläufige Weitergeltung derRegelungen für die Praktikantinnen und Praktikan-ten vom 13. September 2005. In diesen Fällen isteine angemessene Vergütung bereits durch den Ta-rifvertrag festgelegt und wird durch entsprechende

Praktikantenverträge umgesetzt. Soweit kein Tarif-vertrag besteht, differenziert die Richtlinie danach,ob die Praktika unter das Berufsbildungsgesetz(BBiG) fallen. Die unter das BBiG fallenden Prak-tikanten haben Anspruch auf eine angemesseneVergütung, die jeweils besonders im Einzelnen zuvereinbaren ist. Bei den nicht unter das BBiG fal-lenden Praktikanten ermöglicht die Richtlinie denRessorts, eine Praktikantenvergütung je nach Artdes Praktikantenverhältnisses nach den jeweiligenGegebenheiten des Ressorts im Rahmen der in derRichtlinie festgelegten Maximalwerte in eigenerVerantwortung festzusetzen. Der Vertragsabschlussund die Erteilung eines Zeugnisses werden durchdie oben genannten Regelungen nicht näher be-stimmt. Die konkrete Ausgestaltung erfolgt durchdas jeweilige Ressort. In der Regel wird ein Zeugniserteilt.

In der erwähnten Richtlinie ist aber gleichwohl vorge-geben, dass dann von einer Praktikantenvergütung abzu-sehen ist, wenn die Praktikanten nicht unter den Gel-tungsbereich des Berufsbildungsgesetzes fallen und keinbesonderes Interesse an ihrer Beschäftigung besteht. Wenngleichwohl, wie dies geschieht, Aufwand entschädigt wird,ruft dies den Bundesrechnungshof auf den Plan – eine ex-trem unbefriedigende Situation.

Die Forderung der Fraktion Die Linke hilft an dieserStelle nicht weiter. Deshalb unterstützt die SPD-Fraktionmit Nachdruck die Initiative von Olaf Scholz, § 612 desBürgerlichen Gesetzbuches so zu modifizieren, dassPraktikantinnen und Praktikanten ein schuldrechtlicherAnspruch auf eine angemessene Vergütung zuerkanntwird. Das ist der richtige Weg, und ich hoffe, dass wir dasin der Koalition hinbekommen werden.

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Sachwalter aller Praktikanten und Praktikantinnen,

das will die antragstellende Fraktion gern sein.

Ich bin sicher, meine Damen und Herren von der Lin-ken, Sie werden in diesem Fall nicht als Patentanten und-onkel gebraucht. Das hat mehrere Gründe, die ich Ihnendarlegen werde und die – das wird sie nicht überraschen –am Ende die Ablehnung Ihres Antrages zur Folge habenmüssen.

Gerade die SPD-Fraktion hat sich in dieser Legislaturintensiv mit sogenannten Scheinpraktika und der Ausbeu-tung von jungen Menschen am Beginn ihres Berufslebensbeschäftigt. Nicht zuletzt waren zwei große Petitionen,eingereicht und mitgezeichnet von vielen jungen Men-schen, Auslöser für parlamentarische Beratungen, diewir unsererseits gern schon lange abgeschlossen hätten.Wir und Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, wissen:Der Missbrauch von Praktika hat in den letzten Jahrenüberhandgenommen. Eine Untersuchung im Auftrag desBMAS belegt dies eindeutig. Sie bestätigt, dass jederFünfte der heute 18- bis 34-Jährigen mindestens einPraktikantenverhältnis oder Ähnliches nach Abschlussder beruflichen Ausbildung absolviert hat. Viele von ih-nen werden wie normale Arbeitskräfte eingesetzt, dieHälfte aller Berufseinstiegsverhältnisse jedoch nicht ein-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21929

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Gabriele Lösekrug-Möller

mal entlohnt. Eine erhoffte Brückenfunktion in ein regu-läres Arbeitsverhältnis erfüllt sich nur in 22 Prozent derFälle.

Deshalb sehen wir – mit uns das Ministerium von OlafScholz – folgende Mindestregelungsbedarfe: Praktikasollen im BGB geschützt werden. Bei Praktika sollten sichArbeitgeber künftig nicht mehr auf Ausschlussfristen be-rufen können. Das Berufsbildungsgesetz muss um klar-stellende Regelungen für Praktika ergänzt werden.

Die SPD-Fraktion hat weitergehende Forderungen,zum Beispiel: Schriftformerfordernis für den Praktikums-vertrag, Erleichterung beim Durchsetzen von Vergü-tungsansprüchen bei Scheinpraktika.

Was ist unser Ziel? Wir wollen möglichst viele gutePraktika zu fairen Bedingungen. Außerdem wollen wir,dass alle Beteiligten klarer die guten und echten Praktikaunterscheiden können von jenen Arbeitsverhältnissen, dienur den Anschein von Lernverhältnissen erwecken, inWirklichkeit jedoch ausbeuterische Arbeitsverhältnissesind, also die Rechte der Betroffenen stärken. Für welchePraktika streben wir diese Klarstellungen an? Bundesge-setzlichen Regelungsbedarf haben wir nicht bei Praktika,die im Rahmen eines Studienganges über die jeweiligenStudienordnungen der Bundesländer geregelt sind. Auchbei Schülerpraktika gibt es für uns auf Bundesebenekeine Zuständigkeit. Aber überall dort, wo jemand mitabgeschlossener Ausbildung – das muss nicht ein Studiumsein – statt eines ordentlichen Berufseinstieges als Trai-nee, Volontärin oder Praktikant über viele Monate oft-mals ohne Vergütung und ohne Sozialversicherung wieeine normale Arbeitskraft eingesetzt wird, genau da müs-sen wir klarstellend und schützend eingreifen.

Wie ist das nun im BMAS selbst? Praktikantinnen undPraktikanten im BMAS sind samt und sonders Studie-rende an Hochschulen und Universitäten. Sie sind imma-trikuliert, damit sozialversicherungsrechtlich eindeutigabgesichert. Ihre jeweilige Studienordnung schreibt einPraktikum vor. Entsprechend steht das Lernen im Mittel-punkt. Damit gehören sie genau nicht zu jener Gruppejunger Menschen, die nach Abschluss der Ausbildung ineinem Scheinpraktikum als billige Arbeitskraft ausge-nutzt werden. Soweit mir bekannt ist, setzt sich das Minis-terium gerade mit dem Bundesrechnungshof auseinander,weil das BMAS seinen Praktikanten Fahrtkostenersatznach dem Bundesreisekostenregelungen vermeintlich zugroßzügig gewährt.

Ich fasse zusammen: Arbeitsverhältnisse von Berufs-einsteigern müssen ordentliche Beschäftigungsverhält-nisse sein. Scheinpraktika dürfen keinen Platz in der Ar-beitswelt der Bundesrepublik haben. Deshalb haben wirgesetzgeberischen Handlungsbedarf. Praktika im Rah-men von Studiengängen werden geregelt durch die jewei-ligen Studienordnungen.

Die SPD-Fraktion steht für faire Regeln für Praktika.Da lassen wir nicht locker. Wenn es Missstände im BMASgäbe, wären wir die Ersten, die auf ein sofortiges Endebestünden.

Gisela Piltz (FDP): … ist „ein Praktikant in aller Regel vorübergehend in

einem Betrieb praktisch tätig, um sich die zur Vorbereitungauf einen – meist akademischen – Beruf notwendigenpraktischen Kenntnisse und Erfahrungen anzueignen“.Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom13. März 2003 – Az. 6 AZR 564/01 – festgestellt, dass essich bei einem Praktikum typischerweise um eine Tätig-keit handelt, bei der „ein Ausbildungszweck im Vorder-grund“ steht. Praktika können daher in der Regel nichtals normales Arbeitsverhältnis angesehen werden, son-dern als berufsvorbereitender Teil der Ausbildung. Voneinem Arbeitsverhältnis kann regelmäßig nicht ausge-gangen werden, sodass auch eine etwaige Praktikums-vergütung nach dem Bundesarbeitsgericht „auch ehereine Aufwandsentschädigung oder Beihilfe zum Lebens-unterhalt“ darstellt.

Selbstverständlich ist es notwendig, Missbrauch vor-zubeugen. Im Antrag meiner Fraktion „Orientierung undverbesserte Berufsperspektiven durch Praktika schaf-fen“, Drucksache 16/6768, spricht sich die FDP-Bundes-tagsfraktion daher auch für „die Gründung unabhängigerOrganisationen, die Praktikantinnen und Praktikantenüber ihre Rechte, zum Beispiel Praktikumsvertrag, Zeugnis,aufklären, Hilfestellungen anbieten und Informationen zuden Bedingungen von Praktika in einzelnen Unternehmenliefern“, aus. Praktika in Unternehmen oder Behörden,auch den obersten Bundesbehörden, unterscheiden sichinsoweit nicht. Jeweils steht der praktische Erfahrungs-gewinn für die Praktikantin oder den Praktikanten imMittelpunkt.

Die generelle Unterstellung, durch den Einsatz vonPraktikantinnen und Praktikanten würde regelmäßigqualifiziertes Personal eingespart, ist unzutreffend, wieschon die Studie der HIS GmbH „Generation Praktikum –Mythos oder Massenphänomen?“ – HIS-Projektbericht,April 2007 – ergeben hat. Die Bundesregierung hat aufdiesen Umstand auch in ihrer Antwort auf die KleineAnfrage der Linken – Drucksache 16/3976 – zutreffendhingewiesen:

Die im Bundeskanzleramt und in den Bundesminis-terien angebotenen Praktika dienen dem Kennen-lernen des Berufslebens. Sie eröffnen den Prakti-kantinnen und Praktikanten die Möglichkeit, unterfachlicher Anleitung erste praktische Erfahrungenzu sammeln, und beinhalten keine Pflicht zurArbeitsleistung. Die Praktikantinnen und Prakti-kanten besetzen keine regulären Arbeitsplätze. EineVergütung wird daher grundsätzlich nicht gewährt.Zudem stehen hierfür keine Haushaltsmittel zurVerfügung. Die Praktika sind ein Angebot an Studie-rende und Auszubildende, um die Arbeitsweise desBundeskanzleramtes und der Bundesministerienkennenzulernen.

Die Probleme, die die Fraktion Die Linke in dem heutehier zu beratenden Antrag lösen will, bestehen zum großenTeil überhaupt nicht. So hat die Bundesregierung in ihrerAntwort auf die genannte Kleine Anfrage weiterhin aus-geführt, dass Praktikumszeugnisse nur dann nicht erteilt

Zu Protokoll gegebene Reden

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21930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Gisela Piltz

werden, wenn dies ausdrücklich nicht gewünscht wird. Indiesen Fällen wird nur eine Bescheinigung ausgestellt.

Es wird beklagt, dass die Praktikantinnen und Prakti-kanten keine qualifizierte Betreuung erhielten. Ich frageSie, was Sie darunter verstehen. Ein Praktikum ist kein Aus-bildungsverhältnis wie etwa in der dualen Berufsbildung.Von Praktikantinnen und Praktikanten darf und muss zuRecht ein hohes Maß an Eigeninitiative erwartet werden,das Beste aus der ihnen angebotenen Zeit herauszuholen.Ich weiß natürlich nicht, wie Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von den Linken, es mit den Praktikantinnen undPraktikanten in Ihren Büros hier im Hause halten. Abereines dürfte klar sein: Praktikantinnen und Praktikantenzu beschäftigen, erfordert einen hohen Aufwand und da-mit Zeit, zusätzliche Zeit, die an anderer Stelle dann fehlt.Ein solches Angebot ist hoch zu schätzen. Ein Praktikumetwa im Bundeskanzleramt macht sich ja auch recht gutim Lebenslauf. Praktika anzubieten, ist nicht selbstver-ständlich, sondern ein besonderer Service für die jungenMenschen. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für denBundestag oder die Bundesministerien.

Wer, wie die Linken, diese Angebote möglichst abschaffenwill, indem erst Gesetze zu Mindestvergütungen, Arbeits-zeiten und dann am besten noch zu bezahltem Urlaubgefordert werden, und nun wiederum neue Hürden auf-bauen will, erweist den jungen Menschen in unseremLand einen Bärendienst. An anderer Stelle, dort, wo Sieselbst Verantwortung tragen, scheinen Sie das ja imÜbrigen auch selbst zu sehen. Wenn Sie einmal nachPraktikumsplätzen suchen, die in der Berliner Senatsver-waltung angeboten werden – nur zur Erinnerung: Berlinwird rot-rot regiert –, werden Sie leicht feststellen, dassdie angebotene Vergütung mit „keine“ beziffert wird.

Ich betone es noch einmal: Missbrauch ist zu bekämp-fen. Hierzu stehen alle notwendigen arbeitsrechtlichenMöglichkeiten zur Verfügung. Jede weitere unnötige Re-gulierung führt nur dazu, dass schließlich keine jungenMenschen mehr die Möglichkeit haben werden, wertvolleEinblicke in die Arbeit der Bundesministerien zu erhalten.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Nicht zum ersten Mal befassen wir uns hier mit der Si-

tuation von Praktikantinnen und Praktikanten. Seit 2006tun wir das jedes Jahr und in jedem Jahr gleich mehrfach.Und wäre ich noch so naiv, die Aussagen der Kolleginnenund Kollegen der Großen Koalition, hier speziell derSPD, für bare Münze zu nehmen, dann müsste ich davonausgehen, dass das Problem längstens erledigt ist. Ich zi-tiere hier einmal stellvertretend die SPD – exemplarischund ohne Namensnennung, denn die Rednerinnen undRedner sind austauschbar – aus einem Protokoll des Jah-res 2007:

Aber wir wissen – die HIS-Studie zeigt das klarauf –, dass es auch eine ganze Reihe unfairer Prak-tika gibt: Praktikanten werden für lange Zeit ohneoder gegen nur geringe Bezahlung eingesetzt, regu-läre Arbeitskräfte werden ersetzt, und die Menschenwerden schamlos ausgenutzt, indem sie zunächstmit dem Versprechen einer regulären Stelle gekö-dert und dann fallen gelassen werden. Das ist unge-

recht. Das ist Ausbeutung. Das schadet den Men-schen, und das schadet der Gesellschaft. Genaudagegen werden wir vorgehen.

Anders kann es die Linke auch nicht formulieren: Dasist ungerecht. Das ist Ausbeutung. Das schadet den Men-schen, und das schadet der Gesellschaft, 2009 noch ge-nauso wie 2007. Nur, wann werden Sie denn endlichdagegen vorgehen, wie Sie und insbesondere der Bundes-arbeitsministers das so vollmundig angekündigt haben?Bis heute warten Praktikantinnen und Praktikanten ver-geblich auf eine gesetzliche Verbesserung ihrer Situation.Denn selbst die von Olaf Scholz vorgeschlagenen Mini-maländerungen sind der Union offensichtlich noch zuviel. Und die SPD zeigt weder Kraft noch Willen.

Mitte Dezember 2008 sind sie im Petitionsausschusswieder einmal eingeknickt. Damit fällt eine gesetzlicheRegelung zu Praktika dem Koalitionsgezänk zum Opfer.Tausende Praktikantinnen und Praktikanten, die weitge-hend ohne Schutzrecht und für lau beschäftigt sind, blei-ben im Regen stehen. Zu Recht fühlen sich die vielen be-troffenen Praktikantinnen und Praktikanten mittlerweileverschaukelt. Seit über zwei Jahren speist die Bundesre-gierung sie mit folgenlosen Ankündigungen ab. Dabei hatsich auch 2008 die Lage gegenüber der HIS-Studie kei-neswegs verbessert. Laut einer Untersuchung des Inter-nationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie füh-len sich 30 Prozent der Befragten ausgenutzt; 80 Prozentberichten, mindestens die Hälfte ihrer Arbeitszeit als nor-male Arbeitskraft eingesetzt worden zu sein. 51 Prozentder befragten Praktikantinnen und Praktikanten gabenan, nicht bezahlt worden zu sein.

Wenn sie gegenüber dem Koalitionspartner schon zufeige sind, könnte der Arbeitsminister doch wenigstens imeigenen Haus dafür Sorge tragen, dass Praktikantinnenund Praktikanten zu vernünftigen Konditionen ein Prak-tikum absolvieren können. Denn es ist zutiefst unglaub-würdig, in der Öffentlichkeit gegen die Ausbeutung vonPraktikantinnen und Praktikanten einzutreten, im eige-nen Verantwortungsbereich aber genau diese Ausbeutungselbst zu betreiben. Im Bundesministerium für Arbeit undSoziales werden die jährlich rund 100 Praktikantinnenund Praktikanten beispielsweise allein mit einem Fahrt-kostenzuschuss und Essensgutscheinen entlohnt. In denanderen Ministerien sieht es ähnlich aus. Die höchsteAufwandsentschädigung erhalten Praktikantinnen undPraktikanten im Bundesministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung. Aber auch hier erhal-ten sie lediglich 100 Euro monatlich. Das ist ungerecht.Das ist Ausbeutung. Das schadet den Menschen, und dasschadet der Gesellschaft. Und dafür liefert die Bundesre-gierung auch noch das Vorbild.

Es ist längst überfällig, die Ausbeutung von Praktikan-tinnen und Praktikanten endlich zu unterbinden. Dies giltin besonderer Weise für Praktikaverhältnisse, die nachAbschluss einer Ausbildung getätigt werden. Die Frak-tion die Linke fordert seit langem, Praktika als Lernver-hältnisse gesetzlich zu definieren und an den Vorschlägender DGB-Jugend orientierte Mindestanforderungen fürgute Praktikaverhältnisse überall umzusetzen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21931

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Volker Schneider (Saarbrücken)

Immerhin werden Praktikantinnen und Praktikanten inden Ministerien und im Bundeskanzleramt nicht als bil-lige Arbeitskraft missbraucht. Aber entgegen der Bundes-regierung ist die Linke der Auffassung, dass auch Prakti-kantinnen und Praktikanten in einer Ausbildungangemessen vergütet werden sollten. Durch die bestehen-den Praktikaregelungen können sich nur Privilegierte einPraktikum leisten. Wer dagegen zur Finanzierung seinesLebensunterhaltes auf ein regelmäßiges Einkommen an-gewiesen ist oder die zusätzlich anfallenden Kosten etwafür die Unterkunft am Praktikumsort nicht aufbringenkann, muss auf eine Bewerbung verzichten. Die Bundes-regierung trägt somit zur Verfestigung sozialer Ungleich-heit bei.

Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierungauf, eine angemessene Praktikumsvergütung zu zahlen,für eine qualifizierte Betreuung Sorge zu tragen, jedemPraktikanten und jeder Praktikantin einen Praktikums-vertrag sowie ein qualifiziertes Praktikumszeugnis auszu-stellen. Es muss endlich Schluss sein mit der „GenerationKantinengutschein“, wie dies die „Süddeutsche Zeitung“nennt. Um Scheinpraktika auszuschließen und um fürmehr Qualität und Gerechtigkeit bei echten Praktika zusorgen, muss die Bundesregierung zuerst bei sich selbstaktiv werden. Eine Orientierung bietet der Leitfaden fürein „faires Praktikum“ der DGB-Jugend.

Selbst die Abgeordneten des Deutschen Bundestageshaben diesbezüglich einen ersten Schritt getan: Der Äl-testenrat sprach sich in seiner Sitzung am 26. April 2007fraktionsübergreifend dafür aus, die Möglichkeit einerPraktikumsvergütung für Praktikantinnen und Praktikan-ten vorzusehen. Es ist mehr als überfällig, dass jetzt auchdie Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht wird.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir unterstützen den Antrag der Linken, von der Bun-

desregierung faire Spielregeln zur Beschäftigung vonPraktikantinnen und Praktikanten einzufordern. Dies istein Gebot der Fairness und Gerechtigkeit. Wer Miss-stände in der Gesellschaft verändern will – und die Aus-nutzung zahlreicher Praktikantinnen und Praktikantenvon einzelnen Unternehmen gehört leider dazu –, dermuss sich in den eigenen Reihen vorbildlich verhalten,das heißt faire Praktika in Bundesministerien und -behör-den garantieren und gewährleisten. Schutzmechanismenmüssen eine Selbstverständlichkeit sein.

Die grüne Bundestagsfraktion geht beim Thema„Faire Praktika“ längst mit gutem Beispiel voran. Waswir von Arbeitgebern fordern, haben wir bereits vor zweiJahren umgesetzt: Für die Beschäftigung von Praktikan-tinnen und Praktikanten gelten bei uns klare Mindeststan-dards. Mit unserer Selbstverpflichtung „Faires Prakti-kum“ und unserem Fraktionsbeschluss zur GenerationPraktikum sind wir Vorreiter unter den Bundestagsfrak-tionen. Erfreulich ist, dass sich daraufhin alle Bundes-tagsfraktionen auf der Ebene des Ältestenrats auf Prakti-karegeln verständigt haben, mit deren Hilfe Mindeststan-dards in allen Bundestagsfraktionen umgesetzt wurden.Deren Einhaltung ist für die Glaubwürdigkeit diesesHauses in der Praktikadebatte unerlässlich.

Von dieser Bundesregierung hingegen wird die Gene-ration Praktikum keine Verbesserungen erwarten können.Seit fast drei Jahren ist hinlänglich bekannt, dass es ingroßem Umfang Missbrauch bei Praktika gibt. Jede undjeder Fünfte im Alter zwischen 18 und 34 Jahren war lauteiner Studie im Auftrag des Bundesarbeitsministeriumsein Praktikant und hat dabei durchschnittlich 1,9 Prak-tika durchlaufen. In derselben Studie berichten mehr als80 Prozent, überwiegend wie normale Arbeitnehmer ein-gesetzt worden zu sein. Gleichzeitig werden fast zweiDrittel aller Praktikantinnen und Praktikanten gar nichtoder nur gering bezahlt.

Die Bundesregierung kennt diese Fakten. Doch weilsich Minister Scholz und Ministerin Schavan selbst auf ei-nen Mini-Schutzschirm für Praktikanten nicht einigenkönnen, werden die jungen Berufseinsteiger auf denSankt-Nimmerleins-Tag vertröstet. Der Arbeitsministerplante unter anderem kleinere Änderungen im Berufsbil-dungsgesetz, mit deren Hilfe Praktika als ein Beitrag zurberuflichen Ausbildung definiert werden sollten und fürdie ein schriftlicher Vertrag erforderlich sei. Diese Vor-schläge sind zwar halbherzig, dennoch wären sie ersteSchritte in die richtige Richtung gewesen. Aber selbst die-ser großkoalitionäre Minimalkompromiss kam nicht zu-stande, sondern platzte im Dezember. Damit ist klar: Indieser Legislatur sind gesetzliche Initiativen gegen dieAusnutzung in Praktika wohl leider vom Tisch. Dies istein armseliges Signal an die junge Generation.

Die Rolle des Arbeitsministers ist geradezu heuchle-risch. Die Praktikanten im Hause Scholz erhalten ledig-lich Essensgutscheine und Fahrtkostenzuschüsse. EineVergütung ist nicht drin. Auch in anderen Bundesministe-rien bekommen Praktikanten kein Geld. Diese Praxis derBundesregierung ist ein Armutszeugnis. Gerade bei Mi-nisterien und Behörden darf es nur faire Praktika geben.

Von der Arbeit der Praktikanten profitieren beide Sei-ten. Einerseits erhalten die Praktikanten interessanteEinblicke in die Arbeitswelt eines Ministeriums und kön-nen wertvolle Kontakte knüpfen. Andererseits unterstüt-zen sie die Arbeit dort und übernehmen eigenständig Auf-gaben. Man hört, dass nicht selten einzelne Abteilungenauf die Unterstützung von Praktikanten angewiesen seinsollen. Umso empörender ist es, dass eine starke ideelleund finanzielle Anerkennung dieser Leistungen unter-bleibt; denn wer tatkräftig unterstützt, braucht hierfüreine Gratifikation.

Wir erwarten, dass Scholz sein Amt als Schirmherr derInitiative „Fair Company“ zurückgibt. Wer einer Initia-tive ideell vorsteht, die sich gegen die Ausbeutung inPraktika richtet und die dezidiert auch eine Aufwandsent-schädigung voraussetzt und zwingend beinhaltet, mussauch als Minister im eigenen Haus danach handeln. An-dernfalls kann man kein glaubwürdiger Anwalt für die In-teressen von Praktikantinnen und Praktikanten sein.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11662 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-rung beim Innenausschuss liegen soll. Sind Sie damit

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21932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Peter Hettlich, Dr. Thea Dückert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Versorgung für Geschiedene aus den neuenBundesländern verbessern

– Drucksache 16/11684 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich umdie Reden der Kolleginnen und Kollegen MariaMichalk, CDU/CSU, Gregor Amann, SPD, Dr. HeinrichKolb, FDP, Dr. Martina Bunge, Die Linke, IrmingardSchewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11684 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gregor Gysi, Dr. Gesine Lötzsch, KerstenNaumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKE

Gleichberechtigte Entschädigung von Strah-lenopfern in Ost und West schaffen – umfas-sendes Radaropfer-Entschädigungsgesetz ein-führen

– Drucksache 16/8116 – Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich umdie Reden der Kolleginnen und Kollegen Jürgen Herrmann,CDU/CSU, Rolf Kramer, SPD, Birgit Homburger, FDP,Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke, Winfried Nachtwei,Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Die sogenannte Radarstrahlenproblematik beschäftigt

den Deutschen Bundestag seit Ende des Jahres 2000.Eine zentrale Forderung des uns heute vorliegenden An-trages ist die Einführung eines umfassenden Radaropfer-Entschädigungsgesetzes. Die Schaffung eines Radarop-

1) Anlage 8

fer-Entschädigungsgesetztes wurde bereits 2001 vonseitendes Bundesministeriums der Verteidigung unter Beteili-gung des Bundesministeriums der Justiz, des Bundesminis-teriums für Arbeit und Sozialordnung sowie des Bundes-ministeriums des Innern umfassend geprüft. Im Ergebniswurde jedoch von einem solchen Sondergesetz Abstandgenommen, da für die möglicherweise betroffenen Perso-nen bereits Rechtsvorschriften bestehen, die Leistungenbei einer durch dienstliche Tätigkeiten bedingten gesund-heitlichen Schädigung vorsehen.

Bei diesen Rechtsvorschriften handelt es sich für dieSoldaten der Bundeswehr um Versorgungsansprüche we-gen einer – strahlenbedingten – Wehrdienstbeschädigungnach den Bestimmungen des Soldatenversorgungsgeset-zes, für Beamte nach den Regelungen des Beamtenversor-gungsgesetzes und für Arbeitnehmer nach den Vorschriftender gesetzlichen Unfallversicherung. Ehemalige Soldatender NVA können einen Anspruch auf Dienstbeschädi-gungsausgleich nach dem „Gesetz über einen Ausgleichfür Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet“ – soge-nanntes Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz – geltendmachen.

Im Einigungsvertrag und im Zuge der Gesetzgebungzur Überleitung von Ansprüchen nach dem Recht derDDR wurde die Entscheidung getroffen, ehemalige Ange-hörige der NVA nicht in die Versorgung nach dem Solda-tenversorgungsgesetz aufzunehmen. In Bezug auf die inden Versorgungssystemen erworbenen Ansprüche undAnwartschaften auf Leistungen wurde des Weiteren dieSystementscheidung getroffen, die Rentenansprüche ausSonderversorgungssystemen ausschließlich in nur eineRente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu über-führen. Es ist somit auch keine Möglichkeit vorgesehen,Witwen von Angehörigen der ehemaligen NVA mit Wit-wen von Soldaten der Bundeswehr versorgungsrechtlichgleichzustellen. Hinterbliebene haben nach dem Dienst-beschädigungsausgleichsgesetz keinen Anspruch aufLeistungen. Die Ansprüche aus der gesetzlichen Renten-versicherung bestehen jedoch fort.

Des Weiteren führt die Fraktion Die Linke in ihrem An-trag unterschiedliche Regelungen bei geschädigtenGrundwehrdienstleistenden der NVA im Gegensatz zu Re-gelungen für Wehrdienstleistende der Bundeswehr an.Auch dies resultiert aus den vom Gesetzgeber als ange-messen erachteten und getroffenen Regelungen. Ansprü-che, die ehemalige Wehrpflichtige wegen Unfällen bei derNVA nach den Gesetzen der DDR aus der allgemeinenSozialversicherung hatten, sind in die gesetzliche Unfall-versicherung übergeleitet worden. Solche Unfälle warenin der DDR Arbeitsunfällen gleichgestellt. Die Überlei-tung ist folglich sachgerecht. Die Hinterbliebenen blei-ben nicht unversorgt, vielmehr haben sie die gleichen An-sprüche wie die Hinterbliebenen der Opfer vonArbeitsunfällen.

Die soeben aufgeführten Unterschiede in den Versor-gungsvorschriften ehemaliger Angehöriger der NVA imVergleich zu Angehörigen der Bundeswehr basieren aufgesetzlich gewollten Unterscheidungen. Bei der Frage,inwieweit Soldaten durch Radargeräte Gesundheitsschä-den erlitten haben und wie mit diesen Gesundheitsschä-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21933

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Jürgen Herrmann

den umzugehen ist, handelt es sich jedoch um eineschwierige und komplexe Thematik, die weit über die ge-setzlichen Versorgungsvorschriften hinausgeht.

Messwerte über die Strahlenemission von Radargerä-ten, die in den 50er- bis 70er-Jahren in der Bundeswehrbetrieben wurden, liegen nur in wenigen Einzelfällen vor.Somit können die damaligen Arbeitsplatzsituationen nurnoch schwer oder gar nicht mehr rekonstruiert werden.Darüber hinaus sind Vergleiche mit ähnlichen Personen-gruppen aus dem zivilen Bereich nicht möglich. Für dieehemalige Nationale Volksarmee, NVA, stellt sich die Si-tuation noch weitaus schwieriger dar. Aus diesem Bereichstehen noch weniger Unterlagen und Dokumente zur Ver-fügung.

In diesem Zusammenhang wurde im Jahr 2002 auf Er-suchen des Verteidigungsausschusses eine Expertenkom-mission eingerichtet. Diese Expertenkommission hattezur Aufgabe, auf der Grundlage der bestehenden gesetz-lichen Vorgaben Lösungswege für die Entschädigung derRadaropfer zu entwickeln. Hierzu sollten technische undmedizinische Grundlagen für einen praktikablen Um-gang mit den Versorgungsanträgen der betroffenen Sol-daten der Bundeswehr und der ehemaligen NVA erarbei-tet werden. Am 2. Juli 2003 legte die Kommission ihrenAbschlussbericht vor. Die in diesem Bericht erstelltengroßzügigen Kriterien bilden bis heute die Grundlage fürdie Bearbeitung und Entscheidung der Radarfälle. DieEmpfehlungen der Expertenkommission werden eins zueins umgesetzt, ohne dass im Einzelfall konkret nachge-wiesen werden muss, dass die jeweiligen Erkrankungentatsächlich auf die konkrete Tätigkeit an Radargerätenzurückzuführen sind. Darüber hinaus wurde die Interpre-tation der Anerkennungskriterien des Berichts zugunstender Betroffenen immer wieder ausgedehnt; StichwortKonkurrenzrisiko.

Im Zusammenhang mit der „Radarstrahlenproblema-tik“ wurden alle möglichen Optionen für eine bestmögli-che Lösung zugunsten der Antragsteller in die erwogenenMaßnahmen einbezogen. Neben der Überlegung, ein Ra-daropfer-Entschädigungsgesetz einzuführen, wurde inder Vergangenheit mehrmals auch die Errichtung einerStiftung oder eines Fonds angeregt. Dieser Vorschlagwurde ebenfalls durch das Bundesministerium der Vertei-digung unter Einbeziehung weiterer Bundesministeriengeprüft. Da auf der Basis der Empfehlungen des Berichtsder Radarkommission mit großzügigen Anerkennungs-kriterien über fast alle der eingegangenen Versorgungs-anträge auf gesetzlicher Grundlage entschieden wurde,wird auch die Notwendigkeit für die Einrichtung einerStiftung derzeit als nicht gegeben angesehen.

Aufgrund der soeben ausgeführten Aspekte lehnt dieCDU/CSU-Fraktion die Annahme des Antrages derFraktion Die Linke und somit die Einführung eines Ra-daropfer-Entschädigungsgesetzes ab. Die vom Gesetzge-ber getroffenen Versorgungsregelungen sowie die Krite-rien des Berichts der Radarkommission bilden nach wievor eine geeignete und sachgerechte Grundlage für dieBearbeitung, Entscheidung und Entschädigung in denRadarfällen sowohl von Angehörigen der Bundeswehrals auch der ehemaligen NVA.

Rolf Kramer (SPD): Die Problematik der Opfer der Radarstrahlen bei der

Bundeswehr und der ehemaligen NVA beschäftigt michseit meinem Eintritt in den Bundestag im Jahre 2002. Eshat sich leider zu einem fast unendlichen Thema entwi-ckelt, was ich sehr bedauere. Ich hätte mir gewünscht,dass wir hier im Sinne der Betroffenen schneller zu einemAbschluss gekommen wären.

Der Anfang der parlamentarischen Beschäftigungliegt bereits im Jahre 2001, unter anderem mit derVorlage des Berichtes vom Arbeitsstab Dr. Sommer, dervom seinerzeitigen Bundesverteidigungsminister RudolfScharping eingesetzt und in dem eine Sachverhaltsauf-klärung angemahnt und Empfehlungen zum weiteren Vor-gehen bei dieser Problematik vorgeschlagen wurden. ImSeptember 2002 wurde dann auf Vorschlag des Verteidi-gungsausschusses des Bundestages vom Bundesverteidi-gungsministerium eine aus unabhängigen Experten be-stehende Kommission, die sogenannte Radarkommission,eingesetzt, die die gesundheitlichen Gefährdungen durchStrahleneinwirkungen im Bereich früherer Einrichtungender Bundeswehr und ausdrücklich auch der ehemaligenNVA untersucht und bewertet hat.

Nach Vorlage des Abschlussberichtes billigte der Ver-teidigungsausschuss am 23. September 2003 die Stel-lungnahme des Bundesverteidigungsministeriums zu die-sem Bericht, die im Anschluss die Grundlage für alleEntschädigungsverfahren im Bereich der Radarstrahlen-problematik bildet. Das Ministerium sagte zu, „die Emp-fehlungen unter Ausschöpfen aller rechtlichen Möglich-keiten und Ermessensspielräume im Prinzip eins zu einsumzusetzen, um damit den drängenden Anliegen der be-troffenen Antragsteller bestmöglich Rechnung zu tra-gen.“

Damit gelten die von der Radarkommission festgeleg-ten Kriterien für die Anerkennung von Versorgungsan-sprüchen gleichermaßen für die Anträge aus dem Bereichder Bundeswehr und dem Bereich der ehemaligen NVA.Allerdings ist die Erfüllung dieser Kriterien auch Voraus-setzung für einen Versorgungs- bzw. Entschädigungsan-spruch. Dies gilt in Ost wie West. Ich gehe davon aus,dass, wie auch im Bereich der Bundeswehr, die überwie-gende Mehrheit abgelehnter Anträge auf eine Nichterfül-lung dieser Kriterien zurückzuführen ist.

Was die im Antrag genannten Probleme beim Kausali-tätsnachweis betrifft, so sind diese Vorhaltungen aus mei-ner Sicht unbegründet, soweit sie den im Radarberichtfestgelegten Zeitraum, der die Zeit bis Anfang der 80er-Jahre umfasst, betreffen. Hier sehen die Empfehlungender Radarkommission eine grundsätzliche Anerkennungqualifiziert erkrankter Personen vor, soweit sie nachweis-lich an den betreffenden Radargeräten gearbeitet haben.Dies bedeutet konkret, dass auf den eigentlich vom Gesetzin jedem Einzelfall geforderten Kausalitätsnachweis zwi-schen Tätigkeit und Erkrankung verzichtet wird, eine deraus meiner Sicht größten Verbesserungen im Verfahrens-und Entscheidungsablauf, die durch den Radarbericht er-reicht worden ist.

Eine im hier zu diskutierenden Antrag der FraktionDie Linke formulierte Diskriminierung und unterschied-

Zu Protokoll gegebene Reden

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21934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Rolf Kramer

liche Behandlung ehemaliger NVA-Angehöriger und de-ren Hinterbliebenen ist für mich und meine Fraktion nichtersichtlich. Sowohl die Bundeswehrverwaltung Ost alsauch die Unfallkasse des Bundes richten sich in ihrenEntscheidungen nach den Empfehlungen der Radarkom-mission. Das Bundesverteidigungsministerium ist damitauch seiner Verantwortung gegenüber den ehemaligenNVA-Angehörigen nachgekommen.

Ob diese Zusage des Bundesverteidigungsministeri-ums in allen Fällen auch eingehalten wurde, steht heutehier nicht zur Debatte und würde sowohl den Bereich derBundeswehr wie auch den der ehemaligen NVA betreffen.Hier sind wir aber im Rahmen von Berichterstatterge-sprächen aller Fraktionen mit dem Bundesverteidigungs-ministerium in einem konstruktiven Dialog und hoffen aufeine positive Lösung im Sinne der Betroffenen.

Was die im Antrag angesprochene Ungleichbehand-lung aufgrund unterschiedlicher Versorgungssysteme fürAngehörige der Bundeswehr und der ehemaligen NVAbetrifft, so ist den Ausführungen der Bundesregierung inder Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DieLinke vom 28. Juli 2008, Drucksache 16/2320, nur wenighinzuzufügen. Grundlage dieser tatsächlichen Ungleich-behandlung sind die Bestimmungen des Einigungsvertra-ges vom 31. August 1991. Dort wurde die Systement-scheidung getroffen, die Rentenansprüche aus Sonder-versorgungssystemen ausschließlich in nur eine Renteder gesetzlichen Rentenversicherung zu überführen. Fürdie ehemaligen Angehörigen der NVA wurde entschieden,sie nicht in die Versorgung nach dem Soldatenversor-gungsgesetz aufzunehmen. Damit sind Entschädigungs-zahlungen an Soldatinnen und Soldaten der ehemaligenNVA ausschließlich nach dem übergeleiteten DDR-Rechtim Rahmen sozialversicherungsrechtlicher Abgeltung zubeurteilen. Dies gilt analog für Ansprüche ehemaligerWehrpflichtiger aus Unfällen bei der NVA.

Für meine Fraktion gibt es zurzeit keinen Anlass, ander grundsätzlichen Entscheidung des Einigungsvertra-ges in diesem Punkt etwas zu verändern. Damit sehe ichauch keine Chance für eine Zustimmung zum vorliegen-den Antrag der Fraktion Die Linke.

Aus meiner Sicht wäre es zielführender – auch im Hin-blick auf noch vorhandene Probleme bei der Behandlungder Radarstrahlenopfer –, trotz aller bisher von der Bun-desregierung aufgezeigten rechtlichen Schwierigkeitendie Möglichkeit einer Stiftungslösung weiterzuverfolgen.

Birgit Homburger (FDP): Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich in der

ersten Jahreshälfte 2001, setzte sich mein VorgängerGünther Nolting massiv für eine großzügige Entschädi-gung der Radarstrahlenopfer ein. Von einer Unterstüt-zung der PDS-Fraktion, Vorgängerin der heutigen Frak-tion Die Linke, war zu dem Zeitpunkt noch keine Rede.Zwar gab der damalige Bundesminister der Verteidigung,Rudolf Scharping, den Radargeschädigten im selben Jahrdas Versprechen einer „großherzigen und streitfreien“Entschädigungsregelung, blieb allerdings die Einlösungdes Versprechens schuldig.

Am 2. Juli 2003 wurde der Bericht der Radarkommis-sion vorgelegt. Auf der Basis der vom Verteidigungsaus-schuss gebilligten Empfehlungen dieses Berichts werdengegenwärtig die sogenannten Radarfälle bearbeitet, nachAussage des Bundesministeriums der Verteidigung „einszu eins“. Damit meint das Bundesministerium der Vertei-digung, dass jeder Antrag für sich einzeln, objektiv undwohlwollend geprüft werde.

Ist nun „eins zu eins“ gleich „großherzig und streit-frei“? Offensichtlich nicht. Andernfalls wäre die Zufrie-denheit der Betroffenen mit der Arbeit und den Entschei-dungen des BMVg größer. Schauen wir uns die Faktenund Zahlen an! Bis heute wurden circa 3 700 Versor-gungsanträge aller Statusgruppen und Hinterbliebenergestellt, einschließlich des Bereichs der ehemaligen Na-tionalen Volksarmee. Ebenfalls bis heute wurden 720 die-ser Anträge positiv beschieden. Das mag vielleicht „einszu eins“ sein, aber wohl nicht großherzig, und deshalbbleiben die Entscheidungen auch nicht streitfrei.

Laut der Bundestagsdrucksache 16/2320 wurden rund36 Prozent der Anträge aus dem Bereich der ehemaligenNVA gestellt. Während die Anerkennungsquote bei allenentschiedenen Anträgen 14,2 Prozent betrug, lag sie beiden Anträgen aus dem Bereich der ehemaligen NVA le-diglich bei 6,6 Prozent. Ohne die gewissenhafte und ob-jektive Prüfung der einzelnen Versorgungsanträge grund-sätzlich anzweifeln zu wollen, lassen diese Zahlendennoch Fragezeichen aufkommen, jetzt sogar bezüglichdes „eins zu eins“.

Auch bestes Bemühen der zuständigen Stellen der Bun-deswehrverwaltung scheint aufgrund der gegenwärtigenRechts- bzw. Entscheidungsgrundlagen nicht auszurei-chen, großherzig und streitfrei zu entscheiden. Eine poli-tische Lösung dieses Problems ist gefragt, und sie solltenun endlich umfassend sein. Der Weg, der zu dieser Lö-sung führt, ist dabei von nachrangiger Bedeutung. Aufkeinen Fall sollten aus ideologischen oder anderen Grün-den Lösungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel die Stif-tungslösung, von vornherein kategorisch ausgeschlossenwerden. Entscheidend ist das Ergebnis, und das solltesehr bald vorliegen, und zwar für die Betroffenen zufrie-denstellend. Dass es dabei keine Unterschiede zwischenstrahlengeschädigten Angehörigen der Bundeswehr undstrahlengeschädigten ehemaligen Angehörigen der NVAsowie jeweils deren Familienmitgliedern und Hinterblie-benen geben darf, ist für die FDP-Fraktion selbstver-ständlich.

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Die Bundeswehr wie auch die NVA haben jahrzehnte-

lang ihr Personal ungeschützt an Radargeräten, die le-bensgefährliche Strahlung aussendeten, arbeiten lassen.Viele Soldaten erkrankten an Krebs. Hunderte starbenohne jede Ahnung. Mit den Stimmen aller Fraktionenwurde 2002 eine Radarkommission eingesetzt. Der erar-beitete Radarbericht hat die von den Radargeschädigtenin ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Jeder fünfteVersorgungsantrag wurde anerkannt.

Die Verwaltung verfügt, dass der Antragsteller nachüber 40 Jahren beweispflichtig ist. Nur die damalige Ver-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21935

(A) (C)

(B) (D)

Dr. Gesine Lötzsch

waltung wusste vom Schädigungspotenzial der ionisie-renden Strahlung, nicht der Soldat am Gerät. Die meistenAblehnungen beruhen nach belegbarer Auffassung derBetroffenen auf sachlich und fachlich falschen Argumen-ten, die von den nicht mit der Materie befassten Richte-rinnen und Richtern nicht sofort erkennbar sind. Siegt einAntragsteller, egal vor welchem Gericht, geht die Verwal-tung grundsätzlich in Berufung. Die Antragsteller stehenvor einem langen Instanzenweg und hohen Kosten.

Im Bericht des Wehrbeauftragten 2006 – Drucksache16/850 – wird eine Lösung im Sinne der Betroffenen ge-fordert. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Klageeines Betroffenen mit der Begründung abgewiesen, dassdie Bundesrepublik nicht generell für in der DDR entstan-dene Schäden hafte. Das widerspricht dem Radarbericht.Erforderlich sei ein Gesetz, so das Bundesverwaltungsge-richt. Dieses soll nun in Form eines Radaropfer-Entschä-digungsgesetzes erarbeitet und dem Deutschen Bundes-tag vorgelegt werden. Es darf keine biologische Lösunggeben.

Der Wehrbeauftragte hat vergeblich eine Bundesstif-tung zur Entschädigung von Strahlenopfern der Nationa-len Volksarmee, NVA, der DDR angeregt. Durch die Stif-tung sollten betroffene Soldaten, die Röntgenstrahlen vonRadargeräten ausgesetzt waren, effektiv und fair entschä-digt werden. Nach Auffassung der Wehrbeauftragtendürfe sich die Bundesrepublik nicht darauf berufen, dasssie nicht in der Rechtsnachfolge der NVA stehe.

Auch der Petitionsausschuss kam 2007 zu dem Ergeb-nis, dass es Fälle gebe, die von den derzeitigen Gesetzennicht erfasst würden, und hat hierfür Regelungsbedarfgesehen; Drucksache 16/4072.

Schließlich gibt es eine Ungleichbehandlung in Ostund West. Grundwehrdienstleistende, Reservisten, Zivil-beschäftigte und Freiwillige der NVA erhalten eineUnfallrente, die auf die Altersrente angerechnet wird,während die Wehrdienstleistenden der Bundeswehr Leis-tungen nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten, dienicht auf eine Altersrente angerechnet werden.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Spätestens seit 2001 ist im Verteidigungsministerium

bekannt, in welchem Ausmaß Soldaten der Bundeswehrund der NVA bei ihrer Arbeit an Radargeräten in derTruppe schädlichen Radarstrahlen ausgesetzt waren unddaran schwer erkrankten. Die Strahlenbelastungen lie-gen meist Jahre zurück und sind als eindeutige Krank-heitsursache oft nur noch schwer zu beweisen. Umsomehr haben sich die Betroffenen und ihre Angehörigenauf die Zusage des damaligen VerteidigungsministersScharping verlassen, der im Juni 2001 zusicherte, dassfür die Strahlenopfer der Bundeswehr und der ehemali-gen NVA eine „streitfreie und großherzige“ Regelung ge-funden werden solle.

Auch die auf Ersuchen des Verteidigungsausschusseseingesetzte unabhängige Radarkommission, die 2003 ih-ren Bericht vorlegte, formulierte großzügige Kriterien fürdie Anerkennung auf Versorgungsleistungen für radar-strahlenerkrankte ehemalige Soldaten der Bundeswehr

und der früheren Nationalen Volksarmee der DDR. Hattedas Bundesministerium der Verteidigung bei der Über-gabe des Berichtes den Geschädigten und Hinterbliebe-nen von Bundeswehr und NVA noch eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Empfehlungen zugesagt, vertrauen mitt-lerweile viele Betroffene und ihre Angehörigen auf dieseZusagen nicht mehr. Von etwa 3 700 Verfahren sind inzwi-schen etwa 700 zugunsten der geschädigten Soldaten ab-geschlossen. Das ist gerade einmal jeder Fünfte.

Viele betroffene Soldaten und ihre Angehörigen kämp-fen mittlerweile einen für sie zermürbenden und frustrie-renden juristischen Kleinkrieg mit der Verwaltung umAnerkennung auf Wehrdienstbeschädigung. Das Ministe-rium verzichtet noch nicht einmal darauf, nach einemverlorenen Radarprozess in Berufung zu gehen. Von einergroßzügigen und unbürokratischen Anerkennung derRadargeschädigten auf Wehrdienstbeschädigung kannlängst keine Rede mehr sein.

Zu Recht empfinden die Betroffenen und ihre Familiendas Vorgehen von Verwaltung und Ministerium als unzu-mutbar. Eine Hinhaltestrategie, mit der Verfahren mög-lichst lange hinausgezögert werden oder auf Verjährungder Schadensersatzansprüche gesetzt wird, ist zynischund nicht hinnehmbar. Der ehemalige Dienstherr steht inder Verantwortung, seiner Fürsorgepflicht gegenüberSoldaten und ehemaligen Soldaten, die zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes ohne eigenes Wissen ihre Gesundheit undihr Leben riskiert haben, rasch und vollständig nachzu-kommen. Die vom Verteidigungsausschuss beschlossenenEmpfehlungen des Radarberichtes müssen daher ohneWenn und Aber umgesetzt werden. Zusätzlich ist es not-wendig, Möglichkeiten einer Wiederaufnahme des run-den Tisches für strittige Fälle sowie die Aussetzung vonVerfahren vorbehaltlos zu prüfen. Ministerium und Ver-waltung müssen zurückkehren zum Prinzip des Dialogsmit den Betroffenen. Auch eine bereits seit längerem dis-kutierte Stiftungslösung darf nicht leichtfertig vom Tischgewischt werden. Damit könnten auch die Ansprüche aufVersorgungsleistungen von Radargeschädigten der NVAund ihren Hinterbliebenen besser berücksichtigt werden.

Die Versorgungsleistungen für Strahlenopfer der Bun-deswehr und der NVA sowie deren Hinterbliebene sollenlaut Empfehlungen der Radarkommission einheitlich be-urteilt werden. Das ist ausdrücklich zu begrüßen. Aller-dings greifen für die Versorgungsleistungen von radar-geschädigten Soldaten der Bundeswehr und der NVAunterschiedliche Rechtsgrundlagen. Während radar-geschädigte Soldaten der Bundeswehr Leistungen nachdem Soldaten- und Bundesversorgungsgesetz erhalten,haben ehemalige Soldaten der NVA entsprechend demEinigungsvertrag und laut Dienstbeschädigungsaus-gleichsgesetz im Beitrittsland Anspruch auf eine Unfall-rente. Zudem werden die Unfallrenten auf die Altersren-ten aus der gesetzlichen Rentenversicherung teilweiseangerechnet. Das Dienstbeschädigungsausgleichsgesetzsieht außerdem keine eigene Zusatzversorgung für Hin-terbliebene von Radargeschädigten der NVA vor. Hinter-bliebene von radargeschädigten Soldaten der NVA sindmit Hinterbliebenen von Opfern von Arbeitsunfällengleichgestellt und erhalten daher Leistungen aus der ge-setzlichen Rentenversicherung.

Zu Protokoll gegebene Reden

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21936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Winfried Nachtwei

Diese Praxis hat der Bundesgerichtshof in einem Ur-teil vom Februar 2008 bestätigt. Demnach haben Solda-ten der NVA, die durch ihre militärische Tätigkeit Strah-lenschäden erlitten haben, keinen generellen Anspruchauf Schadenersatz durch die Bundesregierung. EtwaigeAnsprüche aus Zeiten der DDR sind laut Urteilsbegrün-dung mit der Wiedervereinigung nicht auf die Bundesre-publik übergegangen. Auch die Vorinstanzen hatten dieKlage abgewiesen. Der Einigungsvertrag bildet laut Ur-teil des Bundesgerichtshofes keine Grundlage für Haf-tungsansprüche.

Die Fraktion Die Linke fordert nun in ihrem Antrag dieversorgungsrechtliche Gleichstellung von Radargeschä-digten der Bundeswehr mit Radargeschädigten der NVA.Das ist grundsätzlich richtig. Wenn die Fraktion DieLinke in ihrem Antrag allerdings fordert, die Bundesre-gierung müsse sich ihrer Verantwortung für strahlenge-schädigte ehemalige NVA-Angehörige stellen und auchdie Passiva der NVA übernehmen, dann muss sich dieLinke, die zu erheblichen Anteilen Nachfolgepartei derSED ist, eine Frage an ihre Glaubwürdigkeit gefallen las-sen: Warum setzt sie sich nicht mit demselben Engage-ment auch für die Rehabilitation und Entschädigung vonpolitischen Opfern des SED-Regimes ein?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/8116 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-rung beim Verteidigungsausschuss liegen soll. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, Krista Sager,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Experimente zur Meeresdüngung dürfen ma-rine Ökosysteme nicht belasten

– Drucksache 16/11760 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Auswärtiger Ausschuss

Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Federführung strittig

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt wol-len wir zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Re-den der Kolleginnen und Kollegen Michael Kretschmerund Ingbert Liebing, CDU/CSU, Heinz Schmitt undRené Röspel, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Dr. PetraSitte, Die Linke, Undine Kurth und Krista Sager, Bünd-nis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11760 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derSPD wünschen die Federführung beim Ausschuss fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federfüh-rung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re-aktorsicherheit.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Überweisungs-vorschlag bei Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD – Federführungbeim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung – abstimmen. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stim-men von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen allerübrigen Fraktionen angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2009,9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 20.06 Uhr)

1) Anlage 9

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21937

(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 29.01.2009

Barthle, Norbert CDU/CSU 29.01.2009

Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

29.01.2009

Bellmann, Veronika CDU/CSU 29.01.2009

Binder, Karin DIE LINKE 29.01.2009

Brüning, Monika CDU/CSU 29.01.2009

Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 29.01.2009

Caspers-Merk, Marion SPD 29.01.2009

Deittert, Hubert CDU/CSU 29.01.2009*

Ehrmann, Siegmund SPD 29.01.2009

Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 29.01.2009*

Freitag, Dagmar SPD 29.01.2009

Gradistanac, Renate SPD 29.01.2009

Hauer, Nina SPD 29.01.2009

Heller, Uda Carmen Freia

CDU/CSU 29.01.2009

Hirsch, Cornelia DIE LINKE 29.01.2009

Jung (Karlsruhe), Johannes

SPD 29.01.2009

Dr. Kolb, Heinrich L. FDP 29.01.2009

Kolbow, Walter SPD 29.01.2009

Kopp, Gudrun FDP 29.01.2009

Kurth (Quedlinburg), Undine

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

29.01.2009

Dr. Lamers (Heidelberg), Karl A.

CDU/CSU 29.01.2009

Maurer, Ulrich DIE LINKE 29.01.2009

Mogg, Ursula SPD 29.01.2009**

Müller-Sönksen, Burkhardt

FDP 29.01.2009

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates

** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung der NATO

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)zur Beratung der Beschlussempfehlung: Vor-schlag für eine Richtlinie des Europäischen Par-laments und des Rates über Qualitäts- undSicherheitsstandards für zur Transplantationbestimmte menschliche Organe (inkl. 16521/08ADD 1 und 16521/08 ADD 2) (ADD 1 in Eng-lisch) KOM(2008) 818 endg.; Ratsdok. 16521/08 (Drucksachen 16/11517 Nr. A.30, 16/11781) (Tagesordnungspunkt 14)

Naumann, Kersten DIE LINKE 29.01.2009

Nitzsche, Henry fraktionslos 29.01.2009

Noll, Michaela CDU/CSU 29.01.2009

Paula, Heinz SPD 29.01.2009

Pflug, Johannes SPD 29.01.2009

Raidel, Hans CDU/CSU 22.01.2009

Schäffler, Frank FDP 29.01.2009

Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 29.01.2009

Schily, Otto SPD 29.01.2009

Dr. Spielmann, Margrit SPD 29.01.2009

Strothmann, Lena CDU/CSU 29.01.2009

Dr. Tabillion, Rainer SPD 29.01.2009

Tauss, Jörg SPD 29.01.2009

Dr. Westerwelle, Guido FDP 29.01.2009

Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 29.01.2009

Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.01.2009*

Zapf, Uta SPD 29.01.2009

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

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21938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

(A) (C)

(B) (D)

Die vorliegende Beschlussempfehlung zum Vorschlagfür eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und desRates über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zurTransplantation bestimmte menschliche Organe werdeich und wird meine Fraktion Die Linke ablehnen.

Wir entscheiden heute – ohne Debatte – über die Sub-sidiaritätsprüfung, die im Rahmen eines Testlaufs aufAnregung der Konferenz der Ausschüsse für Gemein-schafts- und Europaangelegenheiten der Parlamente derEuropäischen Union, COSAC, stattfindet; ein komple-xes und vielen sicherlich noch nicht vertrautes Verfah-ren, das wir in den vergangenen Wochen intensiv in denbeteiligten Ausschüssen des Deutschen Bundestages be-raten haben. Nicht weniger komplex ist der gewählteGegenstand des Testlaufs, der Vorschlag der Europäi-schen Kommission für eine Richtlinie über Qualitäts-und Sicherheitsstandards für zur Transplantation be-stimmte menschliche Organe.

Das Thema Organspende und -transplantation ist einsehr sensibles Thema. Denn es bedeutet, sich mit dengroßen Fragen Leben und Tod auseinanderzusetzen.Viele Menschen schrecken bei diesem Gedanken ersteinmal zurück. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieBereitschaft, einen Organspendeausweis auszufüllen,von einer Reihe von Faktoren abhängt. Ein ganz ent-scheidender Faktor ist das Vertrauen der Menschen indas Gesundheitssystem. Eine zunehmende Ökonomisie-rung des Gesundheitssystems, wie wir sie gegenwärtigerleben, schafft kein Vertrauen. Die Europäische Kom-mission will nun mit ihrem Richtlinienvorschlag überQualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Transplanta-tion bestimmte menschliche Organe einen klarenRechtsrahmen für die Organspende und -transplantationin der Europäischen Union schaffen. Nach Ansicht derKommission bestehen zwischen den Mitgliedsländerngroße Unterschiede hinsichtlich der Qualitäts- und Si-cherheitsanforderungen. Einheitliche Qualitäts- und Si-cherheitsstandards könnten – so die Kommission weiter –den grenzüberschreitenden Austausch von Organen be-fördern.

Trotz meiner Ablehnung der Beschlussempfehlungbegrüße ich dieses Anliegen. Heute geht es jedoch nichtum die inhaltliche Beratung der Vorlage, sondern um dieFrage, ob der Grundsatz der gemeinschaftlichen Subsi-diarität gewahrt ist. Dahinter verbirgt sich die Fragenach der Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeitenzwischen dem europäischen Gesetzgeber und dem Deut-schen Bundestag. Die Prüfung des Subsidiaritätsprinzipserfolgt anhand von zwei Fragen: Können die Ziele desVorhabens ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaa-ten erreicht werden oder können die Ziele des EU-Vor-habens wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen bes-ser auf EU-Gemeinschaftsebene verwirklicht werden?

Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil ichBedenken hinsichtlich der Einhaltung des Grundsatzesder Subsidiarität habe. Diese Bedenken gibt es nicht hin-sichtlich der Schaffung europaweiter Mindeststandardsfür Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen bei zurTransplantation bestimmter Organe, aber hinsichtlichder Frage, ob hierfür umfangreiche detaillierte institutio-

nelle Regelungen auf europäischer Ebene geschaffenwerden müssen.

Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil wir– und hier meine ich den Bundestag in Gänze – nichtwissen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ge-wahrt bleibt, denn dazu müssten wir einen Vergleich al-ler Vorschriften in den einzelnen EU-Mitgliedsländernzu den vorliegenden Regelungsgegenständen haben.Doch die Kommission macht noch nicht einmal die er-forderlichen Angaben, um überhaupt prüfen zu können,ob die voraussichtlichen finanziellen und administrati-ven Belastungen für die Mitgliedstaaten in einem ange-messenen Verhältnis zu dem erwarteten Nutzen stehen.

Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil dieLinke ein friedliches und soziales Europa will und denWeg der europäischen Integration weitergehen möchte.Das gelingt aber nicht mit einer Absenkung höhererStandards, und das gelingt nicht, wenn wir die Möglich-keiten zur Subsidiaritätskontrolle bei Richtlinien wiedieser nicht ernsthaft nutzen.

Anlage 3

Erklärung

des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung überdie Beschlussempfehlung: Für eine erleichterteAnerkennung von im Ausland erworbenenSchul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen (Ta-gesordnungspunkt 9)

Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen, dass unser Votum „Enthaltung“ lautet.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung des Antrags: Zehn Jahre aner-kannte Regional- und Minderheitensprachen inDeutschland. Schutz – Förderung – Perspekti-ven (Tagesordnungspunkt 10)

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Wedder mol – veel to selten – sünd de Regional- unMinnerheitensproken vun uns Land anseggt op unsTagesordnung. Fröher, bi mi bi´t Huus in Grotefehn inOstfreesland, worr hochdüütsch snackt.

Ik heff Plattdüütsch vun de annern Kinner in´t Dörplehrt. Ik sülvst bün keen professionellen, ober en passio-neerten Plattsnacker. Mien Computer jedenfalls, as ikdor an’t Schrieven weer, hett dat allens rot anstreken mitsien Rechtschreibautomatik, all de plattdüütschen Wöörgefullen em nich.

Plattsnacken hett een Barg Vördeele: Man kriggt enannere Stimmung bi´t Snacken. Man föhlt, dat manirgendwie tosomen höört mit de, de ok platt snackt. Manföhlt ok, dat de Soken ut uns moderne Welt, de sik nurswor op Platt utdrücken loot, villich gor nich de wich-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009 21939

(A) (C)

(B) (D)

tigsten sünd. De gröttste Vördeel is ober, dat man sik inalle Fründschap Soken an’n Kopp smieten kann, de opHochdüütsch de reinste Beleidigung weern. Dor is defründliche Peter Harry ok mol en echten Nordstrander„Dickkopp“. Villicht is dat in de Politik mennigmol rich-tig, wenn man dor Plattdüütsch snacken deit. Villichtschullen wi de Swattbrotthemen wie Föderalismus-reform un Huusholt mol op Platt besnacken. Ik glööv,dor kunn en Masse klorer warrn.

Bi en poor Kollegen vun dit Hooge Huus un bi en Deelvun de Lüüd in´t Land is villicht en beten dörenannerkomen, dat dat en grote Ünerscheed twüschen de Regio-nalsprook Plattdüütsch un de Minnerheitensproken vununs Land – Däänsch, Freesch, Sorbisch un Romanes –gifft. Plattdüütsch is keen Sprook vun en nationale Minner-heit, dat is en in ganz Norddüütschland wiet verbreeteRegionalsprook – un de Minschen, de Platt snackt, sündkeen eegen Gruppe so as de Minnerheiten. Op de annerSiet gifft dat natürlich ok en Masse Soken, de bi Platt,Deensch, Freesch, Sorbisch un Romanes gliek sünd. Frö-her geef dat mol en Konkurrenz twüschen Platt, Däänsch,Freesch, Sorbisch un Romanes. Obers dor sünd wi al langvun weg. Dörum dörf dat ok keen Gegeneenanner-Utspeelen vun de Sproken op de politische oder finan-zielle Ebene geben.

Hüüt is de „Druck“ vun dat Hoochdüütsche so grootworrn, dat alle annern Sproken vun uns Land dat swoorhebbt. De Europäische Charta för de Regional- oderMinnerheitensproken, de siet den 1. Januar 1999 alsBundesgesetz in Kraft is, is en ganz wichtigen Punkt.

Ik bedank mi bi de Grote Koalition för den geschmei-digen Andrag. De Kollegen und Kolleginnen hebbt aldorop henwiest, dat wi mit de Verpflichtungen vun deCharta noch nich ganz liekvör sünd. Dat seht wi von deGrönen jüstso.

All wedder en Bericht – goot meent is noch lang nichgoot mookt. Un wat wi in dissen Bericht höört: „KeenMinsch deit so veel för de Minnerheitensproken as düsseBundesregierung“. Tominnst mit de Tung, kösten dörfdat nämlich nix!

Af un an schullen wir uns överleggen, wat wi vun dePolitik noch moken köönt, un af und an köönt wi ok enbeten mehr doon. Ik glööv, dat is ganz wichtig, dormitwi unse Identität un unse Kultur fastholen doot. Wi sünduns all enig, dat de Minnerheitensproken en wichtigenDeel vun de Kultur un Identität in Düütschland sünd.Minnerheitensproken sünd nich blots Folklore, nich blotwat Lustiges. Wer sik mol de Möhg mookt un to´nBispill Klaus Groth op Platt lesen deit, siene olen platt-düütschen Gedichten un Geschichten, de weet, woveelKultur und Tradition in Minnerheitensproken binnen is.

Wo weer dat denn, wenn sik all Bundesländer mol miten poor vernünftige Lüüd an een Disch setten un endlichmol festlegen deen, wat denn nu würklich passierenschall. So wat nennt man auf Hochdüütsch „Konzept“.

Een Spraak leevt nur, wenn se sproken warrt, wenn deLüüd se dagdächlich bruukt. Un dat warrt, wenn man datehrlich bekieken deit, jümmer ringer. Wi mookt uns Sor-gen, dat de Minnerheitensproken jümmer wieder torüch

goht, dat jümmer weniger Lüüd de Minnerheitensprokensnackt.

De Medien kunnen dor veel bi moken, jüst, wenn datin´t Radio un Fernsehn nich jümmer blooß Programm förole Lüüd geef. In de Volkssproken kann man ok sülvst-bewusst un frech en Programm för junge Lüüd moken.Wenn de Volkssproken en Tokunft hebben schüllt, dennmutt se för junge Lüüd wat bedüden. Wenn wi as Bundes-dag blooß alle poor Johr mol Platt snackt, bringt dat nichveel.

Insofern is dat nootwennig, dat wi uns buten bedankt,nämlich bi dejenigen in de Kinnergoorns, in de Scholen,in de Hoochscholen un ok bi vele, vele, de sik ehrenamt-lich dormit beschäftigt. Ik will mi ok bi all de Minschenbedanken, de helpt, de Minnerheitensproken to erholen.Dissen Dank slütt sik mien Fraktion vull an. VelenDank! Loot Se uns all tosomen dorför sorgen, dat deMinnerheitensproken ok tokünftig leevt.

Un dat mehr un nich weniger Lüüd seggt: „Ik snackplatt“, „Jeg taler dansk“, „Ik snaak frasch“, „Me rakrauromnes“

Velen Dank för’t Tohören!

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung:

– des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Zivilschutzgesetzes (Zivilschutzgesetz-änderungsgesetz – ZSGÄndG)

– der Beschlussempfehlung zu dem Antrag:Bevölkerungsschutzsystem reformieren –Zuständigkeiten klar regeln

(Tagesordnungspunkt 12 a und b)

Petra Pau (DIE LINKE): In dem Gesetz, das heuteverabschiedet werden soll, geht es um einen besseren Zi-vilschutz. Damit ist der Schutz ziviler Objekte undRessourcen im Verteidigungsfall gemeint. Beim Kata-strophenschutz wiederum geht es um Unwetter,Hochwasser, Erdbeben und dergleichen, also um nichtmilitärische Bedrohungen. Diese Unterscheidung sei vo-rausgeschickt.

Nun soll beides, der Zivil- und der Katastrophen-schutz, besser koordiniert werden. Auch das klingt ver-nünftig. Aber genau da lauern auch Konflikte, mindes-tens zwei. Denn zum einen droht eine Vermengungziviler und militärischer Komponenten. Und zweitensgeht es um die Frage, welche Kompetenzen den Ländernund welche dem Bund zustehen.

Beide möglichen Konflikte sind wiederum aus dreier-lei Sicht interessant. Erstens: Das Grundgesetz trenntscharf zwischen militärischen und zivilen Instrumenten.Dafür gibt es historische, politische und sachlicheGründe. Die Linke hält sie nach wie vor für richtig. Oderanders gesagt: Wir werden sofort hellhörig, wenn dieseGrenzen angetastet werden.

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Zweitens: Der Bund maßt sich gern Kompetenzen an,die eigentlich in der Hoheit der Länder liegen. Das warunter Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) so, unddas ist unter Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble(CDU) nicht anders. Sie werden daher meine Skepsisverstehen, wenn nun CDU/CSU und SPD gemeinsamans Werk gehen.

Drittens: Bundesinnenminister Schäuble hat mehr-fach erklärt, dass er eine neue Sicherheitsarchitektur an-strebt. Sein Vorbild sind die USA, also ein zentralisti-scher Sicherheitsapparat mit nahezu unbegrenzten undundurchschaubaren Befugnissen. Das will Die Linkeausdrücklich nicht – nicht in großen, aber auch nicht inkleinen Schritten.

Nun hatten wir in den Fachausschüssen des Bundesta-ges sechs Wochen lang Zeit, den Gesetzestext auf seineguten und auf seine möglicherweise tückischen Seiten zuprüfen. Zuletzt taten wir es gestern im Innenausschuss.Die Fachkolleginnen und -kollegen werden sich anmeine sachlichen Fragen erinnern. Die Antworten derVertreter des Bundesinnenministeriums konnten leiderdrei Bedenken der Linksfraktion nicht entkräften. Ers-tens hegen wir Zweifel, ob das neue Gesetz zum Zivil-schutz wirklich mit dem Grundgesetz übereinstimmt.Ähnliche Zweifel hegten Abgeordnete der FDP und vonBündnis 90/Die Grünen. Zweitens konnten unsere Be-fürchtungen nicht ausgeräumt werden, dass es sich hier-bei auch um eine Einstiegsdroge für den Einsatz derBundeswehr im Inneren handelt. Ich räume ein: Der Ge-setzestext weist dies nicht vordergründig aus. Aber wiralle kennen die Absicht des Bundesinnenministers, ge-nau dies zu tun, auf welchen Wegen auch immer.

Drittens hat Die Linke Bedenken zum Datenschutz.Sage bitte niemand, die seien übertrieben. Wir erlebeneinen Datenskandal nach dem anderen, und der Staatmischt kräftig mit. Auch dieses Gesetz ermächtigt dazu,neue Daten zu erheben. Das kann sinnvoll sein. Daskann aber auch gefährlich sein, zumal: Auch Daten-schutz ist Zivilschutz.

Sie merken an meiner moderaten Abwägung, dass ichunentschlossen bin. Natur- und andere Katastrophenmüssen so effektiv wie möglich gemeistert werden. Da-rauf haben alle Bürgerinnen und Bürger einen unbe-streitbaren Anspruch, zumal wir leider davon ausgehenmüssen, dass die aktuelle Nichtklimapolitik weitere Na-turkatastrophen befördert. Aber es wäre unredlich, dieSorge vor oder das Unglück nach solchen Katastrophenpolitisch zu missbrauchen. Ich habe ihnen eingangs dieGründe für meine Skepsis erläutert. Weder die CDU/CSU noch die SPD, auch nicht das Innenministerium ha-ben meine Zweifel ausgeräumt.

Die Linke wird sich daher bei der Abstimmung ent-halten.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): 60 Jahre Grundgesetz ist in diesem Jahr An-lass für zahlreiche Feierlichkeiten. Vieles, was sich dieVäter und Mütter unseres Grundgesetzes 1949 ausge-dacht haben, hat sich bewährt und sollte bewahrt und

verteidigt werden. Der Föderalismus ist die bewährteGrundordnung unseres Staates, auch wir wollen grund-sätzlich daran festhalten. Die Föderalismusreformkom-mission I hat die Aufgabenverteilung zwischen Bundund Ländern in einigen Bereichen neu justiert. DieZweidrittelmehrheit dieses Hauses und des Bundesrateshat nach Auffassung der Grünen hier die falschen Wei-chen gestellt. Dem Bund jegliche Verantwortung für dieBildung zu nehmen, war eine krasse Fehlentscheidung.Die gleichzeitige Handlungsunfähigkeit der GroßenKoalition beim Thema Bevölkerungsschutz bleibt fürmich unverständlich. Hier gibt es in der Verfassungrealen Veränderungsbedarf, und ich unterstütze aus-drücklich die Forderungen des Bundesrechnungshofes,die Finanzierung im Bereich des Bevölkerungsschutzesauf eine verfassungsrechtlich tragende Grundlage zustellen. Ich benutze hier bewusst den Begriff des Bevöl-kerungsschutzes, weil es mein Ziel bleibt, ein einheitli-ches, modernes Bevölkerungsschutzgesetz zu schaffen.Die Trennung zwischen Katastrophenschutz und Zivil-schutz ist nicht mehr sachgerecht und wird den Risiken,denen wir heute und in Zukunft ausgesetzt sind, nichtmehr gerecht.

Die geltende Verfassung geht davon aus, dass dieZuständigkeit der Länder bei der Gefahrenabwehr imKatastrophenfall liegt und die Verteidigung und Kriegs-folgenbeseitigung Aufgabe des Bundes ist. Die Wirk-lichkeit heute sieht anders aus. Wir müssen uns heute aufGroßschadenslagen wie Pandemien oder Stromausfalleinstellen, die länderübergreifend sind, und gleichzeitigist die Wahrscheinlichkeit, dass Kriegsfolgen überwun-den werden müssen, eher gering geworden. Nicht klarerfasst wird die Zuständigkeit bei einem Terroranschlag,der weder Kriegsfolge noch Katastrophe im klassischenSinne ist.

Warum also kann sich die Politik nicht auf den ein-heitlichen Begriff des Bevölkerungsschutzes verständi-gen und die Aufgabenwahrnehmung und Finanzierungder Ressourcen klar regeln?

Was die Große Koalition hier heute als Gesetzentwurfpräsentiert, das ist ein wenig überzeugender Kompro-miss zwischen Bund und Ländern. Wir begrüßen durch-aus, dass zentrale Koordinierungsmaßnahmen auf denBund übertragen wurden, dass gemeinsame Standardsfür die Aus- und Fortbildung entwickelt werden sollenoder der Bund die beratende Funktion beim Schutz kriti-scher Infrastrukturen hat. Aber das reicht nicht. Es bleibtbei einem Wirrwarr an Zuständigkeiten und Verantwort-lichkeiten, es gibt weder eine einheitliche Struktur fürLeitstellen noch für Führungsstrukturen, und bei länder-übergreifenden Großschadensfällen muss der Bund zu-schauen und geduldig auf Hilferufe aus den Ländernwarten. Das ist in meinen Augen gefährlicher Unsinnund bedeutet im Ernstfall, dass wir für den Schutz derBevölkerung nicht optimal aufgestellt sind.

Die Länder sind schon heute nicht in der Lage, ihreAufgaben, an denen sie kleben, auch zu finanzieren. DerKatastrophenschutz ist in allen Bereichen unterfinan-ziert, das gilt für die Notfallmedizin genauso wie für diezivilen Rettungsdienste oder die Feuerwehren. Sie erfin-

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den hier das Konstrukt des „Zivilschutz-Doppelnutzen-Konzepts“, dass kaschieren soll, dass der Bund zwar be-zahlt, aber nichts zu sagen hat. Das ist inhaltlich falschund es wird dem Grundsatz der Haushaltsklarheit undHaushaltswahrheit nicht gerecht. Ich bin ausdrücklichdafür, dass sich der Bund an der Finanzierung vonFeuerwehrautos beteiligt, aber bitte auf einer klarenGrundlage der Aufgabendefinition. Zivilschutz ist alsBundesaufgabe weitgehend weggefallen, es ist daher ab-surd, hier in einem Gesetz eine „Zivilschutz-Doppelnut-zung“ einzuführen. Nein, wir brauchen ein einheitlichesBevölkerungsschutzgesetz, und dafür müssen wir dasGrundgesetz ändern.

Nicht geregelt wird in dem Gesetzentwurf, wie dieBevölkerung auf mögliche Schadensereignisse ausrei-chend vorbereitet werden soll und wie die Selbsthilfe ge-stärkt werden kann. Nach der Privatisierung der kriti-schen Infrastrukturen muss auch die Verantwortung derWirtschaft in diesem Bereich neu definiert werden; diealten Sicherstellungsgesetze reichen hier nicht aus. Aberan so schwierige Fragen traut sich die Große Koalitionnicht heran, und es bleibt einmal mehr bei einem kleinenReförmchen.

Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Anmerkungenzum Gesetzentwurf der FDP machen. Inhaltlich stimmenwir Ihrem Entwurf zu, es steht viel Richtiges drin. Genauwie wir fordern Sie die Aufhebung der Trennung vonKatastrophenschutz und Zivilschutz. Aber wie ehrlich isthier Ihr Antrag? Die Länder, die am meisten auf derBremse stehen, sind von der FDP mitregierte Länder.Ein modernes Bevölkerungsschutzgesetz scheitert anNiedersachsen, Bayern und Hessen, und mir ist keineInitiative der FDP bekannt, die Blockadehaltung derLänder zu lockern. Sie stellen hier als FDP-Bundestags-fraktion richtige Forderungen auf, gleichzeitig verhin-dert die FDP in den Ländern die Durchsetzung, das istwenig glaubwürdig.

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung der Beschlussempfehlung: V-Leutein der NPD abschalten (Tagesordnungspunkt 15)

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Schluss mit der demokratiefeindlichen NPD! DieserWunsch eint unser demokratisches Parlament. Für dieLinksfraktion heißt der Weg dorthin: Sofortiger Abzugaller V-Leute und Einleitung eines NPD-Verbotsverfah-rens! Aber kann das hochkomplexe, gesellschaftlich festverankerte Problem Rechtsextremismus mit einer derarteindimensionalen Lösung behoben werden? Sichernicht.

Die Arbeit der V-Leute gilt als umstritten. Jeder siebteNPD-Funktionär bezieht Geld vom Verfassungsschutz.Offensichtlich ist, dass solche Mitarbeiter bzw. Infor-manten nicht immer mit der nötigen Sorgfalt ausgewähltwurden. Da sind auch „braune Schafe“ dabei. Mehrfach

kam es zu Fällen, in denen V-Leute mit rechtsextremenKriminellen kollaborierten. Nazi-Aktivitäten wurden mitGeld vom Nachrichtendienst finanziert. Informationenflossen nicht nur in die gewünschte Richtung. Vielmehrwarnten V-Leute ihre rechtsextremen Kumpane auch vorpolizeilichen Fahndungen. Dies ist nicht Sinn der Sache.Insofern teile ich die Kritik der Linksfraktion.

Doch darf die Antwort des Staates auf derartige Miss-stände lauten: Keine Überwachung mehr? Das wäre dop-pelt fahrlässig: Zum einen müssen wir über NPD-interneMachenschaften und Vorhaben unterrichtet sein. Zumanderen ist der Staat verpflichtet, aus Schutzgründen dieAnonymität der V-Leute zu wahren.

Bringt aber der Einsatz von V-Leuten in den Füh-rungsetagen der NPD das gewünschte Ergebnis? Da tutsich einiger Änderungsbedarf auf. Der Verfassungs-schutz muss künftig seine Informanten professionellerauf ihre Eignung prüfen. Straftaten dürfen nicht durchstaatliche Behörden billigend in Kauf genommen wer-den. Die zuständigen Gremien auf Bund- und Länder-ebene haben ihre Kontrollfunktionen gewissenhafter undkonsequenter auszuüben. Auch die Kooperation bei derVerwertung gewonnener Informationen verläuft sehr un-befriedigend. Die Innenministerkonferenz muss hierbeiihre Bemühungen intensivieren. All diese Umsetzungs-probleme zeigen: Nicht die V-Leute verhindern Erfolgeim Kampf gegen Rechtsextremismus und NPD, son-dern Uneinigkeiten und fehlende Kontinuität im demo-kratischen Spektrum. Wir brauchen eine abgestimmte,nachhaltige Strategie, die vor allem auf Prävention setzt.Dazu gehört ganz maßgeblich die offensive Auseinan-dersetzung mit rechtsextremen Ideologien. Denn diesebilden den Nährboden, auf dem schließlich Wahlerfolgeder NPD oder rechte Gewalt gedeihen können. Wir wis-sen, dass ein NPD-Verbot – das ja das Ziel eines V-Leute-Abzugs wäre – keinen positiven Einfluss hätte auf rassis-tisches Denken, Antisemitismus, Ängste vor angeblicher„Überfremdung“ oder Abneigungen gegen andere Kul-turen und Lebensweisen. Doch hier muss unser konzep-tioneller Ansatz liegen.

Die Debatte um V-Leute und NPD-Verbotsverfahrenhingegen führt seit Jahren zu nichts. Wenn sie überhauptFrüchte bringt, dann unerwünschte: nämlich jedes Maleine Bestätigung für das ultrarechte Lager, dass die de-mokratischen Kräfte sich nicht einig werden.

Fragen wir uns stattdessen: Was braucht unsere Be-völkerung, um sich in der Demokratie zu Hause zu füh-len? Wie können wir Vielfalt und Toleranz attraktivdarstellen? Welche drängenden Probleme müssen die de-mokratischen Parteien lösen, damit die Nazis keine An-satzpunkte für ihre Propaganda finden? Solche Debattenlohnen sich, ganz besonders im sogenannten Superwahl-jahr 2009.

Wenn wir alle uns derartigen Fragen erfolgreich stel-len, können wir die NPD gemeinsam schachmatt setzenohne Verbot – indem wir sie als unwählbar, inakzeptabelund überflüssig entlarven.

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Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Europäische Ar-beitszeitrichtlinie – Hohen ArbeitnehmerschutzEU-weit sicherstellen (Zusatztagesordnungs-punkt 6)

Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute debattierenwir über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Euro-päische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen ArbeitnehmerschutzEU-weit sicherstellen“. Darin geht es kurz zusammen-gefasst um Folgendes: Die Richtlinie 2003/88/EG zurArbeitszeitgestaltung soll geändert werden. Derzeit for-mulieren auf EU-Ebene die Mitgliedstaaten die Positiondes Ministerrates für weitere Verhandlungen. Dabei setztsich die Bundesregierung dafür ein, dass eine wöchentlichedurchschnittliche Höchstarbeitszeit durch Tarifvertragoder, wenn kein Tarifvertrag vorliegt und keine Perso-nalvertretung besteht, durch einzelvertragliche Regelungüberschritten werden darf. Meine Damen und Herrenvon Bündnis 90/Die Grünen, wie könnte man in Zeitender Weltwirtschaftskrise eine andere Position vertreten?

Im Rat wurde im Juni ein Kompromiss errungen, derzwei essentielle Bedürfnisse vereint. Zum einen wird einangemessenes europaweites Schutzniveau bei der Arbeits-zeit festlegt. Die Richtlinie sorgt mit einer Regelarbeits-zeit von 48 Wochenstunden dafür, dass Wettbewerb nichtauf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer ausgetragen wird. Sie ist ein wichtiger Baustein fürein soziales Europa. Zum anderen wird an der notwendi-gen Flexibilität der Arbeitskräfte, die in unserer globali-sierten Welt unabkömmlich ist, festgehalten. Damit meineich die Regelung des Opt-outs, wonach im Bedarfsfall vonder gesetzlich vorgesehenen wöchentlichen Höchstarbeits-zeit mit Zustimmung des Arbeitnehmers abgewichenwerden kann.

Sofern Sie uns vorwerfen, wir würden Arbeitnehmer-belange nicht ausreichend würdigen, ja sogar ein Wort-bruch der Regierung liege vor, weil ein hoher sozialerSchutz für Arbeitnehmer nicht garantiert werde, ist diesschlichtweg falsch. Denn zum Schutze der Arbeitnehmersieht der Gemeinsame Standpunkt des Rates wesentlichstrengere Voraussetzungen für das Opt-out vor, als siebisher in den Mitgliedstaaten praktiziert wurden. Diesewichtigen Verbesserungen im Sinne der Arbeitnehmerbegrüße ich sehr.

Ich möchte Ihnen kurz in Erinnerung rufen, dass imGemeinsamen Standpunkt, hinter dem wir auch heutenoch stehen, erstmals eine absolute Höchstgrenze für dieWochenarbeitszeit festgelegt wurde. Dies bedeutet eineReduzierung um 23 Prozent im Vergleich zur heute theo-retisch möglichen absoluten Obergrenze.

Außerdem gilt die Zustimmung des Arbeitnehmerszum Opt-out nur noch für höchstens ein Jahr, und dieseZustimmung darf nicht gleichzeitig mit dem Abschlussdes Arbeitsvertrages eingeholt werden. Darüber hinauskann jeder Arbeitnehmer seine Erklärung innerhalb derersten sechs Monate ihrer Geltung zurücknehmen, undzwar mit sofortiger Wirkung. Danach besteht diese

Option immer noch mit einer Frist von maximal zweiMonaten. Ich frage Sie: Ist das arbeitnehmerunfreund-lich? Mit Sicherheit nicht! Und genau das ist der Grund,warum wir daran festhalten, dass unter diesen strengenVoraussetzungen auch weiterhin die Möglichkeit desOpt-outs bestehen soll.

Eine funktionierende Wirtschaft setzt voraus, dass aufNachfrage reagiert wird. Flexibilität aufseiten des Arbeit-gebers und Arbeitnehmers ist gefordert. In meinen Augenist es mehr als begrüßens- und unterstützenswert, wennsich ein Arbeitnehmer aus freien Stücken, zum Beispielaus der Motivation des Zusatzverdienstes heraus, hierzubereit erklärt. Warum sollen wir hier also Einschnittemachen? Selbst der Marburger Bund akzeptiert imGrundsatz die Notwendigkeit, durch tarifvertraglicheRegelungen bzw. durch Vereinbarungen der Sozialpartnervon der gesetzlich vorgesehenen wöchentlichen Höchst-arbeitszeit unter strengen Voraussetzungen Abweichungenvorzusehen. Dies sicherlich auch, weil das neue Opt-outim Vergleich zur bestehenden Regelung eine deutlicheVerbesserung im Sinne des Gesundheitsschutzes derÄrzte vorsieht.

Nach dem Gemeinsamen Standpunkt kann durch Tarif-vertrag oder Vereinbarung zwischen den Sozialpartnernbzw. durch Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Ar-beitnehmer von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von48 Stunden abgewichen werden. Stillschweigende Aus-beutung sieht anders aus. Trauen Sie, werte Damen undHerren von Bündnis 90/Die Grünen, den Arbeitnehmer-vertretungen so wenig zu?

Ich möchte betonen, dass, bezogen auf einen Drei-monatszeitraum, grundsätzlich höchstens 65 StundenWochenarbeitszeit vereinbart werden können. EtwaigemMissbrauch ist damit ein Riegel vorgeschoben. MachenSie sich bitte klar: Es handelt sich hier nicht um eine ein-seitige Regelung zulasten der Arbeitnehmer. Es geht unsgerade nicht darum, die Arbeitgeberposition zu stärken.

Es ist ein Stück wirtschaftliche Realität, dass insbeson-dere im Krankenhausbereich regelmäßig 48 Wochenstun-den überschritten werden. Durch die Opt-out-Lösungwird dem Ganzen der rechtliche Rahmen verliehen, denes verdient: Dem Arbeitnehmer wird ein Recht in dieHand gegeben, von dem er – aus welchen Erwägungenauch immer – Gebrauch machen kann, aber nicht muss.Seine Position wird gestärkt, nicht geschwächt. Neben-bei bemerkt: Nach der bisherigen Regelung waren hiertheoretisch bis zu 78 Stunden Wochenarbeitszeit mög-lich. Die neue Opt-out-Regelung ist also aus der Sichtder Ärzte eine Verbesserung des Status quo.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, auch wir sind für den Grundsatz, dass Bereit-schaftszeit inklusive der inaktiven Zeiten als Arbeitszeitangerechnet wird. Die Arbeitszeitrichtlinie muss deut-lich klarstellen, dass die geleistete Arbeit während derBereitschaftszeit genauso wertgeschätzt wird wie die re-guläre Arbeitszeit.

Das deutsche Arbeitszeitgesetz sieht derzeit vor, dassdie gesamte Bereitschaftsdienstzeit als Arbeitszeit zu wer-ten ist. Allerdings kann tarifvertraglich die wöchentliche

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Höchstarbeitszeit verlängert werden. So soll es bleiben.Denn wir brauchen Flexibilität, um den unterschiedlichenInteressen von verschiedenen Berufsgruppen gerecht zuwerden. Wird die inaktive Zeit als Arbeitszeit angese-hen, dann muss es die Möglichkeit geben, dass einzelneBerufsgruppen tarifvertraglich von der wöchentlichenHöchstarbeitszeit abweichen und ihre inaktiven Zeitenbesonders gewichtet werden.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Arbeitszeit-richtlinie für die verschiedensten Berufe und nicht nurfür Ärzte gilt. Es muss der Tatsache Rechnung getragenwerden, dass Bereitschaftsdienste – beispielsweise beiden Feuerwehrleuten, die im Gegensatz zum Arzt ihren24-Stunden-Dienst regelmäßig mit Schlafen und Freizeit-aktivitäten ausfüllen können – eine unterschiedliche Belas-tung der Arbeitnehmer nach sich ziehen. Dabei – und dasmöchte ich deutlich herausstellen – soll die inaktive Zeitnicht als Ruhezeit eingeordnet werden. Wir wollen ge-rade nicht die Situation, dass zum Beispiel ein Arzt nachseiner regulären Schicht Bereitschaftsdienst leistet undmorgens erneut zum Dienst antreten muss. Dies darf inkeinem Mitgliedstaat möglich sein.

Natürlich müssen wir wichtige Rahmenbedingungenfür einen höheren Schutz der Arbeitnehmer schaffen.Dazu gehören auch die Begrenzung der Wochenarbeits-zeit und einheitliche Begriffsdefinitionen. Auf derGrundlage dieser Rahmenbedingungen müssen dieTarifvertragsparteien der einzelnen Berufsgruppen inden Mitgliedstaaten aber auch die Möglichkeit erhalten,Regelungen zu treffen, die den spezifischen Interessender Arbeitnehmer vor Ort sowie allen anderen Beteilig-ten Rechnung tragen.

Die Möglichkeit der nationalen Abweichung von derwöchentlichen Höchstarbeitszeit durch die Tarifvertrags-parteien ist derzeit in Deutschland für Klinikärzte,Feuerwehrleute, Sozialarbeiter und Polizisten gängigund bewährt. In unserem Land haben die Tarifpartnerimmer praxisgerechte Tarifverträge ausgehandelt. DieseTarifautonomie muss bleiben, da sie vor Ort für sach-gerechte Lösungen sorgt. Nur das ist ein sachgerechterKompromiss. Die Stärkung der Verantwortung der Sozial-partner ist eine wichtige Errungenschaft, die wir fördernund nicht beschneiden sollten.

Ist es in den heutigen Zeiten der Weltwirtschaftskrisenicht dringend notwendig, Europa und damit auch denWirtschaftsstandort Deutschland zu stärken? Hierzu ge-hört nun einmal Flexibilität, die der Markt und damitauch die Arbeitskräfte beweisen müssen. Sie habenrecht, dies darf nicht zulasten der Arbeitnehmer gehen.Aber das tut es auch nicht. Denn die Bedingungen, diewir vorsehen, sind arbeitnehmerfreundlich. Es sind Er-rungenschaften, von denen Arbeitnehmer und Arbeit-geber gleichsam profitieren. Ich frage Sie, werte Damenund Herren von Bündnis 90/Die Grünen, warum wollenSie diese unter dem Deckmantel des Arbeitnehmerschut-zes zunichtemachen? Wie wollen Sie den StandortDeutschland attraktiv halten? Ihr Antrag ist mehr alskurzsichtig.

Abschließend ist es mir wichtig, deutlich zu machen,dass die Folgen unserer Entscheidungen Millionen von

Arbeitnehmern in Europa aus den unterschiedlichstenBerufsgruppen betreffen. Haben Sie schon einmal darübernachgedacht, was mit den Bereichen des Brandschutzes,der technischen Hilfeleistung und des Rettungsdienstespassiert, sollten Sie sich mit Ihrem Antrag durchsetzen?Ein Wegfall der Opt-out-Möglichkeit würde an denmeisten Standorten unvermeidbar zu einer Unterbeset-zung der Feuerwehren führen, da ausgebildete Feuer-wehrangehörige jetzt und auch in Zukunft nicht auf demArbeitsmarkt zur Verfügung stehen. FlächendeckenderBrandschutz wäre nicht mehr gewährleistet. Und hierwürde auch keine Übergangszeit von drei Jahren dieSituation ändern. Der Wegfall von Bereitschaftsdienstenwürde auch das Aus für alle deutschen SOS-Kinderdörferbedeuten, was nicht in unserem Interesse liegen kann.

Kurzum, es geht uns nicht darum, bestehende Rechteder Arbeitnehmer auszuhöhlen. Vielmehr werden Ansprü-che festgeschrieben und Rechtsgrundlagen geschaffen.Die Abschaffung des Opt-outs würde mehr Menschen indie Schattenwirtschaft treiben, wo sie völlig ungeschütztwären. In einer funktionierenden Wirtschaft müssen dieArbeitnehmer auch die Möglichkeit haben, Überstundenzu machen.

Wir dürfen auf der europäischen Ebene keine Vor-schriften verabschieden, die den Tarifvertragsparteieneine solche Lösung verwehren. Ihre Berufsvertreter inden Verbänden kennen die Situation am besten und kön-nen tarifvertraglich auf sie zugeschnittene Vereinbarun-gen treffen. Ein tarifvertragliches Opt-out ermöglichtpassgenaue Lösungen vor Ort, und genau das sollte beider Überarbeitung der Arbeitszeitrichtlinie im Vordergrundstehen. Flexibilität ist großzuschreiben, wobei unsereLösung die Belange der Arbeitnehmer und der Wirt-schaft in bestmöglicher Weise zusammenführt.

Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag vonBündnis 90/Die Grünen ab: Die Möglichkeit des Opt-outs muss, und zwar unabhängig von einer dreijährigenÜbergangszeit, bestehen bleiben.

Josip Juratovic (SPD): Regeln zur Arbeitszeit undzu den Arbeitsbedingungen sind eine wesentliche Säuledes Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenschutzes. Einsoziales Europa braucht klare und verbindliche Stan-dards gerade auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer. Seit 2004 gibt es intensive Bemühungen derEU-Kommission, sich auf eine Änderung der Arbeits-zeitrichtlinie zu verständigen.

Die Richtlinie enthält Mindeststandards für die Ar-beitszeitgestaltung, die in allen EU-Mitgliedstaaten gel-ten soll. Der Kompromiss der EU-Arbeits- und Sozial-minister zur Arbeitszeit 2008 eröffnet nach Ansicht desEuropäischen Parlaments den Einstieg in die 60-Stun-den-Woche und darüber hinaus für alle Beschäftigten,sofern entsprechende Tarifvereinbarungen getroffenwerden. Zudem soll nach dem Vorschlag des EU-Minis-terrats der inaktive Teil des Bereitschaftsdienstes nichtmehr als Arbeitszeit gewertet werden. Auch hier sagt dasEuropäische Parlament, dass der gesamte Bereitschafts-dienst einschließlich der inaktiven Zeit als Arbeitszeitanzusehen ist.

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Das Europäische Parlament befürchtet darüber hinaus,dass die Regelung sich nicht nur auf Bereitschaftsdienstebeschränkt wird. Für Bereitschaftsdienste wären 65 Stun-den und mehr möglich. Das Europäische Parlamentstimmte in seiner Sitzung am 17. Dezember letzten Jahresdafür, nationale Ausnahmeregelungen bei der Arbeits-zeitrichtlinie zu verbieten und eine EU-weite Höchstwo-chenarbeitszeit von 48 Stunden durchzusetzen. Damitstellte sich das Europäische Parlament gegen den Vor-schlag des EU-Ministerrates, nach dem in der Arbeits-zeitrichtlinie unter anderem nationale Ausnahmen – diesogenannten Opt-outs – und damit eine höhere Wochen-arbeitszeit zugelassen sind.

Aufgrund der Entscheidung des EU-Parlamentswurde das Vermittlungsverfahren eingeleitet. Noch dieseWoche tagt der informelle Rat, um zu prüfen, welchePosition die Mitgliedstaaten einnehmen. Des Weiterenwerden bis zum Vermittlungsausschuss Anfang Februarweitere Verhandlungen zwischen Parlament, Rat undKommission geführt werden, um einen Kompromiss zuerzielen. Wer bis heute nicht wusste, warum er an derEuropawahl teilnehmen soll, der erkennt spätestens jetztdie Bedeutung des Europäischen Parlaments.

Wir Sozialdemokraten sehen in der Arbeitszeitrichtli-nie einen wichtigen Baustein für das soziale Europa. DieRegeln zur Arbeitszeit tragen dazu bei, Sicherheit undGesundheitsschutz der Beschäftigten zu gewährleisten.Mindeststandards verhindern zudem Wettbewerbsver-zerrungen. Die Beschäftigten brauchen einen reguliertenArbeitszeitrahmen, wie wir ihn bereits im nationalen Ar-beitszeitgesetz Ende 2003 festgelegt haben. Wir habendie notwendigen Änderungen infolge des EuGH-Urteilszum Bereitschaftsdienst bereits umgesetzt. Arbeitsbe-reitschaft und Bereitschaftsdienst werden national insge-samt als Arbeitszeit gewertet. Dies ist nicht nur nationalrichtig.

Die Tarifvertragsparteien haben nach unserer gesetzli-chen Regelung Gestaltungsspielräume. Sie können in ei-nem abgestuften Modell auf tarifvertraglicher Grundlagelängere Arbeitszeiten vereinbaren. Diese Rahmenbedin-gungen sind wichtige Voraussetzungen, um die Ein-haltung von Arbeitszeit zu kontrollieren, auch fürBetriebsräte, die im Rahmen der Mitbestimmung die Ar-beitszeitinteressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer durchsetzen wollen.

Eine Absenkung des Schutzniveaus für Arbeitnehmerund Arbeitnehmerinnen ist nicht zielführend. Die Richt-linie wurde ursprünglich geschaffen, um Gesundheit undSicherheit der Arbeitnehmer zu schützen. Hier dürfenkeine Abstriche gemacht werden. Eine Verschlechterungdurch eine europäische Festlegung wäre mit dem Gedan-ken des Arbeitsschutzes aus unserer Sicht nicht verein-bar.

Anlass für die Revision der Arbeitszeitrichtlinie wa-ren vor allem zwei Dinge: Erstens steht das nationale Ar-beitszeitrecht vieler Mitgliedstaaten im Widerspruch zuden Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes. Der Eu-ropäische Gerichtshof hat festgelegt, dass Bereitschafts-zeit als Arbeitszeit zu werten ist. Zweitens sieht derKommissionsbeschluss ein vertragliches Opt-out vor.

Diese Klausel erlaubt es den Arbeitsvertragsparteien – alsodem einzelnen Unternehmen und dem einzelnen Arbeit-nehmer –, wichtige Vorschriften des Arbeitnehmerschut-zes arbeitsvertraglich außer Kraft zu setzen. Dies ist inder Praxis problematisch, da wir die geforderte Freiwil-ligkeit des Arbeitnehmers infrage stellen.

Der Kompromiss des Ministerrates zur Arbeitszeit-richtlinie aus dem Juni 2008 wird auch vom Europäi-schen Gewerkschaftsbund heftig kritisiert, insbesondere,dass künftig inaktive Bereitschaftszeit nicht mehr als Ar-beitszeit gelten soll, außer wenn nationale Gesetze oderTarifverträge das Gegenteil bestimmen. Ebenso ist fürden Europäischen Gewerkschaftsbund inakzeptabel,dass der Ausgleichszeitraum bei Arbeitszeitverlängerun-gen auf zwölf Monate ausgedehnt werden kann.

Heftig kritisiert wird auch die Einschränkung des so-genannten individuellen Opt-out, der Arbeitszeitverlän-gerung ohne Zeitausgleich bei individueller Zustim-mung. Mit den von EU-Kommission und Ministerratfestgelegten Änderungen besteht die Gefahr, dass auchnational die Dienstzeiten, zum Beispiel im Gesundheits-bereich, wieder infrage gestellt werden. Die Einführungeiner neuen Zeitkategorie, wonach sogenannte inaktiveZeiten des Bereitschaftsdienstes nicht als Arbeitszeit ge-wertet werden, lehnen wir ab. Dies widerspricht nichtnur der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.Mit der beabsichtigten Änderung würde die Tür zu sehrlangen Dienstzeiten, zum Beispiel im Gesundheitsbe-reich, geöffnet.

Die Einführung einer neuen Zeitkategorie, wonachsogenannte inaktive Zeiten des Bereitschaftsdienstesnicht als Arbeitszeit gewertet werden, ist in der Tat abzu-lehnen. Sie widerspricht der einschlägigen Rechtspre-chung des Europäischen Gerichtshofes, in der festge-stellt wurde, dass Bereitschaftsdienst in vollem UmfangArbeitszeit ist, weil der Arbeitnehmer dem Arbeitgeberzur Verfügung steht. Wer die Praxis kennt und denNachtdienst im Krankenhaus einmal miterlebt hat, derweiß, dass eine Aufteilung in aktive und inaktive Phasenvöllig realitätsfremd ist.

Wir brauchen aber nicht längere, sondern kürzere Ar-beitszeiten und eine faire Verteilung der Arbeit. Die Ver-abschiedung einer solchen Richtlinie würde jene Urteiledes EuGH aushebeln, die bisher zugunsten der Arbeit-nehmer und Arbeitnehmerinnen ausfielen. Unstreitig ist,dass die Auswirkungen der angestrebten Änderungender Arbeitszeit in den einzelnen EU-Staaten durchausunterschiedlich bewertet werden. Für einige Staatenwäre dies die Verpflichtung, national erstmalig Mindest-standards im Bereich der Arbeitszeit festzulegen. Wiebei allen Richtlinien, die soziale Mindeststandards denNationalstaaten vorgeben, dürfen diese Mindestbedin-gungen national nicht unterschritten werden. Das heißtumgekehrt, kein Mitgliedstaat wäre dazu verpflichtet,seine besseren Standards aufzugeben.

So bin ich sehr froh, dass in Deutschland das Arbeits-zeitgesetz seit 2004 dank Rot-Grün nicht mehr zwischenArbeitszeit und Bereitschaftsdienstzeit unterscheidet.Das bedeutet, dass die Bereitschaftsdienstzeit in Gänzeals Arbeitszeit gewertet wird, und zwar unabhängig da-

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von, wie die Inanspruchnahme während des Bereit-schaftsdienstes verläuft. Gleichzeitig wurden engereGrenzen für die zulässige tägliche und wöchentlicheHöchstarbeitszeit gezogen. Diese Regelungen habensich in Deutschland bewährt. Deswegen müssen wirdiese beibehalten und uns dafür einsetzen, dass die EU-Standards deutsche Standards nicht gefährden.

Auch mit der geänderten Arbeitszeitrichtlinie kann esdaher bei uns dabei bleiben, dass in Deutschland – an-ders als in anderen Ländern Europas – Bereitschafts-dienst als Arbeitszeit gilt. Wichtig ist für uns auch, dassmit der Richtlinie Mitgliedstaaten aufgefordert werden,auf die Sozialpartner einzuwirken, dass diese die bessereVereinbarkeit von Beruf und Familie fördern.

Nachdem wir uns bereits in einem sensiblen Abstim-mungsprozess auf EU-Ebene befinden, lehnen wir denAntrag von Bündnis 90/Die Grünen ab.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. Der Antrag istein typischer Antrag der Grünen, geschrieben in der Ma-nier der Gutmenschen, frei nach dem Motto: Wir, dieGrünen, wissen, was für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer von Großbritannien bis Zypern am bestenist. Daher fordert die Fraktion der Grünen, die Opt-out-Option bei der durchschnittlichen wöchentlichen Ar-beitszeit europaweit abzuschaffen und eine für alle Mit-gliedstaaten verbindliche Höchstarbeitszeit von 48 Stun-den pro Woche einzuführen.

Man sollte aber nicht ignorieren, dass die Gegeben-heiten in den 27 Mitgliedstaaten der EU unterschiedlichsind und folgerichtig auch unterschiedliche Bedürfnisseund Anforderungen bestehen. Abgesehen davon ent-spricht die Forderung der Grünen auch gar nicht denWünschen der Betroffenen, denn die Realität sieht defi-nitiv anders aus: In einer von der Financial Times 2006durchgeführten Umfrage sprachen sich rund 65 Prozentder Deutschen gegen eine gesetzliche Beschränkung derArbeitszeit aus. Viele Menschen möchten vielleicht übereinen bestimmten Zeitraum Überstunden leisten, um ent-weder später einen längeren Urlaub zu realisieren oderweil sie schlicht auf den finanziellen Zuverdienst ange-wiesen sind.

Zweitens. Zum Antrag ist weiter anzumerken, dass inDeutschland bereits zum 1. Januar 2004 das Arbeitszeit-gesetz dahin gehend geändert wurde, dass Bereitschafts-dienst in vollem Umfang Arbeitszeit ist. Aus gutenGründen hat der deutsche Gesetzgeber aber daran festge-halten, dass bei Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereit-schaft die Möglichkeit einer Verlängerung der wöchent-lichen Arbeitszeit über durchschnittlich 48 Stundenhinaus besteht. Voraussetzung hierfür ist, dass dieses so-genannte Opt-out in einem Tarifvertrag zugelassen wirdund der Arbeitnehmer dem zustimmt. Auch in Zukunftmuss es Aufgabe der zuständigen Tarifparteien bleiben,eine optimale Lösung für den jeweils betroffenen Sektorzu finden. Dies ist sinnvoll und erforderlich, da die Be-lastungen durch den Bereitschaftsdienst je nach Branchestark variieren.

Drittens. Die FDP ist der Ansicht, dass es aus Grün-den der Subsidiarität den Mitgliedstaaten überlassenbleiben soll, wie die Arbeitszeiten mit – und zwischen –den Tarifparteien ausgehandelt werden. Es ist nicht sinn-voll, auf europäischer Ebene branchenübergreifend euro-paweite Regelungen festzuschreiben. Viel sinnvoller istes, auf die nationalen Unterschiede einzugehen und eineOpt-out-Option beizubehalten. Arbeitszeitmodelle las-sen sich nicht bis ins Detail europaweit regeln.

Viertens. Was die Bereitschaftsdienste anbelangt, sowurde im Arbeitszeitgesetz geregelt, dass Bereitschafts-dienst in vollem Umfang Arbeitszeit ist. Die FDP trittaber dafür ein, zwischen inaktivem und aktivem Bereit-schaftsdienst zu unterscheiden. Die sogenannte inaktiveZeit im Bereitschaftsdienst – der Zeitraum, in dem derBeschäftigte nicht zu tatsächlicher Arbeitsleistung he-rangezogen wird – soll demnach nicht zur Arbeitszeitzählen, es sei denn, nationales Recht oder Tarifverträgebestimmen etwas anderes. Besonders im Hinblick aufdie Situation von medizinischem Personal ist somit eineBalance hergestellt zwischen Aufrechterhaltung medizi-nischer Versorgung einerseits und Verhinderung einerweiteren Kostenexplosion andererseits. Dabei muss esaus Gründen der Subsidiarität den Mitgliedstaaten über-lassen bleiben, wie sie je nach Branche und Beruf denBereitschaftsdienst organisieren und seine aktiven undinaktiven Bestandteile vergüten. Eine einheitliche euro-päische Festlegung würde den Besonderheiten der ein-zelnen Sektoren nicht gerecht werden. Hier sollten Sieden Realitäten ins Auge sehen.

Fünftens. Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass ge-rade die nationalen Parlamente und die Fraktionen sichhüten sollten, dem wuchernden Dschungel EU noch wei-tere Aufgaben zu übereignen, die tatsächlich eher natio-nale Angelegenheiten bzw. Angelegenheiten der Tarif-parteien sind. Das Ergebnis wird eine wachsendeEuropaverdrossenheit sein. Auch hier gilt: Weniger istmehr.

Gerd Andres (SPD), ehemaliger Parl. Staatssekretärim deutschen Arbeitsministerium, äußerte am 8. Novem-ber 2006 bei euractiv, dass das Opt-out weiterhin alsMöglichkeit bestehen sollte, und fügte hinzu, dass dassoziale Europa nicht verschwinden werde, wenn Aus-nahmen erlaubt würden.

Werner Dreibus (DIE LINKE): Wir reden heuteüber die Änderung der Europäischen Arbeitszeitrichtli-nie und damit über den verbindlichen Rahmen, den wirder Gestaltung der Arbeitszeit in allen 27 Mitgliedstaa-ten der Europäischen Union in Zukunft setzen wollen.

Schauen wir uns die bestehende EU-Arbeitszeitricht-linie einmal an. Sie begrenzt die maximale durchschnitt-liche Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden und setzt damitfür viele Menschen einen sozialen Mindeststandard.Doch dieser Standard bietet nur einen ziemlich löchrigenSchutz. Denn bereits jetzt kann die Arbeitszeit in einereinzigen Woche auf bis zu 78 Stunden und unter be-stimmten Bedingungen sogar auf 89 Stunden ausgewei-tet werden. Per Betriebsvereinbarung oder Tarifvertragist es möglich, den Bezugszeitraum zur Messung der

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durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von drei auf zwölfMonate auszudehnen. Hinzu kommt: Beschäftigte kön-nen durch eine „freiwillige“ schriftliche Erklärung ein-willigen, auf die Begrenzung der wöchentlichen Höchst-arbeitszeit auf 48 Stunden ganz zu verzichten. Nebendiesem individuellen Opt-out ist auch ein Opt-out perTarifvertrag möglich. Genutzt wird diese Ausnahmere-gelung in Deutschland zum Beispiel im Gesundheitswe-sen mit der Folge, dass die durchschnittliche Wochenar-beitszeit von Krankenhausärzten derzeit bei circa70 Stunden liegt. Eine Änderung der bestehenden EU-Arbeitszeitrichtlinie ist also schon im Sinne eines besse-ren Schutzes nicht nur der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer dringend geboten.

Doch die EU-Arbeits- und Sozialminister und allenvoran die Große Koalition vertreten nicht die Interessender Beschäftigten, sondern die der Unternehmen. DieBundesregierung hat gemeinsam mit der britischen Re-gierung durchgesetzt, dass der Entwurf des EU-Minis-terrates das Opt-out weiterhin vorsieht – gegen den Wi-derstand von Frankreich, Spanien, Italien, Belgien,Griechenland, Zypern und des Europäischen Parlaments,die die Abschaffung der Regelung forderten und fordern.Geplant ist außerdem eine generelle Flexibilisierung derJahresarbeitszeit durch Gesetz oder einfache Verwal-tungsvorschrift. Die Regierungen könnten so das Inte-resse der Unternehmen an einer weiteren Flexibilisie-rung der Arbeitszeiten noch leichter durchsetzen. AufGewerkschaften bräuchten sie keine Rücksicht nehmen.Arbeitszeiten von bis zu 78 Stunden in der Woche undeine tägliche Arbeitszeit von bis zu 13 Stunden sollen sokünftig möglich sein.

Doch damit nicht genug: Die Neuregelung der Bereit-schaftszeiten, bei der – entgegen der Urteile des Euro-päischen Gerichtshofes – nicht mehr die gesamte Zeit alsArbeitszeit gewertet werden soll, hätte zur Folge, dassdie tatsächliche Arbeitszeitbelastung zum Beispiel vonÄrzten noch deutlich höher als 78 Wochenstunden seinkönnte.

Diese arbeitnehmerfeindliche Arbeitzeitspolitik derEU-Arbeitsminister unter Federführung der Bundesrepu-blik Deutschland ist ein Skandal. Sie gefährdet die Ge-sundheit und Sicherheit der Beschäftigten und erschwertselbst eine kurzfristige verlässliche Lebensplanung. Fa-milie und Beruf lassen sich so immer schlechter verein-baren. Wir wenden uns deshalb strikt gegen jede weitereAufweichung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie undfordern die sofortige Abschaffung des Opt-outs und dieAnerkennung des gesamten Bereitschaftsdienstes als Ar-beitszeit. Darüber hinaus fordern wir die Bundesregie-rung auf, sich für einen neuen EU-Arbeitszeitstandardeinzusetzen, der den Interessen der Beschäftigten wirk-lich gerecht wird. Wir wollen die maximal erlaubte Wo-chenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden reduzieren unddie vorhandene Arbeit gerechter verteilen. Die Mehrheitder Bevölkerung in den 15 alten EU-Mitgliedstaatenwünscht deutlich kürzere Wochenarbeitszeiten, imDurchschnitt 34,5 Stunden. Die tatsächliche wöchentli-che Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten lag im Jahr2006 in den 27 Staaten der EU jedoch bei 39,9 Stunden.

Arbeitszeitverkürzung ist angesichts der schweren Wirt-schaftskrise – auch der IWF warnt jetzt vor der schwerstenRezession seit dem Zweiten Weltkrieg und prognostiziertfür die Eurozone ein Minus von 2,0 Prozent – eine abso-lute ökonomische Notwendigkeit. Kollektive Arbeitszeit-verkürzung wirkt beschäftigungssichernd. Die Bundes-agentur für Arbeit und das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung errechneten für den Zeitraum von1985 bis 1998 zwischen 700 000 bis 1 Million zusätzli-cher Arbeitsplätze durch Arbeitszeitverkürzung allein inDeutschland. Wollen die Regierungen ein deutliches An-steigen der Arbeitslosigkeit wirklich verhindern und derWirtschaftskrise offensiv begegnen, dann kommen sieum eine sofortige deutliche Arbeitszeitverkürzung in derEU nicht herum.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DieEU ist nicht allein ein wirtschaftliches Projekt. In letzterZeit werden immer häufiger die Rufe nach einem sozia-len Europa laut. Dies unterstützen wir. Wir sind der Auf-fassung, dass die Freiheiten des Binnenmarktes durchsoziale Rechte und Grundrechte klar begrenzt werdenmüssen.

Derzeit wird in Brüssel über einen ganz konkretenGesetzesvorschlag verhandelt, der dazu beitragenkönnte, dass Europa sozialer gestaltet wird. Dabei han-delt es sich um die EU-Arbeitszeitrichtlinie. In dieserRichtlinie soll eine wöchentliche Höchstarbeitszeit vonim Durchschnitt 48 Stunden festgelegt werden. Darüberhinaus soll geklärt werden, ob und in welchem Maße dieBereitschaftszeit als Arbeitszeit angerechnet werdensoll. Der Europäische Gerichtshof ist schon in einigenUrteilen zu dem Schluss gekommen, dass Bereitschafts-zeit als Arbeitszeit angerechnet werden sollte.

Die Arbeitsminister der EU-Mitgliedstaaten habensich im Sommer auf einen faulen Kompromiss zur Ar-beitszeitrichtlinie geeinigt, mit dem sie in die Verhand-lungen mit dem Europäischen Parlament gehen wollen.Für diesen faulen Kompromiss setzt sich vor allem dieBundesregierung vehement ein. Die Bundesregierung– das heißt in diesem Fall der zuständige ArbeitsministerOlaf Scholz – ist der Auffassung, dass den Arbeitnehme-rinnen und Arbeitsnehmern auch höhere Arbeitszeitenzugemutet werden können. Herr Scholz vertritt die Posi-tion, dass auch durchschnittliche Wochenarbeitszeitenvon 60 Stunden und mehr kein Problem sind. Bereit-schaftszeiten sollen nicht als Arbeitszeit anerkannt wer-den. Außerdem will Herr Scholz eine Ausnahmeklauseldurchsetzen. Dieses sogenannte Opt-out besagt, dass dieeinzelnen Mitgliedstaaten frei entscheiden können, obsie die Regeln zur Höchstarbeitszeit akzeptieren. Schonjetzt wenden 14 Mitgliedstaaten ein Opt-out an. Eineeinheitliche europaweite Regelung wird damit obsolet.So kann man ein soziales Europa für alle nicht gestalten.

Mich interessiert, wie Herr Scholz seinen sozialdemo-kratischen Kolleginnen und Kollegen und auch den Ge-werkschaften seine Position erklären will. Die sozialde-mokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlamenthaben den Kompromiss im Ministerrat als „Schlag insGesicht aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ be-

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zeichnet. Vor allem aufgrund des Engagements der Grü-nen-Fraktion im Europäischen Parlament konnte dorteine breite Mehrheit gegen die Ausnahmeklausel und fürdurchschnittliche Höchstarbeitszeiten von 48 Stundengefunden werden. Kritiker der Arbeitszeitrichtlinie be-haupten, dass die Arbeitszeiten in ein starres Korsett ge-steckt werden sollen. Dies ist nicht wahr. Es handelt sichum eine durchschnittliche Berechnung über einen Zeit-raum von mehreren Monaten. Höhere Arbeitszeiten zuStoßzeiten bleiben weiter möglich. Auch für die Berech-nung der inaktiven Bereitschaftszeiten, die von vielenKrankenhausbetreibern kritisch gesehen wird, hat dasEuropäische Parlament einen gangbaren Kompromissgefunden.

Wir unterstützen die Position der Grünen-Fraktionund des Europäischen Parlaments. Vernünftige Höchst-arbeitszeiten dienen dem Gesundheitsschutz derBeschäftigten. Überarbeitete und übermüdete Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer können Fehler mit weitrei-chenden Auswirkungen machen. Aber nicht nur deshalbsetzen wir uns für eine Begrenzung der Arbeitszeitenein. Reduzierte und flexible Konzepte der Arbeitszeitge-staltung können darüber hinaus die Erwerbsarbeitslosig-keit bekämpfen und auch einen Beitrag zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf leisten.

Die Position des Arbeitsministers Olaf Scholz ist einSkandal. So lässt sich kein soziales Europa aufbauen. Sokann man das Vertrauen der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer nicht gewinnen. Deshalb fordern wir dieBundesregierung auf, in den entscheidenden Verhand-lungen auf EU-Ebene durchzusetzen, dass die Opt-out-Option bei der durchschnittlichen wöchentlichen Ar-beitszeit abgeschafft wird. Sie soll sich für eine verbind-liche durchschnittliche Höchstarbeitszeit von 48 Stundenpro Woche einsetzen. Außerdem soll sie durchsetzen,dass aktive und inaktive Bereitschaftszeiten als Arbeits-zeit angesehen werden. Wenn diese Punkte durchgesetztwerden, sind wir einem sozialen Europa einen Schrittnäher gekommen.

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Versorgung fürGeschiedene aus den neuen Bundesländern ver-bessern (Zusatztagesordnungspunkt 7)

Maria Michalk (CDU/CSU): In guten und in schlech-ten Zeiten zusammenzuhalten – dieses Versprechen hältin unserem irdischen Leben nicht immer. Wer vertraut,geht immer auch ein Risiko ein. Dieses Risiko zu mini-mieren und die Folgen gleichberechtigt zu verteilen, dasist ein hoher Anspruch, dem sich unser Rechtsstaat stellt.Und trotzdem erfahren wir immer wieder von Konstella-tionen persönlicher Schicksale, die im sozialen Siche-rungsnetz keine hundertprozentige Befriedung erfahren.Von solchen persönlichen Schicksalen geschiedenerFrauen aus der DDR 20 Jahre nach dem Fall der Mauerzu erfahren, macht uns nach wie vor betroffen.

Im Wissen um die rechtliche Situation und die Konse-quenzen einer Scheidung in der DDR haben die Frauender Trennung mehr oder weniger einvernehmlich zuge-stimmt. An die Teilung der Anwartschaften haben aberwohl die wenigsten in diesem Augenblick gedacht. Frei-lich ist die Annahme nicht falsch, dass Frauen überpro-portional gleichzeitig außerhäuslicher Arbeit nachgingenund Familienarbeit machten. Aber die niedrigen Löhne,zum Beispiel im Gesundheitswesen, bewirken nach heu-tigem Recht eine Kumulierung ungünstiger Faktoren.

Der zur DDR-Zeit nicht vorhandene Versorgungsaus-gleich nach heutigem Muster bewirkt tatsächliche undgefühlte Ungerechtigkeiten, denen sich auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Arbeitsgruppen, Anfragenund öffentlichen Diskussionen seit vielen Jahren stellt.Immer ist auch deutlich geworden, dass nicht alle Unge-rechtigkeiten der damaligen Zeit vollständig abgewendetwerden können. Der Prozess der Suche nach einer Lö-sung ist intensiv geführt worden.

Die Hoffnung, eine akzeptable und tragfähige Lösungzu finden, hat sich verringert, als uns das Ergebnis derinterministeriellen Arbeitsgruppe noch unter der rot-grü-nen Bundesregierung bekannt wurde. Auch mit Mittelndes Rentenrechts könne die Situation nur teilweise gelöstwerden, denn die seit 1977 nur noch als Übergangsrechtexistierende Geschiedenenwitwenrente würde nur rund20 Prozent der geschiedenen Frauen betreffen. Als Argu-ment für die Nichteinbeziehung der vor 1992 geschiede-nen Frauen in den Versorgungsausgleich greift vor allemdas Rückwirkungsverbot und die damit verbundenenverfassungsrechtlichen Bedenken. Der von einer Belas-tung Betroffene – das ist der geschiedene Mann – kannsich laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes auf Ver-trauensschutz berufen.

Da der Versorgungsausgleich nicht möglich ist, wurdedie Berücksichtigung im Rentenrecht geprüft. Daraufbezieht sich auch der vorliegende Antrag.

Betroffene Frauen haben auch den Klageweg be-schritten – ohne Erfolg. Zum Teil wurden die Verfas-sungsbeschwerden gar nicht angenommen. Es betrifftetwa 500 000 geschiedene Frauen. Deren Situation istuns nicht gleich. Auch der Bundesrat hat sich mehrfachder Sache angenommen.

Der heute vorliegende Antrag konzentriert sich aufFrauen, die ihre Erwerbsbiografie wegen Kindererzie-hung unterbrochen haben. Es soll eine individuelle Er-tragsrechnung erstellt werden. Die Behauptung, dass derVerwaltungsaufwand gering sei, kann nicht nachvollzo-gen werden. Außerdem wird hier eine Trennung derGruppe der geschiedenen Frauen vorgenommen, die bis-her für ihre Anliegen gemeinsam eingetreten sind. EineZahl, um wie viele aus der Gruppe es sich handelt, wirdnicht genannt. Auch die Kosten wurden nicht näher spe-zifiziert. Da vorgeschlagen wird, die Finanzierung ausdem Steueraufkommen zu tragen, muss die Allgemein-heit auch dezidiert die Kosten kennen. Insofern sollte derAntrag nachgebessert werden.

Meine Darlegungen sollen verdeutlichen, dass wir diebestehende Problemstellung nach wie vor als ein sehr

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sensibles Thema betrachten, weil es hier auch um dieWürde der Betroffenen geht. Bisher ist in den Beratun-gen keine akzeptable Lösung gefunden worden. Das ver-treten wir auch ehrlich gegenüber den Betroffenen. Obim Rahmen der generellen Novelle zum Versorgungs-ausgleich eine pauschale Regelung möglich ist, werdendie kommenden Beratungen zeigen.

Gregor Amann (SPD): Der heute zu beratende An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat als Themadie Versorgung für Geschiedene aus den neuen Bundes-ländern. Es geht um Geschiedene in den neuen Bundes-ländern, die sich vor 1992 trennten; sie sind von der Teil-habe an den Rentenanwartschaften ihrer früheren Gattenausgeschlossen. Eine Frau aus der alten Bundesrepublik,deren Ehe vor 1977 geschieden wurde, kann Geschiede-nenwitwenrente beziehen, wenn ihr geschiedener Ehe-mann ihr vor seinem Tod Unterhalt gezahlt hat. EineFrau aus der ehemaligen DDR, deren Ehe ebenfalls vor1977 geschieden wurde, hat hingegen keinen Anspruchauf Geschiedenenwitwenrente, auch dann nicht, wennihr Mann gerichtlich dazu verurteilt wurde.

Vor diesem Hintergrund wird in dem vorliegendenAntrag gefordert: Erstens. Herbeiführung einer Rege-lung zugunsten von Frauen, die vor 1992 in den neuenBundesländern geschieden wurden und die wegen Kin-dererziehung ihre Erwerbsarbeit unterbrochen oder ein-geschränkt haben. Zweitens. In Anlehnung an den Ver-sorgungsausgleich sollen die individuellen Ansprücheder Frauen aus der Ehezeit ermittelt, halbiert und ihremRentenkonto für die Ehezeit gutgeschrieben werden.Drittens. Dieser Versorgungsausgleich soll aus Steuer-mitteln finanziert werden, da ein rückwirkender Versor-gungsausgleich zulasten des geschiedenen Ehepartnersrechtlich nicht möglich ist.

Nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch, SGB VI,kann geschiedenen Ehegatten, die vor dem 1. Juli 1977in den alten Bundesländern geschieden wurden, unterbestimmten – eng begrenzten – Voraussetzungen eineGeschiedenenwitwenrente gewährt werden. Bei danachGeschiedenen kommt die Gewährung einer solchenRente nicht mehr in Betracht, weil mit dem Ersten Ehe-rechtsreformgesetz ab diesem Zeitpunkt der Versor-gungsausgleich eingeführt wurde. Bei der Überleitungdes bundesdeutschen Rentenrechts auf die neuen Bun-desländer wurden keine Geschiedenenwitwenrenten fürFrauen vorgesehen, die vor Einführung des Versorgungs-ausgleichs im Jahre 1992 in den neuen Bundesländerngeschieden wurden. Grund dafür ist, dass Geschiedenen-witwenrenten – wie alle Hinterbliebenenrenten – Unter-haltsersatzfunktion haben.

Voraussetzung für die Gewährung einer solchenRente ist deshalb das Bestehen eines grundsätzlichenUnterhaltsanspruchs der geschiedenen Frau bzw. die tat-sächliche Unterhaltszahlung des geschiedenen Mannesvor seinem Tod. Das Familienrecht der ehemaligen DDRsah jedoch Unterhaltsansprüche der geschiedenen Frauregelmäßig nicht vor. Wenn aber vor dem Tod des ge-schiedenen Ehemannes kein Unterhaltsanspruch bestandund auch tatsächlich kein Unterhalt geleistet wurde,

dann kann nach dem Tod des geschiedenen Ehemannesauch keine Unterhaltsersatzleistung – Geschiedenenwit-wenrente – gewährt werden. Die Einführung einer Ge-schiedenenwitwenversorgung konnte daher in den neuenBundesländern nicht greifen.

Viele der in den neuen Bundesländern hiervon Betrof-fenen gehen davon aus, dass praktisch jede vor dem1. Juli 1977 in den alten Bundesländern geschiedeneFrau für den Fall des Versterbens ihres geschiedenenEhemannes eine Geschiedenenwitwenrente aus der ge-setzlichen Rentenversicherung erhält. Diese Einschät-zung ist aber unzutreffend. Die Zugangsvoraussetzungenhaben dazu geführt, dass lediglich ein verschwindendgeringer Teil der geschiedenen Frauen in den altenBundesländern – etwa 4 Prozent der potenziell Infrage-kommenden – in den Genuss einer Geschiedenenwit-wenrente kam. Häufig hing es von Zufälligkeiten, zumBeispiel dem Todesdatum des geschiedenen Ehemannes,ab, ob eine geschiedene Frau einen Anspruch auf dieseLeistung hatte. Die Geschiedenenversorgung in den al-ten Bundesländern hatte sich daher als sozialpolitischunbefriedigend erwiesen. Dies war auch der Grund da-für, dass die Geschiedenenwitwenversorgung 1977durch den Versorgungsausgleich abgelöst wurde.

Für die neuen Bundesländer ist das Recht des Versor-gungsausgleichs nach den Regelungen des Einigungs-vertrags 1992 in Kraft getreten. Es findet nur auf Schei-dungen Anwendung, die nach seinem Inkrafttretenerfolgten. Der Versorgungsausgleich beruht auf dem Ge-danken, dass in der Ehezeit erworbene Versorgungs-rechte, zum Beispiel in der Rentenversicherung, das Er-gebnis einer partnerschaftlichen Lebensleistung derEheleute sind. Bei der Scheidung der Ehe sollen beidePartner zu gleichen Teilen daran teilhaben. Der Ehegatte,der in der Ehe nicht oder nicht voll erwerbstätig gewesenist – in der Regel die Ehefrau – und deshalb keine odernur geringere Versorgungsanrechte als der andere erwor-ben hat, hat bei Auflösung der Ehe einen Ausgleichsan-spruch. Die Frage, ob diese Regelung auch auf Fälle derVergangenheit erstreckt werden könnte, ist eingehendgeprüft worden; der Gesetzgeber hat sie – nicht zuletztaus verfassungsrechtlichen Gründen – schließlich ver-neint.

Für diese Entscheidung waren im Wesentlichen Ge-sichtspunkte des Vertrauensschutzes und des verfas-sungsrechtlichen Rückwirkungsverbots maßgebend. DerVersorgungsausgleich bewirkt eine Verteilung des Al-tersvorsorgevermögens zwischen den Ehegatten, ohnedass Drittmittel, etwa der gesetzlichen Rentenversiche-rung, in Anspruch genommen werden. Der Versorgungs-erhöhung des einen früheren Ehegatten steht immer eineVersorgungsminderung des anderen früheren Ehegattengegenüber, die diesem nicht in unzumutbarer Weise auf-erlegt werden darf. Das Rückwirkungsverbot, das ausdem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes resultiert, be-inhaltet das Prinzip, dass staatliches Handeln vorherseh-bar und berechenbar sein muss. Deshalb dürfen belas-tende Gesetze und darauf beruhende Verwaltungsakte inder Regel nicht auf einen vor Gesetzesverkündung lie-genden Zeitpunkt zurückwirken. Echte Rückwirkung,die nachträglich belastend in abgewickelte, der Vergan-

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genheit angehörende Tatbestände eingreift – dies wäreim Falle einer rückwirkenden Einführung des Versor-gungsausgleichs im Hinblick auf den ausgleichspflichti-gen früheren Ehegatten geschehen –, ist grundsätzlichunzulässig. Daher kam es nicht zur Einführung des Ver-sorgungsausgleichs für Scheidungen vor 1992 in derehemaligen DDR.

Die in der Vergangenheit durch die unterschiedlicheEntwicklung der Rechtssysteme entstandenen Unter-schiede im Bereich der unterhaltsrechtlichen Beziehun-gen von geschiedenen Ehegatten zueinander ließen sichnicht rückwirkend beseitigen. Auch nachfolgende Über-prüfungen führten zu keinem anderen Ergebnis. Alle –auch die im Rahmen der interministeriellen Arbeits-gruppe – diskutierten Möglichkeiten waren mit erhebli-chen verfassungsrechtlichen Risiken verbunden. Des-halb lassen sich die Anliegen dieses Personenkreises mitMitteln des Rentenrechts nicht lösen. So ist es nichtmöglich, wenn es nachträglich, also für einen bereitszeitlich abgeschlossenen Tatbestand, für einen der Betei-ligten zu einer Belastung führt, mit der zum Zeitpunktder Scheidung nicht zu rechnen war. In der DDR warzum Zeitpunkt der Scheidung klar, dass kein Unterhaltfür den jeweils anderen zu erbringen ist.

Das hatte möglicherweise einen freieren Umgang mitder beiderseitigen Auflösung der Ehe zur Folge: EinMann konnte sich scheiden lassen, ohne den finanziellenAspekt gewichten zu müssen, denn eine Ehefrau warnicht vom Mann abhängig. Eine Erwerbsbiografie einerarbeitenden Frau in den neuen Bundesländern wies biszur Wiedervereinigung nur selten Lücken auf, denn dieErwerbstätigenrate der Frauen in der DDR war sehrhoch. Zweitens waren Frauen nicht gezwungen, ausGründen der Kindererziehung zu Hause zu bleiben, da inausreichendem Maße Kinderbetreuungsplätze zur Verfü-gung standen.

Eine Frau, die aus Gründen der Kindererziehung zuHause blieb, war eher eine theoretische Erscheinung alseine wirkliche, denn dazu waren überdurchschnittlicheEinkommen vonnöten. Diese hohen Entgelte waren aberseltene Blumen im volkseigenen Garten. So gab es dieOrchideengruppe Hausfrau nur sehr begrenzt. Vielleichtals Frau eines Professors oder eines Chefarztes. Es warein begrenzter privilegierter Kreis. So hatten Frauenkeine wirkliche Wahlmöglichkeit zwischen beruflicherKarriere und Kindererziehung.

Frauen in der DDR wussten, dass sie nach dem Todihres Ehegatten in der Regel gut abgesichert sein wer-den, wenn die Ehe bis zum Tod des Gatten hielt. Aller-dings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dieFrauen überwiegend gut gebildet und so durchaus in derLage waren, ihren Unterhalt selbst zu erwirtschaften. ImÜbrigen blieb immer noch die oft genutzte Möglichkeitder persönlichen Trennung, wenn nicht eine gerichtlicheScheidung erfolgen sollte. So blieben viele auch nach ei-ner gescheiterten Ehe verheiratet und bewahrten sich dieAnsprüche aus der gemeinsamen Ehezeit.

Nehmen wir an, der vorliegende Antrag würde be-schlossen. Da stellt sich die Gerechtigkeitsfrage neu, undzwar für eine erheblich größere Gruppe in den westli-

chen Bundesländern. Die Frauen in den neuen Bundes-ländern bekämen aus Steuermitteln einen individuell er-mittelten Ausgleich. Aber warum wollen Sie eineErmittlung individueller Ansprüche, wenn überhauptkein echter Versorgungsausgleich durchgeführt wird, dadie betroffenen Männer gar nicht zur Abgabe ihrer Ren-tenansprüche verpflichtet werden können? Für die ge-schiedenen Männer ergeben sich aufgrund der darge-stellten Rechtsprechung keine finanziellen Einbußen, dasie nicht gesetzlich verpflichtet werden können, Unter-halt zu zahlen, da bei der Scheidung der Ehe ja nicht aufUnterhalt entschieden wurde. Für die betroffene und imAntrag ins Auge gefasste Gruppe entstünde eine Win-win-Situation.

Aber wo Gewinner sind, sind auch Verlierer, dennwas ist mit den geschiedenen Ehegatten in den altenBundesländern? Sie bezahlen den Ausgleich, denn siesind gesetzlich dazu angehalten, Unterhalt zu zahlen.Wenn aber Frauen in den neuen Bundesländern nach-träglich in den Genuss der Vorteile eines Versorgungs-ausgleichs kommen, ohne dass die betroffenen Exehe-männer dafür Ansprüche abgeben müssen, dann entstehteine neue Ungerechtigkeit, nämlich eine Ungleichbe-handlung von Geschiedenen in den alten Bundesländernin einer vergleichbaren Situation. Die Wahrheit ist doch:Nicht jedes rentenrechtliche Problem des Übergangs vonder DDR zur BRD lässt sich durch eine Gesetzesinitia-tive beheben. Häufig produziert der Versuch nur wiederneue Ungerechtigkeiten.

Hinzufügen möchte ich, dass ich den 1977 eingeführ-ten Versorgungsausgleich für Geschiedene für sinnvollerachte, denn es ist wichtig, dass Frauen – und auchMänner – die Möglichkeit haben, ihre Kinder individuellzu betreuen und zu begleiten – wenn sie denn wollen.Wichtig ist, dass es eine echte Wahlmöglichkeit zwi-schen Beruf und Familie gibt. Hier hat die DDR im Üb-rigen völlig versagt, Frauen mussten in der Regel arbei-ten gehen, nicht zuletzt, da die Gehälter und Löhne vielzu gering waren, als dass ein Einzelner die Familie hätteernähren können.

Nur am Rande bemerkt: Auch in der Bundesrepublikmuss noch viel für die Wahlmöglichkeit zwischen Berufund Karriere unternommen werden; denn noch fehlt esan guten und ausreichenden Betreuungsplätzen. Oft sindFrauen gezwungen, ihre Karriere nach hinten zu ver-schieben oder gar aufzugeben, da sie noch zu wenigeBetreuungseinrichtungen vorfinden, wo sie ihr Kindbzw. ihre Kinder in guter Obhut wissen, wenn sie arbei-ten wollen. Ihre Freiheit, frei zu wählen, ist auch nochstark eingeschränkt.

Die bundesrepublikanische Rentenversicherung kannnicht alle Fehler des DDR-Rentensystems oder -Fami-lienrechts korrigieren. Es gibt Probleme des Rentenüber-gangs von der DDR zu unserem System, die sich heute,nachträglich, nicht im Rahmen unseres Rentensystemsbereinigen lassen. Das System der DDR hat vier Jahr-zehnte ökonomisch, politisch, sozial, aber auch im Ren-tenrecht versagt. Hier müssen wir den betroffenen Men-schen helfen. Aber unser Rentenversicherungssystemwäre überfordert, wenn ihm alleine diese Aufgabe auf-

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gebürdet würde. Für die Menschen, die über keine aus-reichende Rente oder Altersvorsorge verfügen, hat dierot-grüne Bundesregierung im Jahr 2003 die Grundsi-cherung eingeführt. Dies war ein großer sozialpolitischerFortschritt.

Wir lehnen Ihren Antrag ab, da er nur eine Scheinlö-sung bietet, die zu neuen Ungerechtigkeiten führt.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. Die Schaffungund Herstellung von Gerechtigkeit bzw. eines gerechtenAusgleichs war das Ziel auch bei der sogenannten Ren-tenüberleitung im Rahmen der deutschen Wiedervereini-gung. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsgrundsätzewar das nicht einfach. Dies wird niemand ernsthaft be-streiten wollen. Ungerechtigkeiten – und seien es nur„gefühlte“ – waren nicht auszuschließen. Dies besondersdeswegen, weil im Zuge der Überleitung der nach DDR-Recht bestehenden Rentenanwartschaften in das SGB VIsehr stark auf den Grundsatz der Beitragsäquivalenz ab-gestellt wurde, die tatsächliche Entrichtung von Beiträ-gen also eine zentrale Rolle spielte.

Zu den Gruppen von Versicherten, die sich durch dieVorgehensweise bei der Rentenüberleitung nachteiligbetroffen fühlen, gehört die Gruppe der rund 400 000 zuDDR-Zeiten geschiedenen Frauen. Diese sehen sich ge-genüber Geschiedenen in den alten Ländern dadurchschlechter gestellt, dass es nach DDR-Recht keinen Ver-sorgungsausgleich gab. Zwar waren Frauen in der DDRselbst regelmäßig mit langen Versicherungszeiten be-rufstätig, was naturgemäß das Volumen des zu erwarten-den individuellen Versorgungsausgleiches von vornhe-rein eher verringert. Zahlreiche Frauen haben aberschlechter bezahlte Tätigkeiten als ihre Ehemänner aus-geübt, manche unterbrachen auch ihre Berufstätigkeit,um sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen, sodassein gewisses Ausgleichsinteresse gleichwohl besteht.Hinzu kommt, dass das Recht des Versorgungsausglei-ches nicht unmittelbar mit der Wiedervereinigung 1990angeglichen wurde, sondern erst 1992.

Zweitens. Der Antrag der Grünen ist zur Lösung dervorbeschriebenen Probleme nicht geeignet. Es wird eineUntergruppe aus dem Kreis der betroffenen Frauen he-rausgegriffen, und diese wird im Vergleich zu den ande-ren bessergestellt. Die Beschränkung des Ausgleichesauf Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Er-ziehung von Kindern unterbrochen oder eingeschränkthaben, erscheint willkürlich und entgegen der Selbstein-schätzung der Grünen verfassungsrechtlich bedenklich.

Es ist vollkommen klar, dass eine solche Lösung nichtaus Beitragsmitteln finanziert werden kann. Aber auchdie Finanzierung des Ausgleichs aus Steuermitteln, weilein rückwirkender Versorgungsausgleich zulasten desgeschiedenen Ehepartners nach so langer Zeit natürlichrechtlich nicht mehr möglich ist, erscheint fragwürdig.Es ist nicht gerecht, eine speziell definierte Gruppe ge-genüber den anderen Betroffenen zu bevorzugen. Esstellen sich neue Fragen: Wie lange muss die Erwerbstä-tigkeit unterbrochen worden sein? Dürfen geschiedeneFrauen, die Kinder bekommen, ihre Erwerbstätigkeitaber nicht unterbrochen haben, außen vor gelassen wer-

den? Alles in allem wirkt der Antrag der Grünen eherwie ein Schnellschuss und nicht wie eine ausgereifte, ge-rechte und machbare Lösung.

Drittens. Die FDP-Bundestagsfraktion hat zur Besei-tigung der Schlechterstellung einzelner Versicherten-gruppen schon vor einiger Zeit einen eigenen Antrag„Faires Nachversicherungsangebot zur Vereinheitli-chung des Rentenrechts in Ost und West“ in den Deut-schen Bundestag eingebracht, Drucksache 16/11236. Erberücksichtigt die Beitragsäquivalenz und enthält dasAngebot einer nachträglichen Entrichtung von Beiträ-gen, die in ihrer Höhe an dem auszurichten sind, was zuDDR-Zeiten zur Erlangung eines vergleichbaren An-spruchs hätte aufgewendet werden müssen. Selbst wenneine Verzinsung der so ermittelten Beiträge vorgenom-men würde, dürfte ein solches Angebot auf ein hohes In-teresse treffen und eine attraktive Verzinsung der nach-zuentrichtenden Beiträge gewährleistet sein. Auf diesemWege sollen auch die in der DDR Geschiedenen die ein-malige Möglichkeit erhalten, durch die nachträglicheEntrichtung von freiwilligen Beiträgen ihren heutigenRentenanspruch zu erhöhen.

Die Lösung der FDP-Bundestagsfraktion vermeidetWillkür und erreicht damit größtmögliche Gerechtigkeit.Sie erscheint uns als der bessere Weg. Ein entsprechen-der Antrag ist bereits im Deutschen Bundestag einge-bracht. Er wird in Kürze im Deutschen Bundestag in ers-ter Lesung behandelt werden. Im Zuge der angestrebtenAnhörung können beide Anträge auf ihre Problemange-messenheit untersucht werden. Wir sehen dem mit Inte-resse entgegen.

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Endlich, somöchte ich den Einbringerinnen und Einbringern diesesAntrags zurufen, wagt sich mal jemand offiziell aus der„Deckung“. Seit Jahren macht meine Fraktion mit eige-nen Anträgen auf die vielen Unzulänglichkeiten auf-merksam, die bei der Überleitung der Alterssicherungs-ansprüche aus DDR-Zeiten ins bundesdeutsche Rechtmit dem RÜG/AAÜG 1991 entstanden. Zumeist erfuh-ren unsere Initiativen keine bzw. nur ablehnende Reak-tionen bei den anderen Fraktionen. Nun packt die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen einen eigenen Antrag miteinem Detailproblem zu unseren Vorschlägen dazu. Ichwerte das auch als Erfolg der Betroffenen, die unermüd-lich auf Politikerinnen und Politiker zugehen, um einegesetzliche Lösung ihres Problems einzufordern.

Aber leider, liebe Einbringerinnen und Einbringer,„springen“ Sie sehr kurz mit Ihrem Vorschlag. Wie dieÜberschrift verspricht, wollen Sie die Alterssicherungvon in der DDR Geschiedenen „verbessern“ – eine Lö-sung der Problematik insgesamt ist das aber nicht. Siewollen nur diejenigen Geschiedenen berücksichtigen,die wegen Kindererziehung ihre Erwerbsarbeit unterbro-chen oder eingeschränkt haben. Sicher ist das eine Pro-blemgruppe, aber das Leben ist und war auch in derDDR vielfältiger. Und dieses vielfältige Leben war auchrentenrechtlich abgedeckt. So haben viele Frauen, insbe-sondere die inzwischen Hochbetagten, erst die Kindergroßgezogen, zwischendurch gearbeitet, dann irgend-

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wann die eigenen Eltern gepflegt, dann vielleicht nochdie Schwiegereltern. Viele haben das getan, um demMann für die Karriere „den Rücken“ frei zu halten.Wenn dann eine Scheidung kam, war das bitter, aber fürdas Alter waren diese Frauen – nach DDR-Maßstäben –abgesichert; denn in der DDR wurde eine Rente vorran-gig nach Versicherungsjahren ermittelt. Diese konntenauch mit einer geringen freiwilligen Beitragszahlung er-reicht werden. Die Höhe des beitragspflichtigen Ein-kommens spielte für die Rentenermittlung eine unterge-ordnete Rolle.

Wenn im Gegenzug dazu nach Bundesrecht das bei-tragspflichtige Einkommen die entscheidende Rolle fürdie Alterssicherung spielt, muss über fiktive Einkom-mensanrechnung nachgedacht werden. Da bietet sich beiden Geschiedenen ein fiktiver steuerfinanzierter Versor-gungsausgleich an – so auch einer unserer Vorschläge.Aber wir sollten diese Möglichkeit für alle Geschiede-nen schaffen, die sich durch die jetzige Überleitungsre-gelung beschwert fühlen – so unser Appell. Denn es istso, dass die jetzt gewählte Regelung, nämlich gar nichtszu tun, für viele Frauen finanzielle Härten bringt, wassozialpolitisch nicht haltbar ist. Und aus rechtspoliti-scher Sicht wird hier höchst bedenklich mit dem Vertrau-ensschutz umgegangen. Deshalb wäre ich froh, wennnun auch die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen ak-tiv würden, damit wir endlich – 20 Jahre nach der Her-stellung der staatlichen deutschen Einheit – ein Stück-chen mehr für die soziale Einheit tun können.

Um das zu erreichen, müsste nicht nur die Problema-tik der Geschiedenen angepackt werden, sondern die Ge-samtheit der Überführungslücken, das vielfältige Versor-gungsunrecht und der Missbrauch des Rentenrechts alspolitisches Strafrecht. Vorschläge dazu liegen mit den17 Anträgen der Linksfraktion vor, die im parlamentari-schen Verfahren sind. Lassen Sie uns ohne ideologischeScheuklappen gemeinsam nach Lösungen suchen unddiese auch finden!

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Seit 1992 beschäftigen sich die Fraktionen imDeutschen Bundestag mit Briefen und Petitionen vonFrauen, die vor 1992 in der DDR geschieden wurden unddie heute wie damals auf eine rechtliche Gleichbehandlungmit geschiedenen Frauen in der alten Bundesrepublikpochen. Inzwischen beklagen die geschiedenen Frauen,sie seien weder in der DDR noch in der Bundesrepublikin ihrer Lage ernst genommen worden. Viele der Frauen,mit denen ich gesprochen habe, äußern die Vermutung,eine Lösung scheitere an dem fehlenden Willen dazu.

Die Bundesregierung behauptet bis heute, es bestehekein Handlungsbedarf, weil die Frauen in der DDR auchdann, wenn sie Kinder erzogen hatten, erwerbstätig seinkonnten und damit genügend eigene Rentenanwartschaftenerworben haben. In der Antwort der Bundesregierungauf unsere Kleine Anfrage zu den geschiedenen Frauen inden neuen Ländern wird außerdem damit argumentiert,dass diese Frauen eine monatliche Rente von durch-schnittlich 832 Euro hätten. Daraus wird geschlossen, dasskein besonderer Handlungsbedarf bestehe. Tatsächlich ist

es aber so, dass 37 Prozent der in der DDR geschiedenenFrauen ein Nettoalterseinkommen zwischen 500 bis750 Euro beziehen, weitere drei Prozent liegen nochdarunter. In den alten Bundesländern sind dies nur28 Prozent. So der Alterssicherungsbericht 2008. Dasfällt auf, denn die Rente von Frauen in den neuenLändern ist üblicherweise höher als in den alten Bundes-ländern.

Auch wir haben länger gebraucht, um diesen Antrageinbringen zu können. In der Bundesrepublik ist der Ver-sorgungsausgleich bereits 1977 eingeführt worden. Fürdie Geschiedenen in den neuen Bundesländern greift derVersorgungsausgleich erst seit 1992. Ein rückwirkenderVersorgungsausgleich zulasten des geschiedenen Mannesist aber – aus Gründen des Vertrauensschutzes – nachdeutschem Recht nicht möglich. Er würde das verfas-sungsrechtliche Rückwirkungsverbot verletzen. Auch derPetitionsausschuss des Bundestages hatte die Bundes-regierung erfolglos um eine Lösung ersucht. Eine inner-ministerielle Arbeitsgruppe blieb ebenso ohne Ergebnis.

Den in der DDR geschiedenen Frauen bleibt aucheine Witwenrente verwehrt, weil das DDR-Recht keineUnterhaltspflicht zwischen den Eheleuten vorsah. Dassbeide Instrumente im Unterschied zum Westen nichtangewendet werden, nährt bei den Geschiedenen dasGefühl, Bürgerinnen zweiter Klasse zu sein.

Wir schlagen in unserem Antrag einen fiktiven Ver-sorgungsausgleich vor, der geschiedene Frauen begüns-tigt, die zugunsten der Erziehung ihrer Kinder ihre Er-werbsarbeit unterbrechen mussten und die deshalb nurgeringe Rentenansprüche aufbauen konnten. Dazu wer-den die Rentenansprüche der Frauen halbiert. Zusätzlicherhalten die Frauen die Hälfte eines durchschnittlichenmännlichen Verdienstes für die Dauer der Ehe aus Steu-ermitteln hinzu, weil es rechtlich nicht möglich ist, denAusgleich bei den geschiedenen Männern nachträglichdurchzuführen. Die Rentenansprüche der Frauen werdendabei individuell ermittelt. Die andere Hälfte des durch-schnittlichen versicherten Einkommens wird durch denGesetzgeber festgelegt. Dies mindert den dafür erforder-lichen Verwaltungsaufwand. Zudem werden im Gegen-zug Grundsicherungskosten eingespart.

Die von den Bündnisgrünen vorgeschlagene Lösungist verfassungsrechtlich unproblematisch und schließteine seit Jahren bestehende Gerechtigkeitslücke.

Die Gründe, warum sich die Menschen in den neuenBundesländern gegenüber den alten Bundesländern be-nachteiligt fühlen, sind vielfältig. Dass sich die in derDDR geschiedenen Frauen in beiden deutschen Syste-men ungerecht behandelt sehen und sich als Deutscheminderen Rechts empfinden, ist tragisch, aber nachzwanzig Jahren erfolgloser Auseinandersetzung durch-aus nachvollziehbar.

Ich hoffe auf den fraktionsübergreifenden Zuspruchzu unserem Antrag. Wir haben einen unbürokratischenund verfassungsrechtlich gangbaren Ansatz gewählt, derdie konkreten Lebens- und Einkommensverhältnisse dergeschiedenen Ostdeutschen berücksichtigt und ihnen einenangemessenen Ausgleich für die erlittenen Einbußen bei

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der Alterssicherung aus Steuermitteln zuerkennt. Wirschließen damit eine Gerechtigkeitslücke und bitten umZustimmung zu unserem Antrag.

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Experimente zurMeeresdüngung dürfen marine Ökosystemenicht belasten (Zusatztagesordnungspunkt 8)

Michael Kretschmer (CDU/CSU): Der Forschungs-standort Deutschland lebt von Exzellenz, Vertrauen undKooperationsbereitschaft. Was wir in der Debatte umdas deutsch-indische MeeresforschungsexperimentLOHAFEX erlebt haben, war nicht nur eine auf purenBehauptungen aufgebaute, sondern auch eine höchstschädliche Diskussion für die Glaubwürdigkeit, Verläss-lichkeit und Professionalität ebendieses, unseres For-schungsstandorts, und das ohne jede Not. Auch diedurch das Umweltministerium erzwungene Verzögerungdes Forschungsexperiments hat das Experiment gefähr-det.

Ich danke in diesem Zusammenhang Frau Bundes-ministerin Schavan für ihr rasches Handeln und die Frei-gabe des Experiments. Und ich danke dem Alfred-Wegener-Institut für die schnelle und transparente Infor-mationspolitik. Bei der in der vergangenen Woche kurz-fristig anberaumten Informationsveranstaltung wurde je-dem die Möglichkeit eingeräumt, Fragen zu stellen.Diese wurden professionell und verständlich beantwor-tet. Mich hat es aber auch nachdenklich gestimmt, dasserfahrene und ihrer Verantwortung für die Umwelt be-wusste Forscher – deren Lebenswerk es ist, für die Er-haltung und den Schutz unserer Umwelt zu forschen –von jungen Umweltaktivisten angegriffen werden. Um-weltschutz und Forschung sind zwei sich ergänzendeund nicht zwei sich bekämpfende Faktoren.

Der Profilierungsversuch durch das Umweltministe-rium ging zulasten einer sachlichen Diskussion und zu-lasten der Forschung.

In dieser Debatte wurden mehrere Punkte vermengt,die klar voneinander getrennt dargestellt werden müssen.Es geht um die rechtliche Komponente. Es geht um na-turwissenschaftliche Fragestellungen, die Umweltver-träglichkeit. Es geht um die Ziele und um die im Vorfelderlangten Informationen über das Experiment. Die ver-schiedenen zum Vorhaben eingeholten Gutachten unab-hängiger, international anerkannter Institutionen undWissenschaftler haben die rechtliche und naturwissen-schaftliche Seite beleuchtet.

Sie haben klargestellt: Das Vorhaben steht im Ein-klang mit völkerrechtlichen Vorgaben, hier dem interna-tionalen Seerecht. In ihm wird die Forschungsfreiheitauf hoher See nicht nur garantiert. Es wird sogar zur For-schung zum Schutz der marinen Umwelt aufgerufen.Auch die Anforderungen aus den Beschlüssen der Kon-ferenz zur Biodiversität, CBD, und der Londoner Kon-vention sind erfüllt. Die darin geforderte Kleinräumig-

keit des Versuchsgebiets ist gegeben. Sie liegt hier mitcirca 20 km Durchmesser deutlich unter den Empfehlun-gen der Intergovernmental Oceanographic Commission,IOC, und der UNESCO für Eisendüngungsexperimente.Die Beschränkung des Experimentes auf „coastalwaters“ ist im Untersuchungsgebiet erfüllt, da es Plank-tonarten aus Küstengewässern aufweist.

Was den Umweltaspekt angeht, kann klar gesagt wer-den: Hier wird ein natürlicher Prozess simuliert. Dasverwendete Eisensulfat wurde auf die kleinstmöglicheMenge beschränkt. Die dadurch verursachte Erhöhungder Eisenkonzentration im Wasser entspricht der natürli-chen Eisenkonzentration in benachbarten Küstengebie-ten oder beim Schmelzen von Eisbergen. Die durch dieeingebrachte Menge an Eisen erzeugte Algenentwick-lung wird im Bereich der natürlichen Blüte liegen. Undnach Auflösung des mit Eisen gedüngten Wirbels wer-den durch die hohe Verdünnung keine messbaren Verän-derungen vorliegen. Das Experiment dient der Grundla-genforschung. Es soll erforscht werden, was nach demAbsterben der Algen geschieht, in welchem Umfangdiese in die Tiefsee absinken und in welchem Umfangsie von Zooplankton und Walen gefressen werden, ehesie absinken.

Bleibt mir als letzter Punkt noch das vom Umwelt-ministerium aufgegriffene Thema: Wer wusste wann vonder Durchführung des Experiments? Ich mag hier garnicht viele Worte verlieren. Wie gestern in der Sitzungdes Forschungsausschusses deutlich wurde, waren alleParteien gut und von Anfang an über das Experiment in-formiert. Allein schon der Vertragsschluss zwischen un-serer Bundeskanzlerin Merkel und dem indischen Pre-mierminister Singh im Jahr 2007 wurde medienwirksamaufgenommen. Mir fehlt hier jegliches Verständnis,wenn eventuell vorhandene und selbst verschuldete In-formationsdefizite im Umweltministerium dazu führen,dass der Forschungsstandort Deutschland Schadennimmt. Die Verzögerung des Experiments durch diesesVerhalten ist schädlich für Deutschland und in keinerWeise akzeptabel.

Ich wünsche nun dem Alfred-Wegener-Institut undseinen internationalen Partnern einen reibungslosen underfolgreichen Verlauf des Experiments.

Ingbert Liebing (CDU/CSU): Seit einiger Zeit spaltetdas LOHAFEX-Forschungsexperiment öffentlichkeits-wirksam die politischen Gemüter. In den vergangenenTagen war vermehrt viel Widersprüchliches über dasdeutsch-indische Vorhaben in der Presse zu lesen. Demaufmerksamen Leser ist auch nicht entgangen, dass zweiBundesministerien hier sehr unterschiedliche Auffassun-gen vertreten.

Worum geht es? Ich möchte versuchen, die Sachlagezu erläutern.

Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeres-forschung führt momentan in Kooperation mit indischenPartnern ein Experiment zur Eisendüngung im Südatlan-tik durch. Dabei sollen circa 20 Tonnen flüssiger Eisen-sulfatdünger in einem circa 300 Quadratkilometer gro-

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ßen Seegebiet nördlich von Südgeorgien vom deutschenForschungsschiff „Polarstern“ ausgebracht werden, umdessen Wirkung auf die Algenproduktion und die damitverbundene Erhöhung des CO2-Bindungs und -Senkpoten-zials zu untersuchen. Die „Polarstern“ ist am 7. Januar2009 von Kapstadt aus ins Untersuchungsgebiet ausge-laufen.

Die 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention überdie biologische Vielfalt unter deutschem Vorsitz hatteim Mai 2008 in Bonn den Beschluss gefasst, dass dieRegierungen sicherstellen mögen, „dass mit Ausnahmekleinmaßstäblicher wissenschaftlicher Forschungsstudieninnerhalb von Küstengewässern keine Aktivitäten zurDüngung der Ozeane stattfinden.“

Die Grünen wenden in ihrem Antrag nun ein, dass dasLOHAFEX-Experiment gegen diese Kriterien verstoße.Auch das Bundesumweltministerium hat diese Kritikerhoben – genauso wie manche Umweltorganisationen.Gerade wegen dieser Kritik hatte das zuständige Bundes-forschungsministerium sehr kurzfristig eine Begutachtungdes Experiments durch international renommierte Wissen-schaftler veranlasst. Neben der sorgfältigen Prüfung desAlfred-Wegener-Instituts selber haben das IFM-GEOMAR,ein in höchstem Maße anerkanntes Institut für Meeres-wissenschaften an der Universität Kiel, sowie das BritishAntarctic Survey, ein in der Welt führendes Umwelt-forschungsinstitut, dem Projekt seine ökologische Unbe-denklichkeit bescheinigt. Dies war ein verantwortungs-voller Schritt. Die Ergebnisse dieser Gutachten sindeindeutig.

Mit der zum Einsatz kommenden Menge an Eisensulfatwurde die kleinstmögliche Menge gewählt, um in einemin sich geschlossenen Wasserwirbel wissenschaftlichbelastbare Ergebnisse zu erzielen. Außerdem liegt dieGröße des Arbeitsgebiets mit 17 mal 17 Kilometerndeutlich unter den Empfehlungen der UNESCO, die fürsolche Experimente 200 mal 200 Kilometer empfiehlt.

Wissenschaftlich macht ein solches Experiment inKüstennähe keinerlei Sinn, denn dort sind die Eisen-gehalte natürlicherweise schon so hoch, dass man dortden gewünschten Effekt gar nicht beobachten könnte.Tatsächlich ist unter „Küstengewässern“ sinnvollerweiseein ökosystemarer Zusammenhang zu verstehen, der ge-nau hier gegeben ist, wie die Gutachter bestätigt haben.In jeglicher Hinsicht stellen die Gutachten fest, dass dasVorhaben auf hoher See im Südatlantik unter Umwelt-gesichtspunkten nicht nur unbedenklich ist, sondern auchim Einklang mit völkerrechtlichen Vorgaben steht.

Die grundsätzlichen Bedenken gegen Eisendüngungmit dem Ziel, in großem kommerziellen Maßstab CO2 inden Meeren zu binden, sind begründet, die Beschlüsseder CBD-Konferenz berechtigt. Aber wir wissen auch,dass es andere Länder gibt, die genau diese Zielsetzungverfolgten. Dem können wir nur entgegentreten, wennwir diese Position auch mit Fakten untermauern können.Das können wir nur mit fundierten Forschungserkennt-nissen. Sie dienen dem besseren Verständnis der ökosys-temaren Zusammenhänge möglicher Eisendüngungen imZusammenhang mit dem Klimawandel. Genau dies istauch der Grund, weshalb die Resolution der London-

Konvention von Oktober 2008 und der Beschluss derKonvention über die biologische Vielfalt von Mai 2008weitere Forschung fordern. LOHAFEX soll einen Bei-trag zum besseren Verständnis der Rolle der Ozeane imglobalen Kohlenstoffkreislauf liefern. Die Ergebnissedieser Grundlagenforschung werden dazu beitragen, die ininternationalen Konventionen erwähnten Wissenslückenzu schließen.

Das Moratorium verbietet zu Recht die kommerzielleOzeandüngung. Von einem kommerziellen Ansatz kannaber hier keinerlei Rede sein. Ganz im Gegenteil! Es istzu vermuten, dass der Algenteppich algenfressendeMikroben, Kleintiere und Wale anlockt und somit einAbsinken der Algen verhindert wird. Dies wäre sogareine wissenschaftliche Stütze gegen kommerzielle Ei-sendüngung: Die Erwartungen einer nachhaltigen CO2-Bindung würden nicht erfüllt werden, mögliche Risikenzugleich klarer belegbar sein.

Der Antrag der Grünen fordert, Experimente zur Mee-resdüngung dürften marine Ökosysteme nicht belasten.Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit! Sie formulierenAnforderungen an wissenschaftliche Experimente, diehier gewährleistet sind: Das LOHAFEX-Experiment istrechtlich nicht zu beanstanden, ökologisch unbedenklichund wissenschaftlich verantwortlich vorbereitet. Deshalbgibt es auch keinen Raum mehr für Kritik an dem Experi-ment. Genauso wenig ist es in Ordnung, mit dem Antragder Grünen den Eindruck zu erwecken, es wären genaudiese Grundsätze nicht eingehalten. Kritische Anmerkun-gen müssen aber auch an die Adresse des Bundesumwelt-ministers gerichtet werden.

Es ist Januar 2009, nachdem die „Polarstern“ – nachvierjähriger Vorbereitung – mit allen Wissenschaftlernan Bord ausgelaufen war, protestierte plötzlich das Bun-desumweltministerium gegen das Experiment. Es be-klagte, nicht rechtzeitig über das Experiment informiertworden zu sein – und das, nachdem das Umweltbundes-amt, das ja der Kontrolle des BMU unterliegt, vorher be-reits seit längerem informiert war und keine Veranlas-sung gesehen hatte, einen Stopp zu veranlassen. Erst alseinzelne Umweltgruppen öffentlich protestierten, schlugsich der Umweltminister auf die Seite der Kritiker.

Ganz offensichtlich ist Minister Gabriel leichtfertigöffentlichen Erklärungen von Verbänden hinterherge-rannt, ohne den Sachverhalt sorgfältig zu recherchieren.Unverständlich bleibt mir, weshalb der Bundesumwelt-minister hier Forderungen erhoben hat, ohne auch nureinmal mit dem durchführenden Alfred-Wegener-InstitutKontakt aufzunehmen. Ich bin der Meinung, dass etwasmehr Sorgfalt in der Sache der Diskussion über dasForschungsprojekt LOHAFEX gut getan hätte. Es istbedauerlich, welcher Eindruck hier in der Öffentlichkeiterzeugt wurde. Wir sollten auch nicht vergessen, dass essich bei dem derzeit laufenden Projekt nicht um das erstedieser Art handelt. Das AWI hat bereits in den Jahren 2000und 2004 Eisendüngungsexperimente durchgeführt – zuZeiten der rot-grünen Regierung. Damals schien das nie-manden aufzuregen. Für mich ist allerdings besondersunverständlich, dass der Bundesumweltminister auchnach Vorlage der Gutachten von renommierten Instituten

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seine Kritik aufrechterhält. Dafür gibt es erst recht nachder vorliegenden Information überhaupt keine sachlicheBasis.

Meines Erachtens geht es bei der ganzen Diskussion inerster Linie um schlichte Versäumnisse und vorschnelle,unüberlegte Reaktionen des Bundesumweltministeriums.Ich bedauere dies, weil dies ein schlechtes Licht auf dievon mir unterstützte Bundesregierung wirft. Dafür trägtder Umweltminister die Verantwortung. Umso mehr be-grüße ich, dass die Forschungsministerin Annette Schavanverantwortungsbewusst gehandelt, offene Fragen geklärtund dem Forschungsprojekt grünes Licht gegeben hat.Ich bin gespannt auf die Ergebnisse von LOHAFEX undfreue mich darauf, dann noch einmal mit Ihnen über die-ses Thema diskutieren zu können – auf der Basis guterwissenschaftlicher Erkenntnisse.

Heinz Schmitt (Landau) (SPD): Es geht heute umKlimaschutz, es geht um biologische Vielfalt, es geht um„Düngung“ der Meere. Wir debattieren heute über denAntrag von Bündnis 90/Die Grünen „Experimente zurMeeresdüngung dürfen marine Ökosysteme nicht belas-ten“. Eine Forderung, der ich zustimme. Denn bei denPlanungen zu dem angesprochenen Experiment Dün-gung, um Algen zum Wachstum anzuregen und damitCO2 im Wasser zu binden, wurde offenbar zu sehr an denKlimaschutz gedacht, weniger an die biologische Viel-falt.

Dieser Zielkonflikt – Klimaschutz oder Schutz derBiodiversität – zeigt sich nicht zum ersten Mal. In denMinisterien, sogar bei den Umweltverbänden, auch beiuns Politikern ist dieser Zielkonflikt immer wieder zubeobachten. Dennoch dürfte es diesen Gegensatz eigent-lich nicht geben. Denn Klimaschutz und Schutz der Viel-falt des Lebens sind gleichrangige, sind bedeutsameZiele. Unser Land hat sich international verpflichtet,beide gleichermaßen umzusetzen.

Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeres-forschung hat für das eigene Experiment eine Bewertungvorgelegt und die Ergebnisse an das Bundesministeriumfür Forschung und Technologie gemeldet. Danach bringtdas Experiment keine schädlichen Auswirkungen auf dieMeeresumwelt. Diese Bewertung bezieht sich allerdingslediglich auf die erwarteten chemischen Reaktionen unddie Entwicklung des Planktons. Eine Abschätzung derFolgen für höhere Tier- und Pflanzenarten und auf sen-sible Tiefseeregionen ist nach meinen Informationenaufgrund der großen Wissenslücken gerade, was dieTiefsee betrifft, nicht möglich. Zumindest ein Restrisikofür diesen Bereich der biologischen Vielfalt kann nichtausgeschlossen werden.

Im Nachhinein kann man sagen: Es wäre schon wün-schenswert gewesen, wenn sich die betroffenen Ministe-rien bei diesem Experiment von Anfang an besser abge-stimmt hätten und den Schutz der Biodiversität undökologische Zusammenhänge stärker „mitgedacht“ hät-ten. Die Direktorin des Alfred-Wegener-Insitituts siehtebenfalls erheblichen Verbesserungsbedarf, was denAustausch betrifft. Es ist daher erfreulich, dass alle be-

teiligten Kreise dieses Problem erkannt haben und sichkünftig besser untereinander abstimmen wollen.

Für die SPD-Bundestagsfraktion will ich klarstellen:Eine kommerzielle Nutzung der Eisendüngung als CO2-Bunker lehnen wir ab. Ich freue mich, dass dies auchvom Alfred-Wegener-Institut, von Frau MinisterinSchavan und ebenfalls von Minister Sigmar Gabriel sogesehen wird. Der kommerzielle Einsatz der Eisendün-gung hätte in dieser Größenordnung erhebliche negativeAuswirkungen auf die Vielfalt des Lebens im Meer. Siewäre darüber hinaus eine Abkehr von einer vorsorgen-den Klimapolitik. Eine dauerhafte Lösung zur Reduzie-rung von Kohlendioxid ist das Einsparen von Energie,sind eine bessere Energieeffizienz und der Ausbau vonerneuerbaren Energien. Dies haben wir bereits in derVergangenheit entschlossen angepackt, und wir habenauch für die Zukunft die Weichen richtig gestellt.

Wir würden daher sehr begrüßen, wenn sich die Bun-desregierung bei den weiteren Verhandlung der Konven-tion über die biologische Vielfalt, aber auch bei andereninternationalen Abkommen für ein Verbot der Eisendün-gung in allen Weltmeeren einsetzen würde. Somit hättendie Versuche des Institutes der „Polarstern“ auch einennachhaltigen Nutzen.

René Röspel (SPD): Eigentlich ist es verrückt. Dagibt es ein anerkanntes Forschungsinstitut, das auch imBereich Klimaforschung arbeitet. Es bereitet über Jahreein internationales Experiment vor und informiert dienotwendigen Stellen. Mit dem Auslaufen des For-schungsschiffes zum Ort des Experiments bricht aberplötzlich eine Protestwelle von Umweltverbänden los.Das Experiment wird kurzfristig gestoppt, und externeGutachten werden eingeholt. Diese werden von den bei-den zuständigen Ministerien unterschiedlich bewertet.Am Ende darf das Forschungsschiff aber seine Fahrtfortsetzen und das Experiment durchführen.

Man kann die ganze Diskussion um LOHAFEX auchpositiv sehen. Es zeigt, wie wichtig die gesellschaftlicheDiskussion um die Forschungskonzepte ist, insbeson-dere wenn es sich dabei um eine öffentlich geförderteEinrichtung wie beim Alfred-Wegener-Institut, AWI,handelt. Gut ist auch, dass Umweltverbände ein wachesAuge haben. Und wichtig ist auch, dass Kritik und An-merkungen der Umweltverbände von der Politik sehrwohl gehört werden und man auch darauf reagiert.

Die Kritik der Umweltverbände war so gravierend,dass es richtig war, das Experiment zunächst zu stoppenund externe Gutachten anzufordern. Denn Biodiversitätist, wie die Grünen richtig in Ihrem Antrag fordern, na-türlich eine Querschnittsaufgabe, die alle angeht. Aller-dings muss auch klar gesagt werden, dass es sich bei derim Rahmen von LOHAFEX durchgeführten begrenztenEisendüngung um Grundlagenforschung handelt undnicht, wie einige Medienberichte suggerieren, um denEinstieg in die kommerzielle großflächige Eisendüngungder Ozeane.

Wir haben als SPD grundsätzlich Vertrauen in verant-wortungsbewusstes Handeln unserer Wissenschaftlerin-

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nen und Wissenschaftler. Dieses Vertrauen ist auch indiesem Fall in den letzten Tagen durch Gespräche bestä-tigt worden. Wir finden es auch gut, dass Umweltver-bände und Umweltministerium wachsam sind. Das hatzu einer klärenden Diskussion geführt, die ich mir aller-dings schon vor Beginn des Experiments gewünschthätte, damit Differenzen nicht auf dem Rücken der Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgetragen wer-den. Begrüßenswert ist die schnelle Reaktion der Leite-rin des Alfred-Wegener-Instituts, Frau Professor Lochte,die kalibrierten Daten schnellstmöglich und transparentins Internet stellen zu wollen und nach Ende des Experi-ments eine öffentliche Tagung zu organisieren.

Für die SPD ist wichtig: Auch Grundlagenforschungdarf nicht zu Umweltschäden führen. Und auch Grundla-genforschung muss internationale Verträge einhalten unddarf nicht gegen geltendes Recht verstoßen.

Die Befürchtung, es könne zu Umweltschäden größe-ren Ausmaßes kommen, ist ausgeräumt worden. Siebleibt bestehen für Eisendüngung in größerem Maßstab;für LOHAFEX aber sind die ökologischen Risiken alssehr gering anzusehen. Es ist aber Aufgabe der Wissen-schaft, noch besser als bisher ungeklärte Fragen, zumBeispiel was toxische Algen anbelangt, auch in die Vor-bereitung solcher Experimente einzubeziehen und zu un-tersuchen.

Für uns ist mindestens genauso wichtig, dassLOHAFEX nicht gegen das VN-Übereinkommen überdie biologische Vielfalt, CBD, verstößt und damit nichtvölkerrechtswidrig ist. Da es offenbar unterschiedlicheInterpretationen der Beschlüsse der 9. Vertragsstaaten-konferenz zum Beispiel hinsichtlich „coastal waters“gibt, erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie inden nächsten Verhandlungen der Vertragsstaatenkonfe-renz wie auch auf Ebene der London Convention unddes London Protocol auf eine Klärung möglicher Inter-pretationsspielräume zugunsten des Umwelt- und Kli-maschutzes drängt.

Zu Beginn der Diskussion war aber auch klar, dasseine endgültige Entscheidung über LOHAFEX amMontag dieser Woche fallen musste. Eine weitere Ver-schiebung ließ der Zeitplan für das Experiment nicht zu.Wir halten die Fortführung des Experimentes für ge-rechtfertigt, weil es sich um Grundlagenforschung han-delt und die externen Gutachten zu dem Schluss gekom-men sind, dass weder eine Umweltgefährdung noch einVerstoß gegen internationales Recht vorliegt, sondernLOHAFEX sogar zu einem besseren Verständnis derAbläufe des Ökosystems Meer und des Kohlenstoff-kreislaufes beitragen kann.

Ausdrücklich möchte ich für die SPD klarstellen: Ers-tens. Die CBD ist und bleibt für uns rechtlich und vor al-lem politisch verbindlich. Zweitens. Eine kommerzielleoder großflächige Eisendüngung der Meere zum Zweckedes Klimaschutzes scheint uns nicht sinnvoll, sondernsogar kontraproduktiv zu sein. Wir lehnen sie daher ab.

Erlauben Sie mir eine letzte Anmerkung zum Antragder Grünen, der uns gestern erreichte: Viele Aussagenteilen wir und können sie unterstreichen. Aber eine Ant-

wort bleiben die Grünen schuldig: Sind Sie denn nun füroder gegen den Stopp der „Polarstern“-Expedition?

Angelika Brunkhorst (FDP): Wie kann es sein,dass ein Experiment, das seit 2005 geplant wird und fürdas die entsprechenden Verträge im Jahr 2007 geschlos-sen wurden, im Januar 2009, nachdem die „Polarstern“bereits zu ihrer Forschungsfahrt ausgelaufen ist, derartkurzfristig durch das Bundesumweltministerium infragegestellt wird? Der Versuch des Umweltministeriums, eingenehmigtes Forschungsprojekt der „Polarstern“, daszudem noch Erkenntnisse über klimarelevante Vorgängebringen soll, unmittelbar vor dessen Beginn zu verhin-dern, ist ein eklatanter Eingriff in die Forschungsfreiheitund nicht hinnehmbar. Die Wirkung des kurzfristigenZwangsstopps auf unsere indischen Kooperationspartnerdürfte fatal sein. Die sogenannte Große Koalition ausCDU/CSU und SPD macht sich in der Wissenschafts-szene lächerlich.

Man wundert sich auch über den Umgang der Bun-desregierung untereinander. Es scheint, die Koalitions-fraktionen übernähmen die Rolle der Opposition gleichmit. Das kannte man bislang nur von der CSU aus Bayern.Auch wenn man in einer Koalition unterschiedlicherMeinung sein kann, irgendwann muss man sich einigenund zu einem Ergebnis kommen. Es wird ja wohl niemandernsthaft behaupten, das Umweltministerium habe vondem Experiment erst im Januar dieses Jahres erfahren. Eskann und darf nicht sein, dass Umwelt- und Forschungs-ministerium derart unkoordiniert und letztlich gegenläufigagieren. Wenn man die Pressemitteilung aus dem Bundes-forschungsministerium vom 26. Januar 2009 liest, kannman zu dem Schluss gelangen, dass das Motto von FrauSchavan ist: Mir doch egal, was Gabriel meint. DiesesVorgehen wirft ein katastrophales Licht auf die Zusam-menarbeit innerhalb der Bundesregierung und damit aufdie Bundesregierung insgesamt.

Aber anscheinend ist nicht nur bei der Kommunikationnach innen, sondern auch nach außen einiges schiefge-laufen. Man muss die Bedenken der Umweltschützerernst nehmen. Sie befürchten, das Experiment, obzwares sich um Grundlagenforschung handele, bereite denWeg für die kommerzielle Eisendüngung bzw. sei derEinstieg in ein Geo-Engineering. Wenn man liest, Zieldes Versuches sei es letztlich, „Erkenntnisse darüber zugewinnen, ob die ‚Eisendüngung‘ ein gangbarer und vorallem ökologisch rechtfertigbarer Weg zur Reduktiondes Kohlendioxids in der Atmosphäre sein könnte“,oder wenn am Experiment beteiligte Wissenschaftlerdes Alfred-Wegener-Instituts im Spiegel zitiert werden,dass die Einwände der Kritiker weggefegt würden,„wenn unsere Ohnmacht gegenüber dem Klimawandelsichtbar wird“, dann verwundert es nicht, dass Umwelt-schützer hellhörig werden. Man hätte sie früher infor-mieren und über die Planungen aufklären sollen. SowohlBMU als auch BMBF haben glaubhaft erklärt, dass einekommerzielle Eisendüngung der Ozeane keinen Beitragzum Klimaschutz leisten kann und wird. Hierüberherrschte Einigkeit.

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21956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 202. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2009

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Aufgrund der Informationsveranstaltung des Alfred-Wegener-Instituts, des Berichts der Bundesregierung imForschungsausschuss diese Woche und nach Auswertungder vorliegenden Gutachten kommt die FDP zu demSchluss, dass das Experiment, bei dem eine punktuelle,nicht großflächige Ausbringung von Eisensulfat innerhalbeines geschlossenen Wirbels im antarktischen Zirkum-polarstrom erfolgen soll, auch unter Berücksichtigungdes Aspekts des Meeresumweltschutzes durchgeführtwerden kann.

Ich erwarte, dass die Bundesregierung dem DeutschenBundestag nach Durchführung des Experiments über dieErgebnisse berichtet. Neben der Klimafrage interessierenmich als Umweltpolitikerin besonders die Auswirkungenauf das Ökosystem insgesamt. Das Experiment sollschließlich auch darüber Erkenntnisse bringen, welchenEinfluss die Einbringung von Eisensulfat auf das Algen-wachstum hat und welche Meeresorganismen von diesemNahrungsangebot profitieren, das heißt, wie sich dasPlankton und in der Folge der Krill entwickeln. Da Krilldie Hauptnahrung von antarktischen Pinguinen, Robbenund Walen ist, können diese Tiere möglicherweise profi-tieren.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Das ExperimentLOHAFEX zu Effekten des Eiseneintrags auf maritimeÖkosysteme und den Kohlenstoffkreislauf, aber auch dieDebatte darüber sind schon jetzt ein Lehrstück. Wir kön-nen etwas lernen über das Verhältnis von Klima- undUmweltschutz, über die Beziehungen zwischen For-schung und Politik, die sich beide ihrer gesellschaftli-chen und ökologischen Verantwortung zu stellen haben,aber auch über klassisches Missmanagement der Bun-desregierung in einem sehr sensiblen Bereich deutscherForschungs- und Umweltpolitik.

Der Streit um LOHAFEX entzündete sich, als Um-weltverbände im Dezember vergangenen Jahres gegendie Durchführung des Experiments protestierten. DasUmweltministerium will erst im November 2008 – sodie Aussage von Staatssekretär Müller – überhaupt da-von erfahren haben. Hier fragt man sich jedoch: Was istda falsch gelaufen? Seit 2005 wird der Versuch vorberei-tet und hat einen langen Vorlauf inklusive Begutach-tungs- und Genehmigungsverfahren durch mehrere wis-senschaftliche Kommissionen. Auch Expertinnen undExperten des Umweltbundesamtes waren beteiligt. ImJahr 2007 wurde die Kooperationsvereinbarung zwi-schen den beteiligten Instituten in Anwesenheit der Bun-deskanzlerin unterzeichnet. Und Ihnen, lieber Herr Um-weltminister Gabriel, fällt ein gutes Jahr später, zufälligim Vorwahlkampf, auf, dass LOHAFEX vielleicht IhreGlaubwürdigkeit als Umweltschützer beeinträchtigenkönnte? Und wieso haben Sie erst insistiert, als dasSchiff bereits ausgelaufen war?

Unverständlich ist jedoch auch, wieso das For-schungsministerium in einem so sensiblen Bereich nichtvon selbst auf die Idee kommt, die Vereinbarkeit einesinternational angelegten Großprojektes mit Umwelt-schutzvereinbarungen wie der Bonner UN-Konventionzur Biodiversität vorab prüfen zu lassen. Unser Land

kann es sich aus Sicht der Linken nicht leisten, die er-reichten Fortschritte bei der globalen Ablehnung vonGeo-Engineering durch eigene Nachlässigkeit und Un-aufmerksamkeit zu gefährden.

Die am Experiment beteiligten Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler selbst müssen zudem dafür sorgen,dass ihre Reputation nicht gefährdet wird. Und da sinddie früheren Äußerungen der Projektleitung vonLOHAFEX, die die Machbarkeit von flächendeckenderEisendüngung zum Zweck der CO2-Speicherung amMeeresboden in Aussicht stellen, wenig hilfreich. Wäh-rend die Leitung des Alfred-Wegener-Instituts in über-zeugender Weise ihrer Verantwortung für Transparenznachkommt, sollten die durchführenden Forscherinnenund Forscher bei der Erarbeitung ihres Forschungsde-signs ökologische und gesellschaftliche Folgen einerNutzung des erarbeiteten Wissens mit bedenken. Dazugehört etwa, dass die Auswirkungen des Eiseneintragsauf die sensiblen maritimen Ökosysteme in ihrer Ganz-heit auf weitere Tier- und Pflanzenarten im Meer unter-sucht werden. Auch Grundlagenforschung – und um diehandelt es sich bei LOHAFEX – findet nicht in eineminteressenfreien Raum statt. Diese Interessen müssenForscherinnen und Forscher berücksichtigen.

Die Debatte um das Experiment hat – das begrüßenwir – dazu geführt, dass die beteiligten Bundesministe-rien, aber auch die Fraktionen des Bundestages aus-drücklich ihre Ablehnung von Meeresdüngung zumZweck der Klimagestaltung bekräftigen. Wir sind in die-sem Hause gemeinsam der Auffassung, dass in Überein-stimmung mit der Bonner Konvention zur Biodiversität,dem Protokoll über die Verhütung der Meeresverschmut-zung der Londoner Konvention der Internationalen See-schifffahrtsorgansiation sowie dem Weltklimarat dieCO2-Abscheidung durch künstlich vermehrtes Algen-wachstum kein nachhaltiger Weg zum Klimaschutz ist.Erst recht muss eine kommerzielle Meeresdüngung zumZweck des Zertifikatehandels international geächtet unddies durch verbindliche Regelwerke festgeschriebenwerden.

Die Ergebnisse von LOHAFEX können zur Legitima-tion dieser Ächtung einen entscheidenden Beitrag lie-fern. Auch aus diesem Grund steht nicht die rechtlicheBewertung des Experiments für uns im Vordergrund,sondern die politische.

LOHAFEX untersucht die Rolle des Eisens im Koh-lenstoffkreislauf zwischen Ozean und Atmosphäre undstellt Daten für die Beantwortung mehrerer komplexerFragestellungen zur Verfügung. Das Experiment selbstdient dem besseren Verständnis des Wandels der ökolo-gischen und klimatischen Systeme. Diese Art der For-schung wird in den genannten internationalen Vereinba-rungen eindeutig begrüßt. Alle vorliegenden Gutachten,auch das des Bundesamtes für Naturschutz, belegen eineökologische Unbedenklichkeit dieses im kleinen Maß-stab stattfindenden Experiments. Für Die Linke hat dieForschungsfreiheit, deren Ergebnisse einen aufklärendenDiskurs zum Klimaschutz erst ermöglichen, einen hohenStellenwert.

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Abschließend noch ein Wort zu dem Antrag der Grü-nen: In Ihrem Antrag steht nichts Falsches, sondern vielezutreffende Feststellungen und allgemeine, aber nichtweniger richtige Forderungen. Deswegen werden wirauch zustimmen. Leider sind Sie doch ein wenig derVersuchung erlegen, schnell mit einem fertigen Produktauf der Wahlkampfbühne aufzutreten, anstatt den Ver-lauf der Debatte und die verschiedenen Gutachten abzu-warten. Dass Sie sich nun innerfraktionell in der Ein-schätzung von LOHAFEX doch nicht mehr einig sind,zeigt einmal mehr, dass allen Seiten weniger Profilie-rung und mehr Verständigung über die gemeinsam zu er-reichenden Ziele in Forschungs- wie Umweltpolitik gut-getan hätte.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Noch zum Abschluss der 9. Vertragsstaaten-konferenz des Übereinkommens über die biologischeVielfalt vor nicht einmal acht Monaten in Bonn hat derVorsitzende dieser Vertragsstaatenkonferenz, Bun-desumweltminister Sigmar Gabriel, den Aufbruch hinzum Schutz der biologischen Vielfalt prophezeit. Dassder Meeresschutz endlich eine wichtigere Rolle spielensollte, wurde besonders hervorgehoben.

Als eines dieser Aufbruchsignale wurde die klareStellungnahme der Vertragsstaaten gegen „Aktivitätenzur künstlichen Düngung von Meeresgebieten mit demZiel der CO2-Bindung“ gewertet. Der Grund sei – so derMinister in seiner Pressemitteilung –, dass Wissenschaft-ler starke negative Auswirkungen auf die Meeresumweltbefürchteten, und viele Wissenschaftler bezweifeln auchden vermuteten positiven Effekt künstlicher Düngungauf das Klima. Insofern waren alle, die Fragen des Bio-diversitätsschutzes ernst nehmen, mehr als verwundert,als sie erfuhren, dass das Bundesforschungsministeriumin diesen Tagen ein Forschungsexperiment zur Ozean-düngung genehmigt hatte. Ich zolle dem Bundesumwelt-minister Respekt, dass er sich diesem Vorhaben entge-gengestellt hat.

Aus Sicht der Umweltpolitiker meiner Fraktion ver-stößt dieses Experiment eindeutig gegen den politischenWillen, den die Bundesregierung mit ihrer Unterschriftunter das Moratorium geäußert hat. Dass uns nun vonder Bundesforschungsministerin beauftragte Juristen er-klären, dass dieses Moratorium rechtlich nicht bindendsei, weil nicht in nationales Recht umgesetzt – das sindWinkelzüge, die Advokaten alle Ehre machen, die abernichts daran ändern, dass die Bundesregierung auf derVertragsstaatenkonferenz anders gesprochen hat, als siejetzt handelt. Und das ist ein Skandal.

Wir Umweltpolitiker sind der Überzeugung, dass beiweitem nicht alle Bedenken gegen das LOHAFEX-Ex-periment des Alfred-Wegener-Instituts in Bezug auf diebiologische Vielfalt und die Intaktheit der marinen Öko-systeme ausgeräumt sind. Das Bundesumweltamt fürNaturschutz hat festgehalten, dass die Risikobewertunglückenhaft ist und das Experiment dem CBD-Beschlusszur Ozeandüngung widerspricht. Die politische Bot-schaft, die in die Welt geht, ist verheerend: Als derzei-tige CBD-Präsidentschaft unterwirft sich die Bundes-regierung nicht den von ihr mitgetragenen Beschlüssen

der CBD. Im Zweifelsfall also hat der Biodiversitäts-schutz hintanzustehen. Damit verliert Deutschland indiesem Bereich seine Vorbildwirkung und Glaubwürdig-keit. Die Freigabe des LOHAFEX-Experiments durchdie Bundesregierung ist ein Affront für die deutsche undinternationale Politik zum Erhalt der biologischen Viel-falt.

Die Umweltpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen be-kennen sich zur Konvention über die biologische Viel-falt. Forschung findet ihre Grenzen auch in denBeschlüssen, Mandaten und Arbeitsaufträgen diesesÜbereinkommens. Der dramatische Verlust an biologi-scher Vielfalt stellt uns vor sehr komplexe Herausforde-rungen, die wir nur als internationale Staatengemein-schaft gemeinsam bewältigen können. Mit ihrer Haltungund ihrer Argumentation konterkariert die Bundesregie-rung die Bemühungen zur konsequenten Umsetzung derCBD-Beschlüsse auch auf anderen Gebieten. Das istwirklich und wahrhaftig ein Trauerspiel.

Auf seiner Abschlussrede auf der COP 9 versicherteMinister Gabriel: „Wir werden alles in unserer Kraft Ste-hende tun, damit die Entscheidungen der 9. Vertragsstaa-tenkonferenz umfassend und rechtzeitig umgesetzt wer-den.“ Dieses Versprechen wurde nun gebrochen. Wirfordern die Bundesregierung auf, dafür Sorge zu tragen,dass zukünftig nur Forschungsprojekte gefördert wer-den, die die Beschlüsse der CBD konsequent einhalten.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wennengagierte Klimaforscher und Umweltverbände sichüber ein Forschungsexperiment streiten, kann das nie-manden erfreuen, schon gar nicht aus grüner Sicht. DenVorwurf, LOHAFEX verstoße gegen das CBD-Morato-rium über Eisendüngung, darf man in der Tat nicht aufdie leichte Schulter nehmen, denn dieses Abkommenwar ein großer Fortschritt, um Geo-Engineering mit un-absehbaren Folgen und kommerzielle Projekte der Ei-sendüngung international zu stoppen. Und es ist sehr gut,dass in dieser Debatte alle, auch die Forscher des AWIund die verschiedenen politischen Parteien, unterstri-chen haben, dass sie an diesem Stopp festhalten wollen.

Die CBD argumentiert aber auch gerade damit, dassman über die Wirkung von Eisen im Ökosystem derMeere viel zu wenig weiß, und erlaubt deshalb aus-drücklich legitime Grundlagenforschung und formuliertdafür Kriterien. Das Gleiche gilt übrigens auch für dasinternationale Seerecht, die London Convention und dasLondon Protocol. Grundlagenforschung wird auch hiernicht verboten, sondern die Regeln über die Forschungsollen weiterentwickelt werden. Es wurden im OktoberVorschriften für die Übergangszeit formuliert. Um gesi-cherte Erkenntnisse in diesem Bereich zu erlangen, istlegitime Grundlagenforschung geradezu unumgänglich,und es spricht alles dafür, dass diese lieber von unabhän-gigen staatlichen Einrichtungen durchgeführt werdensollte als von privaten Interessengruppen.

Es hat jetzt ein Peer-Review-Verfahren stattgefundenmit verschiedenen naturwissenschaftlichen und rechtli-chen Gutachten unabhängiger wissenschaftlichen Ein-richtungen und Institute. Die eingeholten Gutachten

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kommen zu dem Ergebnis, dass die Risikobewertungdurch das AWI und den indischen Partner bestätigt wird,das Experiment ökologisch unbedenklich sei und nichtgegen internationale Abkommen verstoße. Ich finde esausgesprochen unbefriedigend, dass sich die Bundes-regierung nicht zu einer gemeinsamen Bewertung derLage und der Gutachten hat durchringen können. Wäh-rend alle anderen Beteiligten deutlich gemacht haben,dass das CBD-Moratorium nicht infrage gestellt werdensoll und Geo-Engineering nach wie vor abgelehnt wird,drängt sich der Eindruck auf, beide beteiligten Ministe-rien versuchen nun, aus dem Konflikt Wahlkampfmuni-tion zu sammeln.

Die Regierung ist ein Beitrag zur Versachlichung derDiskussion schuldig geblieben. Dies wäre aber bitter nö-tig angesichts der Hausforderungen, vor denen wir beimKlima- und Umweltschutz stehen, zum Beispiel auch ge-rade in der Arktis. Deshalb kommt es darauf an, dassKlima- und Meeresforscherinnen und -forscher mit Um-weltverbänden den offenen Dialog intensivieren. DieRegierung hat mit eigenen Versäumnissen in der Kom-munikation zwischen Forschungs- und Umweltministe-rium die unglückliche Frontstellung um das ProjektLOHAFEX befördert. Bleibt zu hoffen, dass die Regie-rung hier ihrer Verantwortung in Zukunft eher und bes-ser gerecht wird.

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