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"Das Dorado des deutschen Adels". Die frühneuzeitliche Adelskirche in interkonfessionell- vergleichender Perspektive Author(s): Michael Schwartz Source: Geschichte und Gesellschaft, 30. Jahrg., H. 4, Politik im Katholizismus (Oct. - Dec., 2004), pp. 594-638 Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40182213 . Accessed: 10/09/2013 15:26 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Geschichte und Gesellschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 150.108.161.71 on Tue, 10 Sep 2013 15:26:27 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Politik im Katholizismus || "Das Dorado des deutschen Adels". Die frühneuzeitliche Adelskirche in interkonfessionell-vergleichender Perspektive

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"Das Dorado des deutschen Adels". Die frühneuzeitliche Adelskirche in interkonfessionell-vergleichender PerspektiveAuthor(s): Michael SchwartzSource: Geschichte und Gesellschaft, 30. Jahrg., H. 4, Politik im Katholizismus (Oct. - Dec.,2004), pp. 594-638Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40182213 .

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„Das Dorado des deutschen Adels"

Die frühneuzeitliche Adelskirche in interkonfessionell-vergleichender Perspektive

von Michael Schwärt z

Meinem Lehrer Hans-Ulrich Thamer gewidmet

„Laßt uns ehrlich [. . .] seyn! Es gilt ja heut zu Tag mit allen Erz- und Hochstiftern nicht mehr um Religion, welche entstund, ehe Bischöfe zu Fürsten wurden, und bleiben wird, wenn auch kein Bischof mehr Fürst seyn würde, sondern die Stifter sind nur noch das glückliche Medium zur Erhaltung des Adels, [. . .] daß noch zwi- schen Deutschem Volk und despotischen Fürsten ein das Gleichgewicht haltender Mittelstand bleibe."

Friedrich Carl Freiherr von Moser (1787)1

„Die Wichtigkeit für den Adel entsprang daraus, daß die bedeutendsten der prote- stantischen Domstifter nur Personen aus altadelichen Geschlechtern [. . .] zugängig waren; weshalb sie in [. . .] finanzieller wie politischer Beziehung ein Mittel zur Unterstützung und Erhaltung des Adels wurden."

Gustav Adolf Rochus von Rochow (1822)2

/. Einleitung: Die frühneuzeitlich-katholische Adelskirche - Faktum und Deutung. Eduard Vehse, der kenntnisreiche Chronist der deutschen Höfe, bezeichnete das einstige geistliche Kurfürstentum Mainz ein halbes Jahr- hundert nach dessen Untergang als „das Dorado des deutschen Adels".3 Die- ses polemische Wort eines bürgerlich-protestantischen Historikers war im Grunde auf sämtliche geistliche Fürstentümer des Alten Reiches gemünzt. Diese zuletzt 74 von rund 300 Reichsständen umfaßten die drei ranghöch- sten Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die Erz- bischöfe von Mainz, Köln und Trier, und reichten über einen vierten Erzbi- schof (von Salzburg) und den im Rang folgenden Hoch- und Deutschmeister

1 F. C. Frhr. von Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland, Frank- furt 1787, S. 162 f.

2 Zit. nach: J. Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter Preußens, insbesondere Brandenburg, Merseburg, Naumburg, Zeitz. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (1924), ND Amsterdam 1964, S.416.

3 E. Vehse, Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Bd. 45-48: Die geistlichen Höfe. Erster bis vierter Theil, Hamburg 1859-1860, hier Bd. 45, S. 195.

Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) S. 594-638 © Vandenhoeck & Ruprecht 2004 ISSN 0340-613 X

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des Deutschen Ritterordens über 22 Fürstbischöfe und den , Johannitermei- ster in deutschen Landen" bis zu diversen Äbten, Äbtissinnen und Pröpsten. An der „eigentümlichen Verbindung von Reichsadel und geistlichen Wahl- fürstentümern" ist immer wieder das „Modell des sozialen Aufstiegs" als wichtige Besonderheit der Reichskirche" hervorgehoben worden: „So wie ein einfacher Ritter in den geistlichen Fürstentümern zum Kurfürsten auf- steigen konnte, gab es in den Reichsabteien für bürgerliche Damen und Her- ren die Möglichkeit des Aufstiegs in den Fürstenstand."4 Man muß jedoch sehen, daß diese soziale Aufstiegsmobilität um 1500 sozial viel breiter an- gelegt war als um 1800. Insbesondere in den reichskirchlichen Spitzenposi- tionen, den Fürstbischofsämtern, verengte sie sich zu einem exklusiv-altari- stokratischen Monopol, das die Hochstifter der Reichskirche „unter dem geistlichen Anstrich" in bloße „Versorgungsanstalten des hohen und niede- ren Adels" transformierte.5 Protestantisch-bürgerliche Betrachter, die sich nicht in Polemik erschöpften, beklagten zuweilen, daß dieses Adelsmonopol den an sich günstigen Verfassungstyp einer aristokratischen „Wahlmonar- chie"6 durch einseitige soziale Verankerung „wirkungslos gemacht" habe: Zuletzt hätten „weder die Kirche, noch das Reich, noch die eigenen Unter- thanen" ein „Interesse bei der Fortdauer der geistlichen Herrschaften" ge- habt, da „nur ein kleines Bruchstück des deutschen Adels" bei deren Unter- gang „individuelle Vortheile" habe einbüßen können.7 Diese schon im 19. Jahrhundert verbreitete Beobachtung ist in jüngster Zeit durch quantitativ-sozialgeschichtliche Studien eindrucksvoll bestätigt wor- den.8 Der Nachweis, daß die reichskirchlichen Führungspositionen nach 1648 „ganz eine Domäne des Adels" waren oder wurden,9 relativiert das klassische Defensivargument vom ,,einseitige[n] Bild der adeligen Reichs- kirche in der Neuzeit", das durch „bessere Würdigung" bürgerlicher Parti-

4 K.O. Frhr. von Aretin, Das Alte Reich 1648-1806, 4 Bde., Stuttgart 1993-2000, hier Bd. 1, S. 319; ders., Die Reichskirche und die Säkularisation, in: R. Decot (Hg.), Säkula- risation der Reichskirche 1803. Aspekte kirchlichen Umbruchs, Mainz 2002, S. 13-32, insb. S. 14 f.

5 F.G. Schultheiß, Die geistlichen Staaten beim Ausgang des alten Reiches. Vortrag im Volksbildungsverein München am 12. Februar 1894, Hamburg 1895, S.6; F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Freiburg 19553, insb. Bd. 4, S. 8.

6 K. A. Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen von der Reformation bis zur Bundes- Acte, 12 Bde., Breslau 1826-1848, hier Bd. 5, S.3; ähnlich neuerdings: W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 20002, S. 59.

7 C. T. Perthes, Das deutsche Staatsleben vor der Revolution. Eine Vorarbeit zum deutschen Staatsrecht, Hamburg 1845, S. 107, S. 111 und S. 121.

8 S. Kremer, Herkunft und Werdegang geistlicher Führungsschichten in den Reichsbistü- mern zwischen westfälischem Frieden und Säkularisation. Fürstbischöfe - Weihbischöfe - Generalvikare, Freiburg 1992, S. 94.

9 K. Andermann, Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in: HZ 271. 2000, S. 593-4519, insb. S. 599.

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zipation (etwa unter den Weihbischöfen) entzerrt werden müsse.10 Gewiß stammten bis zuletzt „zahlreiche Fürstäbte und Generalvikare aus bürgerli- chen oder gar bäuerlichen Schichten", so daß die Reichskirche auch in ihren Führungspositionen niemals eine ausschließliche Adelskirche gewesen ist.11 Doch haben neueste Forschungen gezeigt, daß jener Aristokratisierungs- trend, der im 17. Jahrhundert zunächst die entscheidenden Positionen der Fürstbischöfe und Domherren erfaßte,12 im 18. Jahrhundert auch zu aristo- kratischen Mehrheiten in den ursprünglich bürgerlichen Bastionen der Weih- bischofs- und General vikarsämter geführt hat.13 Nichtadlige wurden im letz- ten Jahrhundert der Existenz der Reichskirche aus deren Spitzenpositionen „weitgehend verdrängt"14 und nur noch auf nachgeordneten oder peripheren Positionen geduldet.15 Vom positiven Bild ,,soziale[r] Mobilität"16 in der Reichskirche läßt dieser nachweisliche frühneuzeitliche Trend zu fortschrei- tender Aristokratisierung - um nicht zu sagen: „Refeudalisierung"17 - nicht mehr viel übrig. Man weiß schon seit längerem, daß geistliche Fürsten „in der Regel aus reichsfürstlichen, reichsritterschaftlichen und landadligen Familien ge- wählt" wurden.18 Doch erst in letzter Zeit ist die dynamische Konkurrenz innerhalb dieser altadligen Schichten genauer bestimmt worden. Lediglich Abkömmlinge von Fürstendynastien besaßen demnach reichsweite Wahl- chancen, während sonst die Zugehörigkeit zu einer lokal dominierenden Gruppe des Altadels entscheidend war. In Bamberg und Würzburg, Fulda und Konstanz wurden sämtliche Fürstbischöfe nach 1648 aus der Reichsrit-

10 H. Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, in: Hdb. der Kirchengeschichte, hg. von H. Jedin, 7 Bde., Freiburg 1970, hier Bd. 5, S. 152-180, insb. S. 172 f.

11 H. Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763-1815, Berlin 1989, S. 104 f.; A. von Reden-Dohna, Reichsstandschaft und Klosterherrschaft. Die schwäbi- schen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 1982, S. 30-34 und 39; die

dortige Unterscheidung zwischen bürgerlichen Äbten und adligen Äbtissinnen bereits bei Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 188.

12 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 59. 13 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 1 15 und S. 456; F. Jürgensmeier (Hg.), Weihbischö-

fe und Stifte. Beiträge zu reichskirchlichen Funktionsträgern der Frühen Neuzeit, Frank- furt 1995; M. Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Mün- chen 1999, S. 86 f.; der Grad der Aristokratisierung bei Weihbischöfen und Generalvika- ren ist allerdings strittig; vgl. P. Hersche, Adel gegen Bürgertum? Zur Frage der

Refeudalisierung der Reichskirche, in: Jürgensmeier, Weihbischöfe und Stifte, S. 195-208, insb. S. 208, Anm. 49.

14 Hersche, Adel gegen Bürgertum? S. 207. 15 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4 Bde., München 1987-2003, hier

Bd. 1,S. 141. 16 H. J. Berbig, Das kaiserliche Hochstift Bamberg und das Heilige Römische Reich vom

Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation, Wiesbaden 1976, S.442. 17 P. Hersche, Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, 3 Bde., Bern 1984;

Kremer, Herkunft und Werdegang; Hersche, Adel gegen Bürgertum? S. 207. 18 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 141.

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terschaft rekrutiert, die sich auch im wichtigen Mainz mit Zweidrittelmehr- heit durchzusetzen wußte. Aufgrund zielbewußter Personalpolitik stellten die Reichsritter mit 87 von 23 1 Regenten die stärkste soziale Basis (37,7 %) aller geistlichen Fürsten der Jahre 1648 bis 1803. Die zweitstärkste Gruppe kam mit 75 Bischöfen (32,5 %) aus dem landständischen Altadel, der neben Westfalen - das er sich mit Reichsfürsten teilen mußte -Salzburg und Lüttich beherrschte. Mitglieder fürstlicher Häuser rangierten erst an dritter Stelle und besetzten jede fünfte Führungsposition seit 1648. Sie dominierten in Köln, Straßburg und Augsburg sowie im konfessionell „alternierenden" Sonderfall Osnabrück.19 Vermochte die führende Reichsritterschaft ihren Personalanteil von rund 38 % kontinuierlich zu halten, sank der Mediatadel, der anfangs ein Drittel der Fürstbischöfe gestellt hatte, nach 1710 auf 23 % ab, um nach 1771 wieder auf 43 % anzusteigen. Diese Schwankung korre- spondierte mit einer erst zunehmenden, nach 1740 aber deutlich schwinden- den Relevanz fürstlicher Dynasten.20 Hatten Habsburger und Witteisbacher in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts „etwa die Hälfte der Bischofssitze" einnehmen können, besetzten Fürstensöhne nach 1771 nur noch vier fürst- bischöfliche Positionen - darunter freilich immer noch zwei der drei Kur- staaten.21 Kann das Faktum der Adelskirche nicht mehr strittig sein, bleibt es doch dessen Deutung. Die frühneuzeitliche Verwandlung der geistlichen Wahl- monarchie in eine „aristokratische Republik"22 hat die bürgerlich-protestan- tisch dominierte deutsche Geschichtsschreibung anhaltend negativ faszi- niert.23 Zu Recht ist jüngst darauf hingewiesen worden, daß das polemische Geschichtsbild des späteren, bürgerlich-borussischen 19. Jahrhunderts bis heute nachwirke und noch in Standardwerken wie Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte" mit Händen zu greifen sei.24 Dort wird in der Tat die „historische Bilanz" gezogen, daß „die deutsche Gegenrefor- mation" durch Abschottung gegenüber protestantischen „Impulsen, Initiati-

19 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 95-97. 20 Ebd., S. 107, wird die letzte Hochphase reichsfürstlichen Einflusses auf 1711-40 datiert,

während Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 382, den Zeitraum von 1680-1750 vorschlägt. 21 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S.5; Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 107

und 109-111. 22 Diese Diagnose mit Blick auf den von aristokratischen Bischöfen getragenen Febronia-

nismus in der späten Reichskirche beim ehemaligen Kölner Nuntius: [Bartolomeo Pacca], Historische Denkwürdigkeiten Sr. Eminenz des Cardinais Bartholomäus Pacca über sei- nen Aufenthalt in Deutschland in den Jahren 1786 bis 1794, in der Eigenschaft eines apostolischen Nuntius in den Rheinlanden, residirend zu Köln. Von ihm selbst geschrie- ben, Augsburg 1832, S. 26 f.

23 H. von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 5 Bde., Leipzig 1928, hier Bd. 1, S. 1 14; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S. 37 f.; L. Häusser, Deut- sche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bun- des, 4 Bde., Berlin 18592, hier Bd. 1, S. 101.

24 Andermann, Die geistlichen Staaten, S. 594.

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ven und Innovationen [. . .] jene verhängnisvolle Abkapselung des Reichs- katholizismus mit herbeigeführt" habe, die „eigentlich erst seit den 1950er Jahren überwunden worden" sei. Als „entscheidende Strukturschwäche" und somit als Hauptursache dieser vermeintlichen katholischen Rückständigkeit betrachtet Wehler die „Mißbräuche" der frühneuzeitlichen „Adelskirche", da altadlige „Eigeninteressen" nicht nur „tridentinische Reformansprüche", sondern auch aufgeklärte Reformen „hartnäckig abgewehrt" hätten.25 Dieser These vom konstitutiven Zusammenhang zwischen adelskirchlicher Mono- polentwicklung und katholischer Rückständigkeit soll im folgenden durch den Nachweis konfessionsübergreifender Prozesse altadliger Durchdrin- gung der Reichskirche im langen „Zeitalter der Konfessionalisierung" zwi- schen 1530 und 173026 begegnet werden. Bei diesem interkonfessionellen Vergleich wird auf die überkommenen, im Kern polemischen und parteili- chen Kategorien von Fort- oder Rückschrittlichkeit verzichtet. Statt dessen geht es um eine Relativierung jenes tief verwurzelten Geschichtsbildes, das einen (progressiven) bürgerlichen Protestantismus einem (folglich rückstän- digen) aristokratischen Katholizismus gegenüberstellt.

//. Abgrenzung und Angleichung: Die Aristokratisierung der frühneuzeitli- chen Reichskirche als konfessionsübergreifender Prozeß. Zu Recht werden „Domkapitel und Damenstifte" des Alten Reiches als Versorgungsanstalten „für nachgeborene katholische Adelssöhne und -töchter" angesprochen.27 Das Manko dieser Sicht liegt im Ungesagten, in der Ausblendung einer par- allelen protestantischen Adelskirche, die mit der Reformation entstand, zum Teil bis ins 19. Jahrhundert existierte und identische Versorgungsfunktionen wie ihr katholisches Pendant erfüllte.28 Der protestantische Breslauer Histo- riker Karl Adolf Menzel hat 1839 frühzeitig, aber ohne bleibende Wirkung die interkonfessionelle Interdependenz bei der Durchsetzung des „Adelspri- vileg[s]" in der Reichskirche hervorgehoben und die These vertreten, der Zugriff des protestantisch gewordenen Teils des Altadels auf Kirchenherr- schaft und -pfründen habe eine nachholende Parallelentwicklung auf katho- lischer Seite erheblich beeinflußt.29 Erst als der protestantische Reichsadel 1648 die Säkularisation als Rechtsprinzip festschrieb und in die Praxis um- setzte, ging er bei seinem Zugriff auf die Reichskirche weit radikaler vor als seine katholischen Standesgenossen, die sich noch lange mit der Monopoli- sierung kirchlicher Führungspositionen begnügen sollten, bevor auch sie

25 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 278 f. 26 Diese Periodisierung bei Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 269. 27 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 141. 28 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 316. 29 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 8, S. 367 f.; der Begriff des Adelsprivilegs

bei: E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 5 Bde., Stuttgart 1957, hier Bd. 1, S. 53.

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sich in der Säkularisationswelle von 1802/03 an jenem „Rechtsbruch son- dergleichen" beteiligten, mit dem nach Karl Lamprecht „Süddeutschland und teilweise auch Mitteldeutschland" erheblich verspätet jene „Revolu- tion" nachvollzogen, „welche Norddeutschland schon im 16. und 17. Jahr- hundert durch Einziehung der großen geistlichen Territorien schrittweise er- lebt hatte".30 Indem Treitschkes klassische Deutung der Zäsur von 1803 als , »Fürstenrevolution" die epochale Parallele zur Reformationszeit zieht, wird bis heute das Säkularisations-„Problem der neueren Geschichte" überwie- gend (und überwiegend zu Recht) als langfristiger Prozeß fokussiert.31 Bevor die protestantischen Fürsten 1648 ihren Anteil an der Reichskirche weitgehend verweltlichten, hatten sie längst schon ihren kirchlichen Legiti- mationsdiskurs säkularisiert - in adelskirchlicher Hinsicht. Luther lieferte aristokratischen Interessenten eine wichtige Legitimation, als er „in einer seiner Hauptschriften (an den christlichen Adel der deutschen Nation)" 1520 „die vom Adel seit Jahrhunderten verfochtene Meinung bestätigt hatte, die alten Stifte und Dome seyen darauf gestiftet, daß die jüngeren Söhne des Adels [. . .] möchten versorgt werden".32 Die reformationsspezifische Kom- bination adliger Besitzansprüche und religiöser Reformmotive verdichtete sich rasch zu einem protestantisch-adelskirchlichen Legitimationsdiskurs. 1552 sah sich der Markgraf von Brandenburg-Kulmbach bei seinem eher raubritterhaften Zugriff auf geistliche Besitztümer gegenüber adligen Stan- desgenossen zu der Erklärung genötigt, er ziele keineswegs auf die Abschaf- fung der Reichsstifter, denn nichts liege ihm ferner, als „dem Adel Deutscher Nation hohen und niedern Standes seinen Unterhalt zu entziehen". Die im protestantischen Adels-Diskurs vorherrschende „Meynung [...], als wären die Erz- und hohen Domstifter vorzüglich zum Unterhalte und zur Versor- gung des Adels gestiftet", brachten Petitionen der evangelischen Grafen und Freiherren an Kaiser Maximilian II. (1564-1576) bereits reichsöffentlich

30 K. Lamprecht, Deutsche Geschichte, Berlin 19224, Dritte Abtheilung: Neueste Zeit, Bd. 2, S. 159 f.

31 Zur „Fürstenrevolution": Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 180 f., sowie T. Nip- perdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, München 1983, S. 11, ohne Bezug auf Treitsch- ke; zur Langfristigkeit der Säkularisation: R. Vierhaus, Säkularisation als Problem der deutschen Geschichte, in: I. Crusius (Hg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und im 18./1 9. Jahrhundert, Göttingen 1996, S. 13-30. Versuche, „reformatorischen Kirchenguts-Säkularisationen" aufgrund der Mentalitäten-Differenz zwischen Konfessio- nalisierung und Säkularisierung „keine Leitbildfunktion und keine Verallgemeinerungs- fähigkeit" für spätere Ereignisse zuzugestehen, wie sie etwa M. Heckel, Das Problem der »Säkularisation' in der Reformation, in: Crusius (Hg.), Zur Säkularisation geistlicher In- stitutionen, S. 31-56, insb. S.41, unternimmt, haben obige Auffassung bislang nicht zu verdrängen vermocht.

32 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 8, S. 367, sowie Bd. 1, S. 67; zum Posi- tionswandel Luthers: Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 11 f.; E. Wolgast, Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648, Stuttgart 1995, S. 29-39.

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zum Ausdruck.33 Im Vorfeld des Westfälischen Friedens monierte die prote- stantische Vormacht Schweden nachdrücklich, daß zur Reformation überge- tretene Nachfahren adliger Stifterfamilien „fast von den führnehmen Stiff- tern excludiret, und langhero andere dazu erhoben worden, deren Voreltern zu selbigen Stifftern lauter nichts conferiret" hätten.34 Die protestantische Ritterschaft der fränkischen, schwäbischen und rheinischen Reichskreise klagte auf dem Friedenskongreß, „wie ihnen nichts empfindlicher falle, als der versagte Zutritt zu den Erzstiften, ritterlichen Orden und Präbenden, wo- zu ihre Voreltern so beträchtliche Stiftungen vermacht".35 Der protestanti- sche Reichsadel forderte, „Stiftungen unserer Voreltern müssen bei ihren Nachkommen und deren Kirche bleiben, sonst könnte man sie zuletzt wohl gar mit [gegenreformatorisch engagierten] Spaniern oder Italienern beset- zen".36 Es lag auf der Linie solch diskursiver Verweltlichung, daß gegen Ende des Alten Reiches aufgeklärte Protestanten die katholische Seite auf- fordern konnten, diese möge endlich zugeben, daß die katholischen Stifter „nur noch das glückliche Medium zu Erhaltung des Adels" seien, während Religion schon längst keine Rolle mehr spiele. In dieser Sicht, die sich aus einer langen protestantischen Diskurstradition ableitete, stand einer Um- wandlung der geistlichen Staaten in säkulare Adelsrepubliken allenfalls noch die interessenpolitische Befürchtung des katholischen Stiftsadels ent- gegen, „daß sich bey dieser Verweltlichung der Stifter allmälig auch Prote- stantische Familien einzuschleichen und einzunisten suchen würden".37 Gewiß war das „Rückgrat" des Protestantismus die aus dem Kleinbürgertum rekrutierte Pfarrerschaft.38 Doch in der Formation des evangelischen Pfarr- hauses erschöpfte sich eine frühneuzeitliche Landeskirche nicht. Der durch die Reformation ermöglichte intensive Zugriff auf die Kirche nutzte zu- nächst in erster Linie dem Altadel und hier besonders den Reichsfürsten. Der landesherrliche Summepiskopat, den viele Fürsten (neben patrizischen Stadtobrigkeiten) über die neuen lutherischen Landeskirchen errichteten, be-

33 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 3, S. 459 und 461 ; J. M. Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- und Domcapiteln - nebst einigen Bemerkungen über das ausschließende Recht desselben auf Dompräbenden, Frankfurt 1790, S. 124-126.

34 Johann Jacob Mosers Teutsches Staats-Recht. Eilffter Theil, darinnen die Materien von denen Evangelischen geistlichen Reichs-Ständen überhaupt [. . .] gehandelt wird, Leipzig 1743, S. 352 f.

35 J. Edler von Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht der Deutschen, Catholisch-

geistlichen Erz- Hoch- und Ritterstifter, 2 Bde. in 4 Teilen, Nürnberg 1788-1790, hier Bd. 1.1, S. 156, Anm. 139.

36 F. von Raumer, Geschichte Europas seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, 8 Bde., Leipzig 1832-1850, hier Bd. 3, S. 641 . Folgerichtig wurde die Aufnahme von Ausländern in evan-

gelische Domkapitel untersagt oder an die Genehmigung des Landesfürsten gebunden; vgl. Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 104-107.

37 Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten, S. 199 f. 38 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 271.

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wirkte nicht zuletzt eine öffentliche „Re-Sakralisierung des protestantischen Fürstentums", während der landesherrliche Zugriff auf die Kirchengüter ei- ne wichtige materielle Basis für moderne Staatsbildung schuf, für die noch der freigeistige Preußenkönig Friedrich II. den Reformatoren Luther und Calvin ausdrücklich Dank zollte.39 Die 1810/11 in Preußen verfügte voll- ständige Säkularisation der katholischen und protestantischen Kirchengüter bewirkte deshalb so „wenig in den altprotestantischen Provinzen", weil „de- ren Kirchengut bis auf geringe Reste schon seit Jahrhunderten eingezogen war".40 Katholische Fürsten und Staaten konnten auf derlei Synergieeffekte zwischen Kirchenenteignung und moderner Staatsbildung bis zum Ende des Alten Reiches lange nicht rechnen. Erst seit dem späten 18. Jahrhundert werden katholische Nachahmungen die- ser reformatorischen Säkularisationsvarianten signifikant. Das gilt zunächst für die mit Enteignungen verbundene Beibehaltung bzw. Neubestimmung kirchlicher Zweckbindungen, die trotz der „massenhaften Aneignung von Kirchengut durch den Adel und die Städte" im Zeichen der Reformation im 16. Jahrhundert die „Normalform" fürstlicher Zugriffe auf Kirchengut ge- wesen sein soll.41 In solchen Fällen wurden Kirchenpfründen landesfürstlich kontrolliert, oft ihren bisherigen Besitzern entzogen, aber weiterhin für kirchliche Aufgaben verwendet, etwa zur Finanzierung von Hospitälern, Universitäten oder der Prediger- und Lehrerausbildung. Man muß freilich sehen, daß im Zuge solcher Umwidmungspolitik, wie sie im 16. Jahrhundert paradigmatisch in Hessen oder im albertinischen Sachsen erfolgte, nicht zu- letzt Fürstenschulen oder adlige Damenstifte subventioniert wurden. Um 1780 wurde dieses protestantische Vorbild der Umwidmung von Kirchengut - insbesondere von Klostergut - in (religiöse) Bildungsfonds von wichtigen katholischen Fürsten nachgeahmt, allen voran von Kaiser Joseph II., der in seinen Erblanden über 700 Klöster aufhob, aber auch durch den Kurfürsten von Pfalz-Bayern und sogar vom Mainzer Kurfürst-Erzbischof, der eine auf- geklärte Universität durch Klosteraufhebungen finanzierte.42 Dieses Vorge- hen war daher nicht nur eine „antizipierte Säkularisation" im Hinblick auf

39 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 267; F. Brendle, Säkularisationen in der Frühen Neuzeit, in: Decot, Säkularisation der Reichskirche, S. 33-55, insb. S. 40; Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 10, S. 365.

40 Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 361. 41 Heckel, Das Problem der , Säkularisation' in der Reformation, S. 50 und S. 41 f. 42 Brendle, Säkularisationen in der Frühen Neuzeit, S.41 f.; Raumer, Geschichte Europas,

Bd. 1, S. 507 f.; K. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 45; C. T. Perthes, Politische Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft, 2 Bde., Gotha 1862-1869, hier Bd. 1, S.26; J. Buholzer, Die Säkularisationen katholischer Kirchengüter während des 18. und 19. Jahrhunderts, insbe- sondere in Frankreich, Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, Luzern 1921, S. 51 und S. 57; C. Jahn, Klosteraufhebungen und Klosterpolitik in Bayern unter Kurfürst Karl Theodor 1778-1784, München 1994.

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1803,43 sondern ebenso (und vielleicht mehr noch) eine konfessionsübergrei- fende Nachahmung kirchlicher Reformationspolitik. Ähnliches läßt sich bei der Transformation neueingerichteter Bildungsfonds zu adelskirchlichen Zwecken beobachten, etwa beim Umgang Karl Theodors von Pfalz-Bayern mit sequestrierten Gütern des aufgelösten Jesuitenordens zugunsten des ari- stokratischen Johanniterordens.44 Rudimentär findet sich selbst in den Säku- larisationen nach 1802/03 ein „kirchenreformatorischer" Zweck, doch traten dabei Motive „domänenpolitischer" und „fiskalpolitischer" Art weit stärker hervor.45 Doch auch in solchen Fällen ahmte das 19. Jahrhundert gewisse Vorbilder der Reformationszeit nach, hatten doch etliche protestantische Fürsten des 16. Jahrhunderts - allen voran, wie Otto Hintze 1915 in seiner Hohenzollern-Festschrift freimütig konstatierte, die Kurfürsten von Bran- denburg46 - säkularisiertes Kirchengut ungeniert zur eigenen Schuldentil- gung genutzt. In dieser fiskalpolitischen Säkularisationstradition bewegte sich um 1810 das Preußen Hardenbergs ebenso wie das Bayern Montge- las'.47

II. 1. Die fürstliche Dynastisierung von Fürstbistümern als konfessionsüber- greifende Parallele. Eine weitere konfessionsübergreifende Parallele ergibt sich im Hinblick auf die dynastische Durchdringung von Fürstbischofsäm- tern. Diese Parallele wird verkannt, wenn die Spätphase des Reiches nach 1648 als Vergleichsbasis gewählt wird, als zwar eine katholische Reichskir- che weiterhin blühte, die protestantische Reichskirche durch die Säkularisa- tionen des Westfälischen Friedens jedoch erheblich reduziert worden war. Bis 1648 hingegen überwogen - wenn man es teleologisch sehen will, als „Vorspiel" zur Voll-Säkularisation48 - auch im protestantischen Teil der

43 So jedoch J. Schmiedl, Vor und nach dem Reichsdeputationshauptschluß. Bestimmungen und konkrete Maßnahmen zur Durchführung der Säkularisation am Beginn des 19. Jahr- hunderts, in: Decot, Säkularisation der Reichskirche, S. 87-105, insb. S. 91.

44 Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland, S. 45; Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 12/1, S.75f.; Schmiedl, Vor und nach dem Reichsdeputationshaupt- schluß, S. 91 f.

45 C. Dipper, Probleme einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Säkularisation in Deutschland 1803-1813, in: A. von Reden-Dohna (Hg.), Deutschland und Italien im Zeitalter Napoleons, Wiesbaden 1979, S. 123-170, insb. S. 130 f.

46 O. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 19168, S. 131.

47 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 279 f.; Schnabel, Deutsche Ge- schichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, S.460; H. Klueting, Enteignung oder Um-

widmung? Zum Problem der Säkularisation im 16. Jahrhundert, in: Crusius (Hg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen, S. 57-83, insb. S. 81 f.; A.M. Scheglmann, Ge- schichte der Säkularisation im rechtsrheinischen Bayern, 3 Bde., Regensburg 1903-1908; D. Stutzer, Die Säkularisation 1803. Der Sturm auf Bayerns Kirchen und Klöster, Rosen- heim 19903; W. Müller (Bearb.), Im Vorfeld der Säkularisation. Briefe aus bayerischen Klöstern 1794-1803/1812, Köln 1989.

48 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 24.

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Reichskirche eindeutig adelskirchliche Phänomene. Fast will es scheinen, als seien die protestantischen Reichsfürsten zur Avantgarde einer dann kon- fessionsübergreifend forcierten Dynastisierung der reichskirchlichen Hier- archie geworden. Zwar gab es vorreformatorische Ansätze zu solcher Dyna- stisierung, doch nahm letztere sprunghaft zu, sobald protestantisch gewor- dene Fürsten nicht nur innerhalb ihrer Staaten auf kirchliche Rechte und Güter Zugriffen, sondern auch benachbarte geistliche Fürstentümer tangier- ten. Im Vergleich zu diesem externen Säkularisationszugriff erwies sich die Gefahr interner Säkularisation - trotz des aufsehenerregenden Beispiels des Deutschen Ritterordens in Preußen 1525 - für die Bestandserhaltung der Reichskirche als weitaus geringfügiger.49 Anders als einige Fürstbischöfe des 16. Jahrhunderts, die mit Säkularisationsgedanken spielten, jedoch de- ren Umsetzung nicht wagten oder dabei scheiterten, waren die Säkularisa- tionsstrategien großer protestantischer Dynastien erfolgreich, da sie von ei- ner gesicherten Machtbasis ausgingen. Schon 1541 hatte Kursachsen im Bistum Naumburg einen Präzedenzfall geschaffen und sich dabei auch von den eigenen protestantischen Theologen nicht bremsen lassen.50 Der Religi- onsfrieden von 1555 versuchte wenigstens die kirchlichen Verfassungs- strukturen zu erhalten, indem die protestantischen Reichsstände versichern mußten, daß sich zur „Evangelischen Religion" bekennende Stifter „deß we- gen nicht erblich gemacht werden sollten".51 Im Gegenzug wurde die prote- stantische Transformation vieler Hochstifter vom Kaiser toleriert - wie des- sen Minister Kardinal Khlesl 1613 eingestand, primär deshalb, weil die pro- testantischen Administratoren solcher Bistümer „meist aus großen Fürstenhäusern" stammten und im Konfliktfall auf deren „Assistenz" rech- nen konnten.52 Es waren in der Regel hochfürstliche oder von Reichsfürsten protegierte Fürstbischöfe, die nach dem Ausburger Kompromißfrieden den offenen Übertritt zum Luthertum wagten - wie in Kammin und Lebus (1555), Havelberg (1556), Naumburg (1561), Merseburg (1565), Ratzeburg (1566), Magdeburg (1567), Meißen (1581), Bremen (1585), Minden und Werden (1586).53 Im Ergebnis wurde bis 1648 die „Dynastisierung" geistli- cher Fürstentümer durch Errichtung protestantischer Fürsten-Sekundogeni- turen die Regel, während eine förmliche Säkularisation - wie durch die kur- brandenburgische Annexion der Fürstbistümer Havelberg, Lebus und Bran-

49Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 184 ff.; zur Säkularisation Preußens: ebd., S. 83-91.

50 Diese hatten das Vorgehen als „übereilt und unzweckmäßig" verworfen; vgl. Raumer, Geschichte Europas, Bd. 1, S.488; J. Sporschil, Populäre Geschichte der katholischen Kirche, 3 Bde., Leipzig 18502, hier Bd. 3, S. 285, verweist auf einen Dissens zwischen Kurfürst und lutherischen Theologen hinsichtlich der Verwendung der Bistumseinkünfte ebenso wie Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 240 ff.

51 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.67. 52 Zit nach: Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 6, S. 39 f. 53 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 147.

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denburg 1571 - bis zur Säkularisierungspolitik des Westfälischen Friedens eine klare Ausnahme blieb.54 Erst die Zäsur von 1648 trennte diese beiden konfessionellen Entwicklungs- pfade. Damals verlor die Reichskirche große protestantisch durchherrschte Anteile, um freilich zugleich ein bis dahin ungekanntes Maß an rechtlicher Status-Quo- Absicherung zu gewinnen, das 150 Jahre lang wirksam bleiben sollte.55 Der Friedensschluß von Münster und Osnabrück ließ von den 53 geistlichen Fürstentümern des Jahres 1521 nur noch 23 katholische übrig, eine Zahl, die sich bis 1803 auf 26 leicht erhöhte. Mindestens 16 der 30 Verluste gingen unmittelbar auf das Konto der Reformation56 - zuletzt die 1648 beschlossene, aber erst 1680 vollzogene Säkularisation des Fürsterz- bistums Magdeburg. Die größten Nutznießer dieser umfangreichen Teil-Sä- kularisation der Reichskirche waren die protestantischen Kurfürsten-Dyna- stien Brandenburgs und Sachsens, gefolgt von weiteren protestantischen Fürstenhäusern wie Braunschweig oder Hessen, Holstein oder Mecklenburg. Bei alledem traf jedoch die Säkularisation von 1648, die zwei Erzbistümer und neun Bistümer in weltliche Erbfürstentümer verwandelte,57 nicht nur die katholische Reichskirche, sondern auch deren seit 1517 ausdifferenzierten protestantischen Teil. Gerade dieser wurde durch den massiven Übergang von der Dynastisierung zur Herrschaftssäkularisation auf eine Randgröße reduziert. Neben dem Sonderfall des konfessionell „alternierend" regierten Osnabrück, wo diese dynastische Säkularisation auf halber Strecke stecken blieb, ließ der Westfälische Frieden von allen protestantischen Fürstbistü- mern allein Lübeck weiterbestehen. Ansonsten repräsentierten vier reichs- unmittelbare Damenstifte - Quedlinburg und Herford, Gernrode und Gan- dersheim - die bescheidenen Überreste dessen, was nach 1648 „von denen evangelischen geistlichen Reichs-Ständen" noch vorhanden war.58 Unklar blieb, ob die im 16. Jahrhundert von den Wettinern dynastisierten Fürstbi- stümer Merseburg, Meißen und Naumburg-Zeitz nach 1648 noch zur prote- stantischen Reichskirche zählten. Faktisch manifestierte sich jedoch deren „Charakter als evangelisch-geistliche Fürstentümer"59 1717 in Naumburg- Zeitz, als ein zum Katholizismus konvertierter wettinischer Herzog-Admi-

54 Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 11 f., 218-253 und 345; Heckel, Die evangeli- schen Dom- und Kollegiatstifter, S. 21-24.

55 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 148 und 187 f. 56 Vgl. die Verlustlisten bei G. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters

bis zum Ende des Alten Reiches, München 19803, S. 137 ff.; die katholischen Neuzugänge waren der Hoch- und Deutschmeister sowie die zu Bischöfen erhöhten Fürstäbte von Fulda (1752) und Corvey (1794).

57 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 1, S.50; Brendle, Säkularisationen in der Frühen Neuzeit, S.48.

58 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.4f. 59 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S.26 und 79; Wolgast, Hochstift und

Reformation, S. 253; ähnlich: Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 7 und S. 30.

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nistrator durch das evangelische Domkapitel unter Berufung auf den „geist- lichen Vorbehalt" abgesetzt wurde, der - einst zur Eindämmung der Refor- mation proklamiert - seit 1648 den multikonfessionellen Status quo in der Reichskirche garantierte.60 Zugleich aber machte diese Konfliktgeschichte die Relativität derartiger reichskirchlicher Garantien deutlich, indem sich der (ebenfalls katholische) Kurfürst von Sachsen in Naumburg-Zeitz zum Landesherrn aufschwang und dessen Zugehörigkeit zur Reichskirche mit dem Argument bestritt, seine Vorfahren hätten „dises Stifft [schon] an die 150 Jahr erblich besessen". Preußischer Kritik an dieser Quasi- Annexion begegnete Kursachsen mit dem zynischen Hinweis auf das Jahr 1571, als Kurbrandenburg ebenso verfahren sei, ohne je nach Rechtsgründen gefragt worden zu sein.61 Das Grundprinzip der Dynastisierung, mit dessen Hilfe der protestantische Hochadel seit 1550 große Teile der Reichskirche faktisch zu Nebenländern seiner Erbstaaten gemacht hatte, läßt sich an den bis 1803 überlebenden Re- likten dieser protestantischen Reichskirche recht gut studieren. Zwischen 1648 und 1 803 gehörten - durch den Westfälischen Frieden sogar völkerrecht- lich abgesichert - alle evangelischen Fürstbischöfe von Osnabrück dem Hau- se Braunschweig-Lüneburg an. Die Fürstbischöfe von Lübeck entstammten schon seit dem 16. Jahrhundert regelmäßig dem Hause Oldenburg, und nur innerhalb dessen konnten um die Stellenbesetzung Konflikte ausbrechen. Die Äbtissinnen der protestantischen Reichsstifter wurden überwiegend von Für- stentöchtern der Häuser Braunschweig, Brandenburg und Anhalt gestellt.62 So vergeblich im erwähnten Naumburger Konflikt der evangelische (politische und publizistische) Widerstand gegen die „Wegnehmung" eines evangeli- schen Fürstbistums durch einen mächtigen katholischen Reichsfürsten blieb,63 so nachhaltig wußte doch die protestantische Reichskirche ihren evangelisch- lutherischen Charakter gegen später hinzutretende calvinistische Partizipa- tionsansprüche zu wahren. Zum Calvinismus übergetretene Fürstendynastien wie Kurpfalz und Nassau-Dillenburg oder später Brandenburg-Preußen und Anhalt kamen bei Stellenbesetzungen in der dynastisch wie konfessionell um 1600 bereits weitgehend aufgeteilten protestantischen Adelskirche kaum mehr zum Zuge. Auch nach der 1648 erfolgten reichsrechtlichen Gleichstel- lung der reformierten Konfession blieb die (erheblich verkleinerte) protestan- tische Reichskirche primär lutherisch geprägt - nicht zuletzt deshalb, weil sie kaum noch Mobilität bei wichtigen Pfründenvergaben kannte. Die protestan- tischen Fürstbischöfe Lübecks und Osnabrücks zählten ebenso zur evange-

60 Zum Naumburger Fall: Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 10, S. 175-180; zur überkonfessionellen Bindewirkung des Vorbehalts: Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 151 f.; Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 26.

61 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 33 f., S. 38^7 und 55-58. 62 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 155 und 172 f.; Vehse, Ge-

schichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S. 3-7. 63 Vgl. Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.46f.

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lisch-lutherischen Konfession wie die Äbtissinnen der Reichsstifter Quedlin- burg und Gandersheim. Lediglich Gernrode war ein Monopol der Calvinisten geworden, während Herford immerhin beiden anerkannten protestantischen Konfessionen zugänglich war.64 Wohl begünstigte der Anfang des 17. Jahr- hunderts erfolgte Übertritt der brandenburgischen Kurfürsten zur reformierten Konfession die Entstehung lutherisch-reformierter Mischverhältnisse in den reichskirchlichen Relikten Brandenburg-Preußens unterhalb der reichsunmit- telbaren Ebene, doch auch diese wurden (etwa in den Domkapiteln säkulari- sierter Hochstifte) bald eifersüchtig quotiert und sollten dies bis zum Ende des Alten Reiches bleiben.65 Bereits in der Phase grundlegender Dynastisierung sahen sich die dem pro- testantischen Adelszugriff ausgesetzten Teile der Reichskirche partiell säku- larisiert. Geistliche Charakteristika der Fürstbischofsämter, die die Refor- mation eigentlich hatte wiederbeleben wollen, gingen im Zuge der Durch- setzung hocharistokratischer Interessen sehr bald verloren. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts konnte im Grunde „ein jeder" Protestant für ein Fürstbi- schofsamt kandidieren, „wann er nur die etwa nach denen Statuten erforder- liche Ahnen u.[nd] dergleichen], hat".66 Zu diesem Zeitpunkt war das Zöli- batsgebot für Bischöfe, welches 1549 den verheirateten Kamminer Fürstbi- schof Bartholomäus Swawe, einen bürgerlichen Juristen, mit Blick auf eine drohende Intervention des Kaisers noch zur Abdankung motiviert hatte, längst erodiert. Als 1570 Fürsterzbischof Joachim Friedrich von Magdeburg, zugleich Kurprinz von Brandenburg, zum Protestantismus überging und hei- ratete, forderte nur der weit entfernte Papst die Absetzung, während der Kai- ser eine „Konnivenzpolitik" zwischen formeller Nichtanerkennung und praktischer Tolerierung verfolgte. Duldung erreichte auch der weifische Fürstbischof Heinrich Julius in Halberstadt, nachdem er 1585 in den Ehe- stand getreten war, während er in seinem zweiten Stift Minden allerdings durch das mehrheitlich katholische Domkapitel zum Amtsverzicht gezwun- gen wurde. Auch „die erste[n] Evangelischefn] Erz-Bischöffe zu Bremen hatten versprechen müssen, unverehelicht zu bleiben", und als laut Moser „der Erz-Bischoff Johann Adolf, Herzog zu Holstein heurathete, gäbe es Aufsehen, dahero er resignirte". Doch im Unterschied zum Mindener Weifen gelang es diesem Holsteiner 1596 in Bremen, den eigenen Bruder als Nach- folger zu installieren, während er sein zweites Bistum Lübeck längere Zeit noch selbst behauptete.67

64 Ebd., S. 6. 65 Vgl. die Hinweise bei Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 269 f. 66 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 86. 67 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 211-214; Wolgast, Hochstift und

Reformation, S. 281 f.; Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 114-116; G. V. Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, 2 Bde., Gotha 1858, hier Bd. 1, S.47 und 432.

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Im protestantisch durchherrschten Teil der Reichskirche ging dynastische Machtbehauptung immer deutlicher einer reformatorischen Wiederbelebung alten Kirchenrechts vor. Das von den Reformatoren geforderte Amtsprofil eines Fürstbischofs, der „vor allem reifen Alters sein und die notwendige wissenschaftliche Vorbildung besitzen" sollte, hatte sich unter hochadligen Bischofskandidaten kaum je durchsetzen können. Nach katholischem Kir- chenrecht, das die Reformatoren erneut zur Geltung bringen wollten, hätte ein Bischof mindestens 30 Jahre alt sein müssen. Tatsächlich wurde 1545 in Kam- min die Wahl eines siebzehnjährigen Grafen als „Kinderwahl" und „Affen- werk" von protestantischen Theologen attackiert und zugunsten eines reiferen (und zudem bürgerlichen) Kandidaten, des erwähnten Swawe, verhindert. Doch bald nach dem Tode Luthers wurden unmündige Prinzen protestanti- scher Häuser bereits ungeniert zu Fürstbischöfen gewählt: Bahnbrechend wirkte 1552 die Wahl eines vierzehnjährigen Hohenzollern in Magdeburg und Halberstadt, 1566 folgte in Halberstadt die Kür des sogar erst zweijährigen Weifen Heinrich Julius.68 Diese eklatante Mißachtung kanonischen Rechts und reformatorischer Kernziele wurde „teils durch den Wunsch der protestan- tischen Fürsten" veranlaßt, „die Nachfolge im Bistum möglichst frühzeitig einem Angehörigen ihrer Familie zu sichern, teils durch das Bestreben der Kapitel, während der langen Minderjährigkeit des Gewählten die Stiftsregie- rung allein zu handhaben".69 So ging die Halberstädter Wahl von 1566 mit der Bedingung einer zwölfjährigen Regentschaft für das Domkapitel einher, und die 1598 erfolgte Postulation eines achtjährigen Hohenzollern in Magdeburg basierte auf ähnlichen Konditionen. Noch Lübecker Wahlkapitulationen des 18. Jahrhunderts fixierten solche Kapitelsregentschaften. Als der britische König 1764 in Osnabrück nicht nur die Wahl seines erst zweijährigen Sohnes zum Fürstbischof durchsetzte, sondern zugleich die vom Domkapitel ange- strebte Regentschaft in die Hände eigener Statthalter zu bringen wußte, war insofern ein wichtiger Zwischenschritt von der Dynastisierung zur Herr- schaftssäkularisation erfolgt. Unterdessen war überall in protestantisch-geist- lichen Staaten die kanonische Wahlfreiheit der Domkapitel, obschon 1555 und 1648 reichsrechtlich konfirmiert, dynastischen Herrschaftsmonopolen gewichen. Als das Haus Holstein-Gottorp 1647 durch Vertrag mit dem Dom- kapitel das Lübecker Bischofsamt quasi-erblich machte, war es Nachzügler einer andernorts längst vollzogenen Entwicklung. Bereits seit dem 16. Jahr- hundert waren Koadjutorwahlen als kirchenrechtlich kompatibler Weg zur quasi-erblichen Dynastisierung genutzt worden. In Halberstadt wurden 1616 nicht nur ein Administrator und dessen Koadjutor, sondern vorsorglich auch

68 Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S. 194 und 339; auch Heinrich Julius' drei weifische Nachfolger in Halberstadt waren im 17. Jahrhundert zunächst un- mündig; vgl. Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S.95; Lübeck wählte 1586 einen elfjährigen Herzog von Holstein-Gottorp; vgl. ebd., S. 81.

69 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 9 und 36.

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noch ein „Sub-Coadjutor" gewählt - sämtlich Angehörige des protestanti- schen Hauses Braunschweig. Ähnlich tiefgestaffelt sicherten sich die Holstei- ner in Lübeck noch im 18. Jahrhundert ab.70 Der Trend zur adelskirchlichen Entwicklung erhielt durch die konfessionspo- litische Dialektik von Abgrenzung und Angleichung erhebliche Schubkraft. Paradigmatisch erscheint die Entwicklung im konfessionell alternierend re- gierten Fürstbistum Osnabrück, wo nach 1648 die erwähnte protestantische Dynastisierung zugunsten des Herzogshauses von Braunschweig-Lüneburg (des späteren Kurhannover) auf katholischer Seite die hocharistokratische Parallel-Dynastisierung zugunsten der Herzogshäuser Bayern und Lothringen nach sich zog. Diese nachahmende Aristokratisierung in der katholischen Reichskirche beseitigte die bis zur Reformation häufig mögliche Partizipation nichtadliger Schichten an den fürstbischöflichen Führungsämtern. Zwar woll- te der Staatsrechtler Johann Jacob Moser noch gegen Mitte des 18. Jahrhun- derts „auf die Frage: ob bey denen Teutschen Catholischen geistlichen Reichs- Ständen auf [. . .] eine gewisse Anzahl Ahnen gesehen werde", „nicht simpli- citer mit Ja oder Nein" antworten, doch mußte er zugeben, daß „in neueren Zeiten" - gemeint war die Epoche nach 1500 - immer weniger Nichtadlige zu Fürstbischöfen gewählt worden seien.71 Hatten bis ins frühe 17. Jahrhun- dert Vertreter eines gegenreformatorischen bürgerlichen Klerus in der katho- lischen Reichskirche noch eine Rolle gespielt, suchte man doch spätestens seit der Katastrophe des dreißigjährigen Krieges auf katholischer Seite das er- schütterte „Ansehen der Hierarchie durch enge Verbindung mit der hohen Aristokratie wieder zu steigern". In den meisten katholischen Hochstiften gab es schon seit dem 16. Jahrhundert keine nichtadligen Bischöfe mehr - eben- sowenig wie in der protestantisch kontrollierten Reichskirche. Ausnahmen gab es am längsten im Einflußbereich des kaiserlichen Hofes: Noch 1664 wurde mit Sebastian Ronstock der Sohn eines Grobschmieds zum Nachfolger eines Erzherzogs als „Bischof von Breslau und Fürst und Herzog von Neisse" erhoben, und in Brixen gelangte 1677 mit Paulinus Mayr ein Gerbersohn zur Fürstbischofswürde. Dieser 1685 verstorbene geistliche Reichsfürst war al- lerdings auch die letzte Ausnahme unter den seither „ausschließlich adlige[n] Bischöfe[n]" des Reiches.72 Bereits die katholische Aufklärung konstatierte

70 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 76-83, 102 f. und 192 f.; Schmid, Die säcula- risierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 2, S. 64; Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 20 f.; C. van den Heuvel, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550-1800, Osnabrück 1984, S.268f.

71 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 361 f. 72 Zu Ronstock: Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 8, S. 367 f.; zu Mayr: Moser,

Teutsches Staats-Recht, Bd. 1 1 , S. 362, sowie Andermann, Die geistlichen Staaten, S. 599; der nichtadlige Trienter Electus Gentilotti verstarb 1725 noch vor Amtsantritt; vgl. Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.362, und Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S. 479.

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einen bald nach dem Tridentinum „Überhand genommene[n] Einfluß der größ- ten weltlichen Höfe in Deutschland auf die Wahlen der erledigten [katholi- schen] Erz-Bisthümer und Probsteyen" sowie eine parallele „Veränderung in der innerlichen Verfassung der Stifte durch Verdrängung der ungeadelten und graduirten Personen" aus den Bischofsämtern und Domkapiteln.73 Diese teils parallele, teils nachholende Tendenz zur Aristokratisierung der katholisch gebliebenen Teile der Reichskirche bewirkte zwangsläufig ähn- liche Verstöße gegen das Kirchenrecht wie auf protestantischer Seite. Auf dem Friedenskongreß von Münster und Osnabrück hatte die katholische Par- tei das Pochen des protestantischen Adels auf ein Besitzrecht an „Stiftungen" seiner „Voreltern" noch mit dem schroffen Argument gekontert, es gebe kein Recht auf Pfründenbesitz.74 Verbreitete ähnliche Stiftungsargumente der ka- tholischen Aristokratie75 traten mit dem katholischen Kirchenrecht jedoch nicht weniger in Widerspruch, ob es sich um die Forderung nach Einsetzung einer Anzahl graduierter Theologen in die Domkapitel handelte, die das ari- stokratische Herkunftskriterium durch ein auf Bildung abhebendes Lei- stungskriterium relativierte, oder um das tridentinische Verbot der Häufung („Kumulation") fürstbischöflicher Ämter, um das religiöse Leben jeder Di- özese durch einen permanent anwesenden Bischof zu heben. Betrachtet man die geringe Durchschlagskraft dieser Reformbestimmungen, wird man Weh- ler diesmal kaum widersprechen, wenn er den frühneuzeitlichen Katholizis- mus „in die inneren Widersprüche zwischen Reformgebot und Adelsvor- recht heillos verstrickt" sieht.76 Allerdings war diese Mißachtung theolo- gisch motivierter und kirchenrechtlich kodifizierter Reformansätze das übergreifende Phänomen einer konfessionell zwar gespaltenen, sozial hin- gegen zunehmend homogen wirkenden Adelskirche. Das Vorbild der zwischen 1555 und 1648 flächendeckend erfolgten Entwick- lung protestantischer „Quasi-Sekundogenituren" in der Reichskirche77 blieb auf deren katholisch gebliebene Teile nicht ohne Rückwirkung. Auch auf katholischer Seite gingen reichsfürstliche Dynastien bei ihrem Zugriff auf die Reichskirche am rücksichtslosesten vor. Nachdem der protestantische Hochadel das kanonische Mindestalter von Fürstbischöfen nach 1550 de- monstrativ mißachtete, erfolgte ähnliches - ungeachtet des eben erst been- deten Tridentinums - sehr bald auch auf katholischer Seite. In Münster wur- de 1571 ein zehnjähriger Sohn des Herzogs von Jülich-Cleve zum Koadjutor gewählt, und 1579 betrachtete man in Regensburg einen Witteisbacher trotz seines zarten Alters von drei Jahren als „mächtigeren Beschützer des Glau-

73 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 145. 74 Raumer, Geschichte Europas, Bd. 3, S. 641-643. 75 Vgl. Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Dom-

capiteln, S. 2. 76 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 281. 77 Brendle, Säkularisationen in der Frühen Neuzeit, S.47.

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bens" als dessen nichtadligen Vorgänger. Zwischen 1595 und 1662 folgte in Passau ein minderjähriger Erzherzog dem anderen.78 Nach 1648 scheinen zwar solche Verstöße gegen Kirchenrecht und tridentinisches Bischofsideal abgenommen zu haben, doch dürfte dies primär als indirekte Folge der bes- seren Wahlchancen nichtfürstlicher Kandidaten zu deuten sein, die meist nicht in der Lage waren, den von der Kurie geforderten Preis für einen Dis- pens von der Altersgrenze zu entrichten.79 Für fürstliche Kandidaten wurden jedenfalls weiterhin großzügige Ausnahmen gemacht, wie 1688 der sech- zehnjährige Witteisbacher Josef Clemens von Bayern in Köln oder im frühen 18. Jahrhundert dessen Neffe Clemens August demonstrieren, der mit nur 15 Jahren Koadjutor von Regensburg und mit 19 Jahren Fürstbischof von Pa- derborn und Münster wurde, während Regensburg an seinen sechzehnjähri- gen jüngeren Bruder fiel.80 Noch der 1739 geborene Wettiner Clemens Wen- zeslaus und der 1756 geborene Erzherzog Maximilian Franz waren bei ihren Bischofs- bzw. Koadjutorwahlen 1763 bzw. 1780 kirchenrechtlich minder- jährig. Daß das vom Tridentinum erwartete religiöse Engagement vielen katholi- schen Fürstbischöfen der frühneuzeitlichen Reichskirche fremd blieb, zeigte sich auch am Fortbestehen der Institution der Weihbischöfe, deren Abschaf- fung auf dem Reformkonzil vergeblich verlangt worden war.81 Die weltlich- geistliche Arbeitsteilung zwischen Ordinarien und Auxiliaren ging dabei lan- ge mit einer sozialen Trennung zwischen aristokratischen Fürst- und bürger- lichen Weihbischöfen einher, bevor sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Tendenz zur Adelskirche auch in den Weihbischofsämtern (und sogar in den Generalvikarsämtern) geltend machte. Was einen Habituswandel im Adel zugunsten stärkeren religiösen Engagements indizieren könnte, hatte jeden- falls mit formaler theologischer Bildung wenig zu tun: Denn obschon viele Weihbischöfe der späten Reichskirche ein Theologiestudium begonnen hat- ten, war nicht einmal jeder fünfte graduiert.82 Daß Bildung in der Reichskir- che ein Medium sozialen Aufstiegs darstellte,83 soll zwar nicht bestritten, aber erst recht nicht überschätzt werden. Wenn der Fürstabt von Disentis um 1750 die Forderung nach wissenschaftlicher Ausbildung der Bischöfe er-

78 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.550; Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 324; Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S.469, sowie Bd. 2, S. 199 und 144; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 47, S. 298.

79 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 392. 80 H. Rothert, Westfälische Geschichte, 3 Bde., Gütersloh 195 14, hier Bd. 3, S. 56; Sartori,

Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/2, S.7; G.J. Bessen, Geschichte des Bis- thums Paderborn, 2 Bde., Paderborn 1820, hier Bd. 2, S. 284 f.

81 K. Ganzer, Das Konzil von Trient und die Weihbischöfe, in: Jürgensmeier, Weihbischöfe und Stifte, S. 117-121; Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, S. 172.

82 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 86 f.; Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 1 15, 202 und 453; Hausbereer, Aufgabenbereich, S. 22.

83 Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation, S. 104.

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hob,84 konnte es mit derselben nicht zum Besten stehen. Sofern Fürstbischö- fe ein Studium absolviert hatten, waren sie damals eher mit Jura als mit Theologie in Berührung gekommen.85 Der Jurist und Reichskirchenexperte Sartori hielt es 1788 geradezu für „lächerlich, wenn man von einem deut- schen Erz- und Bischof akademische Gradus erfordern wollte", sei doch eine Graduierung stets „nur Leuten von geringem Stand [. . .] nothwendig" ge- wesen, „damit sie [. . .] in den Cirkel des hohen Adels bey Domstiften ein- zutreten im Stande" wären.86 Und was das innere religiöse Engagement an- ging, gab es zwar unter Fürstbischöfen stets auch solche, welche die „Pflich- ten" ihres „Hirtenamtes [. . .] in eigener Person mit besonderem Eifer" erfüllt haben sollen,87 doch scheint es bezeichnend, daß dergleichen einzelnen Oberhirten lange nachgerühmt werden konnte. Den Regelfall scheint eher die Erfahrung des Nuntius Pacca zu beschreiben, der im Rheinland anläßlich einer Massen-Firmung des Jahres 1793 auf „Personen von achtzig Jahren" traf, die offensichtlich zuvor „nie das Angesicht des Bischofs gesehen hat- ten". Sofern sich adlige Kirchenfürsten zu religiösen Amtshandlungen be- quemten, fielen sie nicht selten durch mangelnde liturgische Sicherheit auf. Nicht nur der junge Talleyrand scheint als Bischof von Autun derart peinli- che Momente erlebt zu haben; über eine Bischofsweihe des Kölner Kurfür- sten von Königsegg wurde kolportiert, dieser habe dabei selbst die Hand- auflegung verabsäumt.88 Offensichtlich fühlten und gerierten sich ,3ischöfe und Domkapitel der alten Zeit", jedenfalls des 18. Jahrhunderts, „vornehm- lich als Angehörige des weltlichen Standes, dem sie entstammten".89 Schon vor dem wechselseitigen Hochschaukeln von Reformation und Gegen- reformation waren in der Reichskirche „den canonischen Gesetzen zuwi- derlaufende]" Bistumskumulationen möglich gewesen, wie das bekannte Beispiel des Luther-Gegenspielers Albrecht von Brandenburg belegt, der sich 1513 als Minderjähriger und mit massivem Geldeinsatz zum Kurfürsten von Mainz, Fürsterzbischof von Magdeburg und Fürstbischof von Halberstadt hatte wählen lassen. Auch weifische oder wittelsbachische Prinzen waren un- mittelbar vor 1517 in dieser Hinsicht erfolgreich gewesen.90 Bedenkt man,

84 H. Raab, Kirchliche Reunionsversuche, in: Hdb. der Kirchengeschichte, Bd. 5, S. 554-570, insb. S. 162.

85 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 87. 86 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/2, S. 8 f. 87 Zwei Beispiele des 18. Jahrhunderts bieten Bessen, Geschichte des Bisthums Paderborn,

Bd. 2, S. 274 f., sowie Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 2, S. 148. 88 Pacca, Historische Denkwürdigkeiten, S. 30; J. Orieux, Talleyrand. Die unverstandene

Sphinx, Frankfurt 1987, S. 85. 89 Schnabel, Deutsche Geschichte, Bd. 4, S. 8. 90 Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S. 331; E. Iserloh, Martin

Luther und der Aufbruch der Reformation, in: Hdb. der Kirchengeschichte, Bd. 4, S. 3-1 14, insb. S. 47; Bessen, Geschichte des Bisthums Paderborn, Bd. 2, S. 25; Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 22.

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welch scharfe Kritik die Reformation an solcher „Polygamie" von Bischöfen mit mehreren Kirchen übte,91 muß das Tempo erstaunen, in dem Bistumsku- mulationen bald auch protestantischen Fürstenfamilien „ohne weiteres als zulässig" erschienen.92 Bereits 1582 kumulierte ein Herzog von Braun- schweig die Fürstbistümer Halberstadt und Minden, 1624 tat ein Markgraf von Brandenburg mit Magdeburg und Halberstadt desgleichen, und ein Her- zog von Holstein fungierte ab 1631 gleich als dreifacher Administrator in Lübeck, Bremen und Verden.93 Im Zuge interkonfessioneller Wechselwirkun- gen blieb das vom Tridentinum feierlich ausgesprochene Kumulationsverbot in der katholischen Reichskirche ebenfalls weitgehend unbeachtet, zumal sich jeder Regelverstoß als Notstandshandeln gegen eine anders nicht abzuweh- rende protestantische Bedrohung rechtfertigen ließ.94 Schon 1568 kumulierte ein Graf von Hoya die Bistümer Minden, Münster und Paderborn, nach 1580 vereinigte ein Witteisbacher das Kurfürstentum Köln mit den Bistümern Frei- sing und Hildesheim, Münster und Lüttich. Im Zuge der katholischen „Resti- tutions"-Politik um 1630 kumulierte der Witteisbachersproß Graf Wartenberg die Bistümer Minden, Verden, Osnabrück und Regensburg, und der Habsbur- ger Leopold Wilhelm brachte es insgesamt auf neun reichskirchliche Füh- rungspositionen, darunter fünf Fürstbistümer.95 Nachdem der katholische Hochadel den protestantischen in der Kumula- tionspraxis erst einmal deutlich überholt hatte, erwiesen sich nachträgliche, vor allem nach Ende des Dreißigjährigen Krieges zunehmende kirchliche Eindämmungsversuche als schwierig. Zwar vereitelte 1660 der Papst den Versuch des Kölner Kurfürsten, sich mit Paderborn noch ein viertes Bistum zu verschaffen, doch gelangte dieser Kölner Witteisbacher 1683 in Münster dennoch ans Ziel, wobei er die ausbleibende päpstliche Bestätigung igno- rierte und die Kurie schließlich zwang, seine illegalen Amtshandlungen „im nachhinein [zu] legalisieren". Der nächste Kölner Witteisbacher Joseph Cle- mens, zugleich Fürstbischof von Regensburg und Freising, sah sich bei sei- ner vierten Wahl in Lüttich 1694 durch Rom genötigt, auf zwei dieser Bis- tümer Verzicht zu leisten, woraufhin er die weniger bedeutenden Würden in

Regensburg und Freising niederlegte. Allerdings ließ er sich in Regensburg schon „im folgenden Jahre aufs Neue" wählen, wofür er 1698 auch die päpst- liche Genehmigung erhielt. Erst 1716, als seiner Dynastie weitere Kandida- ten zur Verfügung standen, trat er Regensburg an seinen (minderjährigen)

91 Diese Metapher noch Jahrhunderte später bei Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 350.

92 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S.43. 93 Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S. 195, 432 und 246 sowie

Bd. 2. S. 522. 94 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 1 1, S. 350 f.; Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 383; A.

Franzen, Kleine Kirchengeschichte, Freiburg 19809, S. 316 f. 95 Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1 , S. 468 f. und 432 sowie Bd. 2,

S. 58; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S. 81.

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Neffen Clemens August ab, der das Hochstift 1719 an seinen jüngeren Bru- der Karl Theodor weiterreichte, um in der Nachfolge seines Onkels anders- wo „gegen das canonische Gesetz" zum „Monsieur des cinq eglises" aufzu- steigen. Sein Bruder Karl Theodor kam durch zusätzliche Wahlen in Freising und Lüttich auf immerhin drei Fürstbistümer.96 Erst ein päpstlicher Reform-Erlaß von 1731, der künftig nur noch die Ku- mulation zweier Diözesen gestattete, scheint allmählich einige Verbindlich- keit erlangt zu haben.97 Zu seiner faktischen Durchsetzung dürfte freilich der Umstand wesentlich beigetragen haben, daß die bisher dominierenden ka- tholischen Fürstendynastien in der Folgezeit kaum noch über in der Reichs- kirche einsetzbare jüngere Prinzen verfügten.98 Bereits bestehende Kumula- tionen wie jene des Kölner Kurfürsten Clemens August von Bayern, der bis zu seinem Tode 1761 einem Erzbistum, vier Bistümern, dem Deutschen Or- den und einer Fürstabtei vorstand, blieben von dieser Neuregelung ohnehin unberührt - wenn auch ein kritischer Papst diesen bayerischen Herzog bei einer Audienz gefragt haben soll: „Bist du jener Fürst, der alle Bisthümer Deutschlands besitzen will"? Auch später erteilte die Kurie zuweilen Aus- nahmegenehmigungen für ein drittes Bistum - so 1744 für Clemens Augusts Bruder Karl Theodor in Lüttich oder 1788 für eine dritte Koadjutorie des Reichsfreiherrn Karl Theodor von Dalberg in Konstanz. Hingegen sah sich der Wettiner Clemens Wenzeslaus trotz seiner hohen Abkunft 1768 gezwun- gen, die neue Kumulationsregel einzuhalten und nach seiner Wahl in Trier und Augsburg seine bisherigen Würden in Regensburg und Freising nieder- zulegen.99 Der Kaisersohn Maximilian Franz hielt sich 1780 von vornherein an die verschärften Regeln und ließ sich nur in zwei Hochstiften (Köln und Münster) wählen. Insgesamt jedoch ging der reichsfürstliche Hochadel bei der kirchenrechtswidrigen Kumulationspraxis unzweifelhaft am weite- sten.100 Lediglich die Kumulation zweier erzbischöflicher Kurstaaten scheint ihm - mit Blick auf die reichspolitisch problematische Vereinigung zweier Kurwürden - grundsätzlich versagt geblieben zu sein.101 Daß die Kurie dem-

96 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 1, S. 323 f.; H. Wolf, Pfründenjäger, Dunkelmänner, Lichtge- stalten. Deutsche Bischöfe im Kontext der Säkularisation, in: Decot (Hg.), Säkularisation der Reichskirche, S. 121-146, insb. S. 130; Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S.483, und Bd. 2, S.203; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd.47, S.318.

97 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 100 f. 98 Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 11, S. 357 f.; Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 383. 99 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S. 52 f.; Sartori, Geistliches und weltliches

Staatsrecht, Bd. 1/2, S. 19; Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 100 f.; Schmid, Die säcu- larisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 2, S. 205.

100 Fortsetzung der Staatistischen Abhandlung über die Mängel in der Regierungsverfassung der geistlichen Wahlstaaten, und von den Mitteln, solchen abzuhelfen, von Joseph Edlen von Sartori, Augsburg 1787, S. 97 f.

101 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/2., S. 19; so mußte ein Pfalz-Neu- burger 1729 als Kurfürst von Trier abdanken, als er in Mainz gewählt wurde; vgl. Moser,

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gegenüber Kumulationen im Falle nichtfürstlicher Bischofskandidaten nur als „Ausnahme" zugelassen habe,102 ist insgesamt zutreffend, bedarf freilich eines wachen Sinnes für Ausnahmen, denn im 18. Jahrhundert hatten nicht wenige Fürstbischöfe reichsritterschaftlicher oder mediatadliger Abkunft zwei Bistümer inne. Beispiele bieten nicht nur einige Schönborn, sondern noch im späten 18. Jahrhundert die beiden Reichsfreiherren von Erthal (in Mainz und Worms bzw. in Würzburg und Bamberg) sowie ein westfälischer Freiherr von Fürstenberg (in Paderborn und Hildesheim). Der schon erwähn- te Reichsfreiherr von Dalberg brachte es 1787/88 sogar zur dreifachen An- wartschaft auf Mainz, Konstanz und Worms, allerdings unter der kurialen Bedingung, eines dieser Bistümer nach Amtsantritt wieder aufzugeben.103 Diese Kumulationspraxis der katholischen Hocharistokratie ist von prote- stantischer Seite schon gegen Mitte des 17. Jahrhunderts scharf kritisiert worden104 - freilich nicht mit kirchenrechtlichen Argumenten (gegen die sie zuvor ebenso verstoßen hatte), sondern mit offenen interessen- und macht- politischen Begründungen. So erklärte Schweden 1646 unter Berufung auf die adelskirchliche Versorgungsfunktion, es sei der „Intention" der Stifter „ganz zuwider", daß durch die Kumulationspraxis einiger weniger Dynasti- en „andere Fürstliche, Gräfliche und Adeliche Geschlechter" vom Pfründen- genuß ausgeschlossen würden. Die parallele Forderung der protestantischen Reichsstände, jeden Fürstbischof der Reichskirche künftig auf ein Stift zu beschränken, entsprach zwar dem katholischen Kirchenrecht, doch wollten die katholischen Stände diese Frage lieber der Disposition des Papstes , je nach erscheinender Nothdurfft" überlassen, statt sich reichs- und völker- rechtlich zu binden.105 Wie Sartori 1788 feststellte, ließ sich in der Folgezeit sogar wahrnehmen, „daß eben nach der Zeit des Westfälischen Friedens- schlusses die Erz- und Bischöfe viel stärker, als vorhero auf den Besitz meh- rerer Bisthümer angedrungen haben".106 Bürgerlich-protestantische Rechts- gelehrte monierten noch weit im 18. Jahrhundert, daß viele Päpste bereit gewesen seien, durch die Billigung von Kumulationen „wider alle alte und

Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.363; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S.83.

102 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 392. 103 F. X. Bischof, Das Ende des Bistums Konstanz. Hochstift und Bistum Konstanz im Span-

nungsfeld von Säkularisation und Suppression (1802/03-1821/27), Stuttgart. 1989, S. 106; ferner die Liste bei Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45.

104 Gekrönte Preißschrift, eine staatistische Abhandlung über die Mängel in der Regierungs- verfassung der geistlichen Wahlstaaten, und von den Mitteln, solchen abzuhelfen, von

Joseph Edlen von Sartori, Augsburg 2. Aufl. 1788, S. 16, wonach die Kumulation katho- lischer Fürstbischofsämter „seit der Religionstrennung [. . .] so sehr Überhand" genommen habe, „daß ein Herr eben so viele Bisthümer besitzen kann, als er Indulte hierzu erlangen mag"; die rechtlichen „Einschränkungen" der Westfälischen Friedens- Akte hätten gegen solche Machtpolitik nichts bewirkt.

105 Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 11, S. 352 f. 106 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1.2, S. 23.

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neue Kirchen-Rechte zu handeln"; doch auch in diesen Kreisen wich solch mißvergnügtes Rechtsdenken binnen einer Generation realpolitisch abge- milderter Ironie.107 Der Wahlstaatscharakter geistlicher Fürstentümer verbietet eigentlich die Rede von katholischen „Sekundogenituren" in der Reichskirche.108 Gleich- wohl reflektiert dieser beliebte Terminus die Nachahmung protestantisch- hocharistokratischer Herrschaftsmuster unter katholischen Strukturbedin- gungen - in ähnlicher Weise, wie man die straffe Kirchenpolitik Habsburgs als „Analogon zu den Landeskirchen protestantischer Fürsten" begreifen kann.109 Insbesondere zwischen 1580 und 1660 bestand der Preis für den Erhalt katholischer Kirchenstrukturen in der Errichtung katholisch-fürstli- cher Sekundogenituren, von denen vorrangig Witteisbacher und Habsburger profitierten. Diese katholischen (Quasi-)Sekundogenituren, wie sie im 17. Jahrhundert in Nordwest- und in Süddeutschland entstanden,110 erschei- nen in konfessionsvergleichender Perspektive als Nachvollzug protestan- tischer Dynastisierungsprozesse. Am tragfähigsten erwies sich diese hochadelskirchliche Nachahmung - durch den permanenten Außendruck mächtiger protestantischer Nachbarschaft - in den geistlichen Staaten Nord- westdeutschlands, wo zwischen 1583 und 1761 überwiegend, im Falle Kölns sogar ununterbrochen bayerische Prinzen regierten. Deren fürstliche Her- kunft und Einbindung waren stets wichtiger als geistliche Qualifikation: Kein einziger der sieben Erzbischöfe, die Köln zwischen 1556 und 1650 regierten, hat je die Bischofs weihe empfangen.111 Die Feststellung ist kaum übertrieben, daß etliche katholische Fürstbischöfe dieser Zeit infolge fehlen- der Weihe kaum andere „Administratoren" waren als ihre protestantisch- fürstlichen Konkurrenten innerhalb der Reichskirche. Man hat behauptet, daß „die Zahl der Bischöfe ohne höhere Weihen" um 1700 abgenommen habe,112 doch auch im 18. Jahrhundert empfing nur eine Minderheit die Prie- sterweihe, deren Bedeutung nunmehr hinter dem Leitbild des adlig-höfi- schen Kavaliers zurückblieb.113 Insbesondere Fürstbischöfe reichsfürstlicher Abkunft ließen sich - wie der 1715 verstorbene Trierer Kurfürst Karl Joseph von Lothringen oder der 1732 verstorbene Trierer, dann Mainzer Kurfürst Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg - „niemalen consecriren", wie ihr Zeitge-

107 Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 11, S. 359; Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten, S. 113 f.

108 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 4 f. 109 Nur letztere Analogie wird ebd. bemerkt; zur Landeskirchenpolitik: G. Christ, Landes-

kirchliche Bestrebungen in Bayern und in den österreichischen Erblanden, in: L. Hüttl u. R. Salzmann (Hg.), Günter Christ. Studien zur Reichskirche der Frühneuzeit, Festschrift, Stuttgart 1989, S. 145-166.

110 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 104 und 385. 111 Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 288. 112 Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, S. 169. 113 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 448.

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nosse Moser sich ausdrückte. Sartori fand noch 1788 bemerkenswert, daß der Kölner Kurfürst Maximilian Franz „erst einige Jahre nach seiner Wahl in den Priesterstand" trat.114 Bürgerliche Protestanten des 19. Jahrhunderts, aber auch aus ihren Reihen hervorgegangene Sozialisten haben in bemerkenswerter Einigkeit die Säku- larisationen der Reformationszeit mit den materiellen Interessen von Für- sten, Adel und Patriziat erklärt: Diese Oberschichten nutzten laut Friedrich Engels den verbreiteten Antiklerikalismus ihrer Zeit für eine „Säkularisation zu ihrem Besten", während die Masse der Bürger und Bauern durch die Teilsäkularisation der Reichskirche ein wichtiges Institut sozialen Aufstiegs verloren habe.115 Betrachtet man den so bezeichneten Hauptgewinner, den protestantischen Adel, zeigt sich allerdings, daß insbesondere der fürstliche Hochadel gewann: Noch im 19. Jahrhundert empörte sich ein römischer Ku- rienkardinal in ohnmächtigem Rechtsgefühl, „die habsüchtige Lüsternheit, sich der geistlichen Fürstentümer zu bemächtigen", sei „die Haupttriebfe- der" gewesen, „welche die deutschen Fürsten bewog, die Lehre Luthers an- zunehmen".116 Einem jungen Zeitgenossen dieses Kardinals, Karl Marx, ging es hingegen um die Dekonstruktion des Gottesgnadentums schlechthin, wenn er etwas später die Hohenzollern der Reformationszeit als wenig he- roische „Kassierer" verspottete, deren „beste [. . .] Erwerbungen im 16. und 17. Jahrhundert" auf schnöden „Kirchenraub" zurückzuführen seien.117 Nicht nur dem Nichtadel, sondern auch dem nichtfürstlichen Adel war seit der Reformation auf protestantischer Seite durch reichsfürstliche Säkulari- sationen ein Großteil der ihm bisher zugänglichen Kirchenpfründen verlo- rengegangen - allen voran die Fürstbischofsämter mit ihrem hohen Prestige und Einkommen. Die fortbestehenden protestantisch-reichskirchlichen Pfründen sahen sich wiederholten Versuchen der Territorialfürsten ausge- setzt, ihre autonom-altadlige Distribution zu beseitigen.118 Sind folglich die adelskirchlichen Parallelen und Wechselwirkungen zwischen beiden Kon- fessionen frappierend, so bestand ein wichtiger Unterschied doch in der an- haltend größeren Partizipation des nichtfürstlichen Altadels auf katholischer Seite. Nicht zufällig wußten absolutismus-kritische Protestanten gegen Ende des Alten Reiches die adelsrepublikanische Autonomie der katholischen

114 Wolf, Pfründenjäger, Dunkelmänner, Lichtgestalten, S. 128 f.; Aretin, Die Reichskirche und die Säkularisation, S. 19; Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.539f.; Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/2, S. 8 und 320 f.

115 F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. 7, Berlin (Ost) 1960, S. 410; ferner: Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 5, S. 4; zu den schei- ternden nichtfürstlichen Säkularisationsvorhaben von Reichsrittern oder Bauern: Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 59-68.

116 Pacca, Denkwürdigkeiten, S. 85. 117 K. Marx, Das göttliche Recht der Hohenzollern, in: MEW 12, Berlin (Ost) 1969, S. 100. 118 Zum landesherrlichen Säkularisationsrecht solcher Domherrenpfründen: Wolgast, Hoch-

stift und Reformation, S. 342 f.

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Reichskirche als Bollwerk aristokratischen „Mittelstandes" zu schätzen.119 Die materielle Seite dieser reichskirchlich basierten Adelsautonomie war offenbar derart signifikant, daß der einige Jahrhunderte länger währende Pfründenzugang des katholischen Altadels bis weit ins 19. Jahrhundert hin- ein an einem erheblichen Wohlstandsgefälle zuungunsten des protestanti- schen Adels ablesbar gewesen sein soll.120 Dies war der sozioökonomische Kontext der bissigen Beobachtung Treitschkes, daß „der stolze katholische Adel, der noch bis 1811 seine jüngeren Söhne in den Domherrenpfründen des reichen" Fürstbistums Breslau „untergebracht hatte", auch in den fol- genden Jahrzehnten „in der Armee wie im Beamtentum" des preußischen Staates „nur spärlich vertreten" gewesen sei und sich „von den kleinen Sol- datengeschlechtern der pommerschen und märkischen Ritterschaft vornehm abgesondert]" habe.121 Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Generationen des protestantischen Stiftsadels längst genötigt gesehen, angesichts ihnen kaum noch offenstehender reichskirchlicher Pfründen neue Mobilitätskarrieren im landesfürstlichen Verwaltungs- oder Militärdienst anzustreben.122 Diese scheinen schon vor 1803 auch zur Voraussetzung für den Zugang zu noch existierenden protestantischen Dompräbenden geworden zu sein.123 Aufgrund der folglich wachsenden Abhängigkeit von seinen Landesfürsten konnte der protestantische Stiftsadel den Verlust seiner reichskirchlichen Autonomie nicht einmal mehr öffentlich beklagen. Kritische Töne waren eher vom katholischen Altadel zu vernehmen - wenn etwa 1619 der Malte- serherr Freiherr von Nostiz die protestantische Sequestrierung seiner schle- sischen Ordenskommende nicht nur als Rechtsbruch, sondern auch als so- ziale Umverteilung zugunsten der „hohen Potentaten" verurteilte. Noch 1785, als sich der preußische König im „Fürstenbund" zum Schutzhelm von Reichsverfassung und Reichskirche aufwarf, empfand dies der Reichsfrei- herr von Gemmingen öffentlich als Heuchelei, da niemand je „mehr säcula- risiert" habe „als das Haus Brandenburg", welches damit nicht nur „die ge- heiligten Rechte der Kirche", sondern auch jene „des Adels gekränkt" ha- be.124 Solch altadliger Kritik an fürstlicher Umverteilungspolitik begegnete ein neuadliger Zeitgenosse Gemmingens, der Freiherr von Moser, 1787 mit dem dialektischen Hinweis, gerade die Fürstenreformation des 16. Jahrhun- derts habe vermutlich den katholischen Teil der Reichskirche vor der voll- ständigen Umwandlung in fürstliche Sekundogenituren bewahrt. Denn hät-

119 Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland, S. 162 f. 120 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, 213 f. 121 Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 2, S. 252. 122 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 5, S. 5. 123 Dies legt ein Blick auf die Ranglisten protestantischer Domherren des späten 18. Jahr-

hunderts in Magdeburg und Lübeck nahe; vgl. Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 89-92, und Bd. 46, S. 184-186.

124 Zit. nach: Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 6, S.403f., und Bd. 12/1, S.232f.

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ten die vorreformatorischen Zustände einige Jahrzehnte länger gedauert, so würden „die Fürsten und Prinzen den Adel aus den reichsten Stiftern allmälig ganz verdrungen und ihm so zu sagen nur die Knochen und Brühe übrig gelassen" haben.125 Ein anderer Zeitgenosse der 1780er Jahre, Sartori, beob- achtete freilich in der späten katholischen Reichskirche gerade solche dro- henden Verdrängungstendenzen: „Der niedere Adel wird in Domstiften zwar noch zugelassen; man bindet ihn aber sich untrennbar an den höhern zu schließen, wenn er nicht gänzlich, wie die graduirten [bürgerlichen] Perso- nen, verdrängt werden will."126 Wir haben bereits gesehen, daß es sich beim damals dominierenden Teil des Altadels nicht um Abkömmlinge von Reichs- fürsten gehandelt haben kann. Sartoris Wahrnehmung bezieht sich daher ver- mutlich auf jene für das 18. Jahrhundert nachgewiesene Monopolisierung der Fürstbischofsämter, die zu Reichsgrafen oder Reichsfreiherren aufge- stiegene reichsritterschaftliche oder mediatadlige Familien auf Kosten ihrer bisherigen Standesgenossen bevorzugte.127 Trotz solcher Verdrängungs- bzw. Unterschichtungsprozesse hatte sich der nichtfürstlich-katholische Altadel in der Reichskirche des 17. und 18. Jahr- hunderts weitaus größere Spielräume bewahrt oder erneut erkämpft, als dies seinen protestantischen Standesgenossen möglich war. Im frühen 17. Jahr- hundert hatte es auch in der katholischen Reichskirche Verdrängungsbestre- bungen des fürstlichen Hochadels gegen den übrigen Altadel gegeben,128 doch wußte letzterer - insbesondere nach 1648 - seine Pfründen nachdrück- lich zu sichern. Diese Interessenpolitik erfolgte „theils durch Statuten", wel- che den Zugang zu den Domkapiteln zugunsten des nichtfürstlichen Regio- naladels regelten, „theils durch [informelle] innere Verbindung und Obser- vanz",129 bedeutete doch jede Wahl eines Prinzen in ein Fürstbischofsamt „für das ihn wählende Domkapitel und seine Familien eine erhebliche Ein- buße an Geld und Ansehen".130 Daß sich nach 1648 eine enge politische Verbundenheit zwischen Fürstbischöfen und Reichsritterschaft etablierte, die zeitweilig fast in ein förmliches Bündnis mündete,131 ist im Elitenkonflikt mit dem reichsfürstlichen Hochadel nicht ohne Belang. Die meisten stifts-

adligen Domkapitel pendelten zwischen der Wahl fürstlicher Dynasten, die ihnen Schutz vor protestantischen Nachbarn versprachen, und der sozial nä-

herliegenden Wahl eigener Standesgenossen. Im vornehmsten Kurfürsten- tum Mainz kam jedoch niemals ein Reichsfürstensproß zum Zuge, und im

125 Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten, S. 112 f. 126 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 244. 127 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 107 und 109-111. 128 Vgl. das Vorgehen des Kölner Kurfürsten Ferdinand von Bayern in Corvey und das seines

Halbbruders Graf Wartenberg in Minden bei Rothert, Westfälische Geschichte, Bd. 2, S. 155 f.

129 Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten, S. 113. 130 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 384. 131 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 97.

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Fürsterzbistum Salzburg schloß der Stiftsadel Habsburger und Witteisbacher 1606 sogar grundsätzlich von der Bischofswahl aus.132 Infolge dieser erfolg- reichen Interessenpolitik stellten Reichsritterschaft und Mediatadel in der katholischen Reichskirche zwischen 1648 und 1803 nicht nur die große Mehrheit der Fürstbischöfe, sondern - parallel zu fürstlichen Sekundogeni- turen - war auch unter Mediatadligen oder Reichsrittern die Quote direkter Verwandtennachfolge mit 15% „nicht gering". Am erfolgreichsten waren die reichsritterliche, dann reichsgräfliche Familie Schönborn im Rhein- Main-Gebiet sowie die Reichsgrafen von Thun in Süddeutschland.133 Erst die Säkularisationswelle von 1802-1811 bewirkte eine tiefgreifende „Ent- machtung des seit dem Westfälischen Frieden aufgestiegenen [katholischen] Reichsadels",134 indem sie schlagartig jene reichskirchlich basierte Adelsau- tonomie zerstörte, die der protestantische Altadel schon zuvor im Laufe eines jahrhundertelangen Prozesses weitgehend verloren hatte. Die konfessionsübergreifende Dimension der frühneuzeitlichen Adelskirche wird überdies am Konvertitenproblem deutlich. Bekanntlich war der zwi- schen 1555 und 1648 ausgefochtene Dauerkonflikt um den „geistlichen Vor- behalt", der die protestantische Partizipation in der Reichskirche ernsthaft bedrohte und daher von dieser Seite immer wieder angefochten wurde, letzt- lich ein Konflikt um die Frage, „ob der hohe Adel Deutscher Nation die Einkünfte der Bisthümer und Kanonikate ohne die [. . .] Beschwernisse des katholischen Priesterthums genießen dürfe" oder nicht.135 Der Westfälische Friede hatte diesen interkonfessionellen Adelskonflikt durch möglichst säu- berliche Trennung zwischen protestantischen und katholischen Anteilen an der Reichskirche, deren Besitzstände nicht mehr in Frage gestellt werden sollten, zu lösen gesucht. Da dieser Status quo - trotz der völkerrechtlich anerkannten Option auf kompensatorische Säkularisation136 und trotz aller Säkularisationsprojekte des 17. und 18. Jahrhunderts - tatsächlich bis 1802/03 Bestand hatte, blieb dem protestantischen Reichsadel zwischenzeit- lich zur Sicherung weiterer Partizipation an den Positionen der katholischen Adelskirche nur der Weg persönlicher oder dynastischer Konversion.137 In der weit ins 18. Jahrhundert reichenden konfessionellen Konkurrenzsituati -

132 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 5; Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 99 f. 133 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 59; Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 382-390;

Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 396, 398 und 400; A. Schröcker, Die Patronage des Lothar Franz von Schönborn (1655-1729). Sozialgeschichtliche Studie zum Beziehungs- netz in der Germania Sacra, Wiesbaden 1981; P.C. Hartmann (Hg.), Die Mainzer Kur- fürsten des Hauses Schönborn als Reichserzkanzler und Landesherren, Frankfurt 2002; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 45, S. 90 f. und 95, sowie Bd. 46, S. 224 f.

134 Möller, Fürstenstaat und Bürgernation, S. 576, im Anschluß an Aretin. 135 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 5, S. 54. 136 Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 340 und 347. 137 V. Press, Fürstentümer, geistliche. II. Neuzeit, in: Theologische Real- Enzyklopädie,

Bd. 11, Berlin 1983, S. 715-719, insb. S.717.

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on dienten, wie der Freiherr von Moser ironisch feststellte, reichskirchliche Pfründen nicht selten „als eine Lockspeise", um „bald diesen, bald jenen [protestantischen] Fürsten zum Uebertritt zu bewegen".138 Die Liste jener ursprünglich protestantischen Dynasten, die diesen Partizi- pationsweg beschritten, ist lang.139 Aufgrund dessen konnte sich Papst Pius VI., als er 1782 den symbolgeladenen Ursprungsort der Confessio Augu- stana besuchte, damit trösten, daß das 1530 führende protestantische Für- stenhaus der Wettiner „nun der Kirche den frömmsten Eifer widmete, und daß das Hochamt, welchem er so eben beigewohnt hatte, von einem Prin- zen dieses Hauses gehalten worden war".140 Über die Karrierechancen von Konvertiten in der katholischen Reichskirche entschied neben ihrem Rang nicht zuletzt der Umstand, ob ihre gesamte Dynastie, nur ein Zweig der- selben oder nur ein einzelner Angehöriger übergetreten war. Nicht zuletzt deshalb, weil ihre regierende Verwandtschaft nicht ebenfalls konvertiert war, stieg ein Markgraf von Baden-Durlach nach 1670 zwar zum Fürstabt und zum Kardinal auf, aber niemals zum Fürstbischof, kam der 1768 ver- storbene Konvertitensohn Joseph von Hessen-Darmstadt über sein einziges Fürstbistum Augsburg nie hinaus und mußte ein Prinz von Sachsen-Zeitz sogar mit einem Weihbischofsamt vorlieb nehmen.141 Hingegen brachte es Clemens Wenzeslaus von Sachsen als Angehöriger einer insgesamt kon- vertierten Kurfürsten-Dynastie und polnischer Königssohn nicht nur zum Gastgeber des Papstes in Augsburg, sondern bis zum Kurfürsten von Trier.142 Einem konvertierten Gesamthause wie Pfalz-Neuburg konnte um 1700 eine regelrechte Stellvertreterfunktion für die in der Reichskirche mangels männlicher Nachkommenschaft nicht mehr einsatzfähigen Habs- burger zuwachsen.143 Der katholische Stiftsadel sah begreiflicherweise sol- che Konversionen protestantischer Dynasten höchst ungern, vermehrten

138 Moser, Ueber die Regierung der geistlichen Staaten, S. 113. 139 Vgl. K. Biedermann, Deutschlands politische, materielle und sociale Zustände im Acht-

zehnten Jahrhundert, Zwei Theile in vier Bänden, Leipzig 1880, hier Bd. 2, S.273, Anm. 3.

140 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 12/1, S. 204 f. 141 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 389; Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 107; W. Wüst,

Das Augsburger Fürstbistum. Ein geistlicher Staat im Heiligen Römischen Reich Deut- scher Nation, Augsburg 1997; H.-J. Schmidt, Weihbischöfe als Politiker, in: Jürgensmeier (Hg.), Weihbischöfe und Stifte, S. 130-148, insb. S. 141.

142 Vgl. D. Wächter, Degen und Krummstab. Clemens Wenzeslaus, Prinz von Sachsen, Kö-

nigl. Prinz von Polen und Litauen, Kurfürst und Erzbischof von Trier, Fürstbischof von Augsburg (1739-1812), Kempten 1978.

143 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 104 ff.; R. Reinhardt, Zur Reichskirchenpolitik der

Pfalz-Neuburger Dynastie, in: H. Wolf (Hg.), Rudolf Reinhardt: Reich - Kirche - Politik.

Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germania Sacra in der Frühen Neuzeit, Ostfil- dern 1998, S. 74-84; J. J. Schmid, Alexander Sigismund von Pfalz-Neuburg, Fürstbischof von Augsburg 1690-1737. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Schwabens im Hochbarock, Weißenhorn 1999.

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sie doch die Zahl hochrangiger Konkurrenten um knappe Pfründen bedroh- lich und verringerten dadurch den vom Freiherrn von Moser ironisch be- schriebenen konfessionellen Entlastungsaspekt. 1787 tat daher die preußi- sche Regierung „wirklich das allerdümmste", als sie anläßlich einer Main- zer Koadjutorwahl Konversion und Kandidatur eines Hohenzollernprinzen ankündigte, um damit lediglich zu bewirken, daß sich das zerstrittene reichsritterschaftliche Domkapitel schleunigst auf einen Kandidaten aus den eigenen Reihen einigte.144 Der kurmainzische Professor Johannes Mül- ler (und spätere Minister des napoleonischen Vasallenstaates Westfalen) sorgte für die apologetische Begleitmusik, indem er die geistlichen Hoch- stifter als Monopol des niederen Altadels reklamierte.145 Nur fünfzehn Jah- re später erlebte freilich dieser katholische Stiftsadel seine Säkularisations- Katastrophe.146 Häufig übersehen wird bis heute, daß nach 1803 allerdings auch die protestantischen Reste der Reichskirche ganz zur landesherrlich- staatsbürokratischen Disposition gestellt wurden, die sie selten lange über- lebten.147 Nicht nur in ihren Anfängen, auch im Untergang erweist sich die frühneuzeitliche Adelskirche somit als konfessionsübergreifendes Phäno- men.

II. 2. Die Aristokratisierung der Domkapitel als konfessionsübergreifende Parallele. Man hat gesagt, daß mit jüngeren Fürstensöhnen in der Reichskir- che nicht nur eine Person, sondern stets das ganze Haus gewählt worden sei.148 In den übrigen altadligen Trägerschichten der Reichskirche ist dieser fami- lial-soziale Aspekt ebenso signifikant. Schon Häusser hat die Domkapitel der Reichskirche als „Coterie von Familien" bezeichnet, sein Zeitgenosse Perthes sprach nüchterner von einer dort vorherrschenden „Fraction des Adels". Die neuere Forschung sieht solche „adeligen Muttergruppen" durch „Mehrfach- bepfründung" geistliche Fürstentümer zu größeren Machtkonglomeraten ver- netzen.149 Der individuelle Aufstieg zum Fürstbischof basierte stets auf der- artigen, langfristig über die Domkapitel mitregierenden Familienverbänden, deren Machtbasis - die Verfügung über möglichst viele Domherrenstellen -

144 K.O. Frhr. von Aretin, Die Koadjutorwahl Dalbergs, in: K. Hausberger (Hg.), Carl von

Dalberg, der letzte geistliche Reichsfürst, Regensburg 1995, S. 31. 145 Vgl. J. Müller, Briefe Zweyer Domherren, Frankfurt 1787. 146 Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 182 f.; Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation,

S.576. 147 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 317. 148 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 385. 149 Häusser, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S.98; Perthes, Das deutsche Staatsleben, S. 107;

Press, Fürstentümer, S. 717; zu den Domherren- Konfraternitäten zwischen Mainz, Bam- berg und Würzburg: Berbig, Hochstift Bamberg, S. 108; zur Salzburger Kapitelspräferenz auf die Titular-Fürstbistümer Gurk, Lavant, Gratz, Seckau und Chiemsee: [Friedrich Graf Spaur], Reisen durch Oberdeutschland. In Briefen an einen vertrauten Freund, 2 Bde., Leipzig 1800 und Passau 1805, hier Bd. 2/2, S. 1 f. und 18.

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durch Konnubien gezielt verbreitert wurde.150 So bereiteten die Distribution von Familienangehörigen auf Domherrenstellen in Mainz, Trier, Worms und Würzburg, aber auch gezielte Einheiraten in die Mainzer Kurfürstenfamilien Eltz und Ostein (und damit in das Schönborn-Netzwerk) den Aufstieg des letzten Mainzer Kurfürsten Karl Theodor von Dalberg langfristig vor. Dieser Abkömmling einer alten Reichsritterfamilie, der einen Kurfürsten von Mainz, einen Fürstbischof von Worms und einen Fürstabt von Fulda unter seinen Ahnen hatte, wurde im Kindesalter Domizellar in Mainz, Würzburg und Worms sowie später in Trier, erlangte in Mainz, Worms und Würzburg die Domherrenwürde und wurde 1787/88 zum Koadjutor in Mainz, Worms und Konstanz gewählt, während er in Würzburg (nur) zum Dompropst aufstieg. Aufgrund seiner Verbindungen hatte Dalberg zeitweilig auch in Fulda, Eich- stätt und Würzburg Wahlchancen zum Bischofsamt.151 Auch im westfälischen Mediatadel gab es, wie das Beispiel zweier Zeitgenossen Dalbergs, der Brüder Franz und Franz Egon von Fürstenberg, belegt, entsprechende Vernetzungen zwischen den Domkapiteln von Münster, Paderborn, Hildesheim und Halber- stadt, auf deren Basis der eine Fürstenberg zum Minister, Generalvikar und (unterlegenen) Bischofskandidaten in Münster, der andere zum Fürstbischof von Paderborn und Hildesheim avancierte.152 Angesichts der Tendenz, den Fürstbischof nur aus dem eigenen Kreise zu wählen,153 waren solche überregionalen Netzwerke oft erst infolge der Re- formation möglich geworden, als alteingesessene Stiftsadelsfamilien zum Protestantismus übergingen und in katholisch bleibenden Hochstiftern durch auswärtige Adelsgruppen ersetzt wurden. Auf diese Weise konnten im Köl- ner Domkapitel seit dem frühen 17. Jahrhundert fränkische und schwäbische Familien dominieren, während der kurmainzische Stiftsadel Eingang in die fränkischen Kapitel Würzburgs und Bambergs fand.154 Auf diese Mobilitäts- phase der Reformationszeit folgte nach 1648 eine Phase zunehmender Im- mobilität, in der sich die altadligen Netzwerke der Pfründeninhaber nicht nur gegen Bürgerliche und Neuadlige, sondern regional auch gegeneinander abschotteten.155 In diesem Konkurrenzkampf um die nach 1648 verbliebenen

150 Vgl. ausführlich C. Duhamelle, L'heritage collectif. La noblesse d'Eglise rhenane, 17e et 18e siecles, Paris 1998, S. 125-89.

151 Ebd., S. 89; K.M. Färber, Kaiser und Erzkanzler. Carl von Dalberg und Napoleon, Re-

gensburg 1994, S. 20 f.; G. Christ, Karl Theodor von Dalberg, in: Hüttl u. Salzmann (Hg.), Christ, S. 210-233, insb. S. 214 f.

152 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 12/1, S. 165 ff.; Bessen, Geschichte des Bisthums Paderborn, Bd. 2, S. 376; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 46, S. 389 und Bd. 45, S. 66; Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 2, S. 108 f.

153 Bamberger Fallbeispiele um 1800 bei Berbig, Hochstift Bamberg, S. 108 f. 154Perthes, Das deutsche Staatsleben, S. 109; H.N. Reuschling, Die Regierung des Hoch-

stifts Würzburg 1495-1642. Zentralbehörden und führende Gruppen eines geistlichen Staates, Würzburg 1984, S.409f.

155 Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, S. 170 f.

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rund 720-820 Domherrenstellen der Reichskirche, deren Besetzung alle Fürstbischofswahlen präjudizierte, vermochten sich die altadligen In-groups sowohl gegen bürgerliche als auch gegen neuadlige (d. h. ehemals bürgerli- che) Konkurrenten durchzusetzen.156 Nichtadlige wurden - in Verschärfung eines schon im Spätmittelalter greifbaren Trends157 - offen ausgegrenzt, während Neuadlige durch das retardierende Instrument der „Ahnenprobe" in eine mehrere Generationen währende „Warteschleife" (unter Bedingung der „richtigen" Heiratspolitik) geschickt wurden. Die Zahl der geforderten adligen Ahnen schwankte zwischen zweien (der Elterngeneration) in Trient und zweiunddreißig (fünf Generationen) in Lüttich; in der Mehrzahl der Domkapitel wurden um 1800 sechzehn adlige Ahnen (vier Generationen) gefordert.158 Dieses für die katholische Reichskirche des 17. und 18. Jahrhunderts be- kannte Phänomen hat in der nur selten wahrgenommenen protestantischen Reichskirche weitreichende Parallelen. Dieser Umstand verweist erneut auf den konfessionsübergreifenden Zusammenhang der reichskirchlichen Ent- wicklung zur beinahe exklusiven Altadelskirche. Sämtliche Domkapitel je- ner Hochstifte, die im 16. und 17. Jahrhundert an die Hohenzollern oder die Oldenburger gefallen waren, hatten sich gegen Ende des Alten Reiches voll- ständig aristokratisiert. Im wettinischen Machtbereich zeigte sich lediglich das Naumburger Kapitel ähnlich exklusiv, während in Merseburg noch um 1790 drei von sechzehn, in Meißen sogar zwei von acht Domherrenstellen mit Bürgerlichen besetzt wurden - in der Regel Professoren der Theologie,159 wodurch ein Rest an kirchlicher Funktionalität dieser Kapitel gewahrt blieb. In einigen dieser Gremien, etwa in Magdeburg und Halberstadt, war adlige Abkunft bereits seit dem Mittelalter Zugangsbedingung gewesen, doch in

156 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 5, beziffert die Domherrenstellen jener Zeit auf 720, während Sartori, Fortsetzung, S.98, 821 Stellen für 30 Hochstifter (inkl. Lübecks) angibt; neuere Regionalstudien: F. Keinemann, Das Domkapitel zu Münster im 18. Jahr- hundert. Verfassung, persönliche Zusammensetzung, Partei Verhältnisse, Münster 1967; C. Bosshart-Pfluger, Das Basler Domkapitel von seiner Übersiedlung nach Ariesheim bis zur Säkularisation (1687-1803), Basel 1983; J. Seiler, Das Augsburger Domkapitel vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Säkularisation (1648-1802). Studien zur Geschichte seiner Verfassung und seiner Mitglieder, St. Ottilien 1989; J. von Boeselager, Die Osnabrücker Domherren des 18. Jahrhunderts, Osnabrück 1990; K. Maier, Das Domkapitel von Kon- stanz und seine Wahlkapitulationen. Ein Beitrag zur Geschichte von Hochstift und Diöze- se in der Neuzeit, Stuttgart 1990; H.A. Braun, Das Domkapitel zu Eichstätt. Von der Reformationszeit bis zur Säkularisation (1535-1806). Verfassung und Personalgeschich- te, Stuttgart 1991; A. Dylong, Das Hildesheimer Domkapitel im 18. Jahrhundert, Hanno- ver 1997.

157 Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 17. 158 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 76 f.; zu Lüttich: Vehse, Geschichte der deutschen

Höfe, Bd. 47, S. 184; Hersche, Adel gegen Bürgertum? S. 198, sieht dort hingegen eine Zunahme von Bürgerlichen bzw. Neunobilitierten.

159 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 115-119; Schmid, Die säcularisierten Bisthümer Teutschlands, Bd. 1, S.409.

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anderen, wie in Brandenburg und Havelberg, wurden bürgerliche Kapitulare - in direkter Parallele zur Entwicklung in der katholischen Reichskirche - erst im 17. Jahrhundert „mehr und mehr verdrängt". Konfessionsübergrei- fend verschärften sich damals auch die Ahnenproben zur Ausschließung des Neuadels - am extremsten übrigens im gemischtkonfessionellen Kapitel von Minden, wo man die 1611 geforderten vier adligen Ahnen bis 1713 auf 32 hochschraubte und dadurch mit dem katholischen Extremfall in Lüttich gleichzog.160 Anhand der besser untersuchten katholischen Adelskirche läßt sich zeigen, daß diese altadlige Exklusionspolitik Nichtadel und Neuadel unterschiedlich stark diskriminierte. Sieht man von Sonderfällen in Köln und Lüttich einmal ab, in denen trotz altadliger Dominanz die mittelalterliche Tradition eines Minderheitsquorums bürgerlicher Domherren unangetastet blieb, wurden bürgerliche Mittel- und Unterschichten in den Domkapiteln der Reichskirche nach 1648 „fast ausradiert". Hingegen konnte eine frisch nobilitierte „bürger- liche Oberschicht" ihre Position zunächst „verbessern und dann unangefoch- ten halten" - bei etwa einem Zehntel aller Domherrenstellen. Allerdings be- schränkten sich solche neuadligen Partizipationschancen fast völlig auf den süddeutschen Raum.161 Dort mochte der Aufstieg von Abkömmlingen des erst im 16. Jahrhundert nobilitierten Augsburger Patrizierhauses der Fugger zu Fürstbischöfen als Modell für die systemkonforme Integration eines allmäh- lich alternden Neuadels dienen.162 Zu einer gegen den Trend laufenden Absen- kung von Inklusionsschranken kam es nur selten: Im hocharistokratischen Kapitel des Fürstbistums Straßburg bewirkte die französische Hegemonie, daß ab 1687 acht der 24 Domherrenpfründen für den französischen Hochadel reserviert wurden, dem 1713 auch Erleichterungen bei den Ahnenproben zu- gestanden werden mußten.163 Doch die Mehrheit der geistlichen Fürstentümer des Alten Reiches entwickelte sich statt dessen zu einer sozial exklusiven altadligen „Oligarchie, deren geistliche und weltliche Mitglieder durch Stan- desgefühl und Interessengemeinschaft eng zusammengehalten waren und sich häufig bei der Mehrheit der geistlichen Würden über mehrere Staaten hin verzweigten".164 Angesichts dieses gesamt-reichskirchlichen sozialen Hinter- grundes überrascht es nicht, altadlige Bemühungen zur Kumulation möglichst vieler Domherrenpfründen als konfessionsübergreifendes Prinzip vorzufin-

160 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 104-107. 161 Vgl. mit der Definition des Neuadels als „bürgerlicher Oberschicht": Hersche, Adel gegen

Bürgertum? S. 196-198. 162 Zu den Fugger-Fürstbischöfen der Hochstifte Regensburg und Konstanz: Vehse, Ge-

schichte der deutschen Höfe, Bd. 45, sowie E. Meissner, Fürstbischof Anton Ignaz Fugger (1711-1787), Tübingen 1969.

163 Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, S. 170 f. 164 Schultheiß, Die geistlichen Staaten, S. 21; diese treffende Skizze hat Andermann, Die

geistlichen Staaten, S. 594, der Schultheiß als Polemiker abtut, offenbar nicht wahrge- nommen.

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den. Seit im Mittelalter „dem Canonicus vom Adel" im Unterschied zu Bür- gerlichen gestattet worden war, „mehr als eine Präbende zu haben",165 hing das Ansehen eines adligen Domherrn auch von der Zahl seiner Präbenden ab. In der protestantischen Reichskirche war solche Pfründenakkumulation nach 1648 aufgrund der geschrumpften Stellen- und dadurch gewachsenen Kon- kurrentenzahl wohl weniger verbreitet, aber im Ansatz auch um 1800 immer noch anzutreffen.166 Doch ähnlich wie im Falle der Bistumskumulationen war in der späten Reichskirche auch die Kumulation von Dompräbenden auf ka- tholischer Seite ungleich höher entwickelt: Mainzer Domkapitulare sollen über drei bis sechs, Passauer Domherren „gegen die canonischen Vorschriften [über] zwei, drei, ja vier Pfründen" verfügt haben.167 Wurde ein Domherr zum Fürstbischof gewählt, behielt er alle bisherigen untergeordneten Pfründenpo- sitionen selbstverständlich bei,168 versprachen diese doch nicht nur zusätzliche Einkünfte, sondern auch Einflußnahme auf die Politik der betreffenden Stifter. Darum verschmähte ein regierender Kurfürst-Erzbischof von Trier selbst eine niedere Domizellaren-Stelle in Münster nicht.169 Vergeblich hatte Papst Cle- mens XII. , der Urheber des gegen allzu umfangreiche Bistumskumulationen gerichteten Erlasses von 1731, „auch die Kumulierung von Domherrenstellen beschränken" wollen.170 Die an diesem Punkte höchst erfolgreiche Behar- rungskraft der Adelskirche hat religiöse Defizite zweifellos verstärkt.171 Der frühere Kölner Nuntius Pacca kritisierte rückblickend, daß adlige Amtsinha- ber aufgrund ihrer Ämterhäufung selbst bei gutem Willen für eine ernsthafte Betreuung von Gläubigen gar keine Zeit hätten aufbringen können, da sie zwangsläufig „immer auf Reisen" gewesen seien, „um in jenen Kirchen an jenen Tagen gegenwärtig zu seyn, an welchen daselbst der größere Theil der Einkünfte der Präbenden unter diejenigen vertheilt wurde, welche gegenwär- tig waren".172 Noch schärfer kritisierte 1787 Sartori, daß Domherrenstellen häufig „einem Staatsmüßiggänger" oder „einem Kinde zu Theil werden, oder daß man mit Präbenden, wie mit guten Wechselbriefen negociire".173 Da die meisten katholisch-adligen Domherren des 17. und 18. Jahrhunderts weder Priesterweihe noch Theologiestudium absolvierten,174 stellte die vom

165 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- und Domcapi- teln, S.52f.

166 Etwa bei zwei von 17 Magdeburger Domherren 1794; vgl. Vehse, Geschichte der deut- schen Höfe, Bd. 46, S. 185.

167 Ebd., Bd. 45, S. 194, und Bd. 47, S. 296. 168 A. Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln 1688-1794. Eine Fallstudie zur Bedeu-

tung „absolutistischer" Hofhaltung, Bonn 1986, S. 50 f. 169 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 336. 170 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 392 f. 171 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 47; anders: Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, S. 393. 172 Pacca, Historische Denkwürdigkeiten, S. 140 f. 173 Sartori, Fortsetzung, S. 112. 174 Berbig, Hochstift Bamberg, S.442.

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Tridentinum verfügte Graduiertenquote eine permanente Herausforderung der Adelskirche dar. Auch dieser Konflikt hatte eine interkonfessionelle Di- mension: Auf protestantischer Seite waren kirchenrechtliche Bestimmungen „zu Gunsten der Doctoren" dem „auf den Alleinbesitz der Domstellen ge- richteten Streben des Adels" schon seit dem 16. Jahrhundert zum Opfer ge- fallen, was einen entsprechenden Nachvollzug auf katholischer Seite nur begünstigen konnte.175 Hatten in den protestantischen Kapiteln von Merse- burg und Naumburg Doktoren der Theologie, Jurisprudenz und Medizin im 16. Jahrhundert noch „dieselben Vorzüge wie adlige Geburt" genossen, nahm Naumburg seit 1660 möglichst „keine bürgerlichen Doktoren mehr auf, und als in Merseburg 1724 ein adliger Domherr seine Stelle zugunsten eines bürgerlichen Doktors resignierte, schloß die adlige Kapitelsmehrheit umgehend ein eidliches Bündnis, ihre Präbenden künftig ausschließlich auf Adlige zu übertragen.176 Entsprechend wurde auch in der katholischen Reichskirche die aus dem Mittelalter überlieferte „Ranggleichheit von Dok- torwürde und Adel", wie sie durch die Wahl von Doktoren „von ganz nie- derer Herkunft" zu Fürstbischöfen bis dahin immer wieder zum Ausdruck gelangt war,177 im 16. und 17. Jahrhundert ausgehebelt. Die Verordnung des Konstanzer Konzils, „daß an jeder Kathedralkirche nicht blos Adelige, son- dern auch Doctoren der Theologie, der Rechte und andere Graduierte auf- genommen werden sollten, und zwar wenigstens vier, sie möchten adeliger Herkunft sein oder nicht",178 war bereits in vorreformatorischer Zeit in etli- chen Hochstiften mißachtet und durch verrechtlichte Adelsmonopole kon- terkariert worden.179 Zwar hatte das Tridentinum den Beschluß gefaßt, daß „wenigstens die Hälfte der hohen Dompräbenden an Doctoren, oder Licen- tiaten der Rechte, oder der Gottesgelehrtheit vergeben" werden solle, doch auch weiterhin wurde „in viele Domcapitel nur der Stifts- und turnierfähige Adel von sechzehn Ahnen aufgenommen".180 Der Jurist Seuffert, ein später Apologet des Reichsadels, insistierte noch 1790 darauf, daß diese Doktorenquote nicht verbindlich, sondern nur als Richtlinie verfügt worden sei, welche „die entgegenstehenden Statute und Obser- vanzen" nicht aufhebe und in ihrer Umsetzung ganz „dem billigen Ermes- sen der Domcapitel anheim" gestellt sei. Letztlich habe die Quote nur dort wirksam werden sollen, „wo sie bequem [habe] durchgesetzt werden" kön-

175 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen 8, S. 367 f. 176 Heckel, Die evangelischen Dom- und Collegiatstifter, S. 106 f. 177 Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, S. 171; Vehse, Geschichte der

deutschen Höfe, Bd. 47, S. 147. 178 Sporschil, Populäre Geschichte der katholischen Kirche, Bd. 3, S. 187. 179 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- und Domcapi-

teln, S. 89 f.; Bessen, Geschichte des Bisthums Paderborn, Bd. 2, S. 13 f.; zu Osnabrück: Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 47, S. 93.

180 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln, S. 117; Sporschil, Populäre Geschichte der katholischen Kirche, Bd. 3, S. 187 f.

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nen.181 Das aber war faktisch nur in süddeutschen Ausnahmefällen wie Basel der Fall, wo Graduierten tatsächlich feste Quoten in den Kapiteln eingeräumt wurden. Die überwiegende Abwehrhaltung drückte hingegen die schwäbische Reichsritterschaft 1609 in ihrer an den Kaiser gerichteten Beschwerde aus, „daß sich immer mehr graduierte Bewerber in die als , Hospitale nobilium' angesehenen Domkapitel eindrängten".182 Im Gegenzug beschloß die Reichs- ritterschaft, „auf immer alle Graduierte von den Hoch- und Ritterstiftern in ihren Cantons auszuschließen", und verabredete gemeinschaftlichen Wider- stand für den Fall, daß „der römische oder kaiserliche Hof den Capiteln einen Candidaten aus dem Unadel aufdringen wollte". Der fürstbischöfliche Würz- burger Hofjurist Seuffert wollte darin nur die Bekräftigung einer längst gülti- gen Rechtslage erblicken. Seuffert zufolge ging „dieser Gemeingeist der Reichsritterschaft [. . .] in der Folge auf den Adel des ganzen Reiches über, der in der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts sowohl bey dem päpstlichen als kaiserlichen Hofe alle Künste der Politik anwendete, um ihre Einwilligung zu einer allgemeinen Ausschließung des Doctorats aus den hohen Erz- und Domcapiteln zu negociiren". Dies scheiterte allerdings an den status-quo- orientierten Rechtsgarantien des Westfälischen Friedens, die - mit den Worten des kaiserlichen Gesandten Graf Trautmannsdorf f - vor allem verhindern soll- ten, daß „teutsches Doctorat und Adel" von „nichtswürdigen Günstlingen, von fremden Avanturiers und römischen Creaturen" von der Nutznießung der Domherrenstellen „ausgeschlossen" würden.183 Dennoch beobachtete Sartori, daß es selbst den Päpsten seither äußerst schwer fiel, einer gelegentlich pro- vidierten „unadelichen graduirten Person" zum effektiven Besitz einer deut- schen Domherrenpräbende zu verhelfen.184 Als die Kurie gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen Iren „ohne Ahnen, ohne von teutscher Abkunft zu sey ", als Inhaber einer von ihr zu besetzenden Domherrenstelle in Worms zu instal- lieren versuchte, erklärte der Mainzer Kurfürst Lothar Franz von Schönborn als Wortführer des deutschen Stiftsadels gegen diese »Anmaßungen" des Pap- stes, daß Pfründeninhaber deutscher Hochstifte grundsätzlich nicht nur Deut- sche, sondern auch „aus dem vorzüglichen Adel seyn müßten, worunter man nicht einmal die academischen Würden zählen könne". Das beredte Schwei- gen der protestantischen Stände wurde als Ausdruck einer in dieser Sache übereinstimmenden altadligen Interessenpolitik verstanden.185

181 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln, S. 115-119.

182 Seiler, Das Augsburger Domkapitel, S. 60. 183 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln,

S. 127 f., S. 132 und S. 173. 184 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 156. 185 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- und Domcapi-

teln, S. 197-199; zu den 1648 bestätigten päpstlichen Stellenbesetzungsrechten in einigen gemischtkonfessionellen Kapiteln, aber auch in Worms: Sartori, Geistliches und weltli- ches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 160.

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Der in der Reichskirche dominierende Uradel trug seinerseits keine Beden- ken, althergebrachtes Recht zu ignorieren oder zu brechen, wenn es eigenen Interessen entgegenstand. So hatte der katholische Altadel das auf dem West- fälischen Friedenskongreß vorgebrachte protestantische Argument, etliche Pfründen seien einst Fundationen für den „Unadel" gewesen und müßten daher weiter für diesen offengehalten werden, schon damals nicht gelten lassen wollen.186 Der katholische Staatsrechtler Sartori meinte später, der 1648 verankerte ,3eysatz: daß die Domstifter auch Edelleute, Patrizier und graduirte Personen annehmen sollten", sei primär zur „Verhütung der Erb- lichmachung" der Stifter durch den Hochadel „als ein zweckmäßiges Mittel gewählt" worden.187 Zwar hatte der Westfälische Frieden damit auch die Partizipation von Patriziern und Doktoren, soweit sie 1648 noch gegeben war, für die Zukunft festzuschreiben versucht, und einige bürgerliche Juri- sten glaubten diese Bestimmung sogar für eine nichtadlige Gegenoffensive bei Stellenbesetzungen in den Domkapiteln nutzen zu können.188 „Allein die Folge zeigte in den mehrsten Domstiften, daß hierauf keine Rücksicht ge- macht wurde. Vielmehr hatten die Domstifter, welche aus fürstlichen und gräflichen Personen bestehen, zum Gesetze gleichfalls angenommen, nur gleichbürtige Standespersonen zuzulassen. Selbst die adelichen und Ritter- stifter brachten es durch Errichtung gewisser Statuten schon so weit, daß sogar die Doctorspräbenden durch Adeliche besetzt wurden."189 Faktisch schmolz die Zahl der für Nichtadlige offenen Kapitel immer mehr zusam- men: Bürgerliche Domherren gab es im späten 17. Jahrhundert noch in zehn von 23 Kapiteln, die fast ausnahmslos in Süddeutschland lagen.190 Und auch dort wurden, wie 1662 in Passau, „durch einen Capitelbeschluß alle Docto- ren auf ewig ausgeschlossen", anderswo reduzierte man zumindest die Zahl ihrer reservierten Präbenden. Da gleichzeitig die Ahnenproben verschärft wurden, um zu verhindern, daß Neuadlige weiter als bis zu einer „Doktor- pfründe" vordringen konnten,191 erhöhte sich der Verdrängungsdruck auf

186 Ebensowenig setzte sich die protestantische Forderung durch, neben Adel, Patriziat und Doktoren einer vierten Klasse „qualifizierter" Personen den Zugang zu gewährleisten; vgl. Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Dom- capiteln, S. 171 ff. Der Terminus des „Unadels" oder der „Unadelichen" findet sich schon bei Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S.351, später auch öfters bei Seuffert und Sartori, um schließlich bei Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 8, S. 367, auf- zutauchen.

187 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 156. 188 Nichtadlige sollten demnach überall partizipieren, wo dies nicht explizit verboten war;

vgl. Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- und Dom- capiteln, S. 132-134.

189 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/1, S. 156. 190 Zusätzlich waren in Freising Bürger der Bischofsstadt nicht wählbar, während in Regens-

burg Bürgerliche höchstens ein Drittel aller Stellen innehaben durften; vgl. Kremer, Her- kunft und Werdegang, S. 76.

191 Ebd., S. 79.

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bürgerliche Graduierte auch von dieser Seite. 1672 schloß das vom landsäs- sigen Adel dominierte Domkapitel in Brixen alle aus Italien oder Trient stammenden Doktoren aus, womit es sich der nächstgelegenen und folglich größten Konkurrentengruppen entledigte. Ein Jahrhundert später, 1761, folgte der Versuch zur völligen Ausschließung der Graduierten, der aller- dings scheiterte.192 Zwischenzeitlich hatte sich in Chur und Brixen die Zahl bürgerlicher Dom- herren erhöht, doch diese Zunahme des bürgerlichen Elements war keines- wegs repräsentativ,193 da sie im 18. Jahrhundert auf wenige Domkapitel an der Peripherie des Reiches beschränkt blieb.194 Vorherrschend war ein Ari- stokratisierungstrend, der die traditionelle „Meynung von dem [durch Bil- dung erworbenen] Adel der Doctoren" und der daraus folgenden Rechts- und Ranggleichheit mit dem Stiftsadel publizistisch vehement zu diffamieren suchte.195 Im übrigen wurden auch jene Domkapitel, in denen sich weiterhin „auch einige doctores juris" befanden, „vorwiegend aus Mitgliedern des al- ten Adels katholischer Konfession gebildet" und durch deren „Interesse ge- leitet".196 Das hochangesehene Kölner Domkapitel bietet dafür ein gutes Bei- spiel: Dort konnte das traditionelle Minderheitsquorum bürgerlicher Dom- herren umso leichter unangetastet bleiben, als diese „Priesterherren" gegenüber den altadligen „Domgrafen" einen minderen Rechtsstatus hatten, der ihnen etwa das passive Wahlrecht für das Erzbischofsamt vorenthielt. Die Rechtsungleichheit zwischen „hochadelichen Domherren zu Colin" und „Doctoren" zeigte sich auch in „Kleidung" und „Benennung" sowie in den feinen Unterschieden sozialen Umgangs: „Die Doctoren sieht man nie unter den sogenannten Domgrafen im Chore, oder der Capitelsstube vermischt, sie formieren so zu sagen ein besonderes Corps".197 Sartori hielt 1788 als soziale Grundrealität der späten Reichskirche fest, daß adlige Kapitelsmehr- heiten einen „unadeligen Doctor", der es bis zum Domherren unter ihnen gebracht hatte, „nur als einen Gnadenpfründner" betrachteten, den sie „sel- ten brüderlich", sondern in der Regel „so ettiquettemäßig" behandelten, daß dadurch „nicht nur der Canon [i.e. das Kirchenrecht], sondern auch das Ge- setz der Menschlichkeit öfters zum Stillschweigen gebracht" würden.198

192 Seiler, Das Augsburger Domkapitel, S. 60 f. 193 Hersche, Die deutschen Domkapitel, Bd. 2, S. 1 17-125; Andermann, Die geistlichen Staa-

ten, S. 599 f. 194 Raab, Wiederaufbau und Verfassung der Reichskirche, S. 171, nennt Lüttich, Chur und

Brixen. 195 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln,

S. 83 und S. 202 f. 196 Perthes, Das deutsche Staatsleben, S. 105. 197 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln,

S. 162 f. 198 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/2, S. 7; ferner Seiler, Das Augsburger

Domkapitel, S. 64.

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„Aber wie hätte", so hielt Seuffert als Apologet des Stiftsadels 1790 dage- gen, „der Adel sein Interesse so sehr verkennen sollen, daß er nicht um den alleinigen Besitz sich beworben hätte?"199 Was historisch in sozialen Ver- drängungsprozessen zäh erkämpft worden war, reichte diesem zuweilen als Kritiker der Adelskirche mißverstandenen200 letzten wichtigen Apologeten derselben201 zur Ableitung eines Rechts auf „unzerstörbar [en]" Fortbe- stand.202 Hingegen betrachtete Seufferts um dieselbe Zeit aus den Diensten des Fürst- propstes zu Ellwangen in jene Kaiser Josephs II. wechselnder Juristenkol- lege Sartori die Exklusion „unadelich" Geborener innerhalb der reichskirch- lichen Führungspositionen kritisch-ironisch als Konsequenz eines Zeitalters, in dem „sich Deutschlands Genius über die Gleichständigkeit gewisser na- türlichen Menschheitsrechte hinwegsetzte".203 Nach Sartoris Einschätzung hätte die ursprünglich vom protestantischen Reichsadel erhobene Klage, von der Nutznießung kirchlicher Stiftungen der eigenen Vorfahren ausgeschlos- sen zu werden, „auch heut zu Tag der katholische Stadtadel in Reichsstädten und auch zum Theil der Bürgerstand billig führen" können.204 Denn nur zu oft würden durch „intoleranteste Verordnungen" des dominierenden Stifts- adels bürgerliche Patrizierfamilien „von eben den Domkirchen ausgeschlos- sen [. . .], die sich z. B. in Reichsstädten befinden und selbst [. . .] reiche Stiftungen den Cathedralkirchen und geistlichen Wahlstaaten zugeeignet ha- ben". Damit verstießen die Kapitelstatuten nicht nur gegen die Bestimmun- gen des Westfälischen Friedens, sondern auch gegen den Ahnenstolz dieses Stadtbürgertums, dessen Anwalt Sartori 1787 offen festzustellen wagte: „Der Patricius in einer Reichsstadt kann doch auch auf einem gemalten Pa- pier seinen Vater eben so schön und bis zur Evidenz beweisen, als der Frey- herr. -[...] Worinnen besteht dann der wahre Abstand zwischen einem Doc- tor und Adelsmenschen?"205 Bei solchen Konkurrenzkonflikten war auch auf alt-bürgerlicher Seite das Signum sozialer Exklusivität unverkennbar.206 Als sich Sartori 1789 publizistisch „der unrechtmäßigen Ausschließung Augs- burgischer Patricier und Bürgersöhne von dem dortigen hohen Domstifte"

199 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln, S.20.

200 Kremer, Herkunft und Werdegang, S. 36, stellt ihn neben v. Moser, Schnaubert und Grü- ner.

201 P. Wende, Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, Lübeck 1966, S. 53-55; D. Schäfer, Ferdinand von Österreich. Großherzog zu Würzburg - Kurfürst von Salzburg - Großherzog der Toskana, Köln 1988, S. 103-121 .

202 Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln, S.229f.

203 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd. 1/2, S. 7 und S. 96. 204 Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht, Bd, 1/1, S. 156, Anm. 139. 205 Sartori, Fortsetzung, S. 112. 206 Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln, S. 51.

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annahm, die fortdauerte, obwohl der Papst 1743 in diesem seit dem 15. Jahr- hundert schwelenden Konflikt entschieden hatte, den Patriziern der Reichs- stadt zehn Präbenden nahezu gleichen Rechts zu reservieren, kämpfte er nicht für egalitäre Inklusion auf der Grundlage allgemeiner „Menschheits- rechte", sondern für die Achtung zusätzlichen alten Rechts und das daraus resultierende Partizipationsprivileg einer dünnen patrizisch-bürgerlichen Oberschicht.207 Allerdings boten solche Konflikte Einfallstore für modernere Anschauungen. So attackierte 1789 der Mainzer Staatsrechtler Peter Anton Frank, der zunächst das exklusiv stiftsadlige Mainzer Domkapitel als stän- dische Repräsentationsversammlung zu legitimieren versucht hatte, dessen stiftsadliges Besetzungsmonopol als ein „aus der dicken Finsterniß des bar- barischen Mittelalters bis in unsern hellen Mittag der Aufklärung zur Schan- de der Menschheit in den Hoch und Erzkirchen angebetetes Ideal". Statt dessen müsse künftig »jeder teutsche freye Mann [. . .] zu Mainz Domkapi- tular werden können", denn „Tugend und Wissenschaft ist die Ahnenprobe!" In diesem radikalen Reformkonzept sollte sich das bisherige Adels-Kapitel in ein wissenschaftlich qualifiziertes Gremium theologischer und juristi- scher Doktoren verwandeln. Jene aufgeklärt-bürgerliche Beamtenelite, die in anderen Reformplänen (wie etwa denen Sartoris) dem primär aristokrati- schen hohen Klerus formell noch untergeordnet blieb, wenn ihr auch die Pflicht zur Durchsetzung kohärenter Reformpolitik attestiert wurde, griff im Falle Franks offen selbst nach der Macht in der Reichskirche.208 In diesem Falle behielt freilich der gemäßigtere Sartori recht, wenn er feststellte: „[. . .] Was einmal die Verfassung in seinem Besitze schützt, kann ohne große Re- volution nicht zerstöret werden."209 Gleichwohl existierten bereits vor der Säkularisierungs-Revolution von 1802/03 Ansätze partieller Verbürgerlichung und Professionalisierung der Domkapitel - insbesondere infolge der von Kaisern oder Fürstbischöfen forcierten Integration bürgerlicher Kirchenbürokraten. Dies war auch in Augsburg der Fall, obschon dort die adlige Kapitelsmehrheit 1767 von gra- duierten Bewerbern plötzlich einen Herkunftsnachweis analog zur adligen Ahnenprobe verlangte, um Personen niederer Herkunft (bis hinauf zum

207 Vgl. J. Edler von Sartori, Darstellung der unrechtmäßigen Ausschließung Augsburgischer Patricier und Bürgersöhne von dem dortigen hohen Domstifte, Frankfurt 1789; zur Ent- scheidung von 1743: Seuffert, Versuch einer Geschichte des teutschen Adels in den hohen Erz- u. Domcapiteln, S. 218 f.

208 Vgl. [P. A. Frank], Beyträge zur der beständigen Wahlkapitulation für das mainzische Erzstift, Frankfurt 1789; zit. nach: B. Stollberg-Rilinger, Die Wahlkapitulation als Lan- desgrundgesetz? Zur Umdeutung altständischer Verfassungsstrukturen in Kurmainz am Vorabend der Revolution, in: H. Neuhaus u. dies. (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Fs. Kunisch, Berlin 2002, S. 379-404, insb. S.402f.; zu Sartoris Sicht der Beamtenschaft und ihrer Pflichten: Sartori, Gekrönte Preißschrift, S. 19 und S. 25 f.

209 Sartori, Fortsetzung, S. 69.

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Kaufmannsstand) auszuschließen. Dieses Statut wurde von Fürstbischof und Papst genehmigt, aber vom Kaiser zu Fall gebracht, der seine personalpoli- tische Handlungsfreiheit nicht beschränkt sehen wollte. Später war es der hochadlige Fürstbischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen, der Verbürger- lichungskonflikte mit der Adelspartei im Domkapitel wagte. Dabei wußte die Domherren-Aristokratie 1778/79 die Einsetzung eines bürgerlichen Ver- trauensmannes dieses Fürstbischofs, Franz Heinrich Beck, unter Verweis auf dessen ausländische (elsässische) Herkunft noch zu vereiteln, indem sie er- folgreich beim Reichshofrat klagte.210 Daß es demselben Fürstbischof 1795 gelang, einen Tiroler Müllersohn und Doktor der Theologie zum Augsburger Domkapitular zu erheben, verweist auf die unterdessen eingetretene Schwä- chung der Adelspartei. Nur noch symbolisch wußten die altadligen Domher- ren ihre Exklusivität zu behaupten, indem ein im selben Jahre verstorbener, erst vom Fürstbischof nobilitierter Domkapitular bürgerlicher Herkunft ge- gen die Sitte keine Beisetzung in der Domherrengruft erhielt.211 Der Großteil der protestantischen Reichskirche wurde bekanntlich durch die Teilsäkularisation von 1648 zerschlagen. Dennoch sollten fortbestehende adelskirchliche Versorgungsanstalten innerhalb des Protestantismus nicht übersehen werden. Neben den oben diskutierten wenigen reichsunmittelba- ren Relikten blieb bis 1803 eine sehr viel größere Anzahl von Domkapiteln und Ordensinstitutionen reichsrechtlich abgesichert und faktisch erhalten. Protestantische Domherrenstellen existierten, gemäß dem Status quo des so-

genannten „Normaljahres" 1624, in etlichen gemischtkonfessionellen Kapi- teln - sowohl in fortbestehenden Fürstbistümern wie Straßburg, Lübeck und Osnabrück als auch in zugunsten Brandenburg-Preußens säkularisierten Für- stentümern wie Minden und Halberstadt.212 Auch die exklusiv protestanti- schen Domkapitel der Reichskirche des frühen 17. Jahrhunderts „überleb- ten" in den meisten Fällen „als evangelische Korporationen" die 1648 ver- fügte „Aufhebung des Hochstiftsstatus der ehemaligen geistlichen Fürstentümer".213 Daß Domkapitel zugunsten der neuen weltlichen Landes- herren aufgehoben und enteignet wurden, wie dies nach 1648 in Bremen- Verden oder in Schwerin geschah, blieb die Ausnahme.214 Für die Regel stand das Land Havelberg, wo das Fürstbistum 1571, das Domkapitel aber erst 1819 aufgehoben wurde.215 Entsprechend blieben in Brandenburg-Preußen sämtliche Domkapitel der bis 1648/80 erworbenen geistlichen Fürstentümer institutionell erhalten - wenngleich meist unter Verlust ihrer Mitregierungs-

210 Seiler, Das Augsburger Domkapitel, S. 302-309. 211 Ebd., S. 554-558 und 321. 212 Raab, Kirchliche Reunionsversuche, S.557; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe,

Bd. 48, S. 98-106. 213 Brendle, Säkularisationen in der Frühen Neuzeit, S.47. 214 Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 11, S. 334 und 523. 215 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 292-306.

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rechte und mit verringerter Stellenzahl.216 Das Domkapitel von Brandenburg überlebte sogar die preußische Säkularisation von 1810/11 und erhielt 1852 einen Sitz im neuen preußischen Herrenhause, der ihm bis 1918 seine Exi- stenz verfassungsrechtlich sicherte.217 Auch die 1815 unter preußische Herr- schaft gelangten Domkapitel von Merseburg und Naumburg-Zeitz fanden sich später - nach wie vor adelskirchlich strukturiert - im Berliner Herren- hause wieder. Entsprechend vermochte das Meißner Domkapitel seinen Sitz im Dresdner Landtage bis zur Novemberrevolution zu wahren und ging so- gar seiner politischen Hoheitsrechte nicht vor Einführung der ersten sächsi- schen Verfassung von 1831 verlustig.218 Weit deutlicher, als dies in der katholischen Reichskirche der Fall sein konn- te, wurde die Mehrheit aller protestantischen Domherrenstellen ihrer ur- sprünglich kirchlichen Funktion weitgehend entkleidet. Diese Stellen ver- wandelten sich statt dessen in „Sinecuren für den Adel" oder in eine „Ge- haltszulage an Offiziere und Civilbeamte dieses Standes".219 Als Preußen 1810 neben den katholischen auch sämtliche „protestantischen geistlichen Güter" säkularisierte, hatten diese „meist" schon längst nicht mehr „zu kirch- lichen Zwecken, sondern zur Gewährung von Präbenden an hohe Persön- lichkeiten" gedient.220 Auf diese Weise fungierte ein enger Verwandter des späteren Reichskanzlers Otto von Bismarck, Georg Friedrich Wilhelm von Bismarck auf Schönhausen, 1794 zugleich als preußischer Major und als Domherr in Havelberg.221 In anderen Fällen kamen protestantische Altadlige erst nach verletzungsbedingter Beendigung ihrer Offizierskarriere zu einer Domherrenstelle - wie der Halberstädter Domherr Friedrich Eberhard von Rochow, der sich in aufgeklärten Kreisen seither solches Ansehen erwarb, daß ihn selbst der katholische Fürstbischof von Würzburg und Bamberg, der Reichsfreiherr von Erthal, um „Rath und Belehrung" für eine mustergültige „Armenpflege" ersuchte.222 Für einen Verwandten dieses protestantischen Domherrn, den späteren preußischen Innenminister Gustav Adolf von Ro- chow, war 1822 der „Karakter [sie!] politischer Institute", den die evange- lischen Domkapitel seines Erachtens seit langem trugen, nicht nur für den

216 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 8, S. 196; Wolgast, Hochstift und Refor- mation, S. 341-343.

217 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 292-306 und 333; Vehse, Ge- schichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 99.

218 Ebd., S.99f.; Wolgast, Hochstift und Reformation, S. 253, Anm. 131. 219 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 5, S. 4. 220 Schnabel, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, S.460. 221 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 109, vermutlich handelt es sich um jenen

Onkel Ottos von Bismarck, der in den Befreiungskriegen zum Generalleutnant aufstieg; vgl. O. Pflanze, Bismarck, 2 Bde., München 1997, hier Bd. 1, S. 57.

222 Biedermann, Deutschlands politische, materielle und sociale Zustände, Bd. 1, S. 410 und S.403; R. Lachmann, Rochow, Friedrich Eberhard von, in: Biographisch-Bibliographi- sches Kirchenlexikon, Bd. 8, Herzbergl994, Sp. 461-466, hier Sp.461.

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Landesherrn, sondern auch für den Adel von hohem Nutzen: Da „die bedeu- tendsten der protestantischen Domstifter nur Personen aus altadelichen Ge- schlechtern [. . .] zugängig" gewesen seien, seien sie in „finanzieller wie politischer Beziehung ein Mittel zur Unterstützung und Erhaltung des Adels" geworden, hätten dem Altadel zusätzlichen Einfluß auf die Landes- verwaltung verschafft, zugleich eine konnubiale Vermischung mit dem Bür- gertum durch die Barriere der Ahnenproben gehemmt und eine soziale An- näherung zwischen hohem und niederem Adel bewirkt.223 Tatsächlich stell- ten in der Endphase des Alten Reiches die exklusiv altaristokratischen evangelischen Domkapitel der Hochstifte Magdeburg und Lübeck institutio- nalisierte soziale Begegnungsräume dar, in denen sich königliche Prinzen mit Generälen und königlichen Kammerherren auf korporative Interessen- perspektiven festlegten.224 Die geistlichen Ritterorden waren von jeher eindeutig adelskirchliche Ver- sorgungsanstalten gewesen. Betrachtet man konfessionsübergreifende adelskirchliche Entwicklungsprozesse in der Frühen Neuzeit, überrascht es daher nicht, daß Institutionen dieser Ritterorden sowohl innerhalb der nach 1517 entstandenen als auch innerhalb der 1648 stark verminderten prote- stantischen Reichskirche strukturell unangetastet blieben. Das galt für die Deutschordens-Ballei Altenbiesen in Brandenburg ebenso wie für den pro- testantischen Zweig des Johanniterordens, in dessen Bailei Brandenburg seit der Reformation fortwährend Hohenzollernprinzen die Herrenmeisterwürde innehatten.225 Anders als im Falle des Deutschen Ordens, dessen katholischer Zweig die Säkularisation seiner preußischen Besitzungen bis zum Ende des Alten Reiches nicht anerkennen wollte und darin 1787/88 selbst vom Papst desavouiert wurde,226 scheint bei den Johanniterrittern das gemeinsame Band aristokratischer Interessen trotz konfessioneller Spaltung nicht abge- rissen zu sein. Jedenfalls versäumte es Prinz Ferdinand von Preußen 1766 nicht, als „Ordensmeister in der Mark, Sachsen, Pommern und Wendenland" offiziell das „St. Johanniterordens-Großkreuz vom Großmeister in Malta", dem katholischen Ordensoberhaupt, in Empfang zu nehmen.227 Erst 1810/11 wurden beide geistlichen Ritterorden in Preußen säkularisiert und enteig- net228 - etwas später als ihre katholischen Parallelinstitutionen im Rhein- bund, die bereits zwischen 1806 und 1809 verschwanden,229 nachdem man

223 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 296 f. und 416. 224 Vgl. die Besetzungslisten bei Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 89-92,

und Bd. 46, S. 184-186. 225 H. Boockmann, Ritterorden, in: Theologische Real-Enzyklopädie, Bd. 29, Berlin 1998,

S. 238-244, insb. S. 242. 226 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 9, S. 330-342. 227 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 48, S. 1 12 f. 228 Buholzer, Säkularisationen, S. 60; Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter,

S. 287. 229 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 46 und S. 77.

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sie 1803 zunächst als „bemitleidenswerte Antiquitäten" geistlicher Staaten230 noch hatte überleben lassen, um dem durch die fast vollständige Säkularisa- tion der Reichskirche „schwer geschädigten katholischen Adel noch einen letzten Unterschlupf für seine Söhne [zu] gönnen".231 Es ist folglich nicht ganz exakt, das Ende der Reichskirche (und damit ihrer sozialen Dimension als Adelskirche) auf die Jahre 1802/03 zu terminieren, wie dies meistens geschieht. Wenn auch die damaligen Ereignisse den ent- scheidenden Schritt zu ihrer Zerstörung bedeuteten, wurde doch der letzte geistliche Staat Deutschlands, der territoriale Flickenteppich des ehemaligen Mainzer Kurfürsten und nunmehrigen rheinbündischen Fürstprimas von Dalberg, erst 1810 in ein weltliches Großherzogtum transformiert,232 dessen privatim weiterhin geistlicher Fürst erst nach der Leipziger Völkerschlacht zu regieren aufhörte. In etlichen Residenzen fristeten noch Jahre, manchmal Jahrzehnte nach 1803 abgedankte Fürstbischöfe ihr Dasein, denen der Reichsdeputationshauptschluß den Reichsfürstenstatus ad personam aus- drücklich belassen hatte. Etwas anderes war es freilich, daß Breslau nach 1815 dauerhafte „Residenz des einzigen [institutionell fortbestehenden] Fürstbischofs der Monarchie" blieb,233 und zwar nicht nur Preußens, sondern Deutschlands überhaupt, hatten doch die Säkularisationen von 1803/11 das dortige Fürstbistum nur als Reichsstand bzw. in seinen preußischen Besit- zungen, nicht jedoch in Österreich betroffen, wodurch der Breslauer Ober- hirte bis weit ins 20. Jahrhundert den anachronistischen Titel eines „Fürst- bischofs" weiterführen konnte.234 Insgesamt jedoch scheinen einige adelskirchliche Institutionen der prote- stantischen Reichskirche die Säkularisations welle des frühen 19. Jahrhun- derts besser überstanden zu haben als jene der katholischen Kirche, die sich - wie an den Breslauer Fürstbischöfen gezeigt werden könnte - nach 1850 dem Trend zur klerikalen Entaristokratisierung nicht zu entziehen vermoch- ten. Auf protestantischer Seite hingegen verzichtete zwar 1803 die Äbtissin von Gandersheim auf ihre Reichsunmittelbarkeit zugunsten des Herzogs von Braunschweig- Wolffenbüttel, doch hob derselbe, zugleich der leibliche Bru- der dieser Äbtissin, im Gegenzug die altaristokratische Reichsabtei nicht auf, sondern wandelte sie in ein „Landesstift des Herzogtums" um. Im End- effekt lief die Säkularisation in Gandersheim darauf hinaus, daß „die Wap- pen mit dem Reichsadler [. . .] von den Stiftsgebäuden abgenommen" und „aus der Titulatur [. . .] das Heilige Römische Reich fortgelassen" wurde;

230 Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. II.3.2, S. 159. 231 Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 180. 232 Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft, S.48. Lediglich vom „Schein einer geistlichen

Herrscherstellung" Dalbergs seit 1806 spricht Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1,S.79.

233 Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 2, S. 251. 234 Ebd., Bd. 3, S. 202; dies war noch beim 1914 ernannten Adolf Bertram, dem langjährigen,

1945 verstorbenen Kardinal und Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, der Fall.

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„sonst blieb alles beim alten".235 Ähnlich sahen sich im Königreich Sachsen „die alten Rechte und Gewohnheiten der Stifter" Meißen und Würzen - und damit auch deren adelskirchliche Strukturen - während des gesamten 19. Jahrhunderts „väterlich geschont".236 Weniger altadelsfreundlich verlief die Entwicklung in Preußen, obschon auch dort die Damenstifte von der 1810 verfügten Säkularisation ausgenommen wurden, da man sie (und ihren aristokratischen Versorgungsauftrag) als „milde Stiftungen" betrachtete. Dennoch war in Preußen die Transformation der protestantischen Adelskir- che tiefgreifender als andernorts. Den Hohenzollern und ihrer Staatsbüro- kratie ging es darum, „die Verfassung dieser Stifter dergestalt zu modifiziren, daß der Zweck der Belohnung der Verdienste um den Staat desto besser erreicht werde".237 Um den bürokratisch-militärischen Leistungsgedanken zu stärken, wurden 1822 die altaristokratischen Zugangsbeschränkungen des Brandenburger Domkapitels auf einfache adlige Geburt reduziert, wovon der König zugunsten persönlichen Neuadels ebenfalls jederzeit dispensieren konnte. Bismarck paßte später auch die Domkapitel der Provinz Sachsen diesem Reformmuster an.238 Im Ergebnis wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts die bis 1803 trotz der konfessionellen Spaltung konfessionsübergreifend bewahrte „geistlich- weltliche" Doppelstruktur der Reichskirche gewaltsam entdifferenziert, an deren Stelle bis 1918 zwei unterschiedliche konfessionelle Entwicklungs- pfade traten: Vollzog sich „der Wiederaufbau [. . .]für die katholischen Stif- ter durch die Kirche - wenn auch mit staatlicher Hilfe - für kirchliche Zwecke", so erfolgte „die Reorganisation der evangelischen Stifter ohne Mitwirkung der evangelischen Kirche vom Staat für staatliche Zwecke".239 Mit dieser Entdifferenzierung verband sich auch ein konfessionell unter- schiedlicher Umgang mit adelskirchlichen Relikten. Nicht in der katholi- schen Kirche erwies sich dieser Umgang nach ihrer Zwangsmodernisie- rung in der Umbruchsphase nach 1803 als höchst ambivalent, sondern viel- mehr innerhalb des Protestantismus, dessen adelskirchliche Anteile nur allzu oft ausgeblendet wurden. Diese erlebten jedoch im post-säkularisie- renden Protestantismus teils eine ständisch-aristokratisch motivierte Poli- tik der Bewahrung, teils eine gezielte obrigkeitsstaatliche Transformation und Subordination.

235 K. T. Heigel, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reiches, 2 Bde., Stuttgart 1899-1911, hier Bd. 2, S.436.

236 Heckel, Die evangelischen Dom- und Kollegiatstifter, S. 341. 237 Ebd., S. 287 und 269 f. 238 Ebd., S. 299 f. und 355; in Merseburg und Naumburg wurden die Ahnenproben auf das

Erfordernis persönlichen Adelsstandes heruntergestuft, während in Zeitz, wo schon vor 1803 bürgerliche Kapitulare aufgenommen werden konnten, diese breite Qualifikations- regel erhalten blieb.

239 Ebd., S. 316 f.

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///. Schlußbemerkung. Die frühneuzeitliche Entwicklung der Reichskirche zur Adelskirche war kein spezifisch katholisches Phänomen. Sie erscheint in konfessionsvergleichender Perspektive vielmehr als katholische Variante eines konfessionsübergreifenden Zugriffs des Altadels auf die Kirche. In- dem der katholische Adel diese soziale Annexion vollzog, reagierte er teils parallel, teils nachholend und nachahmend auf Besitzergreifungsstrategien des protestantischen, insbesondere lutherischen Adels.240 Insofern scheint es nicht länger tragfähig, die Etablierung einer katholischen Adelskirche als zentrale Ursache eines langfristigen katholischen Modernisierungsdefizits in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte zu betrachten. Indem der katholische Adel eine formale Säkularisation der Reichskirche bis ins Endstadium des Heiligen Römischen Reiches vermied, unterschied er sich allerdings ab Mitte des 17. Jahrhunderts von seiner protestantischen Standeskonkurrenz, die nur noch Reste einer protestantischen Adelskirche fortbestehen ließ. Diese unterschiedlichen Entwicklungspfade altaristokra- tischer Durchdringung der Reichskirche bewirkten wichtige Unterschiede für die Sozialgeschichte der konfessionellen Adelsparteien. Stärkte die früh- zeitige Säkularisation in protestantischen Teilen Deutschlands insbesondere den protestantischen Hochadel und die moderne Territorialstaatsbildung, während der nichtfürstliche Stiftsadel seine reichskirchliche Autonomie weitgehend einbüßte und im landesherrlichen Staatsdienst „mediatisiert" wurde, bot die bis 1803/10 fortbestehende reichskirchliche Autonomie dem nichtfürstlichen katholischen Stiftsadel ungleich bessere Möglichkeiten po- litischer Mitwirkung, sozialer Rangsteigerung, materieller Versorgung und ständischer Selbstbehauptung. Erst der 1802/03 herbeigeführte Zusammen- bruch der schwerpunktmäßig katholischen, bis zuletzt jedoch prinzipiell konfessionsübergreifenden Adelskirche führte zur schlagartigen „Entmach- tung" des katholischen Stiftsadels, während seine längst im Hof- und Staats- dienst „mediatisierten" protestantischen Standesgenossen plötzlich „mo- dern" wurden. Wie schon 1517 und 1648, wurden auch 1802/03 die verblei- benden deutschen Fürsten (und deren Staatsbürokratien) die größten Gewinner der Säkularisation. Gegenläufige Versuche, im Zuge der „Restau- ration" von 1814/15 eine Revision der Herrschafts- und Eigentumssäkulari- sationen durchzusetzen241 und womöglich die alte adelskirchliche Autono- mie wiederzugewinnen, scheiterten nicht nur „an der Macht des Besitzes"242 (bzw. der neuen Besitzenden) oder an der Furcht der Kurie vor einem Wie-

240 Die kulturgeschichtliche Dimension dieser Entwicklung behandelt M. Schwarte, Legiti- mation durch kulturelle Assimilation. Habituelle Modernisierung als Überlebensstrategie der katholischen Adelskirche in der Frühen Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 85. 2003, S. 509-552.

241 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 12/2, S. 339 f.; K. Hagen, Geschichte der neuesten Zeit vom Sturze Napoleons bis auf unsere Tage, Bd. 1, Braunschweig 1850, S. 63-65.

242 Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Bd. 12/2, S.612.

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deraufleben einer allzu eigenständigen Adelskirche.243 Bereits Gervinus hat darauf hingewiesen, daß eine Wiederherstellung von Adelsrepubliken jed- weden Typs grundsätzlich nicht im gesamteuropäischen Trend monarchisch- etatistischer Restaurationspolitik gelegen habe: „In nichts sind daher die Friedensstifter des Wiener Congresses Napoleonischer gewesen, als in der Abweisung aller geistlichen, halbgeistlichen und weltlichen Aristokratie."244 Diese Kontinuitätslinie der „Fürstenrevolution" verbindet sämtliche früh- neuzeitliche Säkularisations wellen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhun- dert. Zugleich aber drängten in der letzten Phase dieser Fürstenrevolution als neue soziale Interessenten bürgerliche und bäuerliche Schichten in den Vordergrund, die an der Umverteilung des enteigneten kirchlichen Besitzes partizipierten.245 Man mag darin mit Gervinus ein Symptom der Transfor- mation einer „aristokratischen Ordnung in Deutschland" in eine „demokra- tische" Gesellschaft erkennen.246 Jedenfalls bewirkte die Umwälzung von 1803 ungleich mehr als nur den Untergang des reichskirchlichen „Dorado des deutschen Adels".

Priv.-Doz. Dr. Michael Schwartiy Institut für Zeitgeschichte München-Ber- lin, Abt. Berlin, Finckensteinallee 85-87, D- 12205 Berlin, e-mail: schwartz @ if z-muenchen.de

243 Hagen, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 1, S. 63 ff.; Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. l,S.686f.

244 G. G. Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, 8 Bde., Leipzig 1855-1866, hier Bd. 1, S. 263.

245 R. Büttner, Die Säkularisation der Kölner geistlichen Institutionen. Wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Auswirkungen, Köln 1971; H. Klueting, Die Säkularisation im

Herzogtum Westfalen. Vorbereitung, Vollzug und wirtschaftlich-soziale Auswirkungen der Klosteraufhebung 1802-1834, Köln 1980; M. Müller, Säkularisation und Grundbe- sitz. Zur Sozialgeschichte des Saar-Mosel-Raumes 1794-1813, Boppard 1980; P. Kaiser, Der kirchliche Besitz im Arrondissement Aachen gegen Ende des 18. Jahrhunderts und seine Schicksale in der Säkularisation durch die französische Herrschaft. Ein Beitrag zur Kirchen- und Wirtschaftsgeschichte der Rheinlande, Egelsbach 1993.

246 G. G. Gervinus, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1853, S. 180.

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