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Politische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 PROLETARIER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH! PROLETARIER ALLER LÄNDER UND UNTERDRÜCKTE VÖLKER VEREINIGT EUCH! Bundestag verabschiedet Gesetzespaket: Grundstein- legung für einen Geheimdienststaat Russland und der Westen – In den Flitterwochen? Rechtskoalition in Hamburg zur Bildungspolitik: Aus- lesen, Trennen, Diskriminieren Bericht von einer Betriebsversammlung: „Mehr Druck durch mehr Freiheit!" Zur Diskussion: Tobinsteuer – welt- wirtschaftliches Experiment mit ungewissem Ausgang Beilage: Ergebnisse und Materialien des Forums Kommunistischer Arbeitsgemeinschaften 18 15 12 7 3

Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

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Politische Berichte

Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM

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Bundestag verabschiedet Gesetzespaket: Grundstein-

legung für einen Geheimdienststaat Russland

und der Westen – In den Flitterwochen?

Rechtskoalition in Hamburg zur Bildungspolitik: Aus-

lesen, Trennen, Diskriminieren Bericht von

einer Betriebsversammlung: „Mehr Druck durch mehr

Freiheit!" Zur Diskussion: Tobinsteuer – welt-

wirtschaftliches Experiment mit ungewissem Ausgang

Beilage: Ergebnisse und Materialien des Forums

Kommunistischer Arbeitsgemeinschaften

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Page 2: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

EU-TRUPPE: Im Jahr 2003 soll eine60 000 Soldaten umfassende schnelleEingreiftruppe der Europäischen Unioneinsatzbereit sein. Mit der Eingreiftrup-pe möchte die EU weltweit Kriege füh-ren können,um eigene Interessen durch-

zusetzen.Die erste Runde des Treffens derStaats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitglieder im belgischen KönigsschlossLaeken brachte am Freitag allerdingsnoch nicht den erwarteten Durchbruchfür die Bildung der Truppe. Für Außen-minister Joschka Fischer (Grüne) geht esnur noch um „operative Fragen“.Aus derniederländischen Delegation hieß es,dass grundsätzlich geklärt werden muss,ob es nicht eines förmlichen Vertrageszwischen EU und Nato bedürfe. Immer-hin haben die Europäer sich darauf ver-ständigt, keine Parallelstrukturen zurNato zu schaffen, sondern im Krisenfallauf die Fähigkeit und Möglichkeiten derAllianz zurückzugreifen. Auf dem EU-Gipfel von Helsinki wurde im Dezember1999 beschlossen, dass unter Rückgriffauf vorhandene Streitkräfte Truppen bisKorpsstärke in einer Größenordnung von50.000 bis 60.000 Mann – lageabhängigum Luftwaffen- und Marineeinheitenverstärkt – innerhalb von 60 Tagen ver-legt werden und mindestens ein Jahrdurchhalten können sollen. Bei einer sogenannten Beitragskonferenz im Novem-ber 2000 wurden von den EU-Mitglied-staaten nationale Beiträge zum militäri-schen Planziel gemeldet. Dieser im „Hel-sinki Force Catalogue“ zusammengefas-ste Pool soll spätestens ab 2003 verfüg-bar sein. Kurz vor Vollendung der Pla-nungs- und Kommandostrukturen stell-te sich die Türkei quer – strategische Süd-ostflanke der NATO aber eben kein Mit-glied der EU. Erst nach längerem Handelwilligte die Türkei ein, ihre NATO-Ein-richtungen auch EU-geführten Opera-tionen zur Verfügung zu stellen. Nun, sowird aus Delegationskreisen berichtet,wollen die Griechen ihren Widerstand ge-gen eine engere Einbindung der Türkei„durch die Hintertür“ nicht mittragen.Fischer sagte am Freitag, es sei noch of-fen, wann es zu einer ersten „Operation“dieser Eingreiftruppe komme. Für dieAfghanistan-Friedenstruppe, bei der dieEU bereits „Gesicht zeigen“ wolle, wärees ohnehin zu spät. „Selbst wenn wirwollten, wir könnten gar nicht. Uns feh-len einfach noch die Strukturen.“(www.ngo-online.de)

GIROKONTO FÜR JEDERMANN. Werüber kein Girokonto verfügt, hat erheb-liche Nachteile und ist „verdächtig“. Seies bei der Anstellung in einer neuen Ar-beitsstelle, beim Abschluss eines Miet-vertrages usw.Will man Geld überweisen,muss man bei einer Bank Bargeld ein-zahlen und jede Überweisung kostet zwi-schen 5 und 10 DM. Wer über kein Giro-konto verfügt, wird ausgegrenzt. Im Hin-blick auf dieses Faktum haben die imZentralen Kreditausschuß (ZKA) zu-sammengeschlossenen Verbände der Kre-

ditwirtschaft bereits 1995 die Empfeh-lung ausgesprochen, grundsätzlich fürjedermann auf dessen Wunsch ein Giro-konto – und sei es lediglich auf Gutha-benbasis – zu führen. Leider wird diese„Selbstverpflichtung“ der Banken nachwie vor vielfach unterlaufen. Schuldner-beratung und Verbraucherschutz weisenseit geraumer Zeit auf die erheblicheZahl verweigerter Guthabenkonten undgekündigter Girokonten hin. Dies bele-gen erneut die am 13.12.2001 veröffent-lichten Ergebnisse einer bundesweitenUmfrage der LandesarbeitsgemeinschaftSchuldnerberatung in Hessen (LAG SBHessen) in Zusammenarbeit mit der Ar-beitsgemeinschaft Schuldnerberatungder Verbände (AG SBV). Die Ergebnisseder insgesamt 473 dokumentierten Fällesprechen eine deutliche Sprache: 175 Gi-rokonten wurden gekündigt, nur in zehnFällen mit nachvollziehbaren Gründen;in 298 Fällen wurde die Eröffnung einesKontos verweigert, nur in 23 Fällen wardas nachvollziehbar. (www.paritaet.org)

INTERVENTION NÖTIG. Zur drohendenTodesstrafe gegen den in die Türkei ent-führen kurdischen Politiker Cevat Soysalerklärt die innenpolitische Sprecherinder PDS-Bundestagsfraktion, Ulla Jelp-ke: Das Staatssicherheitsgericht Nr. 1 inder türkischen Hauptstadt Ankara wirdin Kürze das Urteil im Verfahren gegenCevat Soysal sprechen.Der kurdische Po-litiker, der vor seiner Entführung bei unsals anerkannter Flüchtling lebte, war imSommer 1999 von türkischen Agentenaus Moldawien in die Türkei entführtworden. Dort wurde er aufs Schwerstegefoltert und bei einer anschließendenTürkeireise von Außenminister Fischerder Öffentlichkeit als angebliche „Nr. 2der PKK“ vorgestellt, der unbehelligt inDeutschland gelebt habe. Nach einein-halb Jahren Verfahren hat am 27. No-vember die Staatsanwaltschaft in Anka-ra plädiert. Sie fordert weiter die Todes-strafe. Am 27. Dezember wird SoysalsVerteidiger plädieren und der Angeklag-te Gelegenheit zu einem Schlusswort ha-ben. Wenige Tage danach dürfte das Ur-teil folgen. Cevat Soysal hat sein Eintre-ten für die Rechte der Kurdinnen undKurden nie bestritten, wohl aber die ihmvorgeworfene Führungsposition in derPKK und den damit verbundenen Vor-wurf, Gewalttaten in der Türkei organi-siert zu haben.Auch die Bundesregierungweiß,dass diese Vorwürfe haltlos sind undSoysal von der türkischen Regierungmissbraucht wird für ein schmutzigesaußenpolitisches Spiel. Ich fordere dieRegierung auf, gegen das drohende To-desurteil für Soysal tätig zu werden. Erist hier völlig zu Recht anerkannterFlüchtling. Seine Frau und seine Familieleben hier. Die Bundesregierung hat fürsie Obhutspflicht. Ich erwarte, dass dasAuswärtige Amt in der Türkei vorstelligwird, damit Cevat Soysal freigelassenwird und unbehelligt zu seiner Familiezurückkehren kann.

2 AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT• PB 26/2001

Politische BerichteZZEEIITTUUNNGG FFÜÜRR SSOOZZIIAALLIISSTTIISSCCHHEE PPOOLLIITTIIKK

–– EERRSSCCHHEEIINNTT VVIIEERRZZEEHHNNTTÄÄGGLLIICCHH

Herausgeber: Arbeitskreis Politische Berichte,Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart. Herausgeberfür den Arbeitskreis Politische Berichte: Chris-toph Cornides, Ulrike Detjen, Emil Hruška, Her-bert Stascheit.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsan-schriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft; Aus-landsberichterstattung: Christiane Schneider,GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg,Tel. 040 / 43188820, Fax : 040 / 43188821. E-mail: [email protected] – Alfred Küstler,GNN-Verlag, Postfach 60 02 30, 70302 Stuttgart,Tel. 07 11 / 62 47 01, Fax : 0711 / 62 15 32. E-mail: gnn-stuttgart@t-online. deRegionales / Gewerkschaftliches West …: MartinFochler, GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327Stuttgart,Tel. 07 11/624701, Fax : 0711/ 62 15 32,e-mail: [email protected] … und Ost AchimWahl; GNN-Verlag, Postfach 200639, 13516 Ber-linDiskussion / Dokumentation und Letzte Sei-te: Hardy Vollmer; GNN-Verlag, Wilhelmstraße15, 79098 Freiburg, Fax : 0761/ 34961In und bei der PDS: Jörg Detjen, GNN Verlags-gesellschaft Politische Berichte mbH, 50674Köln, Zülpicher Str. 7, Tel. 0221/211658, Fax:0221/215373. E-mail: [email protected]: Christiane Schneider, Anschrift s. Ak-tuelles.

Die Mitteilungen der „ARGE, Arbeitsgemein-schaft Konkrete Demokratie, soziale Befreiungbei der PDS“ werden in den Politischen Berich-ten veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische Be-richte mbH, 50674 Köln, Zülpicher Str. 7 undGNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2, 70327Stuttgart, Tel. 07 11 / 62 47 01, Fax : 0711 /62 15 32. E-mail: [email protected]

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Page 3: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

PB 26/2001 • AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT 3

„Blankes Entsetzen“ hatte Anfang No-vember die Vorlage von SPD und Grünenfür ein „Anti-Terror-Gesetz“ bei derDeutschen Vereinigung für Datenschutz(DVD) ausgelöst. „Was hier von einemrot-grünen Kabinett beschlossen werdensoll,hätte sich die alte schwarz-gelbe Re-gierung nicht erlaubt“, empörte sich derDVD-Vorsitzende Thilo Weichert. Schilyplane die „Zerschlagung von Pfeilern un-seres Rechtsstaates“. Sein Entwurf seidie „Grundsteinlegung für einen Ge-heimdienststaat“.

Der Sprecher des Bund DeutscherKriminalbeamter, Klaus Jansen, nannteSchilys Vorhaben „unsinnig und wir-kungslos“.Als Reaktion auf die Anschlä-ge vom 11.September seien kei-ne neuen Gesetze erforderlichund auch keine „politischeKraftmeierei“. (Alle Zitatenach Heise Online News,3.11.2001)

Noch schroffer fiel die Kritikdes FDP-Bundestagsvizepräsi-denten a.D. Burkhard Hirschaus: „Der Gesetzentwurf hatkeinen Respekt vor der Rechts-tradition unseres Landes, vorder Würde und Privatheit sei-ner Bürger. Er verrät totalitä-ren Geist. Keine einzige der inSchilys Gesetzentwurf vorge-schlagenen Maßnahmen wäregeeignet gewesen, das Attentatvon New York zu verhindern.Aber die nun geforderten Über-wachungsmechanismen be-schädigen die Legitimität un-seres Staates.“ (SüddeutscheZeitung, 2.11.2001)

Inzwischen ist das Paketnach einem parlamentarischenEilverfahren, das für den Vor-sitzenden des Deutschen Rich-terbundes, Geert Mackenroth,„fast schon Züge eines Geheimverfah-rens“ trägt, verabschiedet worden. Am14. Dezember billigte eine Mehrheit von85 Prozent im Bundestag – SPD, Grüneund CDU/CSU, nur FDP und PDSstimmten dagegen – das Gesetzespaketder Regierung,am 20.Dezember wird derBundesrat folgen.

Auch wenn die Sicherheitsapparatebehaupten, sie bräuchten diese Voll-machten, um die Menschen vor Anschlä-gen wie in New York zu schützen – demGesetz liegt in Wirklichkeit eine anderePhilosophie zugrunde.

Die überwältigende Mehrheit allerneuen Regelungen, die nun in Kraft tre-ten, haben mit der öffentlich behaupte-ten Terrorismusbekämpfung nichts zutun, sind alte Kamellen, die schon langein den Schubladen der Sicherheitsappa-rate lagen und die nun herausgeholt wur-

den, um den Diensten die Macht zu ge-ben, die sie schon lange wollten. AndereRegelungen wie die Erfassung biometri-scher Daten wird – jedenfalls bei deut-schen Staatsbürgern – erst in 5 bis 10 Jah-ren breitflächig wirksam werden, wennnämlich die Mehrheit auch wirklich neueAusweise hat. Der ganz überwiegendeTeil des gesamten Pakets richtet sichschlicht und einfach gegen Flüchtlingeund MigrantInnen, unterwirft sie der to-talen Erfassung und totalen Kontrolle.Wer sich nicht anpaßt, wird verfolgt wienoch nie und/oder abgeschoben.

Wo ein Widerspruch entsteht odersichtbar wird,zumal durch Menschen an-derer Kultur, Nationalität, Sprache,

Hautfarbe, da wird künftig nicht mehrnach Gründen gefragt, da findet schongar kein demokratischer Dialog statt –statt dessen wird draufgehauen. NichtUrsachenanalyse und Ursachenbekämp-fung, sondern Repression – im Innerndurch Polizei und Geheimdienste, imAusland durch Militär – Festungspolitiknach innen und außen, so lautet die Pa-role der Stunde. Am härtesten trifft die-se neue Politik die Flüchtlinge und Mi-grantInnen aus Osteuropa, aus dem Na-hen und Mittleren Osten.

Aber nicht nur sie sind betroffen. Hierdie wichtigsten Änderungen:

• Alle Geheimdienste – Verfassungs-schutz, Militärischer Abschirmdienstund Bundesnachrichtendienst – dürfenab sofort bei allen Banken,Versicherun-gen, Postunternehmen und Luftver-kehrsunternehmen Daten von Verdächti-

gen abrufen. Betroffen sind davon Perso-nen, die unter Terrorismusverdacht ste-hen oder im Verdacht stehen, Gewaltta-ten vorzubereiten oder mit einem frem-den Geheimdienst zusammen zu arbei-ten. Der Antrag der CDU/CSU, auch „in-ländische gewaltfreie Extremisten“ – al-so PDS, Antifa u.a. – in diese Regelungeinzubeziehen, wurde abgewiesen. We-gen der ständigen Vermischung von „Ter-rorismus“, „Gewalt“ und „Extre-mismus“ in der öffentlichen Diskussiondürfte dieser Unterschied aber in derPraxis wenig bedeuten. Die Vermischungvon Polizei und Geheimdiensten und dieSchnüffelei der Dienste nehmen beinaheOrwellsche Ausmaße an.

Für die Humanistische Unionist die Durchlöcherung desTrennungsgebots zwischen Po-lizei und Geheimdiensten „ver-fassungsrechtlich nicht hin-nehmbar“. Und: „Solange keinStraftatbestand gegen einenBürger besteht – und dann wä-ren die Strafverfolgungsorganezuständig und nicht die Ge-heimdienste – geht es den Staatnichts an,ob und wohin ein Bür-ger fliegt, wem er Emailsschreibt, von wem er Post emp-fängt und welche Banküberwei-sungen er tätigt.“ Auch derDeutsche Richterbund kriti-siert, dass damit „die Verfas-sungsschutzbehörden zu Er-mittlungsbehörden weiter ent-wickelt werden, die einer justi-ziellen Kontrolle nicht unterlie-gen.“

Zusätzlich werden sog. „IM-SI-Catcher“ zur Überwachungvon Handy-Nutzern eingeführt

und die Möglichkeiten fürLauschangriffe auf Wohnun-gen und generell die Überwa-

chung des Fernmeldeverkehrs massivausgeweitet.

• Alle Geheimdienste erhalten einenOnline-Zugriff auf die Millionen Datendes Ausländerzentralregisters. AlleDienste dürfen auch die Daten des Aus-ländervereinsregisters beim Bundesver-waltungsgericht – dort sind 16.000 Aus-ländervereine gespeichert – jederzeit ab-rufen.

Faktisch läuft das auf eine Totalerfas-sung aller Flüchtlinge und MigrantInnenhinaus. Etwa 9 Millionen Menschen un-terliegen künftig dem ständigen Zugriffder Geheimdienste.

Flüchtlingsräte weisen darauf hin,dass die Beobachtungsdichte des Verfas-sungsschutzes bei AusländerInnen schonjetzt etwa 20 mal so hoch ist wie bei Deut-schen.Mit dem Gesetz wird diese Sonder-verfolgung zum legalen Dauerzustand.

Bundestag verabschiedet Gesetzespaket

Grundsteinlegung für einen Geheimdienststaat

Lückenlose Kontrolle, jetzt jederzeit

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4 AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT • PB 26/2001

Für den Berliner Rechtsprofessor Mar-tin Kutscha ist das ein Schritt „hin zu ei-nem totalitären Staatswesen“. Der Jesu-iten-Flüchtlingsdienst schilderte in ei-nem Schreiben an die Bundestagsfrak-tionen ein Gespräch mit Beamten der Si-cherheitsapparate: „Einer wörtlich:,Glauben Sie mir, Herr Pater, hier werdendie Fehler wiederholt,die bereits die Sta-si zugrunde richteten’.“

• Das Bundesamt für die Anerkennungvon Flüchtlingen ist künftig verpflichtet,vertrauliche Unterlagen aus Asylverfah-ren an die Geheimdienste weiterzuleiten,wenn Flüchtlinge Angaben über ihre Ver-folgung machen, die bei den Geheim-diensten einen Verdacht auf „Extre-mismus“ auslösen könnten.

Das Büros des Flüchtlingskommissarsder UNO (UNHCR) hatte diese Vorschriftscharf kritisiert: „Die Verpflichtung, In-formationen strikt vertraulich zu behan-deln, gehört … zu den Grundsätzen jedesAsylverfahrens“. Amnesty internationalprotestierte, es sei nicht mehr gewähr-leistet, „dass die Daten nicht zu den Be-hörden der Verfolgerstaaten gelangen.“Der UNHCR forderte eine ausdrücklicheKlausel im Gesetz, „dass bei Flüchtlin-gen und Asylbewerbern eine Weiterlei-tung von Informationen an den Her-kunftsstaat in der Regel unterbleibenmuss.“ SPD und Grüne aber fügten beider Schlußberatung statt dessen eineKlausel ein,die eine Weitergabe der Asyl-daten an ausländische Stellen sogar aus-drücklich erlaubt, soweit das „völker-rechtlich geboten“ sei. Damit müssenFlüchtlinge in Zukunft fürchten, dass –zum Beispiel nach einem Fahndungsauf-ruf über Interpol – ihre Angaben im Asyl-verfahren beim Verfolgerstaat landen.

Diese Neuregelung zu Gunsten der Ge-heimdienste des Bundes hat auch die Be-gehrlichkeiten der Landesämter für Ver-fassungsschutz geweckt. Auf Antrag derC-Länder fügten SPD und Grüne des-halb in der Schlußberatung noch eine Zu-satzklausel ein, wonach die Ausländer-ämter der Länder künftig alle extre-mismus-relevanten Informationen überAusländer „von sich aus“ an die Landes-ämter für Verfassungsschutz weiterleitenmüssen.

• Auch bei Visaverfahren bei Einreisenaus Nicht-EU-Staaten sind die Dienstein Zukunft regelmäßig dabei. Wenn einVerdacht auf „Terrorismus“ besteht oderandere Bedenken vorgebracht werden,soll das Visum verweigert werden. AlleDaten aus diesen Visaverfahren, auch dievon Einladern, werden künftig zehn Jah-re lang gespeichert.

Bei der bekannten Zusammenarbeitdeutscher Dienste mit den Geheimdien-sten „befreundeter“ oder für die deutscheWirtschaft interessanter Staaten dürftees für Oppositionspolitiker/innen ausdiesen Ländern in Zukunft erheblichschwieriger werden, ein Visum zu be-kommen, um hier über Menschenrechts-verletzungen in ihren Ländern zu be-richten.

Den Nebeneffekt dieser Regelung, daßso auch die deutsche Wirtschaft und Po-litik stärker vor Kritik an menschen-rechtswidrigen Geschäften geschütztwerden, dürften die Regierungsparteiengewollt haben.

• Ebenfalls ins Gesetz aufgenommenist die Totalerfassung der biometrischenDaten der Bevölkerung. Jeder Paß undjeder Personalausweis soll in Zukunft inverschlüsselter Form biometrische Datenseiner Inhaber/in enthalten, die bei Kon-trollen sofort entschlüsselt und gelesenwerden können.

Während bei deutschen StaatsbürgernEinzelheiten der Speicherung in einemweiteren Gesetz geregelt werden sollen –Schily will erst ein EU-weit einheitlichesVerfahren aushandeln – tritt diese bio-metrische Erfassung bei Flüchtlingenund MigrantInnen sofort in Kraft.

Auf Drängen der Datenschützer habenSPD und Grüne zwar noch eine aus-drückliche Klausel ins Gesetz genom-men, dass ein bundesweites Register derbiometrischen Daten oder eine Vernet-zung der Register „nicht eingerichtet“wird. Aber die korrekte Lesart für„nicht“ lautet wohl eher: „noch nicht“.Zudem bestehen diese Register – künftiginklusive biometrische Daten – ohnehinin jedem Bundesland.

• Das Bundeskriminalamt wird weiterausgebaut zur Bundespolizei und be-kommt die Berechtigung zur Datensam-melei gegen Unschuldige.

Hier hatten die Grünen zwischenzeit-lich behauptet, „Ermittlungen des BKAohne Verdacht“ werde es nicht geben.Tat-sächlich enthielt aber schon der erste ge-meinsame Entwurf von SPD und Grünendie neue Vollmacht. Nur hieß es nicht„verdachtslose Ermittlungen“, sondern„Erhebung von Daten“.

Dieser neue Paragraf 7 Absatz 2 BKA-Gesetz wird „zu einer Flut von Anfragenbei potenziellen Datenbesitzern und Re-gistern“ führen, befürchtet der Bundes-beauftragte für den Datenschutz, Jacob.

Selbst der FDP-Justizminister von Ba-den-Württemberg kritisiert, dass damitdie Länderhoheit in Polizeifragen unter-graben und das BKA zu einem zusätz-lichen Geheimdienst ausgebaut wird.Trotzdem waren SPD und Grüne bei denSchlußberatungen lediglich bereit, dieneue Kompetenz des BKA auf 5 Jahre zubefristen. Dass die neue Vollmacht dannwieder aufgehoben wird, glaubt im Au-genblick niemand.

• Massiv ausgeweitet werden auch diebisher auf „verteidigungswichtige“ oder„lebenswichtige“ Einrichtungen be-grenzten Sicherheitsüberprüfungen vonBeschäftigten. Die Bundesregierungnennt das „vorbeugenden personellenSabotageschutz“.

In den Erläuterungen heißt es aus-drücklich, dass damit beispielsweise Be-schäftigte an Einrichtungen und in pri-vaten Firmen gemeint sind, „die der Ver-sorgung der Bevölkerung (z.B. Energie,Wasser, Chemieanlagen, pharmazeuti-

sche Firmen, Banken) dienen oder die fürdas Funktionieren des Gemeinwesens(z.B.Telekommunikation,Bahn und Post)notwendig sind.“ Einzelheiten will dieBundesregierung durch Rechtsverord-nung festlegen.

Damit können Hunderttausende Be-schäftigte in Zukunft Opfer geheim-dienstlicher Überprüfungen werden.Wervorbestraft oder „extremismusverdäch-tig“ ist,wird entlassen oder gar nicht ersteingestellt.

Außerdem bekommen die Arbeitgeberdamit Auskünfte über ihre Beschäftig-ten, auf die sie bisher laut Arbeitsrechtkeinen Anspruch hatten.

Bürgerrechtsorganisationen warnen,dass „Journalisten bei Funk und Fernse-hen, Krankenschwestern, Chemiker beiBayer oder Schering,der Monteur bei derTelekom, Arbeiter bei der Post bis zu Ar-beitern bei Kleinfirmen, die für Wasser-werke oder E-Werke arbeiten“, künftigregelmäßig überprüft würden.

Gegen negative Bescheide ist zwar derKlageweg offen. Da die Geheimdiensteaber ihre Quellen nicht offenbaren, dürf-ten solche Klagen zumeist aussichtslossein. Darauf hat auch die HumanistischeUnion hingewiesen: „Hier gilt, was z.B.das Bundesverfassungsgericht in einemkonkreten Fall 1999 und der Verfasser alsRichter am Landesarbeitsgericht Nie-dersachsen seinerzeit zu entscheidenhatte: Bei der Sicherheitsüberprüfungwird festgestellt, dass es Erkenntnissegebe,die zum Arbeitsplatzverlust führen,ohne dass der betroffene Bürger erfährt,um welche angeblichen Erkenntnisse essich handelt, und er folglich falsche ‚Er-kenntnisse‘ nicht widerlegen und sichnicht wehren kann!“

Andere Punkte in Schilys Paket wie dieEinbeziehung von Sozialdaten in dieRasterfahndung, die Ausdehnung derverdachtslosen Schleierfahndung desBGS an den Seegrenzen, Sprachanalysenzur schnelleren Abschiebung von Flücht-lingen aus Afrika und dem arabischenRaum, neue Verbotsgründe gegen Aus-ländervereine, erkennungsdienstlicheBehandlung selbst von 14-jährigenFlüchtlingskindern und die Speicherungihrer Fingerabdrücke und Fotos über 10Jahre und länger können hier aus Platz-gründen nicht näher geschildert werden.

Dass Geheimdienste eine Gefahr fürjede demokratische Ordnung darstellen,ist allgemein bekannt. Diese Geheim-dienste bekommen nun eine Fülle neuerVollmachten,hunderte von Millionen DMmehr pro Jahr für ihre Arbeit und erheb-lich mehr Personal.

„Der Terrorist als Gesetzgeber“, hatHeribert Prantl das gesamte Gesetz in derSüddeutschen Zeitung am 8./9. Dezem-ber zutreffend beschrieben.

Dem ist nichts hinzuzufügen.SPD undGrüne haben mit den Unionsparteien einGesetz verabschiedet, das einen rassisti-schen Überwachungsstaat schafft undeine Grundsteinlegung für einen Ge-heimdienststaat ist. rül

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PB 26/2001 • AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT 5

Junger Afrikaner erliegt der Misshandlung

Tödliche Brechmittel-vergabeHamburg. Der 19-jährige Achidi J. ist am12.12. an den Folgen einer gewaltsamenBrechmittelvergabe gestorben. Polizistenhatten den jungen Kameruner aufgegrif-fen und,weil sie ihn verdächtigten,Crack-Pillen geschluckt zu haben, zum „Zweckder Beweissicherung“ ins Rechtsmedizi-nische Institut geschafft, wo ihm dasBrechmittel Ipecacuanha verabreichtwurde. Da der junge Mann sich verzwei-felt wehrte, flößte ihm eine Ärztin dasBrechmittel gewaltsam durch eine Nasen-sonde ein, während ihn mehrere Polizei-beamte niederhielten. Achidi brach zu-sammen und erlitt einen Herzstillstand.Wenige Tage später starb er.

Vor Jahren noch hatten sich Hambur-ger Behörden dagegen ausgesprochen,an-deren Großstädten wie Bremen, Berlinund Frankfurt zu folgen und Brechmittelgegen als Drogendealer Verdäch-tigte einzusetzen. Prof. Püschel,damals wie heute Leiter desRechtsmedizinischen Instituts amUKE, hatte seinerzeit den Brech-mitteleinsatz als aus medizini-scher Sicht gefährlich, ja unterUmständen sogar lebensbedroh-lich und in jedem Fall inhuman ab-gelehnt. Im Juli diesen Jahres wardas alles vergessen. Der damalsnoch rot-grüne Senat glaubte, dendrohenden Erfolg der Schill-Par-tei mit einer Politik verhindern zukönnen, die umsetzte, was Schillankündigte: Sie beschloss, mit ei-ner Politik der Härte gegen die offene Dro-genszene vorzugehen und vermeintlicheDrogendealer mit dem Brechmittel Ipeca-cuanha zu malträtieren. Die Verantwor-tung für die Durchführung übernahmProf. Püschel. Der CDU/Schill-Senatübernahm die Praxis und beschloss zu-dem, die Bestimmungen für die Vergabedes Brechmittels weiter zu lockern.

Die Vergabe von Ipecacuanha ist allesandere als harmlos, sie führt zu wieder-holtem,tagelang anhaltendem Erbrechen,Durchfall, Appetitlosigkeit, möglicher-weise auch zu inneren Verletzungen undder Beeinträchtigung der Herzfunktion.Gewaltsam durchgeführt, ist sie lebens-bedrohlich: Die Einführung der Nasen-sonde kann bei Gegenwehr einen wichti-gen Nerv treffen und einen Herzstillstandauslösen.

So ist die Brechmittelvergabe als Be-weissicherungsmaßnahme unverhältnis-mäßig, sie verletzt die Menschenwürdeund ist durch nichts zu rechtfertigen. Ih-re eigentliche Funktion ist tatsächlichauch nicht die Beweissicherung – aus Bre-men und Berlin ist bekannt, dass sie innicht einmal der Hälfte der Fälle Beweiseerbringt. Sie ist mit ihren bewusst herbei-geführten unangenehmen und gesund-heitsgefährdenden Folgen vielmehr eine

reine Schikane, ein Instrument der Stra-fe, zielsicher eingesetzt gegen Schwarz-afrikaner. Mehr als alles andere machtedas dieBürgerschaftsdebatte nach demZusammenbruch und Tod des jungen Ka-meruners deutlich. Ähnlich wie vorherInnensenator Schill kommentierte derCDU-Abgeordnete Lenders den Tod des19-Jährigen: „Dieser Drogendealer hatmit dazu beigetragen, dass Menschen insElend gestürzt wurden, denen er diesesTeufelszeug verkaufte.“ Und der Schill-Abgeordnete Bauer rechtfertigte die töd-liche Gewalt gar mit den Worten: Der Dro-gendealer sei nicht Opfer, sondern Täter.„Wer die Menschenrechte anderer mit Fü-ßen tritt – und das tun Drogenhändler –muss damit rechnen, dass seine eigenenRechte missachtet werden.“

Der Hamburger Senat hält eisern amBrechmitteleinsatz fest. Doch formiertsich Widerstand. Deutlich hat die Ham-burger Ärztekammer, die sich schon EndeOktober gegen gewaltsame Brechmittel-vergabe aussprach, ihre Forderung wie-derholt. Am Tag nach Achidis Zu-

sammenbruch kamen über 600 Menschenzu einer spontanen Demonstration zu-sammen (Bild); am 14. fand erneut einehauptsächlich von Afrikanern organisier-te Demonstration statt. VerschiedeneGruppierungen stellten gegen die Betei-ligten und Verantwortlichen (Innensena-tor Schill) Strafanzeige.

Beachtenswert ist die Reaktion desBundesverfassungsgerichts. Mitte der90er-Jahre hatte das Frankfurter OLGfestgestellt, dass die gewaltsame Brech-mittelvergabe unverhältnismäßig undnicht mit der Menschenwürde zu verein-baren ist. Andere Oberlandesgerichte da-gegen hatten sich über solche Bedenkenhinweggesetzt. Das Bundesverfassungs-gericht hatte 1999 eine Verfassungsbe-schwerde dagegen nicht angenommen, inder Sache dabei keine grundsätzlichenverfassungsrechtlichen Bedenken in Hin-blick auf die Menschenwürde erkennenwollen. Nachdem sich Brechmittelbefür-worter auf den Entscheid beriefen, de-mentierte das Gericht: Seine damaligenAuslassungen sagten „nichts darüber aus,inwieweit eine zwangsweise Verabrei-chung mit Blick auf den Schutz der kör-perlichen Unversehrtheit (Art.2 Ab.S GG)und auf die Verhältnismäßigkeit des Ein-griffs zulässig ist“. (PE, 13.12.) scc

Friedensbewegung appelliert an Israel,

die Palästinenser und die internationale

Öffentlichkeit

Beendet den Krieg imNahen Osten !Die Zuspitzung der Situation im NahenOsten ist nicht nur eine Folge der seit 14Monaten andauernden „Intifada“, des of-fenen Aufstands der Palästinenser gegendie als Besatzer empfundenen israeli-schen Sicherheitskräfte in den besetztenGebieten. Die Gewalteskalation ist aucheine Folge der Politik der harten Faust desisraelischen Premierministers Ariel Scha-ron. (…)

Die Ursachen für den Nahostkonfliktund damit letztlich auch für die gegen-wärtige Gewalteskalation liegen aber tie-fer. Sie liegen in Fehlentwicklungen, diezum Teil weit in die Geschichte der israe-lischen Staatsgründung hinein reichen,und in den vertanen Chancen der letztenJahre. Israel hatte seine Sicherheit stetsauf militärische Stärke gegründet und miteiner Expansionspolitik versucht, diesenStatus zu sichern. Durch die Besetzungdieser Gebiete und die Errichtung jüdi-scher Siedlungen hatte sich die Lage wei-ter verschärft. Bei den vertriebenen Pa-lästinensern, die teilweise seit Jahrzehn-ten in Flüchtlingslagern leben, wuchs derHass auf die israelische Besatzungsmachtvon Jahr zu Jahr.Aus diesem Potenzial las-sen sich immer wieder „Kämpfer für dieBefreiung Palästinas“ rekrutieren, diedann mit Anschlägen oder Selbstmordat-tentaten gegen Israel vorgehen. Wenn dieisraelische Armee darauf wiederum mitmilitärischen Mitteln antwortet, so drehtsie weiter an der Schraube der Gewalt,denn mit jedem Militärschlag wächst auchder Hass auf die Besatzer und die Bereit-schaft zu weiteren Racheakten.

Vor wenigen Tagen haben 114 Staatenbei einer Konferenz der Unterzeichner-staaten der Genfer Konventionen in Genfin einer Deklaration Israel ermahnt, dassdie Bestimmungen der Genfer Konventio-nen zum Schutz der Zivilbevölkerungauch in den von Israel besetzten Gebieteneinschließlich Ostjerusalem gelten. DieUN-Hochkommissarin für Menschen-rechte, Mary Robinson, erklärte auf derKonferenz: „Weder die israelische Politikder gezielten Ermordung palästinensi-scher Zivilisten noch Angriffe von Paläs-tinensern auf israelische Zivilisten stehenim Einklang mit dem internationalen hu-manitären Recht.“ Insbesondere sei derAusbau israelischer Siedlungen in den be-setzten Gebieten ein Verstoß gegen dievierte Genfer Konvention. (…)

Nach Überzeugung der israelischenund der palästinensischen Friedensbewe-gung – die in ihren Gesellschaften zur Zeiteinen sehr schweren Stand haben – kannder Krieg nur beendet werden, wenn bei-de Seiten aus der Gewaltspirale ausbre-chen. Es ist ein schwerwiegender histori-scher Fehler von Scharon, wenn er die

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Autonomiebehörde und Arafat persönlichfür die palästinensischen Attentate ver-antwortlich macht und den Krieg gegensie ausdehnt. (…) Sollten die israelischenAngriffe auf das Zentrum der Autono-miebehörde fortgesetzt werden, so stehenein Bürgerkrieg in Palästina und mögli-cherweise ein großer internationaler Kon-flikt im Nahen Osten bevor.

In Übereinstimmung mit den friedens-orientierten Stimmen auf israelischer undpalästinensischer Seite – mit denen wirvor 10 Tagen in Kassel zusammengetrof-fen waren – fordern wir als erste Maß-nahmen • den sofortigen Rückzug des israelischenMilitärs aus den besetzten Gebieten,• die Einstellung der Luftangriffe auf pa-lästinensische Einrichtungen,• die Wiederaufnahme der israelisch-pa-lästinensischen Verhandlungen,• die Zulassung internationaler Beobach-ter unter Oberhoheit der Vereinten Natio-nen,• die Zusicherung an die Autonomiebe-hörde, sich wieder frei bewegen zu dür-fen,• die Wiedereröffnung des palästinensi-schen Flughafens in Gaza.

Wir weisen darauf hin, dass es sichhierbei nicht um Zugeständnisse odereinseitige Verzichtsmaßnahmen Israelshandelt, sondern um die Herstellung nor-maler Beziehungen im Verhältnis zweiersouveräner Partner. Auch die längerfris-tigen Forderungen der israelischen Frie-densbewegung bedeuten keine „Kompro-misse“ oder Gnadenbeweise Israels, son-dern berücksichtigen nur das natürlicheRecht der Palästinenser auf ein men-schenwürdiges Leben und auf Heimat.Zudiesen längerfristigen Forderungen gehö-ren • das Recht auf einen eigenen palästinen-sischen Staat mit Ostjerusalem alsHauptstadt,• die Räumung der israelischen Siedlun-gen auf dem Territorium des Palästinen-serstaates,• die Anerkennung des Prinzips einesRückkehrrechts vertriebener Palästinen-ser.

Soll der Nahe Osten nicht im Infernoeines allgemeinen Krieges und Bürger-kriegs versinken, müssen den Menschenin Palästina endlich Perspektiven auf ei-ne gleichberechtigte Existenz eröffnetwerden.Von unserer Regierung erwartenwir mehr diplomatischen Druck auf Is-rael, eine friedensorientierte Politik ein-zuschlagen. Gerade als deutsche Frie-densbewegung, die sich der besonderenVerantwortung gegenüber dem jüdischenVolk bewusst ist, setzen wir uns sowohlfür das Existenzrecht Israels ein als auchfür die Lebens- und Menschenrechte derPalästinenser. Wer Terror und Hass unterden Palästinensern besiegen will, mussden Menschen geben, was ihnen zusteht:Land und Frieden. (…) Kassel, 14.12.01, Bundesausschuss Frie-densratschlag, Dr.Peter Strutynski (Spre-cher) (aus Platzgründen gekürzt)

Taliban verloren letzten Stützpunkt

Phase I des Krieges vordem Abschluss ?Die US-Streitkräfte melden am 18.12. of-fiziell ihren Sieg bei Tora Bora. Damit ha-ben die Taliban ihren letzten Stützpunktverloren. Sie sind geschlagen.

Erstens hat sich bewahrheitet, dass essich bei den Taliban mehr oder wenigerum eine Söldnertruppe handelte, diekaum über Rückhalt in der afghanischenBevölkerung verfügte.

Zweitens haben die US-Streitkräftedie Taliban durch ein großes Blutbad, eingezieltes Massenmorden zerschlagen. Biszum 6.12.fielen den US-Luftangriffen aufdicht besiedelte Gebiete nach einer de-taillierten Untersuchung eines amerika-nischen Universitätsprofessors fast 3.800Zivilisten zum Opfer.1 Die Zahl der getö-teten Taliban-Kämpfer ist nicht bekannt,aber mit Sicherheit sehr hoch. Die US-Streitkräfte hatten den Befehl, keine Ge-fangenen zu machen, und sie haben ihnkonsequent befolgt. Zuletzt haben sie beider Bombardierung der Höhlen,Bunker und Abwehrstellungenbei Tora Bora die berüchtigtenBLU-82-Bomben eingesetzt, diebuchstäblich alles Leben imUmkreis von 600 Metern ausra-diert. Bekannt wurde auch, dasssie die Übergabeverhandlungenzwischen den Anti-Taliban-Kräften und den Al-Kaida-Kämpfern in den Bergen bei To-ra Bora blockierten und selbstdie Führung im Bodenkampfübernahmen, um zu verhindern,dass die feindlichen Kräfte sichergeben oder entkommen. Nurwenige wurden gefangen genommen. ZurZeit suchen, so wird gemeldet, US-Solda-ten unter den Leichenbergen in den weit-verzweigten Höhlen nach führenden Al-Kaida-Mitgliedern. Gleichzeitig wird dieBombardierung der Region fortgesetzt.

Drittens begann sich die drückende mi-litärische Überlegenheit der USA zu demZeitpunkt voll zu entfalten, als ihreKampfflugzeuge durch Bodenbeobachter,d.h. durch in Afghanistan abgesetzteLuftlandeeinheiten, unterstützt wurdenund eine außerordentliche Zielgenauig-keit erreichten. Die Überlegenheit derUSA basiert auf der entwickelten Satel-litentechnik, die genauste Beobachtungdes feindlichen Gebietes und punktge-naue Luftangriffe auf alle erwünschtenZiele ermöglicht.Der Großteil der von denUSA im Krieg eingesetzten Mittel ist aufdiese Weise weitgehend unangreifbar.

Auseinandersetzung um die UN-Truppe für

Afghanistan

Auseinandersetzungen vor allem zwi-schen den imperialistischen Mächten ha-ben ein UN-Mandat für die vorgeseheneinternationale Truppe in Afghanistan bisheute (18.12.) verzögert. Auch die zu-

künftige afghanische Regierung versuchtein Wort mitzureden: So solle die UN-Truppe nur mit einem Mandat zur„Selbstverteidigung“ ausgestattet seinund nicht mehr als 1000 Soldaten umfas-sen. Doch bevor noch die Regierung ihrAmt antritt, sind Hunderte britische undfranzösische Soldaten längst im Land,und auch ein deutscher Vortrupp von 60Soldaten soll Afghanistan – ohne Bundes-tagsbeschluss – erreicht haben.

Der Konflikt verläuft hauptsächlichzwischen den USA und Großbritannienauf der einen Seite – die britischen Streit-kräfte sollen das Kommando über dieinternationale Truppe übernehmen –,Frankreich und der BRD auf der anderen.

Die USA, die nicht daran denken, ihreTruppen aus Afghanistan zurückzuzie-hen, wollen keine internationale Truppe,die nicht ihrem Kommando de factounterstellt ist, und Großbritannien for-dert ebenso eine enge Verzahnung zwi-schen dem US-amerikanischen und briti-schen Kommando. Außerdem soll dasMandat auf drei Monate beschränkt wer-den. Die Verflechtung der US-Kampf-truppen mit der internationalen „Frie-

denstruppe“ liegt die Absicht zugrunde,Afghanistan ohne Rücksicht auf lokaleund regionale Kräfte zu befrieden undWarlords, die ihren Ansprüche auf dieKontrolle von Gebieten durchzusetzenversuchen, mit Gewalt niederzuwerfenund ihre Truppen zu zerschlagen. Das istnur konsequent, soweit es um die umfas-sende Kontrolle über Afghanistan geht.

Frankreich und die BRD fordern dem-gegenüber getrennte Kommandos und einvon vornherein längeres Mandat. Außer-dem sind beide Konkurrenten unzufrie-den damit, dass Großbritannien, das auf-grund seiner Geschichte als Besatzer-macht gesehen wird, die internationaleTruppe führt. Sie wollen eine Ordnung –auch im Hinblick auf ihre weltweiten im-perialen Interessen und unter Berück-sichtigung der weltweiten Kräfteverhält-nisse –, die lokale Kräfte einbezieht undden eigenen Einfluss mittelbarer, dafürum so wirksamer sichert.

Dass sich die USA im Kern durchset-zen, ist kaum zu bezweifeln. Schließlichhaben ihre europäischen Verbündeten mitihnen mehr zu gewinnen als gegen sie. scc1 Rainer Rupp (13.12. Bereits über 3.700 zivile Op-fer …) mit Verweis auf die US-Quellen

US-Luftlandetruppen in Afghanistan

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PB 26/2001 • AUSLANDSBERICHTERSTATTUNG 7

Russland und der Westen

In den Flitter-wochen?Bei ihrem ersten Zusammentreffen inLubljana im Juni diesen Jahres begegne-ten sich Georg W. Bush und Wladimir Pu-tin – schwer beladen – mit vielen offenenpolitischen Fragen.

Bush – erst knapp 6 Monate im Amt –hatte mit seiner Administration schon ei-nige Pflöcke eingeschlagen, die die Rich-tung der zukünftigen Beziehungen derUSA und damit des Westens zu Russlandbestimmen sollten. In die Reihe dieserVorankündigungen zukünftiger Politikgehörte die Erklärung Bushs, aus dem„veralteten“ ABM-Vertrag aus dem Jah-re 1972 auszusteigen. Bush unterstrichdas Ziel seiner Administration,ein für dieUSA geeignetes Antiraketenabwehrsys-tem (NMD) aufzubauen. Bush kündigtedas Einfrieren weiterer Kredite des IWFfür Russland an, wenn in Russland nichtsgegen die Korruption unternommenwird. Und konkret kam es Anfang 2001zur Ausweisung einiger russischer Diplo-maten,die der Spionage beschuldigt wur-den.Und alles zusammen genommen ver-deutlichte: Bush geht auf Konfronta-tionskurs zu Russland. Dem folgte An-fang April der Zwischenfall mit dem US-Aufklärungsflugzeug in chinesischenHoheitsgewässern. Ein deutliches Signalin Richtung China und Russland,sich kei-neswegs dem US-amerikanischen Be-streben, auf dieser Welt über alles infor-miert und überall präsent zu sein, zuwidersetzen.

Condoleezza Rice, Sicherheitsberate-rin des US-Präsidenten und Zögling dertexanischen Öllobby, erklärte „Russlandzur Gefahr für den Westen im Allgemei-nen“. Georg Tenet, seines Zeichens CIA-Direktor, schloss sich dieser Erklärungvor dem US-Senat mit der Einschätzungan, dass „Putin beabsichtigt, bestimmteAspekte des sowjetischen Status, Russ-land als Großmacht wiederherzustellen,verfolgt“.

So kam dem ersten Treffen der beidenPräsidenten in Lubljana große Bedeu-tung zu. Dem allerdings folgte ein gegen-seitig aufeinander gesungenes Loblied.

Bush erklärte, er habe Putin angeschautund gesehen, dass „dieser Mann es ehr-lich meint“. Putin stand dem nicht nachund lobte, Bush habe auf ihn den Ein-druck eines Mannes gemacht, der weiß,was er will.

So kam es im Verlaufe des Jahres nochan anderen Orten der Welt zu Gesprä-chen, in Shanghai, in Genua und schließ-lich in den USA. Bei Spareribs traf mansich dann schließlich auf der präsiden-teneigenen Farm in Texas und erklärtesich anschließend zu Freunden. Offenbarein Bestreben heutiger Politiker, sich dieZeit zu vertreiben und der ÖffentlichkeitSand in die Augen zu streuen.

Das Treffen in Texas hatte nun schonnach dem 11. September stattgefunden.Die Erklärung der Freundschaft hatte ih-re Gründe.

Putin war unter den Ersten, die nachden Terroranschlägen in den USA han-delten. Er erklärte seine Unterstützungund Solidarität mit den USA und bot um-fassende Hilfe an. Das überraschte nichtnur in den USA. Selbst in konservativenKreisen wurde über eine neue Phase inden Beziehungen Russland – USA ge-sprochen, Russland und die USA in denFlitterwochen!

Aus Moskau kamen in einigen Fragenversöhnlichere Töne. In den Gesprächenmit Bush wurde angesichts veränderterinternationaler Bedrohungsszenarienüber die Möglichkeit einer erweitertenstrategischen Zusammenarbeit gespro-chen. Offenbar längst fällige Entschei-dungen wie die Schließung der elektroni-schen Aufklärungsstation in Lourdes(Kuba) und der Marinebasis in der CamRanh Bucht in Vietnam wurden als Ent-gegenkommen Russlands offeriert. Putinäußerte gegenüber dem Generalsekretärder NATO, Robertson, und Vertretern derEU die Bereitschaft Russlands, neu überdas Verhältnis zur NATO nachzudenken.

Russland nutzte die Gunst der Stunde,da sich die USA angreifbar gezeigt hat-ten, um eigene Interessen durchzusetzen.Möglicherweise forderte Russland fürseine Zustimmung zur verstärkten Ein-beziehung zentralasiatischer Republikenin die Militäraktionen der USA in Af-ghanistan größere Zurückhaltung in Sa-chen Tschetschenien. Jedenfalls forderteRussland die Anwendung nur eines Stan-dards bei der Beurteilung terroristischerAktionen und damit eine Gleichbehand-lung seiner Aktionen im Kaukasus mitdenen der USA und Großbritanniens inAfghanistan. Besonders deutlich wurdedas,als Bundeskanzler Schröder sich lautüber eine veränderte Position des Westenszum Tschetschenienproblem äußerte.Denn die Zustimmung Russlands zu den„Antiterroraktionen“ der USA ist engmit Fragen der Tätigkeit militanter Kräf-te, die mit Osama ben Laden in Verbin-dung gebracht werden, in Russland undan seinen Grenzen verbunden. Ein engerMitarbeiter Präsident Putins brachte dasin einem Interview Mitte Oktober auf ei-ne einfache Formel: „Es stand die Wahl

zwischen einer Präsenz der USA in Us-bekistan oder dem Eindringen der Tali-ban in Tatarstan“ (Tatarstan ist ein sou-veräner Staat, assoziiert mit der Russi-schen Föderation, gelegen im Zentrumder RF am Zusammenfluss von Wolga undKama, Einwohner: ca. 3 Mio., starker is-lamischer Bevölkerungsanteil).

Interessant ist eine Gegenüberstellungvon Meinungen russischer und amerika-nischer Politiker zu der sich entwickeln-den Lage nach dem 11. September unddem Krieg des Westens gegen die Talibanin Afghanistan.

Führende russische Persönlichkeitenhalten es für äußerst schädlich, sich inden Krieg einbeziehen zu lassen. Natio-nale Interessen – so sagen sie – haben Vor-rang. In diesem Falle heißt das, die Län-der Zentralasiens in der Auseinanderset-zung mit den militanten Islamisten zuunterstützen und damit keine Positionenin dieser Region aufzugeben.

Präsident Putin wurde angeraten, denUSA Bedingungen für das russische En-gagement zu stellen und zu fordern, dassder Westen aufhören muss, Russland imKaukasus und Zentralasien zu blockie-ren. Russland muss in relativ kurzer Zeitin die WTO aufgenommen werden. ImRahmen des UN-Sicherheitsrates sindklare Bedingungen zu formulieren, dassRussland an allen Entscheidungsfindun-gen beteiligt wird. Darüber hinaus sindalle Länder, die tschetschenische Grup-pen unterstützen, aufzufordern, dieseUnterstützung zu unterbinden und ein-zustellen (genannt werden Länder wieGeorgien, die Türkei, Polen, Litauen undEstland – Nesawisimaja Gaseta, 21.9.01).

Vor dem Treffen der Präsidenten in denUSA formulierte die konservative Her-itage Foundation einige Forderungen, dieBush gegenüber Putin durchsetzen soll-te:– USA kann Russland kein Vetorecht inSachen Raketenabwehr gewähren. Dienationale Sicherheit der USA erfordertdie Einstellung jeglicher Kontrollmaß-nahmen.– Russland reduziert sein Atomwaffenar-senal auf 1.500 Raketen. China darf nichtmehr als 100 besitzen. Potenzielle Atom-mächte der Dritten Welt dürfen keineAtomwaffen entwickeln bzw. nicht übermehr als 50 verfügen. Den USA müssenTests zur Modernisierung ihres Arsenalsund zur Errichtung des NMD erlaubtwerden,was die Akzeptanz Russlands desAufbaus des NMD-Systems einschließenmuss. Es wurde Bush angeraten, in die-sem Sinne eine einseitige Erklärung ab-zugeben, die auch zukünftige Handlun-gen gewährleistet. (Heritage Foundation,7.11.01)

Auf der texanischen Farm Crawfordwurde hart verhandelt. Bush erklärtewiederum seine Absicht, aus dem ABM-Vertrag auszusteigen, und Putin bezeich-nete den Vertrag als Eckpfeiler für dieinternationale Sicherheit und Stabilität.

Die von der Heritage Foundation ge-gebenen Empfehlungen wurden im We-

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sentlichen alle vorgebracht. Die Bush-Administration will volle Handlungsfrei-heit besitzen. Hilfreich erscheint denUSA die gegenwärtige Wirtschafts- undFinanzlage Russlands, das an einer Re-duzierung der strategischen Waffensyste-me interessiert ist.So kann die Zusage derUSA, eine Reduzierung vorhandenerKernwaffen auf 1 700 bis 2 500 vorzuneh-men, ohne jedoch eine vertraglicheGrundlage in Form des Abschlusses desSTART III-Vertrages zu schaffen, Russ-land beruhigen und den USA freie Handbei der Schaffung des NMD-Systems ge-ben.

Neue Lage nach Kündigung des

ABM-Vertrages

Der nun offiziell erklärte Ausstieg derUSA aus dem ABM-Vertrag schafft einevöllig neue Lage. Die russische Reaktionwar gelassen, verdeutlichte aber die Er-kenntnis, dass es keine Mittel gibt, dieBush-Administration von dieser Ent-scheidung abzubringen. Bush sah offen-bar nach den „Siegen“ in Afghanistan dieStunde für gekommen, in der die lang-fristig vorbereitete Entscheidung zumABM-Vertrag verkündet wurde. PutinsErklärung, dass Russlands Sicherheitnicht gefährdet ist, fußt offenbar auf derErkenntnis, dass es den USA um mehrgeht als um den möglichen KonkurrentenRussland. Der Aufbau des NMD-Systemssoll es den USA ermöglichen, weltweitmilitärische Aktionen zu unternehmen.Das von der Bush-Administration ange-strebte militärische neue Konzept ist Teileiner langfristigen Planung, die die USAin die Lage versetzt, ohne Zustimmungder UNO oder irgendeines anderen Gre-miums Interventionen an jedem beliebi-gen Ort der Welt durchführen zu können.Die lakonische Reaktion Russlands fußtauf der Erkenntnis, dass die USA striktnach eigenem Gutdünken handeln unddie Welt, einschließlich Russland oderChina, vor dem Stärkeren zurücktretenmüssen.

Der kurze Honeymoon zwischen Russ-land und den USA ist schon wieder vor-bei.Das,was offiziell läuft, ist Schein.DieAntiterrorallianz wird auf eine harte Pro-be gestellt, und Russland kommt zur bit-teren Erkenntnis, dass die Annäherungan den Westen ein dorniger Weg ist undlangfristigen Charakter trägt.

Mit dem Ausstieg aus dem ABM-Ver-trag werden die USA möglicherweise ei-nen neuen Rüstungswettlauf auslösen,der sich schließlich gegen sie selbst rich-tet.

Nach der Euphorie der ersten Wochennach dem 11.September ist Nüchternheiteingekehrt. Russlands Aktion in Kabul,sich eine Versorgungsbasis durch denEinsatz leicht bewaffneter Kräfte zu si-chern ( siehe Pristina!), hat in Washing-ton nicht nur Unwillen hervorgerufen.Blairs Initiative, Russland näher an dieNATO zu bringen,endete mit einem kräf-tigen Einspruch seitens des Pentagon undeines bedeutenden Teils des US-Kongres-

ses: Es bleibt bei 19 + 1 und Russland wei-ter in einer gewissermaßen isolierten La-ge in seinem Verhältnis zur NATO.

In Russland wächst die Erkenntnis,dass Bush junior ein artiger Nachfolgerseines Vaters ist, der das vollenden will,was der Senior nicht schaffte: SaddamHussein zu beseitigen, was Rumsfeld undbestimmte Kongressabgeordnete nachdem „Blitzkrieg“ in Afghanistan fordern.Es wird befürchtet, dass Bush ohne Ru-hepause sich Somalia oder dem Irak zu-wendet. Die russische Reaktion auf dieseAbsichten bleibt abzuwarten. DeutlicheErleichterung herrscht im Kreml, dassdie Taliban vorerst beseitigt sind. Ob sichRussland der Dominanz der USA unter-ordnet, bleibt abzuwarten. Klar ist, dasssich russische nationale Interessen häu-fig im Gegensatz zu denen der USA be-finden werden.

So ist in der schon zitierten Zeitung zulesen, dass „sich in Russland niemand zubrüsten braucht,gezwungenermaßen Be-gleiter der USA im weltweiten Kampf ge-gen den Terror gewesen zu sein“. (Nesa-wisimaja Gaseta, 14.12.01).

Russlands (Putins) Zuneigung gehörtoffenbar mehr den europäischen Angele-genheiten, vor allem aber der Frage derBeziehungen Russlands zur Europäi-schen Union. Im Zentrum der Aufmerk-samkeit befindet sich deshalb die Bun-desrepublik und der deutsche Kanzler,der sich von Weihnachten zu Weihnachtenbisher viermal mit Putin traf. abe

LateinamerikanischeLinke trafsich in Havanna Zum Jahresausklang war Havanna Aus-tragungsort des 10.Treffens des Sao Pau-lo Forums, das damit auch seinen zehn-ten Jahrestag feierte. 1990 hatten sichzum ersten Mal in der brasilianischen In-dustriemetropole Sao Paulo linke undprogressive Bewegungen zusammenge-funden, um sich nach dem Zusammen-bruch des Realsozialismus und der offen-sichtlichen Krise des europäischen Sozi-alismus über die entstandene Lage aus-zutauschen und Ansatzpunkte für einerealistische Analyse der Situation zu er-arbeiten.

Im Vergleich zu diesem Vorhaben vorelf Jahren hat das Havanna-Treffen denZusammenhalt und die Lebensfähigkeitdes Forums bestätigt. Nach wie vor be-trachtet es sich als Ort der Diskussionund des Meinungsaustausches, unter-streicht aber gleichzeitig, dass es an Pro-fil und politischer Identität gewonnenhat. Es hat den Übergang von einem nurauf Analyse und Debatte beschränktesForum überwunden und ist darangegan-gen, Alternativen zum herrschenden ne-oliberalen Modell, wie es in Lateiname-rika implementiert wurde,zu suchen.DasTreffen in Havanna, an dem mehr als 100

Parteien und linke Organisationen teil-nahmen, bestätigte diesen Trend. DasScheitern des neoliberalen Modells undder negativen Auswirkungen der neoli-beral orientierten Globalisierung führtenzur Verstärkung des sozialen Protestesund der Erstarkung emanzipatorischerund sozialer Bewegungen, wofür die so-zialen Erhebungen in Argentinien bered-ter Ausdruck sind. Gleichzeitig wurdefestgestellt, dass neben Privatisierungund Deregulierung repressive Maßnah-men und eine Kriminalisierung sozialerProteste zunehmen. Mit großer Sorgestellten die Teilnehmer des Treffens fest,dass die Ereignisse um den 11. Septem-ber von den USA ausgenutzt werden,„sich als Hüter des internationalen im-perialistischen Systems zu fühlen und ih-re Rolle als solcher zu intensivieren“(Hauptdokument des 10.Treffens des SaoPaulo Forums, Dezember 2001). Insbe-sondere stellen sie fest, dass mit der vonden USA angestrebten Gesamtamerika-nischen Freihandelszone (FTAA) ein neu-es Modell imperialistischer Dominanz inLateinamerika geschaffen wird.

Neue Strategien, so stellt das Forumfest, sind erforderlich. „Eine alternativeEntwicklung erfordert die Einführungneuer Kriterien und Prioritäten bei derNutzung ökonomischer Ressourcen undder Verteilung der Resultate wirtschaft-licher Tätigkeit, die den sozialen Ansprü-chen der übergroßen Mehrheit der Bevöl-kerung entsprechen.“ Das bedeutet:

Veränderung der Gesellschaft und derArbeit in den jetzigen Strukturen derWirtschaft und

die Wiederherstellung der wirtschaft-lichen und politischen Souveränität inden Beziehungen zwischen den Staaten.

Im Mittelpunkt ihres Kampfes stellendie Linken Lateinamerikas die Ausein-andersetzung mit der geplanten Freihan-delszone FTAA und der Durchsetzung ei-nes demokratisch und sozial orientiertenModells lateinamerikanischer Integra-tion, in deren Mittelpunkt der politischeKampf um das einheitliche Auftreten derLänder des Kontinents gegenüber derübermächtigen USA gestellt wird.

Spürbar verändert hat sich die Hal-tung des Forums gegenüber der europäi-schen Linken, wobei die Pluralität desForums auch Pluralität in den interna-tionalen Beziehungen bedeutet. Wichtigerscheint deshalb aber die Feststellung,dass nicht nur Koordinierung in Latein-amerika erforderlich ist, sondern ebenauch produktive Verbindungen zu Euro-pa erforderlich sind.

Das Sao Paulo Forum unterstrich diebedeutende Rolle des Weltsozialforums inPorto Alegre (Brasilien), das als Meilen-stein in der Entwicklung sozialer Bewe-gungen und des massenhaften Protestesgegen Neoliberalismus und seine Folgengesehen wird. Erforderlich ist die Schaf-fung von Klarheit über die Rolle der Zi-vilgesellschaft, ohne deren aktive Betei-ligung eine neue Weltwirtschaftsordnungnicht möglich sein wird. abe (s.a. S. 21)

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Österreich: Auseinandersetzungenum zweisprachige OrtstafelnDer österreichische Verfassungsgerichts-hof hat eine umstrittene Regelung imRahmen des sog. Volksgruppengesetzesaufgehoben, die zweisprachige Ortsta-feln dann vorschreibt, wenn der sloweni-sche Bevölkerungsanteil in der betref-fenden Ortschaft mehr als 25% beträgt.Das Gericht ist der Auffassung, dass einAnteil von 10% reiche, um die Aufstel-lung zweisprachiger Schilder obligato-risch zu machen. LandeshauptmannHaider (FPÖ) erklärte daraufhin, dass eskeine zusätzlichen zweisprachigen Orts-schilder geben werde, und kündigte eine„Volksbefragung“ an. Die äußersteRechte versucht damit, eine Kampagnegegen die Rechte der slowenischen Min-derheit zu entfachen.

OSZE beendet Mission in Lettlandund Estland – Diskriminierung nochnicht beendetDie OSZE hat angekündigt, ihre Beob-achtermission in den beiden baltischenStaaten demnächst zu beenden, da derenEinbürgerungs- und Sprachenpolitik ei-ne bedeutende Annäherung an interna-tionale Normen erreicht habe. Die OSZEhatte seinerzeit die Mission vor allemdeshalb beschlossen, weil den zu „Staa-tenlosen“ erklärten russischsprachigenEinwohnern – allein in Lettland ca.500.000, in Estland 220.000 – durch

Sprach- und Staatskundetests sowie ho-he Gebühren kaum zu überwindendeHürden zur Einbürgerung errichtet wor-den waren. Außerdem waren Staatsbür-ger, die die Landessprache nicht voll-ständig beherrschten, in ihren politi-schen Rechten beeinträchtigt, so wurdensie vom passiven Wahlrecht ausgeschlos-sen. Die OSZE ist der Auffassung, dassdie Motivationskampagnen und staat-lichen Förderprogramme für denSpracherwerb die Diskriminierungweitgehend beseitigt hätten; außerdemhat Estland nach heftiger Debatte denAusschluss vom passiven Wahlrecht perGesetz aufgehoben, Lettland wenigstenseine Arbeitsgruppe eingerichtet, die ei-nen Lösungsweg erarbeiten soll.

Russland kritisiert die Ankündigungder OSZE und macht geltend, dass imJahr 2001 in Lettland lediglich 8000„Staatenlose“, in Estland 3.500 ihre Ein-bürgerung erreicht hätten, der ganzüberwiegende Teil dagegen diskriminiertbleibe.

Ungarn: Neues Sprachengesetz verabschiedetEnde November hat das ungarische Par-lament ein Sprachengesetz verabschie-det, das die Verwendung ausländischerWörter in der Werbung verbietet. Ziel ist,so das Gesetz, die ungarische Sprachevon „unerwünschten Einflüssen vonFremdsprachen durch die Globalisie-rung“ zu befreien.

Deutsch-ungarischerMilitärlaster in PlanungDaimlerChrysler und die ungari-sche Firma Rába stellten auf der 5.Mitteleuropäischen Wehrtechnik- undFlugzeugschau den ersten Prototyp einesgeplanten gemeinsamen Lastwagens vor,der wahrscheinlich Ende 2004 zur Se-rienreife kommt. Die Endmontage desLastwagens,zu dem DaimlerChrysler diemechanischen und elektronischen Kom-ponenten beisteuert, findet in Ungarnstatt.Von dort wird er in die ganze Weltgeliefert, in Ungarn selbst unter der Mar-kenbezeichnung Rába, in der übrigenWelt als DaimlerChrysler-Produkt. DerLastwagen ist ein Mehrzweckfahrzeugsowohl zur zivilen wie zur militärischenNutzung. Hauptabnehmer, das steht be-reits jetzt fest, wird das Militär sein.

Tschechien: Privatisierungs-verhandlungen begonnenDie tschechische Regierung hat Verhand-lungen über die Privatisierung desElektrokonzerns CEZ aufgenommen,deru.a.das Kernkraftwerk Temelin betreibt,sowie über sechs Distributionsfirmen.Vor allem die französische GesellschaftElectricité de France und das italienisch-spanische Konsortium Enel/Iberdrolahaben Aussichten,von der Privatisierungder tschechischen Stromwirtschaft zuprofitieren. Bei der Privatisierung desGaskonzerns Transgas erhielten am17.12. die deutschen RWE den Zuschlag.

Erfolg für US-HafenarbeiterIm November wurden gegen fünf US-amerikanische Hafenarbeiter und Mit-glieder der HafenarbeitergewerkschaftILA die vor fast zwei Jahren angestreng-ten Verfahren wegen Aufstands und Kon-spiration eingestellt.Im Januar 2000 hat-ten sich 150 ILA-Mitglieder an einerMahnwache im Hafen von Charlestonbeteiligt, um gegen den überraschendenEinsatz nicht gewerkschaftlicher Ar-beitskräfte zu Löscharbeiten auf einemdänischen Frachter zu protestieren. DieFünf wurden verhaftet,nachdem 600 Be-amte der Sondereinsatzkräfte der Polizeimit Schlagstöcken und Tränengas gegendie Demonstranten vorgegangen waren.Der Staatsanwalt – er versprach einen„Aktionsplan gegen gewalttätige Über-griffe der Hafenbeschäftigten: Haft,Haftund noch mehr Haft“, musste später des-halb das Verfahren zurückgeben – be-stand auf der Anklage wegen Aufstandesund Konspiration zur Planung eines Auf-standes, ihnen drohten damit langjähri-ge Haftstrafen.Die Internationale Trans-portarbeitergewerkschaft startete eineKampagne, international und in denUSA fand die Forderung nach Rücknah-me der Anklage große Unterstützung.Das vor allem führte jetzt zur Zurück-nahme der Anklage.

Zusammenstellung: scc

Über 100.000 Menschen betei-ligten sich an der gewerk-schaftlichen Demonstrationgegen den EU-Gipfel am13.12. in Brüssel (links oben:gegen Privatisierung), nocheinmal rund 30.000 tags dar-auf an der Demonstration derantikapitalistischen Globali-sierungsgegner (links unten:Hier stand der Widerstand ge-gen den Krieg im Mittel-punkt). Daneben fanden zahl-reiche kleinere und größereProtestaktionen gegen denEU-Gipfel statt. 150 Demon-stranten wurden am 14.12.vorübergehend festgenom-men, weitere 120, als sie gegendie Festnahmen demonstrier-ten. Im Aachener Dreiländer-eck hatte der BGS eine groß-angelegte und generalstab-smäßig geplante Aktion gegenGlobalisierungsgegner durch-geführt, um ihnen die Einrei-se nach Belgien so schwer wiemöglich zu machen. Etlichewurden gar nicht nach Bel-gien gelassen, mehrere Dut-zend Personen aus dem Zugnach Brüssel herausgeholtund zurückgeschickt.

Page 10: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

10 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 26/2001

Wieder Überfall auf ein Männerpaar– Protesterklärung des LSVDKÖLN. Wie dem Schwulen-Überfalltele-fon Köln am 10.12. gemeldet wurde,wur-den der Koch Andreas B. und sein FreundIan H. am Abend des 9.12. von mehrerenjungen Männern zunächst angepöbeltund dann tätlich angegriffen. Andreas B.erlitt aufgrund des Übergriffs einen Na-senbeinbruch und eine Gehirnerschütte-rung. Der antischwulen Gewalttat in ei-ner Kölner U-Bahn sahen eine Vielzahlvon Fahrgästen tatenlos zu – ohne einzu-schreiten. Der Lesben- und Schwulen-verband in Deutschland (LSVD), Lan-desverband NRW, verurteilt den feigenÜbergriff auf Andreas B. und seinenFreund: Für das tatenlose Zusehen derKölner Fahrgäste haben wir kein Ver-ständnis. Das Recht auf körperliche Un-versehrtheit ist ein Grundrecht; diesesRecht ist staatlich zu schützen und durchdie demokratische Gemeinschaft mit En-gagement und Zivilcourage zu sichern.„Kölner lassen keinen allein“ – mussauch für Lesben und Schwule gelten.

Der Übergriff auf Andreas B. ist derdritte öffentlich bekannt gewordene Fallantischwuler Gewalt in diesem Jahr inKöln. Er macht deutlich, dass antihomo-sexuelle Gewalt auch heute immer nochzum Alltag von vielen Lesben undSchwulen zählt. Denn die Gewalttat ge-gen Andreas B. bildet nur die Spitze ei-nes Eisberges ab; die meisten Fälle anti-homosexueller Gewalt gelangen nicht indie Öffentlichkeit – die Mehrzahl der Ta-ten werden nicht angezeigt oder denSchwulen-Überfalltelefonen gemeldet.

Gerade in Köln scheint es aufgrunddes offenen Auftretens von Lesben undSchwulen vermehrt zu antihomosexuel-ler Gewalt zu kommen. Diese reicht vonBeleidigungen und Bedrohungen zu tät-lichen Angriffen bis hin zu Tötungsdelik-ten. Als sogenannte Hauptstadt der Les-ben und Schwulen und als Austragungs-ort des Europride 2002 – dem größtenLesben- und Schwulenevent Europas –muss die Stadt Köln auch die Sicherheitseiner lesbischen und schwulen Bürge-

rinnen und Bürger garantieren und stär-ken. Der LSVD fordert die Stadt Köln,die KVB und alle politisch Verantwort-lichen dazu auf, sich mit der antihomo-sexuellen Gewalt in Köln auseinander zusetzen und zum Europride in Köln eintragfähiges Sicherheitskonzept mit derPolizei zu entwickeln. Darüber hinaussind die Stadt Köln, die KVB und alle po-litisch Verantwortlichen dazu aufgefor-dert, sich eindeutig gegen antihomose-xuelle Gewalt zu positionieren und öf-fentlich deutlich zu machen, dass in Kölnantihomosexuelle Gewalt nicht geduldetwird.Der Lesben- und Schwulenverbandin Deutschland e.V. engagiert sich seitzehn Jahren in der Opferhilfe und Prä-vention antihomosexueller Gewalt. InNordrhein-Westfalen wurden in Aachen,Bielefeld, Bonn, Dortmund, Düsseldorf,Köln und Münster Schwule Überfallte-lefone eingerichtet. Dort gibt es Bera-tung,Hilfe und Dokumentation unter derTelefonnummer 19228. www.lsvd.de

Rund 900 Menschen auf der Demon-stration gegen die RasterfahndungDÜSSELDORF. Unter dem Motto „Freiheitstirbt mit Sicherheit“ demonstrierten am9. Dezember rund 900 Menschen gegen

Rasterfahndung und Sicherheitswahn.(Bild) Aufgerufen hatten zahlreiche AS-ten aus Hochschulen und Fachhochschu-len in Nordrhein-Westfalen, aber auchantifaschistische Gruppen, linke Stadt-räte und Vertrauensleute sowie Betriebs-räte aus verschiedenen Betrieben undGewerkschaften. Die Studierendenver-tretungen unterstützen mit dieser undähnlichen Aktionen, wie Veranstaltun-gen, Informationsblättern und Plakaten,ihre von der Rasterfahndung bedrängtenausländischen KommilitonInnen undhelfen diesen auch mit Einzelberatungensowie Klagen gegen Datenweitergabe.

www.zakk.de/kok

„Wir haben es satt“Bekannte ehemalige DDR-Bürgerrecht-ler traten am 13.12.unter der Überschrift„Wir haben es satt“ mit einer Erklärungan die Öffentlichkeit, in der sie die Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik scharfkritisierten. Ausgehend von ihren Erfah-rungen mit Unterdrückung und Wider-stand in der DDR stellen sie fest: „Wirfühlen uns in unserer Auseinanderset-zung mit den aktuellen Problemen unse-res Landes und der Welt mehr und mehran die uns wohlbekannten Übel der Dik-tatur erinnert …Wir haben nicht verges-sen, wie die Gummiparagraphen des po-litischen Strafrechts der DDR uns dieLuft abgeschnürt haben.Wir greifen unsjetzt an den Hals,wenn wir lesen,mit wel-cher Leichtfertigkeit das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz … und die entspre-chenden Entwürfe in anderen westlichenStaaten und auf europäischer EbeneGummistricke drehen, die wir glücklichlosgeworden zu sein gehofft hatten …„Wir machen nicht mit, wenn Kriegsein-sätze mit Worthülsen wie ,Verantwortungübernehmen‘, ,der neuen Rolle Deutsch-lands in der Welt‘, mit ,Politikfähigkeit‘und ,der Durchsetzung der Rechte derFrauen‘ verharmlost werden.Wir verwei-gern uns diesem Krieg.“ Zu den 40 Unter-zeichnern gehören mehrere frühere Mit-glieder der letzten Volkskammer bzw. desBundestages und von Landtagen, u.a.

HANNOVER, FRANKFURT A.M., BERLIN. An den Flughäfen Hanno-ver in Langenhagen und Frankfurt a.M. demonstrierten am Tagder Menschenrechte Anfang Dezember jeweils 300-400 Leutegegen die dortigen Abschiebegefängnisse. Bei der Kundgebungin Niedersachsen wurde in Gedenken an den Tamilen Arumu-gasami Subramaniam, der sich vor genau einem Jahr im Altervon 17 Jahren im Abschiebeknast Langenhagen erhängte,kurz-fristig eine Tafel am Gefängniszaun angebracht (Bild).Vor demFrankfurt Flughafenterminal konnten in Sicht- und HörweiteGrußadressen an die internierten Flüchtlinge in englisch, fran-zösisch, arabisch und deutsch verlesen werden. Der BerlinerFlüchtlingsrat machte mit einer Mahnwache vor dem Sitz derBerliner Innenverwaltung auf die Lage Jugendlicher im Ab-schiebegewahrsam Berlin-Grünau aufmerksam. Die Zuständedort sind symptomatisch für viele Abschiebeanstalten inDeutschland.Trotz eines Beschlusses des Abgeordnetenhauses,künftig von der Inhaftierung minderjähriger Flüchtlinge abzu-sehen, befinden sich dort zur Zeit 10 bis 15 Jugendliche in Haft.

www.indymedia.de, www.proasyl.de

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Page 11: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

PB 26/2001 • REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 11

Wolfgang Ullmann, Hans-Jochen Tschi-che und Sebastian Pflugbeil. (Die ganzeErklärung wird demnächst unter derWeb-Adresse www.wir-haben-es-satt.deveröffentlicht.)

Neonazikoalition plant Aufmarschzum „Führergeburtstag“ in WeimarWEIMAR. Zu der vom „Nationalen und So-zialen Aktionsbündnis Westthüringen(NSAW)“ angemeldeten Demonstrationam 20. April 2002 in Weimar erklärt derWeimarer PDS-BundestagsabgeordneteCarsten Hübner: „Auch wenn die An-melder im Internet versuchen es andersdarzustellen, eines ist klar: Das Datumfür ihre Demonstration ist kein Zufall.Vom Anmelder Marko Polzius bis zumRedner Steffen Hupka soll die gesamteBandbreite der extremsten Rechten inWeimar vertreten sein.“ Hübner fordertdie zuständigen Behörden in Thüringenauf, alles zu unternehmen, um eine sol-che Demonstration oder Ersatzveran-staltungen zu verbieten und konsequentzu unterbinden. www.carsten-huebner.de

Demonstration gegen den Krieg und gegen das Kommando SpezialkräfteCALW. Fast 1000 Menschen demonstrier-ten am 8. Dezember zuerst vor der Graf-Zeppelin-Kaserne, dem Standort desKommando Spezialkräfte (KSK),dann ineinem Demonstrationszug in die CalwerInnenstadt und auf dem Marktplatz. Einbreites politisches Spektrum forderte ge-meinsam ein Ende des Krieges in Afgha-nistan, keine Ausweitung des Krieges aufandere Länder, keine Teilnahme derBundeswehr und des Kommando Spezi-alkräfte am jetzigen und zukünftigenKriegen und eine Auflösung des Kom-mando Spezialkräfte.

www.imi-online.de/index.php3

Aufruf der bayerischen Ausländer-beiräte zu den KommunalwahlenMÜNCHEN. Die Delegiertenversammlungder Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-beiräte Bayerns (AGABY) fordert dieParteien auf, bei den Kommunalwahlenam 3. März 2002 ein Zeichen gegenRechtsextremismus und Ausländer-feindlichkeit zu setzen. Durch sachlichepolitische Diskussionen sind Zukunfts-perspektiven aufzuzeigen. Die Anstren-gungen der Ausländerbeiräte und weite-rer Organisationen sind zu unterstützen,die politische, soziale und kulturelleGleichstellung von Deutschen undNichtdeutschen durchzusetzen. Be-sonders intensive Sprachförderung istnötig. Außerdem sollen sich die Parteieneinsetzen für die Einführung des Kom-munalwahlrechts für ALLE Ausländer-Innen. An die WählerInnen appelliertAGABY, die Parteien und Personen zuunterstützen, die sich gegen eine Spal-tung der Gesellschaft und für eine Inte-grationspolitik einsetzen. www.agaby.de

Start für EU-weite Proteste vonSchülerInnen und StudierendenBERLIN. Mit einer EU-weiten Aktionswo-che vom 10. bis 14. Dezember protestie-ren Schüler und Studenten aus ganz Eu-ropa gegen die Kommerzialisierung derBildung, gegen Studiengebühren und dieLiberalisierung des Bildungsmarktes inder Folge des WTO-lancierten GATS-Vertrages. In Deutschland fanden inmehr als 20 Städten Veranstaltungen,Demonstrationen oder gar Streiks statt.EU-weit waren auch witzige Aktionendabei: So haben StudentInnen von derUniversität Utrecht (Niederlande) alsProtest gegen die immer weitergehendeKommerzialisierung des Bildungswesensam Montag Werbung auf Reklametafeln,Wänden, Mülleimern etc. aus der UniUtrecht entfernt. In Montpellier (Frank-reich) verpassten StudentInnen mehre-ren Universitätsgebäuden einen „neuen“Namen: dort gibt es jetzt unter anderemein Nike- und ein Bill Gates-Gebäude.Die StudentInnen informierten andereStudis über die Folgen des GATS-Vertra-ges für die Bildung. Der wallonische Teil

der Uni Brüssel streikt seit dem 10.12.Täglich fanden Informationsveranstal-tungen zu EU- und Bildungspolitik statt.An mehreren Schulen und Unis in Bel-gien wurde am 13. und 14. Dezemberebenfalls gestreikt. In Spanien folgtennach zahlreichen spontanen Protestenund zwei Großdemonstrationen in Ma-drid mit jeweils mehr als 100.000 Teil-nehmern an zahlreichen Unis Streiks am12. Dezember.Weitere Proteste gab es in:Schweden, Dänemark, Niederlande,Frankreich, Italien, Griechenland, Öster-reich, Finnland und dem Nicht-EU-Mit-glied Schweiz.

An der gemeinsamen Demo währenddes EU-Gipfels am 14.Dezember in Brüs-sel beteiligten sich 30.000 Menschen. ImAnschluss daran fand ein internationa-les Treffen von SchülerInnen und Studie-renden zur Gründung eines Netzwerksgegen die Kommerzialisierung der Bil-dung statt. Auf der Webseite http://int-protest-action.tripod.com werden in Zu-kunft Informationen zur internationalenund EU-Bildungspolitik, Aktionen vonStudenten und Schülern veröffentlicht.

http://int-protest-action.tripod.com

BOCHUM. In der Nacht vor dem 10.12. haben StudentInnen den Zugang zur Ruhr-UniversitätBochum mit einer Mauer aus über 300 Kartons symbolisch versperrt. Damit protestieren siegegen die drohende Zugangsbeschränkung zu Universitäten durch Studiengebühren. Aucham 11.2. stand die Mauer noch, während 300–400 in der Innenstadt demonstrierten. Wäh-rend der Senatssitzung erhält Rektor Petzina von Studierenden ihr „letztes Hemd“. G.S.

Bilder: www.indymedia.de

Page 12: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

12 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 26/2001

Woran erkennt man, dass man in wahrhaftschlechten Zeiten lebt? Vielleicht daran,dass das Unglück von gestern einem ange-sichts der anstehenden Veränderungen halbso schlimm vorkommt. So bot beispiels-weise die Schulpolitik der rosa-olivgrünenKoalition mit ihrer Salamitaktik der Kürzun-gen, ihrer Testwut, ihrer ständigen Ver-schlechterung der Arbeitsbedingungen derLehrerInnen (aus der weitere Absenkungendes Bildungsangebots für die SchülerInnenfolgten) und den Verwüstungen, die sie inden Gesamtschulen hinterlassen hat, wirk-lich keinen Grund zur Freude. Hält man je-doch die schulpolitischen Abschnitte in denKoalitionsvereinbarungen der Rechtskoali-tion neben diese Bilanz, dann wird schnellerkennbar, dass hier eine politisch qualitati-ve Veränderung im schlechtesten Sinne an-steht.

Hürde Sprachprüfung für Migrantenkinder

Nach dem Willen der CDU/Schill/ FDP-Ko-alition sollen Kinder mit nichtdeutscherMuttersprache bei der Einschulung einer„Sprachüberprüfung“ unterzogen werden.„Bei erheblichen Defiziten erfolgen ver-bindliche Sprachfördermaßnahmen vor derEinschulung, so dass ausreichendeDeutschkenntnisse bei allen Kindern zumZeitpunkt der Einschulung sichergestelltsind.“ Schon vorher sollen „in Stadtteilenmit hohem Ausländeranteil … Kinder, dieeine Kindertagesstätte besuchen, schonvom 3. oder 4. Lebensjahr ein Sprachtrai-ning“ erhalten – in Deutsch, versteht sich.Das muss bei national Denkenden schein-

bar nicht eigens erwähnt werden.Was hier als Bemühen, „ausreichende

Deutschkenntnisse“ bei 6 bis 7-Jährigen„sicherzustellen“, her kommt, ist in Wirk-lichkeit eine diskriminierende Steinzeitpä-dagogik.Alle Erkenntnisse fortschrittlicherPädagogik verlangen, dass Sprachförde-rung früh beginnen soll, das steht nicht inFrage. Nähme man diesen Auftrag aller-dings ernst,dann hieße das,dass gut ausge-stattete Kindergärten, Vorschul- undGrundschulklassen für einen solidenSpracherwerb zu sorgen hätten – gemein-sam für alle Kinder, mit allen Kindern. Diepädagogische Zielsetzung „Spracherwerb“setzt außerdem ein hohes Maß an Sensibi-lität – gerade auch für außerschulische Ein-flussfaktoren – voraus, die den Bürgerblo-ckern fremd ist. Diese scheitern bereits beider Festlegung,von welcher Sprache in die-sem Zusammenhang zu reden sei.Mit einerKonzentration auf die Förderung der deut-schen Sprachkenntnisse wird die Erst- undMuttersprache nicht ausreichend berück-sichtigt. Dies widerspricht allen wissen-schaftlichen Erkenntnissen zum Spracher-werb.Die angestrebte Vereinheitlichung dersprachlichen Praxis in der Schule ignoriertnicht nur die sprachliche Vielfalt inDeutschland, sie benachteiligt direkt Kin-der, die als erstes eine nichtdeutsche Spra-che lernen.

Neben den pädagogischen enthält dasAnsinnen aber auch juristische Probleme.Jedes Kind unterliegt der Schulpflicht.Soll-ten – auch nach „verbindlichen Sprach-fördermaßnahmen“ – keine ausreichenden

Sprachkenntnisse erworben worden sein,müssen die Kinder trotzdem eingeschultwerden. Die geplante „Sprachüberprü-fung“ vor der Einschulung wäre also belie-big und würde zu einer Segregation aus-ländischer Kinder führen.

Ein Konzept für „soziale

Entmischung“

Ähnlich verheerend ist die geplante Aufhe-bung der Schulgebietsgrenzen, die „dieWahlfreiheit der Eltern für die Schule ihrerKinder schon ab der Grundschule“ vorsieht.

Um die Tragweite dieser Forderung zuverstehen, muss man sich vergegenwärti-gen, dass die Grundschule mit ihrem fest-gelegten Einzugsgebiet gegenwärtig dieeinzige Schulform ist, in der mit allen Kin-dern eines Stadtteils über soziale, kulturel-le, ethnische und sprachliche Grenzen hin-weg integrativ gearbeitet, gelernt und ge-spielt werden kann. Schon jetzt ist die Zu-sammensetzung der Grundschulklassen inden verschiedenen Hamburger Stadtteilensehr unterschiedlich,sie würde sich aber beider freien Elternwahl noch mehr entmi-schen. Die „Go-West-Tendenz“ zwischenSt. Pauli und den Elbvororten, die bereitsjetzt ab Klasse 5 durch die Abwanderungvon Mittelklassekindern mit Deutsch alsMuttersprache schon viele Probleme ge-bracht hat und ein wesentlicher Grund fürdie geplante Schließung der Bruno-Tesch-Gesamtschule war, ist ein gutes Beispiel fürdie weitere Segregation von Kindern: Da-mit würde eine der wenigen Voraussetzun-gen für das gemeinsame Lernen von Kin-dern verschiedener Bevölkerungsschichtenund -gruppen (zum Nachteil der Kinder vonMigrantInnen und sozial Benachteiligten)weiter schwinden,und die wissenschaftlichbelegten Vorteile in gemischten Lerngrup-pen wären gefährdet.Außerdem haben vie-le Grundschulen das Schulprogramm aufihre stadtteilspezifische Schülerklientelausgerichtet, eine kontinuierliche Arbeitbraucht verlässliche Größen, nicht wech-selnde Elternwahlen.

Notendruck schon für

Achtjährige

Mit der unsinnigen und zutiefst populisti-schen Erklärung, dass ab Klasse 3 Ziffern-noten eingeführt werden, rundet sich dasBild einer Schulpolitik ab, das seinesglei-chen in schon lange zurückliegenden Zeitensucht.Viele Grundschulen waren in Ham-burg schon fast so etwas wie pädagogischbefreites Gebiet: Die Befreiung vom Lernenim Gleichschritt,die Individualisierung desLernens entsprechend dem Takt des einzel-nen Kindes,ist in vielen Grundschulklassendank des großen Einsatzes von vielen Leh-rerInnen schon Wirklichkeit. Im Keim istdarin auch eine andere,menschliche noten-freie Schule insgesamt angelegt – für dieRechtskoalition offenbar Grund genug,diesper Verordnung abzuschaffen. Dabei hän-gen die fortschrittlichen Lernmethoden unddie Art der Benotung untrennbar zusam-men.

Wird diese Absicht in die Tat umgesetzt,können die Eltern in der Schulkonferenz

Ansagen der Rechtskoalition in Hamburgzur Bildungspolitik:

Auslesen, Trennen, Diskriminieren

1979: Demonstration für eine Gesamtschule in Altona

Page 13: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

PB 26/2001 • REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 13

nicht mehr zwischen Berichts- und Noten-zeugnissen mitbestimmen und in ihre Ent-scheidung eigene pädagogische Überlegun-gen und die der Lehrkräfte einfließen las-sen. Berichtszeugnisse enthalten nämlichdie Aufforderung an den Lehrer, den Leis-tungsstand der Schüler in Bezug auf dieLehrplanerwartungen transparent zu ma-chen und deutlich zu benennen.Sie ermög-lichen es aber zugleich, auch den Kindernzu bescheinigen, ob sie sich – gemessen anihren Startleistungen – individuell in derwünschenswerten Richtung weiterentwi-ckelt haben. Das qualifizierte Berichts-zeugnis ist dafür das geeignetere Mediumund zugleich immer wieder gewollter An-lass zu abklärenden Gesprächen zwischenElternhaus und Schule. Dies können Zif-fernzeugnisse nicht leisten. Im Gegenteil,individualisiertes Lernen wird mit ihnennahezu unmöglich gemacht.

Testen, Prüfen, Ausschließen

ohne Ende

Die weiteren Pläne sehen Abschlussprü-fungen für alle Schulformen und standar-disierte Leistungstests vor.Das bedeutet für

die Hauptschule und die Realschule, dassam Ende der jeweiligen Schullaufbahnnicht nur die Hürde steht,bestimmte Fächermit bestimmten Noten abzuschließen, son-dern – anders als jetzt – zusätzlich eine Prü-fung ablegen zu müssen.Das heißt zunächstvor allem, dass verantwortungsbewussteLehrerInnen statt berufsvorbereitende Pro-jekte durchzuführen, nach dem Willen vonBeust, Schill & Konsorten zur Paukschulezurückkehren müssen, um die Abschlüssevorzubereiten. Damit wird aber auch dasPrinzip der Selektion verschärft und dieAnzahl der Jugendlichen ohne qualifizie-rende Abschlüsse erhöht. Dazu passt dannauch die Einführung des Zentralabitursnach 12 Jahren.

Diese Forderung ist ebenso populistischwie vieles andere auch, was diese Koalitionverzapft: Eine kürzere Schulzeit für das Ab-itur wird heute landauf landab gefordert,und wer auf diesem Gebiet etwas verspricht,dem wird in der Regel begeistert zuge-stimmt. Die Anzahl der Stunden, die Schü-lerInnen bis zum Abitur in den sogenann-ten „Kernfächern“ erteilt bekommen müs-sen, ist aber von der KMK (Kultusminister-

konferenz) festgelegt. Und über die Folgeneiner weiter verdichteten Schulzeit sprichtunter den Kürzungsbegeisterten niemand.Wie sollen SchülerInnen den vorgeschrie-benen Lernstoff und die höhere Zahl vonUnterrichtsstunden pro Woche in noch kür-zerer Zeit leisten?

Hamburg nimmt bisher einen Spitzen-platz ein,was die Zahl der Abiturienten proJahrgang angeht (33%). In einigen anderenBundesländern – in der Regel mit erzkon-servativer Bildungspolitik – gibt es bereitsdas 12-jährige Abitur; dazu passt dann auchder geringere Anteil an Jugendlichen,die ih-re Schulzeit mit dem Abitur abschließen.Wer vom Elternhaus wenig Unterstützungbekommt oder einfach das notwendigeInteresse und Lernverhalten später entwi-ckelt,der muss halt von der Schule mit demRealschulabschluss abgehen.Und wer es bisin die 12.Klasse schafft,muss sich dann auchdem Zentralabitur stellen,das ausdrücklicheiner Verschärfung gegenüber den jetzt inder jeweiligen Schule gestellten Aufgabendarstellen soll.

In Nachbarländern, wie z.B. Frankreich,gibt es ebenfalls ein Abitur nach 12 Jahren,

Bildungspolitische Sprecher der PDS zu PISAund zur KMK

Die bildungspolitischen SprecherInnen derPDS auf Bundesebene, in den Landtagenund dem Bundestag erklären nach einer er-sten Beratung zur PISA-Studie:

Die PISA-Studie „Schülerleistungen iminternationalen Vergleich“ bedarf einergründlichen Auswertung. Schnellschüs-se und Aktionismus sind fehl am Platze.Die Ergebnisse zeigen gravierende Defi-zite in den Bildungssystemen inDeutschland. Sie lenken den Blick aberauch auf weit über die Schule hinausrei-chende gesellschaftliche Probleme. ImGrunde sind die Kernaussagen nicht neuund bestätigen die PDS in vielen von ihrseit Jahren erhobenen bildungspoliti-schen Forderungen.Obwohl die PISA-Studie kostenaufwen-dig über 10 Jahre im Auftrag der OECD,die bekanntlich seit Jahren empirisch zuermitteln sucht, wie sich das in Bildunginvestierte Kapital verzinst, nur Mo-mentaufnahmen erhebt, also über Bil-dungsprozesse zwischen Input und Out-put nichts aussagt,sollten wenigstens dieUrheber dieser Studie diese ernst neh-men, auch wenn die Ergebnise ihnennicht in den „Kram“ passen.Wer überallRanking- Listen einführen will, muß essich gefallen lassen, die schlechten Er-gebnisse vorgehalten zu bekommen.

Die ersten Ergebnisse der PISA- Studiemachen unserer Meinung nach folgendesdeutlich:1. Integrative Schulsysteme und Ganz-tagsschulen sind kein veralteteter Spleen

der Linken, sie bewähren sich interna-tional mit überzeugenden Ergebnissen,und zwar nicht nur beim Sozialausgleich– was allein schon wichtige genug wäre– sondern auch in den Leistungen.2. Im Zuge der Umgestaltung des Schul-wesens muss es mehr als bisher möglichsein, mindestens bis zum Ende der Se-kundarsteufe I Ganztagsangebote einzu-richten. Das entlastet nicht nur die Fa-milien, sondern führt auch zu einer ent-spannteren Lernatmosphäre. Das bestä-tigen auch internationalen Erfahrungen.3. Die Durchlässigkeit der Bildungsgän-ge muß gewährleistet werden.4. Die schwachen Leistungen an deut-schen Schulen und das ganz erheblicheLeistungsgefälle, machen deutlich, dasseine Verkürzung der Schulzeit bis zumAbitur ohne grundlegende inhaltlicheReformen des Schulwesens insgesamt ei-ne sehr riskante Angelegenheit ist. Hierdrohen Bildungseinschränkung in er-heblichem Maße und vertiefte sozialeDifferenzierung.5. Die PISA-Ergebnisse unterstreichennochmals, dass mehr zu tun ist, umgrundlegende Lernkompetenzen stabi-ler auszuprägen. Formen frei gestaltetenselbstbestimmten Lernens, das Neugierauf Endeckung,auf Unbekanntes,weckt,müssen weiterentwickelt werden.6. Die Lehrerausbildung bedarf einergrundlegenden Umgestaltung. Sie musssich nicht nur stärker als bisher an derSchulpraxis orientieren und wissen-schaftliches Detailwissen vermitteln,sondern auch alltagstaugliche Erfahrun-gen.

Die PDS wird die PISA-Ergebnisse zumAnlaß nehmen, ihre bildungspolitischeOffensive gegen die wachsende Un-

gleichheit im Bildungswesen zu verstär-ken.Als erstes wird sie bildungspolitischeDebatten in den Landtagen und imBundestag beantragen und darauf drän-gen, dass– die Bildungsausgaben bundesweitdrastisch erhöht werden und eine höhe-re Beteiligung des Bundes an ihnen ge-währleistet wird– flächendeckende, bedarfsgerechte Ki-ta-Ganztagsangebote für alle Kinder zurVerfügung gestellt werden,– die Selektionsmechanismen, das Sit-zenbleiben und das Aussortieren derSchwächeren und Langesameren abge-baut werden– Kinder und Jugendliche mit Migra-tionshintergrund und von Immigrantenbesonders gefördert werden.– zügig mehr Ganztagsschulen einge-richtet werden und zum längeren ge-meinsamen Untericht aller Kinder über-gegangen wird.

Nach Ansicht der PDS haben die Kul-tusminister bisher völlig unzureichendeSchlußfolgerungen aus der PISA-Studiegezogen.

Die Studie belegt, dass endlich ernst ge-macht werden muß, Gesellschaft undBildungswesen auf die neuen, sich raschentwickelnden Anforderungen wirklicheinzustellen und nicht nur darüber zu rä-sonieren. Eine grundlegende Reformie-rung der Bildungssysteme in der Bun-desrepublik ist dringend erforderlich.

PDS Arbeitsgemeinschaft Bildungspolitik beimParteivorstand, Kl. Alexanderstr. 28, 10178 Ber-lin,Tel.: o30/24009562, e-mail:[email protected]

Page 14: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

14 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 26/2001

dort allerdings mit noch mehr Unterrichtin der gesamten Schulzeit als bei uns jetzt!Fazit: Schulzeitverkürzung funktioniertnur im Ganztagssystem mit zeitgemäßenpädagogischen Ansätzen.Konkret bedeu-tet das mehr Schulstunden in wenigerSchuljahren, mehr Sozialarbeit an denSchulen, mehr außerunterrichtliche Be-treuungs- und Unterstützungsangebote,also viel mehr Sachmittel und noch vielmehr Personal an den Schulen. Willmensch unbedingt eine kürzere Schulzeitmit möglichst großer Durchlässigkeit,dann muss auch das politisch gewollt sein.Von einem solchen politischen Willenkann aber bei der Dreierbande nicht dieRede sein. Im Gegenteil: Mit ihrem Maß-nahmebündel werden alle erdenklichenHindernisse auf dem Weg zu höherwerti-gen Bildungsabschlüssen und zur Er-schließung von Begabungspotenzialen al-ler Kinder aufgebaut.

Gesamtschulen – eine aussterbende

Schulart?

Auf diese Weise wird aber auch die Drei-gliedrigkeit des Schulwesens zementiertmit dem Ziel, die Durchlässigkeit im Bil-dungswesen abzubauen.Es wird Gesamt-schulen erheblich erschwert, die unter-schiedlich erfolgreichen Jugendlichen inden höheren Klassen zu integrieren undihnen den möglichen Abschluss so langewie möglich offen zu halten. Das passt indas Bild von Politikern, denen die Inte-gration von Kindern und Jugendlichen einDorn im Auge ist.So wurde bereits vom neu-en Schulsenator Lange angekündigt,dass esbei der Zuweisung von Mitteln „erheblicheEinschnitte für die Gesamtschulen“ gebenwird.Mit dem Hinweis auf die zu teuren Ge-samtschulen findet die aufmerksame Lese-rIn in den Koalitionsvereinbarungen einenHinweis auf die politischen Kräfte hinterden Bürgerblockern: die Handelskammer.Diese wurde seit längerer Zeit nicht müde,immer wieder zu betonen, dass die Jahres-kosten pro SchülerIn in den Gesamtschulenhöher als in jeder anderen Schulart sind.Hier gälte es eine „Gerechtigkeitslücke“ zuschließen.

Mal ganz abgesehen davon, dass Bil-dungsziele etwas mit der Verwirklichung al-ler Möglichkeiten des Individuums zu tunhaben (was man nicht als Kosten-Nutzen-Kalkulation nachrechnen kann), dass esauch nicht schlimm wäre, wenn eine Ge-sellschaft sich die Integration von Kindernund Jugendlichen etwas kosten lassen wür-de, und auch mal davon abgesehen, dassnoch niemand die volkswirtschaftlicheRechnung aufgemacht hat, was jede miss-lungene „Schulkarriere“ die Gesellschaft inder Folge kostet – diese Berechnung derRechtskoalition ist einfach verlogen undbrunzdumm.Allein durch Sitzenlassen (so-genannte „Klassenwiederholer“) verur-sacht das dreigliedrige Schulsystem jährli-che Kosten von ca. 16 Mio. DM! Aber auchdie Integration von Behinderten in den Ge-samtschulen wird schlicht in die Gesamt-summe mit eingelogen. So rechnen Politi-kerInnen, denen jedes Mittel recht ist, die

Gesamtschule abzuwickeln. Die geplanteStreichung von Mitteln, die Abschlussprü-fungen, die Verkürzung der Schulzeit sindgeeignet, die Gesamtschule als offenes, in-tegratives und durchlässiges System,in demimmer noch Kinder von sogenannten „bil-dungsfernen“ Eltern die Chance zu einemRealschulabschluss oder Abitur haben,endgültig abzuschaffen.

Zum Arbeitsplatz Schule

Die Lehrerinnen und Lehrer an den Ham-burger Schulen sind nicht nur aus pädago-gischen Erwägungen über die Pläne desRechtsblocks sauer.Waren sie schon von derSPD/GAL-Koalition mit der ständigenEntwertung ihrer Arbeit (Erhöhung derUnterrichtsverpflichtung,steigende Aufga-benflut) konfrontiert, sehen sie die Verlo-genheit der ehemaligen Opposition.

Bis zur Wahl hatten CDU/FDP sich nochvollmundig hinter die Forderungen derGEW (Gewerkschaft Erziehung und Wis-senschaft) nach Erhalt der Altersermäßi-gung und einem verbesserten Altersteilzeit-modell gestellt. Da war von 450 bis 750 zu-sätzlichen Lehrerstellen die Rede.Allein fürdie Behebung des Unterrichtsausfalls hatdie CDU genau bis zum 21.September 200Stellen pro Jahr für nötig gehalten.Verein-bart wurden zunächst 400 zusätzliche Leh-rerstellen in dieser Legislaturperiode, jetztwerden ganze 180 Stellen bereit gestellt.Damit wollen Beust, Schill & Konsortennicht nur „Unterrichtsgarantie gewähren“,sie wollen auch neue Ganztagsschulen ein-richten, „Senkung der Klassenfrequenzen

in sozial benachteiligten Stadtgebieten“,Förderung des Deutschunterrichtes, Re-duzierung des bedarfsdeckenden Unter-richts von ReferendarInnen erreichen.Al-lein die geplante Schulzeitverkürzung er-fordert aber bereits 150 Stellen. Dazukommt ein Lehrermehrbedarf von 300Stellen, wegen des Anstiegs der Schüler-zahlen bis 2005.

Dass die angepeilten 180 Stellen hin-ten und vorne nicht reichen, liegt auf derHand.Mit der düsteren Einschätzung derFinanzlage werden wir aber offenbar jetztschon darauf vorbereitet, dass es bei den180 Stellen bleibt.Deshalb verwundert esnicht, dass von Altersermäßigung undbesserer Altersteilzeitregelung keine Re-de mehr ist. Ganz zu schweigen von derForderung der GEW nach Pflichtstun-densenkung. Im Gegenteil: Auch mit die-ser Regierung werden sie sich auf weitereArbeitszeitverschlechterungen einstellenmüssen. Arbeitszeitkonten und zusätzli-che Arbeitsleistungen in den Ferien wiez.B. Betriebspraktika sind bereits ange-kündigt. Außerdem ist beabsichtigt, derHamburger Lehrerschaft das (Mehr-)Ar-beitszeitmodell zu verordnen.

In einer Erklärung der GEW heißt es inder Einschätzung der schulpolitischenTeile der Koalitionsvereinbarungen:„Durch den Koalitionsvertrag ziehen sichals Grundsätze der neuen Bildungspolitiksoziale Entmischung, verschärfte Ausleseund Elitebildung. Der Schwerpunkt liegtauf der Förderung Leistungsstarker und

Leistungswilliger. Für sozial benachteiligteKinder und Kinder aus bildungsfernen El-ternhäuser sind nur völlig unzureichendeMaßnahmen vorgesehen. Ebenso fehlenKonzepte für die Arbeit mit lernunwilligenSchülerinnen und der hohen Zahl vonSchulversagern.“

Schulpolitik – Teil eines Konzepts

Das Konzept der CDU/Schill/FDP-Koali-tion ist jedoch – entsprechend den Vorstel-lungen der Handelskammer und den mit ihrverbundenen Teilen des Kapitals – nicht nurauf einen Abbau von Bildungschancen fürsozial Benachteiligte, sondern langfristigvon Schule als Teil der öffentlichen Versor-gung insgesamt gerichtet. Indem sie einemimmer höheren Druck in Bezug auf eine im-mer größere Effizienz ihrer verwertbarenProduktion ausgesetzt wird und ihre sozia-le Bildungsfunktion der Stärkung des Indi-viduums reduziert wird, wächst der „Be-darf“ nach privaten Mitteln: vom Nachhil-feunterricht bis zur Lehrerfortbildung, vonder Computer-Ausstattung bis zur Elite-schule.Wenn wir das nicht wollen,brauchenwir allerdings mehr, als unsere Wut überrückschrittliche Pädagogik.Was Not tut, istdie Einordnung der Pläne zur Verödung derSchulen in die allgemeine Gesellschaftspo-litik und die Zusammenfassung aller Be-troffenen: der Beschäftigten, ihrer Gewerk-schaften, der Menschen mit Bildungsbe-darf,der Gesundheitsbeklauten,kurz: aller,die auf öffentliche Versorgung angewiesensind.Uli Ludwig, AG-Bildungspolitik der PDS

Welche Schulausbildung unbegleitete jugendli-

che Flüchtlinge zukünftig erhalten – und ob, ist

offen.

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PB 26/2001 • REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 15

B-Ebene bleibt offen: FRANKFURT A.M.Der Verein LOBBY begrüßt die Ent-scheidung des Sozialdezernenten derStadt, die B-Ebenen der Verkehrsbetrie-be verbindlich geöffnet zu halten.Damitkommt die Stadt einer langjährigen For-derung der LOBBY nach. Dies ist umsonotwendiger, als nach Recherchen derLOBBY zur Zeit alle Einrichtungen derWohnungslosenhilfe überfüllt sind. Dasgrundsätzliche Problem der Wohnungs-losigkeit in den Ballungszentren kanndadurch natürlich nicht gelöst werden.Hier fordert LOBBY, dass die kommu-nalen Instrumentarien zur Verhinderungder Wohnungslosigkeit noch gezieltereingesetzt werden. Letztendlich müssedas Recht auf bezahlbaren Wohnraumüber den Bundestag verbindlich festge-legt werden. www.lobby-ev.de

Trinkwasserversorgung: MÜNCHEN.Gegen eine mögliche Liberalisierungder kommunalen Trinkwasserversor-gung hat sich in Bayern eine breite, par-teiübergreifende Abwehrfront formiertund eine Allianz zur Sicherung kommu-naler Trinkwasserversorgung (aqua-Komm) gegründet. Dass neben Kommu-nen und Politikern, Wasserver- und Ab-wasserentsorgern,Verbänden und Orga-nisationen auch die Bürger gegen denAusverkauf kommunaler Daseinsvor-sorge votieren, beweisen über 5000Unterschriften, mit denen sich Münch-nerinnen und Münchner beim Aktions-tag am 18.9.2001 auf dem Marienplatzgegen eine Liberalisierung oder Privati-sierung der kommunalen Wasserwirt-schaft ausgesprochen haben.

Münchner Lokalberichte 25/26

Kompromiss zur Unternehmensbe-steuerung: BERLIN. Das Ergebnis desVermittlungsausschusses zur Unterneh-mensbesteuerung bleibt deutlich hinterden Erwartungen der Städte zurück.Dieakute Finanznot der Städte infolge derdramatischen Einbrüche bei der Gewer-besteuer werde nur geringfügig gelin-dert, erklärte heute der Hauptgeschäfts-führer des Deutschen Städtetages, Dr.Stephan Articus. Als einzigen Teilerfolgbewertet der Städtetag, dass Firmen aufDividenden aus Beteiligungen von we-niger als zehn Prozent weiterhin Ge-werbesteuer zahlen müssen, die ab 2002vorgesehene Gewerbesteuerbefreiungfür diese Fälle also nicht in Kraft tritt.Besonders enttäuschend ist aus Sichtder Städte, dass die Forderungen nacheiner Absenkung des Anteils von Bundund Ländern an der Gewerbesteuer (Ge-werbesteuerumlage) unerfüllt gebliebensind. Articus: „Das Aufkommen der Ge-werbesteuer fällt in den Jahren 2001 und2002 um fast 20 Milliarden Mark nie-driger aus als der Bund im Gesetzge-bungsverfahren zur Steuerreform imvergangenen Jahr vorhergesagt hat. Esgibt deshalb keinerlei Rechtfertigung

mehr für die von Bundund Ländern gegen denWiderstand der Städte durchgesetzteErhöhung der Gewerbesteuerumlage.“ www.staedtetag.de

Pisa-Studie: BERLIN. Als „hoffentlichheilsamen Schock“ bezeichnete das Ge-schäftsführende Präsidialmitglied desDeutschen Städte- und Gemeindebun-des, Dr. Gerd Landsberg, das beschä-mende Abschneiden des deutschenSchulwesens im Rahmen der Vorstellungeiner OECD-Studie zum internationa-len Leistungsvergleich von Schülerleis-tungen am 4.12.2001 in Berlin. Die Tat-sache, dass die Leistungen deutscherSchülerinnen und Schüler in allenuntersuchten Kompetenzbereichen er-heblich unter dem internationalenDurchschnitt liegen, sei ein deutlichesSignal an Bund und Länder, nun endlicheine radikale Reform des Schulwesenseinzuleiten. Hierzu sei es vor allem not-wendig, mehr Geld für das Schulwesenin Deutschland verfügbar zu machen.„Wenn dies durch Umschichtung vor-handener Haushaltsmittel nicht mög-lich ist, muss über eine zeitlich begrenz-te Bildungsabgabe nachgedacht wer-den.“ Auch zeige sich deutlich, dass vorallem in Ländern, in denen Nachmit-tagsunterricht erteilt wird, das Leis-tungsniveau überdurchschnittlich sei.Lange überfällig sei auch die von denKommunen seit längerem geforderte of-fene Diskussion um eine sachgerechteReform der nicht mehr zeitgemäßenSchulfinanzierung, der sich die Länderbislang aber stets verweigert hätten.

www.dstgb.de

KODEX: BERLIN. Seit dem 12.12. istKODEX, die „Kommunale Datenbankgegen Gewalt, Extremismus, und Frem-denfeindlichkeit“ des Deutschen Städ-te- und Gemeindebundes online . „Da-mit schaffen wir ein neues Netzwerk derkommunalen Kreativität im Einsatz ge-gen Gewalt, Extremismus, und Frem-denfeindlichkeit“, sagte Dr. GerdLandsberg, Geschäftsführendes Präsi-dialmitglied des Deutschen Städte- undGemeindebundes dazu in Berlin.

KODEX enthält Informationen übermehr als 400 Konzepte,Projekte und Ak-tionen, die auf kommunaler Ebene imEinsatz gegen Gewalt,Extremismus undFremdenfeindlichkeit unternommenwerden. Die in ihrer Form einzigartigeSammlung dient dem schnellen und un-komplizierten Erfahrungs- und Infor-mationsaustausch aller, die in den Städ-ten und Gemeinden aktiv sind oder nachAnregungen suchen. Ziel ist es, die Ar-beit der Kommunen zu stärken und allediejenigen mit Ideen und Ansprechpart-nern zu unterstützen, die selbst aktivwerden wollen.www.kommunen-gegen-gewalt.de/DSTGB.asp Zusammenstellung: ulj

Kommunale

Politik Betriebsversammlung beider SICK AG am 6.12.01:Große Zustimmung zumReferenten:

„Mehr Druckdurch mehrFreiheit!“Der Betriebsrat der SICK AG hatte WilfriedGlissmann, Betriebsratsvorsitzenden derIGM Düsseldorf, als Gastredner eingeladen.Seine Analyse der neuen Management-Me-thoden und Konzernstrategien und seinesehr anschauliche Schilderung der Be-triebsratserfahrungen bei IBM kam bei denüber 500 Teilnehmern der Betriebsver-sammlung sehr gut an!

Die Kernideen seiner ca. halbstündi-gen Rede waren:

Zur Zielsetzung der Initiative „Survival in

a High Performance Culture“

Es geht uns mit dieser Initiative um et-was ganz Praktisches:• Wie kann ich als Mitarbeiter die neueSelbständigkeit offensiv ergreifen? (Die-ses „Selber-entscheiden-Können“ –Wann fange ich an mit der Arbeit? Wannhöre ich auf? Wer macht was im Team?)• Und wie kann ich dabei vermeiden, im-mer wieder der Dumme zu sein? (Dassständig alles an mir hängt, dass immermehr Tätigkeiten hinzukommen und esdadurch ständig aussieht, als würde ichmeinen Job nicht machen) (…)

Wir wollen dieses Thema von der kon-struktiven Seite her angehen:• selber entscheiden können und durchdie eigene Arbeit etwas in Gang zu set-zen• durch Widerstände und Schwierigkei-ten hindurch Erfolge zu erreichen

• die eigenen Fähigkeiten in Aktion zuerleben – gemeinsam mit den Kolleg/inn/en• persönlich und fachlich in dieser Arbeitweiterzukommen und in der Arbeit dieeigene Individualität zu entfalten

All das ist möglich unter den neuen Be-dingungen!

All das soll durch die Aktion befördertwerden!

Wenn diese Möglichkeit zur Wirklich-keit werden soll, dann gilt es aber mit ei-nigen Schwierigkeiten und Dilemmataumgehen zu lernen:• Habe ich für mich ein ausgewogenesVerhältnis von Arbeit und Leben? Welche Schwierigkeiten stellen sich hin-sichtlich meiner „work-life-balance“?• Arbeiten wir Kollegen gemeinsam undsolidarisch an der Sache, oder entstehenimmer wieder Situationen, wo einer den

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16 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 26/2001

anderen fertig macht und unter Drucksetzt?

Es geht darum, die neue Selbständig-keit selbstbewußt und mit Würde zu le-ben. Es geht darum neben dem Interessedes Unternehmens auch das eigenenInteresse im Blick zu behalten und in ei-ne gute Balance zu bringen.Wenn wir daserreichen wollen, dann gilt es die prakti-schen Schwierigkeiten zu identifizieren,an denen dieser Wunsch scheitern kann.

Wir Düsseldorfer Betriebsräte sind inden letzten Wochen zu folgender Er-kenntnis gekommen:

Wenn ein Unternehmen die PrinzipienErgebnis-Orientierung und Prozess-Orientierung praktiziert, dann gibt esdort das folgende Phänomen: Viele Pro-bleme des Unternehmens sehen aus, alshätten einzelne Mitarbeiter versagt!

Der Arbeitgeber ist wie verschwun-den; die Beschäftigten selber sind mit al-len sachlichen Notwendigkeiten und Ab-hängigkeiten verstrickt. Wenn etwasnicht funktioniert, dann sieht es aus wiedas persönliche Versagen einzelner Mit-arbeiter; in Wahrheit zeigen sich auf die-se neue Weise die unternehmerischenProbleme.

Wir haben in den letzten Wochen zweiverschiedene Zugänge,zu diesem Typ vonProblem erarbeitet:• Vom einzelnen konkrete Problem her(„Dialoge, die Druck machen“)• Von den neuen Prinzipien her („Was be-wirkt die Ergebnis-Orientierung? Wasbewirkt die Prozess-Orientierung?)

Wir wollen eine Arbeitsweise vor-schlagen, die zu einer tatsächlichen Ver-besserung der Situation führen soll. Wirschlagen vor, die identifizierten Proble-men wie folgt zu bearbeiten:1. Was ist der Kern des Problems?2. Was ist zu tun?a) Wie kann ich mich anders verhalten? b) Was muss geändert werden?

Wir Düsseldorfer Betriebsräte habendieses Herangehen für unsere eigene Ar-beit im Betrieb entwickelt.Wenn aber an-dere Betriebsräte unsere Materialien undIdeen verwenden wollen und ähnlichoder auch anders in Betrieb vorgehenwollen, dann können sie das gerne tun!

Die Große Tarifkommission der IG MetallBaden-Württemberg hat ein Forderungs-volumen von 5 bis 7% beschlossen (siehefolgende Erklärung); auch der Gewerk-schaftsrat von Verdi hat beschlossen „füreine deutliche Reallohnsteigerung“.Folgt jetzt das übliche Ritual, die Ar-beitgeber bieten 1%, dann kommt ein Ab-schluss (nach hartem Ringen und so) von2,8 bis 3,2 %, was die Wirtschaft verkraf-ten (natürlich nur schwer) kann und dieIG Metall Basis zufrieden stellt? Einigesdeutet darauf hin, dass es nicht soschlicht ablaufen wird, in vielen Betrie-ben gibt es starke Bestrebungen, dassdiesmal eine echte Lohnerhöhung rum-kommen muss. Allerdings steht die ge-werkschaftliche Lohnpolitik vor schwe-ren Begründungsproblemen, (vergl. auchdie Überlegungen des bayerischen Verdi-Vorsitzenden Michael Wendl, in der letz-ten Ausgabe der PB).

Erklärung der Großen Tarif-

kommission für die Metall-

und Elektroindustrie in Ba-

den-Württemberg vom 29.

November 2001

Die Tarifrunde 2002 ist vonder Erwartungshaltungunserer Mitglieder nachdeutlichen Steigerungender Löhne und Gehälter ge-tragen. Sie findet in einemökonomisch schwierigenUmfeld statt. Das Abfla-chen der Weltökonomiewirkt sich auf die bundes-deutsche Wirtschaft mit ih-rer hohen Exportabhän-gigkeit deutlich aus. Die

Ereignisse und Folgen des 11. September2001 haben diese negativen Entwicklun-gen teilweise verstärkt. Deutschland isteines der Schlusslichter der europäischenÖkonomie, wenn auch im Jahr 2001 und2002 keine Rezession, sondern ein weite-res Wachstum angenommen werdenkann. Dass dieses Wachstum relativschwach ausfällt, ist den fehlenden Im-pulsen durch die Fiskal- und Geldpolitikinsbesondere aber der Schwäche des pri-vaten Konsums geschuldet.

Tatsache ist: Die Einkommen derHaushalte haben 2001 zwar von derSteuerreform profitiert. Die Erhöhungder Tariflöhne blieb aber unter dem ver-teilungsneutralen Spielraum und trägtim Jahresmittel im besten Fall zu einemInflationsausgleich bei. Damit fiel dieBinnennachfrage als dringend benötig-ter Wachstumsmotor aus. Es besteht da-her die volkswirtschaftliche Notwendig-

(…)“. Noch niehaben so vieleKolleginnenund Kollegenwährend derPause und auchim Anschluss andiese Betriebs-versammlungden Betriebsratausdrücklichwissen lassen,dass sie die Ana-lyse und auchdie Anregungenzur Verände-rung des Kolle-gen Glissmannsehr gut gefun-den haben und

sich einen weiteren Dialog darüber in derFirma wünschen!

Die am Büchertisch des Betriebsratesausgelegten IBM-Broschüren: „MeineZeit ist mein Leben!“ und „Mit Haut undHaaren“ waren gleich wieder vergriffen,

die kurze Buchvorstellung wurde eben-falls mit Interesse aufgenommen.

Weitere Themen der Versammlung wa-ren u.a.: der Bericht des Vorstands, in demer trotz Umsatzeinbrüchen im letztenQuartal 2001 nicht umhin kam, auch die-ses Jahr wieder einen zweistelligen Um-satzzuwachs zu verkünden. Natürlichnicht, ohne vor der schwierigen und un-kalkulierbaren Entwicklung fürs näch-ste Jahr zu warnen, wo sicher auch SICKetwas geringere Steigerungsraten zu er-warten hat (geplant sind 8%). Der Be-triebsrat und die IG Metall machtenallerdings deutlich, dass angesichts derTraumgewinne in diesem und den ver-gangenen Jahren kein Grund zur Be-scheidenheit besteht: Hermann Spießkündigte an,dass die Lohnforderung sichzwischen 5 und 7% bewegen wird undauch für die Durchsetzung des Entgelt-rahmentarifvertrages gekämpft werdensoll (Angleichung von Lohn- und Ge-haltsstruktur, und von Unterschiedenzwischen kaufmännischen und techni-schen Angestellten). (sic)

IG Metall Baden-Württemberg Beschluss zur Lohnforderung:

Vor harten Tarifkämpfen?

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PB 26/2001 • REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 17

Konsequenz aus Pisa-Studie. –HB, Donnerstag, 6.12.01. – DerBDI zieht folgende Konsequenz ausder Pisa-Studie,nach der das deutscheSchulsystem im internationalen Ver-gleich weit hinten liegt: „Deutschlandbraucht in der Bildung vor allem einenMentalitätswandel: mehr Leistungs-orientierung, mehr Wettbewerb undEhrgeiz“, so L. v. Wartenberg, Haupt-geschäftsführer des BDI .

Aussetzung der Ökosteuer gefordert. –HB, Dienstag, 11.12.01. – Der Präsi-dent des Bundesverbandes des Deut-schen Groß- und Außenhandels(BGA), A. F. Börner, hat die Bundesre-gierung aufgefordert, noch in der letz-ten Plenarwoche des Jahres die ge-setzliche Aussetzung der Ökosteuerauf den Weg zu bringen.: „Eine Aus-setzung kann die Bundesregierung oh-ne die Zustimmung der Bundesländereinleiten“, so Börner.

Staatshaftung bei Terror. – HB, Mitt-woch, 12.12.01. – Nachdem sich dasfranzösische Wirtschaftsministeriumund der Branchenverband derVersicherungswirtschaft (FFSA) geei-nigt haben, dass der Staat künftig un-befristet die Terror-Risiken rückversi-chert, spekulieren die deutschen Versi-cherungen auf gleiche Vereinbarungenin Deutschland.

BDI protestiert gegen Klimaschutz-zwänge. – HB, Donnerstag, 13.12.01. –Bundesumweltminister J.Trittin teiltemit, dass EU-WettbewerbskommissarM. Monti verlange, die freiwillige Kli-maschutzvereinbarung mit der Indus-trie in Deutschland durch ein sank-tionsbewehrtes Abkommen zu erset-zen. Darauf regagierte der BDI mitscharfem Protest. B. Dittmann, Brüs-seler BDI-Büroleiter,sagte,eine solcheUmwandlung kündige die Klima-schutzvereinbarung „faktisch auf“.

Gesamtmetall stellt Gegen-Tariffor-derungen. – Richtschnur des Tarifab-schlusses dürfe allein das Wachstumder gesamtwirtschaftlichen Produkti-vität sein, so M. Kannegiesser, Ge-samtmetall-Präsident. Er wies die 5bis 7%-Forderung der IG Metall, in derzusätzlich die Inflationsrate und eineUmverteilungskomponente enthaltenist, als unakzeptabel zurück. Er lehntjedoch eine Null-Runde, wie sie L.Braun, DIHK-Präsident und D. Phil-ipp, Handwerkspräsident, geforderthatten, ab. Gesamtmetall beharrt aufder Forderung nach einem Tarifvertragmit zweijähriger Laufzeit.Nach einer gewissen Zeit sollten dieTarifparteien prüfen, ob die dem Ver-trag zu Grunde liegenden ökonomi-schen Annahmen noch richtig seienoder ob eine Revision nötig sei.

Presseauswertung: rst

Wirtschafts-presse

Tarifverhandlungen für das private Omni-busgewerbe beginnen am 3. Dezember2001: ver.di fordert 6,5 % mehr Lohn für Bus-fahrerInnen. Konflikt in München schon vor-programmiert.

Eine deutliche Lohnerhöhung fordertver.di-Bayern für das Fahrpersonal derbayerischen privaten Omnibusunterneh-men in der diesjährigen am Tarifrunde,die am 3.12. beginnt.

„Wir haben“, so Siegi Kreuzer, Ver-handlungsführerin und ver.di-Landes-fachbereichsleiterin Verkehr, „mit demmoderaten und zurückhaltenden Lohn-abschluß 2000 den Betrieben die Mög-lichkeit gegeben,sich für den Wettbewerbfit zu machen. Nach 22 Monaten Lohn-pause ist eine spürbare Erhöhung unver-zichtbar. … In München ist der Konfliktschon vorprogrammiert.“ Ursache ist dieneue Vertragsgestaltung zwischen derMünchner Verkehrsgesellschaft (MVG),ehemals Stadtwerke und Verkehrsbetrie-be München, und den privaten Omnibus-unternehmen.

Die MVG verlangt von den in ihremAuftrag fahrenden PrivatunternehmenKostensenkungen, insbesondere ist sienicht mehr bereit, den tarifvertraglich

vereinbarten Sonderlohn für die Busfah-rer im sogenannten „Omnibuszubringer-liniendienst (OZL)“, zu zahlen. Die vonder MVG verlangten Kostensenkungenwürden im Ergebnis Lohneinbußen biszu 700 DM im Monat für die FahrerInnenbei den Privaten bedeuten.

„Hier“, so Kreuzer, „sitzt neben demLandesverband Bayerischer Omnibus-unternehmen e.V.(LBO) indirekt auch dieMVG mit am Verhandlungstisch.Wenn siean ihrer Strategie des Lohndumpingsfesthält, braucht sie sich über den schonvorprogrammierten Konflikt und Wider-stand der Fahrer nicht wundern.“

Von dem Tarifvertrag für das privateOmnibusgewerbe in Bayern sind rund25000 Fahrerinnen und Fahrer in ca.1 500Betrieben betroffen. Die MünchnerSonderregelung betrifft ca. 500 Busfah-rerinnen und -fahrer.Der Tarifvertrag fürdas Bayerische Omnibusgewerbe gilt so-wohl für den Stadt- und Regionallinien-verkehr,für den Reiseverkehr als auch fürSchulbusfahrten. Mantel- und Lohnta-rifvertrag wurden bisher allgemeinver-bindlich erklärt und gelten damit für al-le Unternehmen in diesem Bereich.Rückfragen an: Siegi Kreuzer, Leiterin Verkehr,Tel.: 089 / 5 14 14-14 oder 0170 / 57 49 0 35

keit, die Tarifrunde 2002 für deutlicheLohn- und Gehaltserhöhungen zu nut-zen. Appelle zur Lohnmäßigung sindvollkommen unangebracht.

Tatsache ist: 2001 wurden die Lohn-stückkosten massiv gesenkt. Die Vertei-lungsposition zwischen Kapital und Ar-beit wurde zu Lasten der abhängig Be-schäftigten verändert. Die Ertragslagegibt keinen Anlass, für die Tarifrunde2002 Lohnzurückhaltung zu fordern.

Ohne Wachstumsimpulse wird es kei-ne weitere Stabilisierung und Verbesse-rung der Beschäftigungssituation geben.Dazu kann eine aktive Entgeltpolitik ei-nen Beitrag leisten. Sie muss aber drin-gend durch Initiativen der Wirtschafts-,Arbeitsmarkt- und Geldpolitik ergänztwerden.

Es ist richtig, dass die IG Metall in ih-rer Tarifforderung 2002 neben dem ver-teilungsneutralen Spielraum auch eineUmverteilungskomponente berücksich-tigt. Zudem ist in einer Entgeltforderungnicht nur die kurzfristige ökonomischeLage im Frühjahr 2002, sondern diemittelfristige Entwicklung von Produk-tivität und Inflation zu berücksichtigen.Daher empfiehlt die Große Tarifkommis-sion unter Zugrundelegung der vorlie-genden gesamtwirtschaftlichen Rah-mendaten ein Gesamtvolumen in derBandbreite von 5 bis 7 %. Eine endgülti-ge Festlegung des Gesamtvolumens wirdunter Berücksichtigung der Diskussio-nen in den Betrieben und den aktuellenwirtschaftlichen Rahmendaten Ende Ja-

nuar erfolgen.Die Große Tarifkommission sieht es als

unaufschiebbar an, in der Tarifrunde2002 einen ersten Schritt zur materiellenAngleichung der unterschiedlichen tarif-lichen Lohn- und Gehaltsstrukturen vor-zunehmen. Dies führt zu mehr Entgelt-gerechtigkeit, insbesondere bei Fachar-beit im Zeitlohn. Die Große Tarifkom-mission empfiehlt neben einer deutlichenlinearen Erhöhung aller Löhne und Ge-hälter eine entsprechende Strukturkom-ponente im Rahmen des Gesamtvolu-mens zu berücksichtigen.

Dabei ist sicherzustellen, dass das Ge-samtvolumen der Entgelterhöhung denBeschäftigten zufließt.

Die IG Metall in Baden-Württembergwird das Thema eines Tarifabschlusses,das die Beschäftigten an den Erträgender Unternehmen beteiligt,weiter disku-tieren. Die Meinungsbildung dazu istnoch nicht abgeschlossen.

Das verantwortliche Handeln der Ta-rifvertragsparteien braucht und verträgtkeine Einmischung der Politik.

Die Große Tarifkommission fordert dieVerwaltungsstellen und Betriebe auf, inden nächsten Wochen die Diskussion umdie Forderung fortzusetzen. Sie wird aufihrer Sitzung am 24. Januar 2002 die For-derung für die Tarifbezirke Baden-Würt-tembergs beschließen und dann beim Vor-stand der IG Metall beantragen.

Beschlossen bei 11 Gegenstimmen und2 Enthaltungen.

Privates Omnibusgewerbe:

ver.di-Bayern fordert 6,5 % mehr Lohn

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18 DISKUSSION UND DOKUMENTATION • PB 26/2001

Zur Diskussion

Tobinsteuer – weltwirtschaftliches Experimentmit ungewissem AusgangDie Forderung nach Einführung der „To-binsteuer“ auf Devisengeschäfte wirdimmer mehr zu einem Kristallisations-punkt für die globalisierungskritischeBewegung vor allem in Westeuropa. Dasin Frankreich entstandene „ATTAC“-Netzwerk hat sogar seinen Namen demKampf für die „taxation des transactionsfinancières“ gewidmet. In der Bundesre-publik Deutschland wird die Forderungneben kirchlichen Gruppen auch in Ge-werkschaftskreisen, der PDS, den GRÜ-NEN und Teilen der SPD unterstützt1.

Gründe für das Wachstum der Finanz-

transaktionen2

Die Kampagne für die Tobinsteuer stütztsich auf den Sachverhalt, dass die Grö-ßenordnung der Devisengeschäfte seitAblösung des Festwährungssystem vonBretton Woods durch flexible Währungs-kurse zwischen den Haupthandelswäh-rungen US-Dollar, Englisches Pfund,Yenund Euro nebst Vorläuferwährungen gi-gantisch angewachsen ist. Dieses Wachs-tum beruht ökonomisch zunächst aufdem Wachstum des Welthandels,politischauf dem Niederreißen von Schranken fürHandel und Kapitalbewegung vor allemzwischen den Industrieländern und tech-nisch auf der Entwicklung der automati-schen Datenverarbeitung und der Daten-fernübertragung.

Das gegenüber dem Welthandels-wachstum überproportionale Wachstumder Finanztransaktionen resultiert vorallem aus dem Bedürfnis der Exporteureund Importeure von Gütern, Dienstleis-tungen und Kapital, innerhalb eines Sys-tems flexibler Wechselkurse verlässlichePlanungsdaten für ihrezukünftigen Kostenund Erlöse zu bekom-men. Dieses gesell-schaftliche Bedürfniswurde befriedigt durchdie Entwicklung zahl-reicher neuer Transak-tionsformen vor allemim Bereich des Devi-senterminhandels undder sogenannten Deri-vate.3

Insofern spricht dienebenstehende aus ei-ner Veröffentlichungder Vereins Weltwirt-schaft, Ökologie undEntwicklung, WEED4

entnommene Grafikgerade nicht für die inder Überschrift be-nannte „Loslösung derDevisenmärkte von

Welthandel und Investitionen“, sondernfür ihren Zusammenhang.

Nur kurzfristige Spekulation ?

Im April 1998 erfasste die Bank für inter-nationalen Zahlungsausgleich weltweitDevisentransaktionen (ohne Derivate)im Wert von ca. 1,5 Billionen US-Dollarje Geschäftstag.Laut Wahl,Waldow seiendavon „mehr als 80 Prozent Anlagen miteiner Laufzeit von sieben Tagen oder kür-zer“. Diese 80% hätten „also nichts mehrmit realwirtschaftlichen Aktivitäten, mitHandelsgeschäften, Investitionen zutun“.Die Zielsetzung eines Großteils die-ser Kurzfrist-Geschäfte sei Spekulationauf geringfügige Kursschwankungen.Ein Teil diene zwar der Absicherung vonHandelsgeschäften und Investitionen ge-gen Kursrisiken oder könne durch konti-nuierliche Verlängerung de facto auchlangfristige Anlage sein, dennoch handlees sich um eine „hohe, im Wesentlichenspekulationsbedingte Überliquidität“.In einer Fußnote wird vermerkt, dass„exakte Daten darüber,wie sich die kurz-fristigen Finanzströme zusammensetzen,nicht existieren.“5

Diese „Überliquidität“ erhöhe die Vo-latilität (=kurzfristige Schwankungen)der Wechselkurse und stelle wegen derriesigen Masse und des Tempos der be-wegten Gelder per se ein Stabilitätsrisi-ko dar.Nicht mehr die ökonomischen Ba-sisdaten bestimmten die Kurse, sonderndie kurzfristigen Renditeerwartungen.Die Tendenz zu kurzfristigen Kreditenwürde verstärkt, was dann zu Stabili-tätsrisiken führe, aus kurzfristigen Er-wartungen bauten sich längerfristige Er-

wartungen und schließlich möglicher-weise eine Spekulationsblase auf, dieirgendwann zur Krise führe.

Arbitragehandel, Liquiditätshandel und

destabilisierende Spekulation

Ein Teil des kurzfristigen Devisenhan-dels besteht aus dem nichtspekulativenArbitragehandel, der für den Ausgleichder Devisenkurse auf räumlich unter-schiedlichen Devisenmärkten sorgt. Die-ser klassische Arbitragehandel ist auf-grund der hohen Transparenz des Devi-senmarktes stark zurückgegangen.6 Derandere Teil des kurzfristigen Handelsdient der „Ausnutzung erwarteter zeit-licher Preisunterschiede“, also der Spe-kulation.

Es wird in der Außenhandelswirt-schaft jedoch zwischen „stabilisieren-der“ und „destabilisierender“ Spekula-tion unterschieden.Erstere erhöht die Ef-fizienz der Märkte, weil die Spekulantenden „intertemporalen Ausgleich durchden Kauf des Gutes bei tiefen Preisen undVerkauf bei höheren Preisen ermög-lichen. In dieser Situation erzielen Spe-kulanten Gewinne. Diese Art von Speku-lation verbessert die Wirkungsweise derMärkte, da der Handel mit Gütern er-leichtert und Preisschwankungen verrin-gert werden.“7

Der Großteil des Interbankenhandels,der weiterhin unter der Bezeichnung Ar-bitragehandel firmiert, besteht in einerständigen Anpassung ihrer Devisenposi-tionen aufgrund laufend eingehenderNachrichten, und könnte daher auch alskurzfristige Spekulation bezeichnet wer-den. Er wird auch als Liquiditätshandel

bezeichnet.8 Fehlende Speku-lation in diesem Sinne ist einvolkswirtschaftlicher Nach-teil, Märkte sind dann wenigliquide, die Volatilität derPreise gerade deswegen hoch.Als Beispiel dafür wird in derRegel der Immobilienmarktund der Kunstmarkt herange-zogen.

Destabilisierende Speku-lation kommt vor, wenn Spe-kulanten „die Marktentwick-lung nicht richtig einschät-zen“, dies führt zu Verlustenfür die Spekulanten. Sie kön-nen aber auch „andere Markt-teilnehmer durch Fehlinfor-mation bzw.Manipulation be-einflussen“; „Mitläuferspe-kulanten ohne ausreichendeKenntnisse und Informatio-nen“ anziehen (sog. Herden-trieb) und so auch erhebliche

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PB 26/2001 • DISKUSSION UND DOKUMENTATION 19

Gewinne erzielen. DestabilisierendeSpekulation wird von der Volkswirt-schaft z.B. für Währungsturbulenzeninnerhalb des früheren EuropäischenWährungssystems, der Mexiko- und Ost-asienkrise angenommen, wobei es aller-dings um ganz andere Gewinnerwartun-gen ging als beim Arbitragehandel. DieWährungskrisen haben auffälligerweiseeher Länder mit festen Devisenkursen(im Verhältnis zu einer Leitwährung) alssolche mit flexiblen Systemen getroffen.9

Mögliche Auswirkungen einer

Tobinsteuer

Entscheidender Knackpunkt bei der Dis-kussion um die Tobinsteuer ist ihre Hö-he. Sie soll je nach Autor die destabili-sierende Spekulation oder die kurzfristi-ge Spekulation insgesamt eindämmen.Dagegen stehen die Vertreter der stabili-sierenden Spekulation bzw. des Arbitra-ge- oder Liquiditätshandels, die davorwarnen, dass die Austrocknung diesesHandels im Rahmen eines Systems fle-xibler Wechselkurse gerade zu erhöhter

Volatilität führt.Die Verfechter der Tobinsteuer haben

zwar seit Tobin den in der Diskussion ge-forderten Satz von 1% inzwischen auf 0,5oder 0,25% gesenkt. Da ein Großteil desLiquiditätshandels sich aber bei einerMarge von 4 Basispunkten bewegt, d.h.bei Kursunterschieden von 0,04% zwi-schen Hin- und Rücktausch, kann manerwarten, dass dieser Handel nach Ein-führung einer Tobinsteuer in der gefor-derten Größenordnung vollständig ein-gestellt wird,oder dass versucht wird,die

Das Devisenumsatz-steuerpaket der PDS-Bundestagsfraktion1

Die PDS-Fraktion im Bundestag hat be-reits in der letzten Legislaturperiode ei-nen Antrag zur Einführung der Tobin-steuer vorgelegt. Aus der Rede der Ab-geordneten Barbara Höll vom15.01.1998 (Pressedienst: Nummer 5vom 30.01.1998, www.pds-online.de/politik/publikationen/pressedienst)seien hier Begründung und Beschrei-bung der vorgeschlagenen Steuer zi-tiert:

„Spekulative Finanzströme verursachen

Arbeitsplatzverluste und Inflation, ver-

hindern Investitionen, destabilisieren

ganze Volkswirtschaften“

„Als Tobin 1972 die Devisentransak-tionsteuer vorschlug, problematisierteer eine Entwicklung, die sich bis heuteextrem verschärfte, nämlich die Ab-kopplung der Finanz- von der Realwirt-schaft. Wachsende Vermögen und derenKonzentration sowie ungleiche Vertei-lung der Gewinne haben zu einemWachstum des freien Kapitals geführt.Allein in der Bundesrepublik hat sichdas Vermögen seit 1980 verdreifacht undbetrug Ende vergangenen Jahres zirka5,2 Billionen DM.Allerdings befand sichdie Hälfte dieses Vermögens in der Handvon nur 10 Prozent der privaten Haus-halte.

Die Deregulierung und Liberalisie-rung der letzten Jahre ließen die inter-nationalen Kapitalbewegungen enormansteigen. 1980 betrugen die Bruttoka-pitalexporte jährlich zirka 100 Milliar-den US-Dollar, 1993 bereits 850 Milli-arden US-Dollar. Die Devisenumsätzestiegen rasant an und lagen zwischen1986 und 1995 mit 18 Prozent weit vordem Umsatz des Welthandels. Dabeistellen kurzfristige Finanztransaktio-nen von bis zu acht Tagen vier Fünftel,81,8 Prozent, des gesamten Geschäfts-volumens.

Die Folgen dieser spekulativen Fi-nanzströme sind Arbeitsplatzverluste,eine inflationäre Entwertung von Ein-kommen, die Verhinderung von Investi-

tionen und das Umlenken von Handels-strömen. Das jüngste Beispiel Südost-asien zeigt,dass insbesondere durch denTrend zu kurzfristigen Finanzanlagenganze Volkswirtschaften destabilisiertund die Existenz von Millionen vonMenschen vernichtet werden können.Regierungen haben kaum noch die Mög-lichkeit, zum Beispiel durch Zinsände-rungen auf die wirtschaftliche Ent-wicklung Einfluss zu nehmen.

„Die Tobinsteuer dämpft Schwan-kungen der Wechselkurse“

„Nach Tobin schlägt die PDS deshalbvor, jeden Devisenumsatz zu besteuern,so dass sich mit dieser Tobin-Steuer diekurzfristigen Finanzanlagen relativverteuern, zu Lasten derjenigen, diekleinste Zins- und Wechselkursdiffe-renzen ausnutzen. Längerfristige Anla-gen werden demgegenüber wieder at-traktiver; Kapitalströme verlangsamensich, und die Schwankungen der Wech-selkurse lassen nach. Die Tobin-Steuerbaut in diesem Sinne also einen Schutz-wall um die Währungen auf, von demBürgerinnen und Bürger und vor allemexportorientierte Unternehmen profi-tieren können.“Internationale Einführung der Tobin-steuer

„Erstens. Bezüglich des Erhebungs-gebietes schlagen wir vor, die wichtig-sten Finanzplätze, die G-7-Staaten, dieweiteren Mitgliedstaaten der EU, Sin-gapur, die Schweiz, China, Hongkongund Australien, in einem ersten Schrittin diese Tobin-Steuer mit einzubeziehen— denn sie muss natürlich internationaleingeführt werden — und gleichzeitigdie Verträge offen zu gestalten, so dassjederzeit Länder hinzustoßen können.Sachliche Bemessungsgrundlage undSteuersatz

„Alle Devisentransaktionen, die so-fort wirksam werden, also Kassage-schäfte, Devisentermin- und -options-geschäfte sowie Währungsswaps2, soll-ten mit einem Steuersatz von 0,25 Pro-zent belegt werden. Mit diesem Steuer-satz kann unserer Meinung nach ein er-heblicher Teil der kurzfristigen Speku-lationsgeschäfte eingedämmt werden,da diese damit unattraktiv gegenüberlangfristigen Anlagen werden.“Steueraufkommen, -verwaltung und -verwendung

„Bei diesem Prozentsatz könntenEinnahmen von 300 bis 500 MilliardenDollar erzielt werden.Diese Einnahmensollen dann überwiegend der UNO zurRealisierung von Umwelt- und Ent-wicklungshilfemaßnahmen zur Verfü-gung gestellt, also zielgerichtet einge-setzt werden.“Steuerschuldner

„Gezahlt werden soll die Steuer vonBanken und Devisenhändlern.Wir mei-nen, dies ist sehr wohl möglich unddurchsetzbar; denn wenn Banken heut-zutage die Zinsabschlagsteuer abführenkönnen, so ist es rein technisch durch-aus möglich, dass sie dann auch eine To-bin-Steuer zahlen können.“Steuerbefreiungstatbestände

„Wie bei jeder Steuer ist es natürlichauch hier notwendig, über Ausnahmennachzudenken. Wir meinen, die Tobin-Steuer soll nicht schädigen, das heißtden Austausch von Gütern nicht beein-trächtigen und auch Menschen, die zumBeispiel eine Auslandsreise unterneh-men, nicht belasten. Hier könnte mansich Ausgleichsmaßnahmen überlegen,zum Beispiel durch Kompensationszah-lungen oder die Freistellung geringfügi-ger Devisenumsätze.“

1 Der Gesetzentwurf der PDS-Bundestagsfrak-tion (http://dip.bundestag.de/btd/14/008/1400840.pdf) ist zwischenzeitlich bereits zwei-mal im Bundestag eingebracht und abgelehntworden. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hat-ten allerdings keine grundsätzliche Kritik ander Tobinsteuer, sondern nur am von der PDSvorgeschlagenen Weg ihrer Einführung (http://dip.bundestag.de/btp/14/14045.pdf, S.3837 ff.)

2 Kassa-Geschäfte sind Währungskontrakte zueinem vereinbarten Kurs am Tag des Geschäfts-abschlusses und Geldverrechnung innerhalbvon zwei Geschäftstagen. Bei Termingeschäftenwird der Kurs ebenfalls am Tag des Geschäfts-abschlusses vereinbart und die Verrechnung er-folgt zu einem vereinbarten Zeitpunkt zwischendrei Geschäftstagen und mehreren Jahren.Wäh-rungsswaps bestehen aus einem Kassa- oderTermingeschäft mit vereinbartem Kurs,verbun-den mit der Vereinbarung über einen Rück-tausch der Währung zu einem späteren Termin,ebenfalls wieder zu einem vereinbarten Kurs,wobei der Rücktauschkurs in der Regel vom Er-stumtauschkurs abweicht. Devisenoptionenbeinhalten das Recht, jedoch nicht die Pflicht,am Verfalltag zu einem im voraus bestimmtenKurs Devisen zu beziehen (Kaufoption) oder zuverkaufen (Verkaufoption).

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20 DISKUSSION UND DOKUMENTATION • PB 26/2001

Steuer durch Schaffung von neuen vonder Steuer (noch) nicht erfassten Finanz-produkten zu umgehen.

Dieser Sachverhalt wird von den Ver-fechtern der Tobinsteuer bewusst in Kaufgenommen: „Dass Arbitragegeschäftemit einer Rentabilitätsgrenze bis zur Hö-he der Devisenumsatzsteuer ebenfallsunterbunden werden, ist kein Schaden,da sie ohnehin nur einen kurzfristigenAusgleich der Kurse bewirken.“10 Prof.Huffschmid bezeichnet in einem neuerenPapier für ATTAC Finanzspekulanten so-gar als „Parasiten“.11

Der durch die Tobinsteuer verursach-te Rückgang der Liquidität der Finanz-märkte hätte wahrscheinlich eine höhe-re Volatilität zur Folge. Wechselkursewürden sich in Sprüngen bewegen, umLücken zu schließen, die unter normalenHandelsbedingungen nicht aufgetretenwären. Die höhere Volatilität würde grö-ßere Absicherungskosten z.B. durch dieverstärkte Verwendung von Derivatege-schäften verursachen. „Das Hauptargu-ment der Befürworter der Tobinsteuer‚Sand ins Getriebe der Finanzmärkte zuschütten’, um die Liquidität und damitdie Volatilität zu reduzieren, ruht jeden-falls auf wackligem theoretischen undempirischen Boden.“12

Völlig ungeklärt ist die Frage, welcheAuswirkungen eine Besteuerung von De-rivaten durch eine Tobinsteuer habenwird, da in der Regel Geschäfte mit De-rivaten auf parallele „normale“ Devisen-geschäfte bezogen sind. Eine einheitlicheBesteuerung des Nominalwertes von De-rivategeschäften würde diesen Marktvermutlich ebenfalls völlig zum Erliegenbringen,was wiederum die Volatilität desKassa- und Terminmarktes steigern wür-de. Die Alternative, jedes Finanzinstru-ment mit einer gesonderten Steuer bele-gen, würde zu einem „administrativenAlptraum“ führen.13

Nach Austrocknung des kurzfristigenMarktes blieben zum Besteuern geradedie angeblich auf die Realwirtschaft be-zogenen langfristigen Geschäfte übrig,die Transaktions- und Absicherungskos-ten der Banken würden steigen und nachMöglichkeit auf den Außenhandel abge-wälzt.

Für den Devisenhandel sowie Exportund Import zwischen Entwicklungslän-dern bedeutet eine Tobinsteuer eine dop-pelte Belastung, da für ihre Währungenkein entwickelter Devisenmarkt existiertund sie ihre Währung erst in eine derWeltleitwährungen umtauschen müs-sen.14

Gezielte spekulative Attacken gegeneinzelne Währungen, insbesondere vonEntwicklungsländern, werden nachübereinstimmender Ansicht von Befür-wortern und Gegnern einer Tobinsteuerdurch eine gleichmäßige relativ niedrigeBesteuerung von Devisentransaktionennicht verhindert, da dafür wesentlich hö-here Steuersätze erforderlich wären.15

Wenn auch wenig gesicherte empiri-sche Erkenntnisse über die Auswirkun-

gen einer derartigen Steuer vorliegen, soscheinen doch die negativen volkswirt-schaftlichen Auswirkungen zu überwie-gen. Insbesondere sprechen gute Gründedafür, dass die Tobinsteuer, je nach Höhe,zur Destabilisierung der Finanzmärkteführen kann, also zum Gegenteil des mitihrer Einführung beabsichtigten Ziels.

Machtdemonstration oder Unterstützung

der Dritten Welt?

Es entsteht der Eindruck, die Tobinsteu-er bekomme zumindest für die PDS eineähnliche Funktion wie für die GRÜNENdie Ökosteuer: Wer Regierungsmacht an-strebt, signalisiert, mit welcher neuenSteuer er das Steueraufkommen erhöhenbzw. umschichten will, wen er dabei vor-rangig belasten oder schonen will undwelche öffentlichen Güter damit finan-ziert werden sollen. Der Devisenhandelbietet sich im Rahmen des Antifinanzka-pital-Diskurses in der PDS und anderenlinken Organisationen als geeignetes Op-fer an. Motto: „Geld ist genug da“.16

Andererseits spricht der internationa-le Anspruch des Diskurses – internatio-nale Einführung, Verwaltung und Ver-wendung der Steuer – dafür, dass es hierauch um Interessen an einer Staatsbil-dung auf übernationaler Ebene geht.17

Die meisten Verfechter der Tobinsteu-er argumentieren in der Regel im Inter-esse der Entwicklungsländer. Die Fi-nanzkrisen gerade der sogenanntenSchwellenländer werden gerne als Bei-spiel herangezogen, obwohl für dieseKrisen weder die kurzfristige Devisen-spekulation verantwortlich war noch ei-ne Tobinsteuer sie verhindert hätte. DieVolatilität zwischen US-Dollar und Eu-ro bot dagegen angesichts der durch dieUnterbewertung des Euro verursachtenExportförderung keinen Anlass für dieeuropäische Linke, eine Devisentransak-tionssteuer zu fordern.

Anstatt in schlechter linker Traditionein neues Allheilmittel zu verfolgen, dasangeblich den Armen nützt, weil es dasBankgeschäft beeinträchtigt, sollte manbesser Forderungen der Entwicklungs-länder unterstützen, die deren Anteil ander Weltwirtschaft tatsächlich erhöhenkönnten, z.B. Abbau von Handelshemm-nissen der Industriestaaten. Die Diskus-sion darüber in den Gewerkschaften zufördern, wäre ein lohnendes Unterfan-gen. (gst)

1 Eine entsprechende Erklärung von ATTAC wur-de von 24 von 37 Bundestagsabgeordneten derPDS (=65%), 13 von 47 Abgeordneten der GRÜ-NEN (=28%) und 16 von 294 Abgeordneten derSPD (=5%) unterstützt. (www.attac-netzwerk.de/tobin/tobincall.html)2 Die Hauptdatenquelle für die jährlichen bzw.täglichen Devisenumsätze sind die regelmäßigenErhebungen der Bank für internationalen Zah-lungsausgleich in Basel. (http://www.bis.org/).Dort finden sich auch Links zu ca. 100 nationa-len Zentralbanken, über die man nähere Aus-künfte über den Devisenverkehr mit dem jewei-ligen Land bekommen kann.3 In jüngster Zeit ist bekannt geworden, dass vordem Umtausch der ersten Rate zur Entschädi-

gung der polnischen Zwangsarbeiter der Kurs desZloty stark gestiegen und anschließend wiedergefallen ist.Unabhängig von der Bewertung,wemdas letztlich genützt oder geschadet hat (der vor-herrschende Zinssatz in Polen liegt um einigesüber dem deutschen Zinssatz), und ob eine Über-weisung in Euro vielleicht günstiger gewesen wä-re, wird hier die Bedeutung der Nutzung zusätz-licher Finanzinstrumente offensichtlich.4 Peter Wahl und Peter Waldow „Devisenumsatz-steuer – Ein Konzept mit Zukunft“,Februar 2001,S.6 (www.attac-netzwerk.de/tobin/weed_pa-pier.html)5 Wahl, Waldow, a.a.O. S.6, Fußnote 196 Hans E. Büschgen, Das kleine Börsen-Lexikon,Düsseldorf 2001, Stichwort „Devisenarbitrage“7 Gerhard Aschinger, Währungs- und Finanzkri-sen, München 2001, S. 3 ff.8 Absolut verpönt ist es bei den meisten Banken,Devisenpositionen über Nacht offen zu lassen, dadas Risiko unerwarteter Kursänderungen als zuhoch eingeschätzt wird. Nebenbei bemerkt resul-tieren daraus manche Überstunden in der Devi-senabwicklung sowie das Interesse, möglichstrund um die Uhr und über nationale Feiertagehinweg zu handeln.9 Aschinger, S.191 ff. Das jüngste Beispiel ist Ar-gentinien, das den Peso-Kurs an den US-Dollargebunden hat.10 Wahl, Waldow, S.8, Fußnote 2811 „Soweit diese Diskriminierung Finanzspeku-lanten betrifft, ist nichts dagegen einzuwenden.Wenn man nicht alle Parasiten erreicht, ist daskein Grund, nicht gegen die vorzugehen, die manerreicht.“ Jörg Huffschmid, Ist die Tobinsteuer imeuropäischen Alleingang machbar?, S.3,(www.attac-netzwerk,de/tobin/tobineu.html)12 Paul Bernd Spahn, „International FinancialFlows and Transaction Taxes: Survey and Op-tions“, 1995, S.17 (www.wiwi.uni-frankfurt.de/professoren/spahn/Spahn_010618.pdf) DieserAufsatz liefert den derzeit besten Gesamtüber-blick über die wissenschaftliche Auseinanderset-zung.13 Spahn, S.2414 Spahn, S.1515 Bei Spahn (a.a.O.) findet sich dafür ein Vor-schlag, der auch von einzelnen Ländern einge-führt werden könnte: Kombination einer sehr nie-drigen Steuer von z.B. 0,01% auf Devisentrans-aktionen mit einem prohibitiven Devisenauf-schlag von z.B. 80% bei Ausscheren des Kursesaus einem Wechselkurskorridor, der über einengleitenden Durchschnitt bestimmt wird (sog.„crawling peg“). Die Normalbesteuerung von0,01% soll laut Spahn nicht der Generierung neu-en Steueraufkommens dienen, sondern nur eineÜberwachung des Devisenmarktes ermöglichen,um bei tatsächlichen spekulativen Attacken mitdem prohibitiven Devisenaufschlag zuschlagenzu können. Eine andere Möglichkeit hat Chiledemonstriert, wo von 1992 bis 1998 für zuströ-mendes Auslandskapital ein einjähriges zinslosesDepot von 30% des Kapitalbetrages gefordertwurde, was kurzfristige Anlagen offensichtlichverringerte, ohne langfristige Anlagen zu beein-trächtigen. (s. Aschinger, S.330)16 „…sollte man den herrschenden Diskurs zuSteuern … offensiv nutzen, um herauszuarbeiten,dass es sich bei der Devisenumsatzsteuer nichtum eine Massensteuer handelt, sondern dass dasGeld dort geholt wird, wo es im Überfluss vor-handen ist. Die Devisenumsatzsteuer hat damitauch eine Umverteilungsdimension – und zwarvon oben nach unten. Die Steuer kann daher auchunter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeitvertreten werden, um politische Mehrheiten da-für zu gewinnen“ (Wahl, Waldow, S.15)17 „Hinzu kommt, dass angesichts der von derGlobalisierung aufgeworfenen Probleme die Fra-ge nach internationalen Steuern heute ohnehinauf der Tagesordnung steht.“ (Wahl, Waldow,S.12)

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PB 26/2001 • DISKUSSION UND DOKUMENTATION 21

Wir, die sozialen, religiösen und gewerk-schaftlichen Bewegungen und Organisa-tionen der Arbeiterinnen und Arbeiter,der Jugend und der Studenten, Parla-mentsgruppen, politischen Parteien, In-tellektuelle,Umweltschützer,Bauern, in-digene Organisationen und Menschen-rechtsgruppen des Kontinents führtenvom 13.bis 16.November in Havanna dasKontinentale Treffen für den Kampf ge-gen die Amerikanische Freihandelszone(FTAA) durch, um die politische Mobili-sierung anzustoßen und die neoliberale

Agenda und diesen Freihandelsvertrag,der für unsere Völker Annexion und Re-kolonialisierung bedeutet, zurückwei-sen.

Wie schon auf dem Zweiten Gipfel derVölker Amerikas in Quebec im April 2001erneuerten wir unseren Kampf gegen dieFTAA und das neoliberale Modell,das fürdie Mehrheit der Bewohner unseres Kon-tinents eine Katastrophe ist. Die Politikvon WTO, IWF und Weltbank, gestütztund ausgeführt von den neoliberalen Re-gierungen, vertiefte die Armut im Inne-ren der Länder und die Unterschiedezwischen den Ländern des Nordens unddes Südens.

In einer Zeit, in der die Welt sich einerKrise mit ungewissem Ausgang gegen-übersieht, bedauern wir die von den ter-

roristischen Angriffen auf New York undWashington ausgelöste Tragödie und ver-urteilen jede Art von Terrorismus, ein-schließlich des staatlichen Terrorismus,und solidarisieren uns mit seinen Opfernauf der ganzen Welt. Daher lehnen wirden Krieg der Vereinigten Staaten gegenAfghanistan, dessen Bevölkerung ammeisten unter den Folgen leidet, ab undverurteilen ihn.Wir weisen gleichfalls dieInitiative der US-Regierung zurück, dieMilitarisierung Lateinamerikas mit demPlan Colombia,dem Plan Puebla Panamá

und anderen regionalen Projekten, die ingrößere Einmischung und Repression ge-gen die wachsenden Proteste der Bevöl-kerung münden, zu fördern. Wir forderndas Ende der Blockade gegen Kuba unddie Aufgabe der nordamerikanischen Mi-litärbasen in Vieques und Manta.

Angesichts des „Konsenses von Wa-shington“, der die neoliberale Agenda inden beiden Amerikas einführte, habenwir 800 Abgeordneten, VertreterInnenvon 34 Ländern des Kontinents, einenumfassenden alternativen Konsens er-reicht. Der „Konsens von Havanna“gründet sich auf die Vision der solidari-schen Integration von Gleichen durch so-ziale Gerechtigkeit und Wohlstand fürunsere Völker. Im Gegensatz zum Kon-sens von Washington, der auf dem Fun-

damentalismus des Marktes gründet, ha-ben wir zum Ziel, eine alternative, soli-darische Agenda aufzustellen,die auf derGlobalisierung der ökonomischen, sozia-len und kulturellen Rechte aufbaut.

Eine soziale Agenda für Amerika

Wir meinen, dass die FTAA ein Produktder imperialistischen Gier ist und des-halb eine völlig inakzeptable Option fürunsere Länder darstellt. Die Völker Ame-rikas kämpfen für eine Integration, dieeine wirkliche wirtschaftliche, sozialeund kulturelle Entwicklung zum Ziel hat,die allmählich die enormen Ungleichhei-ten zwischen den Ländern und zwischenMännern und Frauen beseitigt. Wir kön-nen nicht zulassen, dass sich unsere Re-gierungen der FTAA beugen, sondernmüssen von ihnen verlangen, die natio-nale Selbstbestimmung und Souverä-nität zu respektieren und auf dieserGrundlage ihre Verantwortung für diewirtschaftliche Entwicklung und dieFörderung von Wohlstand und sozialerGleichheit wahrzunehmen.

Die FTAA ist eine erweiterte Fassungdes Nordamerikanischen Freihandels-vertrags (NAFTA) und überträgt wie die-se den transnationalen Unternehmen dieMacht,den Staaten die Vereinheitlichungvon Regeln und makroökonomischer Po-litik zu diktieren.

Die FTAA bedeutet in der Praxis:

Dass die Liberalisierung der Märkte fürGüter, Dienstleistungen, Investitionenund das geistige Eigentum zu einer vonden Unternehmen geprägten Integrationund zur Auflösung der nationalen Öko-nomien, Gesellschaften und Kulturenführen wird sowie zu einer verschärftenAusbeutung der Umwelt, indem sie dieprivaten Rechte der multinationalenUnternehmen über die nationalen Ver-fassungen stellt.

Dass sich der Mangel an Demokratieauf dem Kontinent verschärft, wenn diesogenannte Interamerikanische Chartafür Demokratie, die von den Mitglieds-staaten der OAS (Organisation Amerika-nischer Staaten) am 11. September 2001in Lima angenommen wurde, in Krafttritt. Diese Charta übergeht die Souverä-nität der Völker und versucht die Legiti-mität einer Regierung vom Standpunkt

Mitte November fand in Havanna die kontinentalen Konferenz desWiderstandes gegen die Amerikanische Freihandelszone (FTAA/AL-CA)statt. Die Zusammenkunft, an der 800 Aktivisten von 248 Orga-nisationen des amerikanischen Kontinents teilnahmen, beschlossden „Konsens von Havanna“.Er soll die sozialen Bewegungen des Kontinents motivieren bei ih-rer Suche nach einem Weg, die Ausbreitung des Neoliberalismus inihrer Region zu verhindern. Man will die Kräfte stärken und koordi-nieren, Beobachter zur Ministerkonferenz in Quito, die im nächsten

Jahr stattfindet, und zum Treffen der Regierungschefs 2003 in Bue-nos Aires entsenden. Auf beiden Konferenzen sollen Schritte ver-einbart werden, um die amerikanische Freihandelszone in Kraft zusetzen. Diese wird von ihren Gegnern als ein Instrument der Anne-xion qualifiziert. Fidel Castro nannte sie eine geostrategische Ope-ration Washingtons mit dem Ziel, diesen großen Markt zu kontrol-lieren, der gleichzeitig eine immense Rohstoffquelle in einem nahenRaum ist, den man in den USA traditionell als eigenen ansieht.Im folgenden nun die Erklärung der „Konsens von Havanna“

Lateinamerika: Abschlusserklärung des Kontinentalen Treffens für den Kampf gegendie Amerikanische Freihandelszone vom 13. bis 16. November 2001

„Konsens von Havanna“

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22 DISKUSSION UND DOKUMENTATION • PB 26/2001

der imperialen Macht abhängig zu ma-chen, ein totalitäres und ausschließendesVorgehen.

Dass die Völker unserer Länder ihrRecht nicht ausüben können, solche In-vestitionen abzulehnen, die ihre sozioö-konomische Gegenwart und Zukunft ge-fährden, besonders die Flüsse spekulati-ven Kapitals.

Dass die Nationalregierungen, derÜbermacht der transnationalen Unter-nehmen unterworfen, nicht die interneNachfrage fördern, sondern sich völligvon den äußeren Märkten abhängig ma-chen.

Dass die Länder des Südens in wildeKonkurrenz um die Gunst der Märkteund Investitionen des Nordens treten, in-dem sie ihre niedrigen Löhne, die syste-matische Diskriminierung der Frauen,der indigenen Völker und Immigranten,das Fehlen von sozialer Sicherung undUmweltschutz und die Laxheit ihrer Ge-setze anbieten.

Dass sich die Seuche der Arbeitslosig-keit unerbittlich ausweitet, währendgleichzeitig die Maquilas und Freien Pro-duktionszonen maßlos zunehmen, in de-nen die Arbeiter Lateinamerikas und derKaribik über alle Maßen ausgebeutetwerden, mit Gehältern, die ein Vielfachesunter denen liegen, die die Unternehmenin ihren Herkunftsländern bezahlen, undohne Respekt für Arbeits-, Umwelt-, Ge-sundheits-, Sozial-, Frauenförderungs-und Gewerkschaftsgesetzgebung. Wennsich diese Praktiken durchsetzen,werdensie die Arbeit auf dem ganzen Kontinentprekär und billig machen, mit besonde-ren Folgen für Frauen und Minderjähri-ge, die heute ihre hauptsächlichen Opfersind.

Dass die Migration zunimmt, währendsich gleichzeitig die Überausbeutung,Diskriminierung,Verfolgung und Unter-drückung der Migranten, besonders derohne Papiere, verschlimmert. Darindrückt sich der Widerspruch zwischender extremen Öffnung für die Zirkulationvon Waren und Dienstleistungen und derBegrenzung der Zirkulation von Men-schen aus.

Dass sich die Nationen in den Abgrundder finanziellen Unterwerfung stürzen,die noch verschlimmert wird durch dasimmense Gewicht der Auslandsschulden.Dadurch verlieren sie jede Fähigkeit, denUnternehmen der amerikanischen undglobalen Supermacht Widerstand zu leis-ten.

Dass die Landwirtschaft,wesentlicherWirtschaftssektor in der Mehrheit derLänder Lateinamerikas und der Karibik,der ruinösen Konkurrenz der technologi-schen Macht der transnationalen Kon-zerne ausgesetzt wird. Die Landarbeiterwerden sich in noch größerer Zahl zurAbwanderung in ein miserables Leben inden Städten gezwungen sehen. Dadurchleiden nicht nur der kulturelle und mul-tiethnische Reichtum, die Biodiversität,die Trinkwasserreserven und die WälderSchaden, sondern die Landwirtschaft

kann immer weniger Arbeitsplätze unddie Ernährung sichern.

Dass die geistigen Eigentumsrechteein technologisches Monopol der trans-nationalen Konzerne schaffen und dieKluft zwischen Nordamerika und denLändern Lateinamerikas und der Kari-bik aufrechterhalten.Außerdem wird dastraditionelle Wissen der ursprünglichenBewohner ausgebeutet; sie werden einesgroßen Teils ihrer natürlichen Reichtü-mer beraubt und vom Zugang zu der neu-en Technologie ausgeschlossen, mit derGrundbedürfnisse befriedigt und Ent-wicklung vorangetrieben werden könn-te.

Dass in dem Maße, in dem sich die so-zialen Rechte in reine Waren verwandeln,sich die Armut und die allgemeine Krisegrundlegender Rechte wie Bildung undGesundheit, die viele unserer Völkerschon heute erleben, vertiefen.

Dass die transnationalen Konzerneund Investoren Regierungen verklagenund internationale Schiedsgerichte dar-über entscheiden, geleitet von dem Prin-zip, dass die Interessen der Unternehmenüber dem nationalen Recht und Interes-se stehen.

Dass die Regierungen der meistenLänder des Kontinents sogar das Vorrechtaufgeben, im gesellschaftlichen Interesseoder mit dem Ziel der Entwicklung Ein-käufe bei privaten oder öffentlichen Fir-men ihrer eigenen Landes zu tätigen, so-bald ein transnationales Unternehmenbeweisen kann, dass sein Angebot besserals das der nationalen Konkurrenz ist.

Dass alle öffentlichen Fördertöpfe fürdie Grundbedürfnisbefriedigung und al-le grundlegenden öffentlichen Diensteeinschließlich der Sozialsysteme,der Ge-sundheitsversorgung, von Bildung oder

Transport privatisiert, abgeschafft oderstark eingeschränkt werden.

Wir meinen, dass im Zentrum eineswirklichen Integrationsprozesses derRespekt für die Allgemeine Erklärungder Rechte der Völker stehen muss,die al-le bürgerlichen kulturellen, wirtschaft-lichen, politischen und sozialen Men-schenrechte umfasst. In besagter Erklä-rung wird betont dass „jedes Volk, dessengrundlegende Rechte schwer missachtetwerden, das Recht hat, sie durchzuset-zen…“.

Wir schlagen als Alternative zur FTAAeine kontinentale Politik vor,die nicht dieFähigkeit der Staaten schmälert, sich fürdie sozialen, kulturellen und wirtschaft-lichen Bedürfnisse ihrer Bewohner ein-zusetzen und sich wenn nötig den Inter-essen der Unternehmen und den anma-ßenden Forderungen irgendeines ande-ren Landes entgegenzustellen.

Wir sind für eine alternative Integra-tion, die den Integrationsprozess derLänder Lateinamerikas und der Karibikkeinesfalls untergräbt, lähmt oder been-det, sondern ihn tragfähig und starkmacht, zum Nutzen aller an diesen Pro-zessen beteiligten Staaten und allen Län-dern des Kontinents. Um eine wahrhafteamerikanische Integration zu vollbrin-gen, müssen wir einen Prozess interna-tionaler Zusammenarbeit fördern, indem die Entwicklung von den mächtig-sten Nationen finanziert wird. Dadurchkönnen sich die Möglichkeiten der durcheine lange Geschichte kolonialer und ne-okolonialer Ausbeutung und vor allemnach zwei Jahrzehnten Neoliberalismusam meisten verarmten Nationen anglei-chen.

Wir meinen, dass jedes Abkommenzwischen Ländern mit unterschiedli-

Freihandel tritt unsere Rechte mit Füßen: Jobs, Gesundheit, Umwelt, Demokratie, so-

ziale Gerechtigkeit.

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PB 26/2001 • DISKUSSION UND DOKUMENTATION 23

chem Entwicklungsniveau unter ande-rem die Anerkennung der Ungleichhei-ten und die bevorzugte Behandlung aufden Gebieten des Handels, der Finanzenund der Technologie einschließen muss,damit die Entwicklungsniveaus im Laufder Zeit angeglichen und soziale Pro-gramme angestoßen werden können.

Wegen der zuvor aufgezählten Gründemeinen wir, dass die Vorschläge für einegesunde und lebensfähige kontinentaleIntegration und die haarsträubende Re-alität einer Auslandsschuld,die den Wirt-schaften der Mehrheit der lateinameri-kanischen und karibischen Länder dasGenick bricht, sich gegenseitig aus-schließen.

Daher sprechen wir uns für ein alter-natives Projekt der Integration aus, dasals eine seiner Grundlagen die Strei-chung der unbezahlbaren und illegitimenSchulden betrachtet.Denn es sind Schul-den, die von den verschiedenen Regie-rungen in den letzten Jahrzehnten ohnedie Zustimmung der Völker und oft unterVorspiegelung falscher Tatsachen ge-macht und schlecht ausgegeben wurdenfür Projekte, die nicht der Bürgerschaftzu Gute kamen; Schulden, die durch deneinseitigen Beschluss der Gläubiger, dieZinsen zu erhöhen, gewachsen sind.

Schließlich wollen wir unser uner-schütterliches Vertrauen darin ausdrü-cken, dass unser heutiger Kampf, der dieunzähligen und vorbildlichen Wider-standskämpfe der tapfersten KinderAmerikas während der vergangenenJahrzehnte fortsetzt, uns gemeinsam zudem Ziel führen wird,das der Befreier Si-món Bolívar verkündete, als er vor fastzwei Jahrhunderten inmitten seines ko-lossalen Feldzugs gegen den Kolonia-lismus sagte: „Ich wünsche mir, mehr alsalles andere, hier in Amerika Zeuge derEntstehung der größten Nation der Weltzu sein, der größten nicht so sehr wegenihres riesigen Gebiets und ihrer Reichtü-mer, sondern wegen ihrer Freiheit und ih-res Ruhmes.“

Wir sehen uns auf dem Weltsozialfo-rum in Porto Alegre im kommenden Fe-bruar, wenn wir die Fahnen gegen denKrieg, gegen Terrorismus, gegen dieFTAA, gegen die Auslandsschulden, fürdie Globalisierung der Solidarität erhe-ben, denn eine andere Welt und ein ande-res Amerika sind möglich!

Amerikaweiter Aktionsplan gegendie FTAA Beim kontinentalen Treffen für den Kampf

gegen die FTAA verabschiedeten wir den

folgenden Aktionsplan:

Wir rufen die Organisationen des Konti-nents zur Einheit auf, um so möglichstschnell die Mobilisierung unserer Bevöl-kerung gegen die Amerikanische Frei-handelszone zu erreichen.Wir fordern diean diesem Treffen beteiligten Organisa-tionen auf, ihre Kräfte zu bündeln,um al-ternative Entwicklungsmodelle für dieMenschen in Amerika zu schaffen, als

Gegenvorschlag zum gegenwärtigen Mo-dell neoliberaler Entwicklung. Undschließlich rufen wir zu einer gemeinsa-men Kampf um zwei große Themen auf:1) die Entwicklung eines amerikaweitenPlans für soziale Integration, nachhalti-ge Entwicklung und gegen Ungleichheit,sozialen Ausschluss und Armut, 2) dieWeiterführung und Stärkung von Kam-pagnen zur Mobilisierung der Bevölke-rung gegen die FTAA,in Abstimmung mitden Ereignissen auf dem Weltsozialfo-rums und den für das Kontinentale Sozi-albündnis geplanten Aktivitäten.

Umgehende Initiativen:

Die Bildung amerikaweiter Arbeitsgrup-pen, um die im ersten Themenbereichskizzierte Politik auszuarbeiten; dabeisoll von den nationalen, regionalen undlokalen Erfahrungen ausgegangen wer-den,die es schon gibt.Hauptaufgaben derArbeitsgruppen: die Verteidigung undFörderung der wirtschaftlichen, sozia-len, kulturellen und auf die Umwelt be-zogene Entwicklung der Bevölkerungenund Länder des Kontinents; die Ent-wicklung einer Politik des sozialen Ein-schlusses sowie Überwachung und Aus-wertung der Verhandlungen.

Die Initiierung einer amerikaweitenKampagne für Fortbildung und Informa-tion, in der die sozialen Bewegungen dieRolle übernehmen, allen Sektoren – ein-schließlich der kleinen und mittlerenUnternehmen – die wahren Absichten derFTAA zu erklären. Der Aufbau engererBeziehungen zwischen den sozialen Be-wegungen, den alternativen Informa-tionsnetzen und den akademischen undprofessionellen Gruppen und den Kir-chen und ökumenischen Organisationen.

Parlamentarier und parlamentari-schen Gruppen und/oder Ausschüsse aufdem ganzen Kontinent werden zur Dis-kussion mit der Zivilgesellschaft aufge-rufen, damit sie eine Vorreiterrolle ein-nehmen können und auf diese Weise denKampf gegen die FTAA stärken.

Sobald die Sitzungen der Verhand-lungsgruppen, die Ministertreffen (Qui-to, Nov. 2002) und der Dritte Gipfel derStaats- und Regierungschefs (Buenos Ai-res, April 2003) stattfinden wird die Be-völkerung, ihre Organisationen und sozi-alen Bewegungen für den antiimperialis-tischen Kampf mobilisiert werden. DieVorbereitung von Volksbefragungen undPlebisziten über die FTAA als eine Formder Konsensfindung und Mobilisierungder Völker und um die Regierungen un-ter Druck zu setzen; dazu sollen nationa-le Komitees gebildet werden.

Von den Regierungen werden Studienund ernsthaft begründete Untersuchun-gen über die Folgen der FTAA für die ver-schiedenen Sektoren der nationalenÖkonomien und die Arbeitsmärkte, dieKulturindustrie und die Umwelt gefor-dert.

Die Organisierung kontinentaler, re-gionaler oder nationaler Aktionstageoder von Aktionen gesellschaftlicher

Gruppen gegen die FTAA.Weiterhin Argumente gegen die FTAA

vorbringen und weiter gegen die Versu-che kämpfen, den Zeitpunkt, an dem dasAbkommen in Kraft treten soll, vorzu-ziehen, weil im Moment die Länder La-teinamerikas und der Karibik durch ih-re schlechte wirtschaftliche und sozialeSituation geschwächt sind. Die herr-schende Krise könnte die lateinamerika-nische Einigkeit aufbrechen und ihre Ver-handlungsposition gegenüber den Ver-einigten Staaten schwächen.Wir werdenuns gegen jede Absicht, unsere Protesteund Kämpfe in Amerika und weltweit zukriminalisieren, wehren und die Solida-rität unter allen sozialen Bewegungenstärken. Die Netze der gesellschaftlichenGruppen werden wir ausweiten und dieBildung nationaler und regionalerUntergruppen des Kontinentalen Sozial-bündnisses unterstützen, denn dieseStrukturen können dazu beitragen, denvorliegenden Aktionsplan umzusetzen.Wir werden uns aktiv an den nationalenVorbereitungen für das Zweite Weltsozi-alforums in Porto Alegre beteiligen undein Plebiszits gegen die FTAA initiieren.

Wir werden ein zweites Amerikani-sches Treffen für den Kampf gegen dieFTAA durchführen und die bei diesem er-sten Treffen gefassten Beschlüsse ver-breiten.

Weitere Vorschläge

Treffen gegen die FTAA an den Grenzender amerikanischen Länder.

Bürger-Brigaden für die Aufklärungüber die FTAA bilden.

Eine Karawane durch ganz Amerika,die die Bevölkerung informiert und ge-gen die FTAA mobilisiert.

Demonstrationen vor den nordameri-kanischen Botschaften durchführen,wenn in den ersten Dezembertagen imUS-Kongress die Abstimmung über dasFast-Track-Gesetzesverfahren stattfin-det.

Die Debatte über die FTAA auf dem10. Treffen des Foro de Sao Paulo anre-gen, das vom 2. bis 7. Dezember in Ha-vanna stattfindet, und eine Abordnungdieses Treffens dorthin schicken.

Die Vorschläge der Kirchen über Bil-dung für die Bevölkerung und ihre Mo-bilisierung unterstützen

An der Zweiten Konferenz für Friedenund gegen den Plan Colombia teilneh-men, die vom 4. bis 5. März 2002 in Me-xiko stattfindet.

Treffen von Juristen fördern,damit un-ter ihnen eine Debatte über die FTAA be-ginnt.

Das Internationale Treffen von Wirt-schaftswissenschaftlern unterstützen,das vom 11. bis 15. Februar 2002 in Ha-vanna stattfindet und auf dem über dieFTAA und ihre Folgen debattiert wird.

Den 28. März zum Internationalen Tagfür die Verteidigung des öffentlichen Bil-dungswesens und der Souveränität undfür den Kampf gegen die FTAA erklären.

Havanna, 16. November 2001

Page 24: Politische BerichtePolitische Berichte Politische Berichte – Zeitschrift für Sozialistische Politik Ausgabe Nr. 26 am 21. Dezember 2001, Jahrgang 22, Preis 2,50 DM 26 2001 P ROLETARIER

MINETE

R 23. Dezember, bundesweit im Kabelfernsehen: Günter Gaus im Gesprächmit Christian Klar. In der Sendereihe von Günter Gaus „Zur Person“ wirddieses Gespräch, das zuerst am 12.12. im ORB und dann in der Wiederho-lung am 22.12. um 11.45 Uhr im ORB zu sehen war, auf VOX ausgestrahlt.

3.-6. Januar, Sondershausen: Linke Winterschule. AG Philosophie: Befas-sung mit Fragen der „Bioethik“. Hier geht es um die durch die Entwicklungder Biowissenschaften und -techniken, insbesondere die genetische Dia-gnostik und die Gentherapie am Menschen aufgeworfenen Fragen. AG Wirt-schaft: Versicherungswirtschaft: Hier geht es darum, durch Erörterung dergeschichtlichen, rechtlichen und volkswirtschaftlichen Zugänge eine Basiszu schaffen für die konkrete Diskussion in der Krankenversicherung. AGGeschichte: Einheitsfrontpolitik und antifaschistische AktionGenauere Informationen (siehe auch PB 25) enthält ein Faltblatt, das beimGNN-Verlag Hamburg angefordert werden kann. Informationen und An-meldung bei: Christiane Schneider, c/o GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359Hamburg, Tel. 43 18 88 20, fax 43 18 88 21, E-Mail: [email protected]

12. Januar, Berlin: Rosa Luxemburg Konferenz. 9.00-17.00 Uhr: Humboldt-Universität Berlin: Konferenz & Diskussion; 21.00 Uhr: Kesselhaus/Kul-turbrauerei: Konzert. Veranstalter: Linke Liste an der Humboldt-Univer-sität Berlin, Cuba.si, jungeWelt

26. Januar, Zürich (CH): Europäische Parallelkonferenz zum World SocialForum (Porto Alegre) „Das andere Davos“,VA: attac SchweizKontakt: attac Schweiz, Peter Streckeisen, Tel.: +41/61/4812491, mobil:+41/79/7447587. Internet: http://www.otherdavos.net

26. Januar, Fulda: Tagung des Arbeitsausschusses des Forums Kommunis-tischer Arbeitsgemeinschaften. Tagesordnung: Linke Kritik und alternati-ve Politik; Wirtschaftsstrategie in der Programmatik der Parteien; Ansätzein der politischen Bildungsarbeit. Beginn: 11.30 Uhr, Jugendbildungsstät-te, Magdeburger Str. 69

1./2. Februar, München: Das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonfe-renz ruft zu Protestaktionen gegen das Treffen der Welt-Kriegselite in Mün-chen auf: Kundgebung am 1.2., 17.00 Uhr Marienplatz anlässlich des Emp-fangs der Tagungsteilnehmer durch die Landeshauptstadt München im Al-ten Rathaus. 2.2., 12.00 Uhr: Demonstration zum Tagungsort, ab Marien-platz. Abends: Gegenkonferenz oder Großveranstaltung gegen die NATO-Kriegspolitik. Näheres später.Kontakt: Bündnis gegen NATO-Sicherheitskonferenz, Tel. (089) 16 95 19,Fax (089) 1 68 94 15, E-Mail: [email protected]

16. Februar, Herne: Wirtschaftsdemokratie als alternative Wirtschaftspoli-tik. 10.00-16.00 Uhr Seminar in Herne, Begegnungsstätte FALKEN-Halte-stelle, 44628 Herne Horsthausen, Gneisenaustr. 16. Eine Veranstaltung mitUlla Plener (Utopie kreativ, Berlin), Jürgen Klute (Sozialpfarrer, Herne) undUlla Lötzer (MdB-PDS, Köln). Veranstalter: LINKS TRIFFT SICH, Hernein Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW. e-mail:[email protected].

23./23. Februar, Magdeburg. Die Linke und die Macht. Gestaltungsmacht -Gestaltungsspielraum linker Politik. Gemeinsame Konferenz der Rosa-Lu-xemburg-Stiftung mit dem Bildungsverein Elbe-Saale Sachsen-Anhalt undder PDS-Bundestagsfraktion.

3. März 2002, Bayern: Kommunalwahlen

23./24. März, Fulda: Tagung des Forums Kommunistischer Arbeitsgemein-schaften

21. April, Sachsen-Anhalt: Landtagswahlen

24./25. Mai, Köln: Kommen und bleiben - Migration und interkulturelles Le-ben in Deutschland. Eine Konferenz der RL-Stiftung

27.-31. Mai, Berlin: 17. Ord. Bundeskongress des DGB

16. -18. Juni, Frankfurt/M.: CDU-Parteitag

22. September, Bundestagswahl

Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint als Nr. 1-2 am 18. Januar 2002.

Die PDS auf dem Weg zum WahlprogrammMittwoch, 5. Dezember 2001: Veröffentlichung der „Bausteine“ und Beginn der Partei-Diskussion(siehe auch www.pds-online.de)

Freitag, 11. Januar / Samstag, 12. Januar 2002: Klausur des Parteivorstandes: Verabschiedung des Entwurfes für dasBundestags-Wahlprogramm der PDS als Leitantrag an die 3.Tagung des7. Parteitages der PDS (Rostocker Parteitag).

Freitag, 18. Januar 2002: Veröffentlichung des Entwurfes für das Bundestags-Wahlprogramm derPDS als Leitantrag an die 3. Tagung des 7. Parteitages der PDS (Rosto-cker Parteitag).

Freitag, 1. Februar 2002: Antragsschluss für die 3. Tagung des 7. Parteitages der PDS.

Samstag, 16. März, / Sonntag, 17. März 2002: 3.Tagung des 7. Parteitages der PDS in Rostock: Beschlussfassung überdas Programm der PDS zur Bundestagswahl 2002

Tiefe Trauer um Stefan HeymGabi Zimmer, Vorsitzende der PDS,und Roland Claus, Vorsitzender derPDS-Fraktion im DeutschenBundestag, erklären zum Tode desSchriftstellers Stefan Heym:

Tief betroffen haben wir dieNachricht vom Tode Stefan Heymserhalten. Er war einer der Großendieses Jahrhunderts. Unbestechlichmenschlich, wahrhaftig in Lebenund Werk. Dies brachte ihn in Gegensatz zu Hitler und zuMcCarthy, zu Stalin und zur Politbürokratie der DDR wieauch zu den Mächtigen des wiedervereinten Deutschlands.Im besten Sinne des Wortes selbstständiger Mensch, ließ ersich durch keine Macht korrumpieren oder benutzen. Erhinterlässt uns sein geschriebenes Wort, seine Reden, seineGedanken und wird so fortleben.

Wir vermissen Stefan Heym.Er klärte uns auf und unter-hielt uns, er widersprach, forderte uns heraus, nannte unsunsere Schuld und vertraute auf unseren Willen, uns zu än-dern, als sehr wenige dies taten. Menschen müssen Coura-ge und Gewissen lernen, von anderen Menschen, die beidesleben. Stefan Heym war dieser lebendige Maßstab.

Unzählige werden weiterhin mit Freude und Nutzen Ste-fan Heyms Romane und Erzählungen lesen. Literaten wer-den sich an ihm messen, Historiker Kenntnisse von ihm be-ziehen, Politiker im Licht oder Schatten seiner Rede als Al-terspräsident des 13. Deutschen Bundestages stehen.

Wir waren mit ihm in das Gespräch und in das gemein-same Wirken gekommen. Mit seinen Mustern von Urteilen,Entscheiden und Tun bestimmt Stefan Heym unser politi-sches Gewissen.

Stefan Heym wird uns fehlen.