Text of Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen...
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Marketing und Innovationsmanagement
Herausgegeben von Professor Dr. Martin Benkenstein
Die Schriftenreihe "Marketing und Innovationsmanagement" soli drei
fur die Betriebswirtschaftslehre richtungsweisende For
schungsfelder integrieren: die marktorientierte Unternehmens
fuhrung mit Fragen der Kunden- und der Wettbewerbsorientie rung,
die marktorientierte Technologiepolitik mit allen Fragen des
Innovationsmanagements und schlieBlich das internationale Marketing
mit einer speziellen Fokussierung auf den Ostsee raum und
Osteuropa. Die Schriftenreihe will dabei ein Forum fur
wissenschaftliche Beitrcge zu diesen Themenbereichen des Mar
keting-Managements bieten, aktuelle Forschungsergebnisse prc
sentieren und zur Diskussion stellen.
Martin Benkenstein/Karl-Heinz Brillowski/ Michael Rauscher/Nikolaus
Werz (Hrsg.)
Politische und wi rtschaftl i che Tra nsformation Osteuropas
Chancen und Potenziale fur die neuen Bundeslander
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
(Gabler Edition Wissenschaft : Marketing und Innovationsmanagement)
ISBN-13: 978-3-8244-7251-2 e-ISBN-13: 978-3-322-89643-8 DOl:
10.1007/978-3-322-89643-8
1. AuRage Januar 2001
lektorat: Ute Wrasmann / Sabine Scholler
Der Gabler Yerlag und der Deutsche Universitats-Yerlag sind
Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer.
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Dos Werk einschlieBlich aller seiner leile ist urheberrechdich
geschutzl. Jede Yerwertung auBerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Yerlag~ unzulassig
und stralbar. Dos girt insbeson dere fur Yervielftiltigungen,
Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Yerarbeitung in elektronischen Systemen.
H&hste inhaldiche und technische Qualitat unserer Produkte ist
unser Ziel. Bei der Produktion und Yerbreitung unserer Bucher
wollen wir die Umwelt schonen. Dieses Buch ist deshalb auf sau
refreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die
EinschweiBfolie besteht deshalb aus Polyathylen und damit aus
organischen Grunastoffen, die weder bei der Herstellung noch bei
der Yeibrennung Schadstoffe freisetzen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen
usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung
nicht zu der Annahme, dass solche Na men im Sinne der
Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
waren und daher von jedermann benutzl werden durften.
Vorwort
Am 11. November 1999 jahrte sich die Grundung der Universitat
Rostock zum 580. Mal. Am 10. November 1994 fiihrte die Wirtschafts-
und Sozi alwissenschaftliche FakuWit der Universitat Rostock das
1. Symposium der Gesamtfakultat zum Thema "Osteuropa im Umbruch"
durch. Und am 9. November 1989 Offneten sich die von vielen von uns
fUr undurchdring lich gehaltenen Grenzen der damaligen DDR. All
dies, vor allem aber letzteres, hat die Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Fakultat der UniversiHit Rostock zum Anlass
genommen, mit einer Vielzahl von Fachvortragen und Diskussionen den
Blick nach Osteuropa zu wenden und zu hinterfragen, welche
wirtschafts- und sozialpolitischen Verande rung en sich in diesen
Landem vollziehen und wie diese Vedinderungen auf die
Bundesrepublik Deutschland zuruckwirken. Denn mit der Offnung der
DDR und den Entwicklungen, die sich im Vorfeld dieses Tages und
seither ergeben haben, ist es in Mittel- und Osteuropa zu
politischen und wirtschaftlichen Umbruchen und
Strukturveranderungen gekommen, de ren Ende noch nicht absehbar
ist.
Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultat der
Universitat Rostock hat sich vor diesem Hintergrund sehr gefreut,
dass es auch fUr das 2. Rostocker Symposium zum Thema "Osteuropa im
Umbruch" ge lungen ist, kompetente Referenten und
Diskussionspartner zu gewinnen, die helfen kannen, das diffuse Bild
der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Mittel- und
Osteuropa aufzuhellen. Dabei soUte es nicht zuletzt die Aufgabe
sein zu hinterfragen, welche Auswirkungen die Um briiche in
Osteuropa fUr die Bundesrepublik und dabei spezieU fUr die Neuen
Bundeslander haben.
Urn die verschiedenen Perspektiven der politischen und
wirtschaftlichen Verwerfungen in Osteuropa auszuleuchten, haben
Klaus von Beyme und Tyll Necker zunachst die politischen und
wirtschaftlichen Transformatio nen in den Neuen Bundeslandem und
Osteuropa ausgeleuchtet. Darauf
aufbauend haben Cornelia Zanger, Dietmar Hauler und Volkhardt
KlOpp ner die betriebswirtschaftlichen, Michael Fritsch und Helmut
Seitz die volkswirtschaftlichen und schlieBlich Klaus Ziemer und
Peter A. Berger die politik- und sozialwissenschaftlichen
Perspektiven in den Reformstaa ten Osteuropas, aber auch die der
Neuen BundesHinder hinterfragt.
Abgeschlossen wird die Dokumentation des Symposiums durch die Er
gebnisse einer Podiumsdiskussion unter Leitung von Michael
Rauscher, in deren Rahmen vor allem hinterfragt wurde, welche
Chancen, aber auch welche besonderen Herausforderungen sich durch
die vorgezeichneten Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa fUr die
Bundesrepublik Deutsch land und speziell fUr
Mecklenburg-Vorpommern bereits ergeben haben und sich zukunftig
abzeichnen.
SchlieBlich darf nicht versaumt werden, all jenen zu danken, die
zum Ge lingen des Symposiums und zur VerOffentlichung dieser
Dokumentation beigetragen haben. Deshalb muss unser Dank zunachst
und vor aHem den Referenten gelten. Dariiber hinaus haben alle
Kollegen unserer Fakultat nachhaltig die Gestaltung des Symposiums
mitgetragen. Deshalb gilt auch ihnen unser besonderer Dank.
Hervorzuheben ist dariiber hinaus, dass eine derartige
Veranstaltung und die damit verbundene Publikation ohne die
Unterstutzung der Mitarbeiter unseres Hauses nicht moglich ware.
Wir danken deshalb - in alphabeti scher Reihenfolge und ohne
Anspruch auf Vollstandigkeit: Stefanie Bau er, Dirk Forberger,
Susann Hanns, Michael Holtz, Dorte Peters, Eva Marie Schroder,
Ulrike Schwieg, Stephanie Steiner, Katja Zielke.
SchlieBlich sind wir der Quistorp-Stiftung und dem Gabler Verlag zu
Dank verpflichtet. Durch diese beiden Institutionen wurde die
Herausgabe dieser Dokumentation erst ermoglicht.
Martin Benkenstein
Karl-Heinz Brillowski
Michael Rauscher
Nikolaus Werz
Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der
postkommunistischen Systeme
........................................................... 3 Von
Klaus von Beyme
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 -
Auswirkungen auf die neuen BundesHinder.
....................................... 31 Von Tyll Necker
Zweiter Teil
Betriebswirtschaftliche Perspektiven
Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa am Beispiel
des Kauf- und Warenhausgeschafts in Ungam ................... 83
Von Volkhardt KlOppner
Dritter Teil
Volkswirtschaftliche Perspektiven
Innovationspolitik im Transfonnationsprozess
....................................... 97 Von Michael
Fritsch
Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen BundesHindem
.......................................................................................
119 Von Helmut Seitz
Vierter Teil
Politik- und sozialwissenschaftliche Perspektiven
Innen- und auBenpolitische Lemprozesse in Polen in den neunziger
Jahren
.........................................................................
155 Von Klaus Ziemer
LebensHiufe und MobiliHit in Ostdeutschland
....................................... 171 Von Peter A.
Berger
Abschlussdiskussion
............................................................................
201
Erster Teil
Klaus von Beyme*
2. Der ostdeutsche Sonderweg
................................................................................
9
* Prof. Dr. Klaus von 8eyme, Ruprecht-Karls-Universitat Heidelberg,
Institut flir Politische Wissenschaft
Transfonnation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 5
"Demnach ist festzuhalten, dass bei der Aneignung ei nes Staates
der Eroberer aile Gewalttaten in Betracht ziehen muss, die zu
begehen nOtig ist, und dass er aile auf einen Schlag auszujUhren
hat, damit er nicht jeden Tag von neuem auf sie zuruckzugreiJen
braucht, ohne sie zu wiederholen, die Menschen beruhigen und durch
Wohltaten fur sich gewinnen kann ".
Machiavelli: II Principe. Kap. VIII.
1. Deutschland und Ostdeutschland im transnationalen
Vergleich
Die Transformation Osteuropas hatte auf die neuen BundesHinder
tiberwie gend indirekte Wirkungen, durch den Wegfall der friiheren
Exportgebiete und die wachsende Migration aus Osteuropa. Doch das
alles ist von zweit rangiger Bedeutung gewesen, im Vergleich zu
den Wirkungen der WestOff nung der DDR und der kompletten Ubemahme
des westdeutschen Rechts und Politiksystems.
Ein Vergleich der Entwicklung Ostdeutschlands kann daher nur die
Diffe renz- und nur selten die Ubereinstimmungsmethode der
Komparatistik tibemehmen. Es gibt keinen most similar case, so
lange andere geteilte Nati onen, wie Korea, nicht zum Vergleich
herangezogen werden konnen. In Vietnam siegte der kommunistische
Teil und muss sich nun miihsam der Marktwirtschaft Offnen. Dieses
Beispiel hat jedoch ilir die Komparatistik keinen Bildungswert und
ist ein einmaliger Fall, der allenfalls der histori schen
Forschung offen steht. Der Vergleich der Folgen der Vereinigung
muss zwei Sets von Daten be ntitzen:
(1) Vergleichende Indikatoren zur Lage der osteuropaischen
Wirtschaft (vgl. Tabelle 1) (2) OEeD-Daten tiber die Entwicklung
Deutschlands nach der Vereinigung im Rahmen der westeuropaischen
Lander (vgl. Tabelle 2)
6 von Beyme
1m Vergleich mit Osteuropa schneiden die neuen BundesHinder weit
besser ab als die anderen post-kommunistischen Gebiete - mit
Ausnahme der Indi katoren Wachstum und Arbeitslosigkeit.
• Der Anteil des Privatsektors ist hOher als irgendwo in Osteuropa.
Der Preis fUr diese Effizienz einer Treuhand, die den Teufel des
Staatssozi alismus mit dem Beelzebub einer parastaatlichen
Superbfuokratie aus trieb, war hoch. 30% Liquidationen hat es in
kaum einem Transforma tionsprozess gegeben. In anderen Systemen
wurden vielfach Transformationsmixe angewandt, die Staatswirtschaft
und Privatwirt schaft unterschiedlicher Untemehmensform
sozialvertraglich zu mi schen versuchten, vor all em in
Polen.
• Die Haushaltsdefizite in Osteuropa sind abenteuerlich hoch
(Russland -6,0; Polen -3,0; Ungam -5,1). In Deutschland zwangen die
Maastricht Kriterien zu einer ausgeglichenen
Haushaltspolitik.
• Die Auslandsschulden belasten die neuen Demokratien (in Prozent
des BSP: Russland 25%, Polen 31 %, Ungam 58%). Der Anteil
Ostdeutsch lands zum Abbau der Staatsschulden ist gering. Aber der
"groBe Bru der" hat fUr den sofortigen Anschluss zur gesamten Hand
gehaftet. Die Staatsschulden in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
sind in ganz Deutschland nicht so hoch, wie man 1990 befUrchtet
hat. Sie liegen bei 60% des BIP. Selbst die USA hatten 199864,6%
und Japan 93,4% als wichtiger Konkurrent im AuBenhandel, der
Deutschland auf dem 3. Platz dicht auf den Fersen ist in seiner
Eigenschaft als Vizeweltmeister im Welthandel (nach den USA). Dass
Italien innerhalb der EU mit 122% an der Spitze liegt, kann kein
Orientierungspunkt fUr eine deut sche Stabilitatspolitik
sein.
• Die Steuern und Abgaben in Prozent des Bruttosozialprodukts sind
in Deutschland durch die Vereinigung gewachsen. Sie lagen bei 41,9%
(1985) und 38,5% (1990). 1995 waren sie wieder auf 41,9% des BIP
gewachsen. Belgien und die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten liegen
weit hoher; Japan, die Schweiz und die USA traditionell weit
tiefer. Die
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 7
Reduzierung der Staatsquote fUr welche die Regierung Kohl
angetreten war, konnte durch die Belastungen der Vereinigung nicht
gehalten werden. In Osteuropa scheint die Steuerquote z.T. geringer
(1994: 28%). Das drastische Sinken der Steuerquote war jedoch kein
Vorteil. Vor aHem in Russland zerfiel die extraktive Kapazitat des
Systems. Viele Regionalregierungen entschieden willktirlich oder
nach bilatera len Verhandlungen, welche Steuerlast sie an die
Zentrale abfiihrten. Diese war daher nicht imstande die notige
Sozialpolitik zu betreiben. In Russland wurde diese indirekt und
dezentral geleistet: Steuemach lass fUr Betriebe, die keine
Arbeitskrafte freisetzten. Der Modernisie rung der Volkswirtschaft
wurde freilich mit solchen Stillhalte abkommen nicht
gedient.
• Das Wachstum ist tiberaH in Osteuropa in die roten Zahlen
geraten. Die frohe Botschaft lautet selbst fUr Russland inzwischen
"the worst is over" (Russland 2%, Polen 6%, Ungam 3,5%).
Ostdeutschland harte in der take-off-Phase Wachstumsraten, die
hOher lagen. Umso beangsti gender ist der spatere Einbruch. Die
Prognosen fUr einen gesamtdeut schen Boom von 2-3% betreffen nicht
die neuen Bundeslander, die weiter zurUckfallen werden.
• In der Inflationsbekiimpfung hat Ostdeutschland im Windschatten
der Bundesbank die Segnungen der Maastricht-Politik voll erhalten.
1-2% Inflation erscheint spektakular angesichts der Prognosen von
1990, die zehn und mehr Prozent prognostiziert hat. In Russland
betrug die Infla tion (1998) noch 28%, in Polen noch 12%, in Ungam
noch 14% und das ist immer noch gtinstiger als in den
Balkanstaaten.
• Die Arbeitslosenquoten sind im Osten wenig verlasslich.
Deutschland ist selbst im Westvergleich Leidtragender aufgrund
seiner exakten Sta tistik und der hohen Sozialtransfers, die es
lohnend machen, sich ar beitslos zu melden. Dies ist in Russland
nicht gegeben. 11 % gemeldete Arbeitslosigkeit ist nur die Spitze
des Eisberges. Geringe Arbeitslosig keit ist im Osten vielfach
auch ein Zeichen einer illiberalen Politik. Marktwirtschaften, die
sich westlichen Kriterien Offueten, kommen nahe an ostdeutsches
Niveau heran (1998: Polen 13%, Ungam 10,5%).
8 von Beyme
Ein Teil der hohen ostdeutschen Arbeitslosigkeit erkHirt sich aus
der raschen Ubernahme des westlichen Systems. Keine Wirtschaft der
Welt hatte eine Geldaufwertung von 300% tiberstanden. Zurn Teil ist
die Krise auch eine Folge der hoheren Beschliftigungsquote (vor
allem unter den Frauen). Es wird jedoch nicht mehr erwartet, dass
ostdeut sche Frauen sich ans Westniveau anpassen. Der urngekehrte
Anpas sungsprozess gilt den Arbeitsmarktpolitikern als
wahrscheinlicher.
• Die Exportkraft der neuen Bundeslander hat durch die
Transformation stark gelitten. Von dem deutschen Volurnen 950
Milliarden DM mit einem Plus von 7,1 % haben die neuen Bundeslander
geringen Anteil, am meisten Sachsen (plus 15%) und am wenigsten
Mecklenburg Vorpommern (plus 1,9%) bei einem ziemlich geringen
Ausgangsni veau. Unter der absoluten Zahl von Mecklenburg liegen
nur Bremen, Saarland, Berlin und Brandenburg. Ganz Deutschland
exportiert kraf tig nach Osteuropa mit 112 Milliarden. Doch die
Zahlen trtigen. Allein Frankreich hat einen Anteil von 106
Milliarden am deutschen AuBen handel.
• Bei den Direktinvestitionen in Osteuropa von 18.7 Milliarden
Dollar ist Deutschland mit 20% vor den USA mit 14% und Frankreich
mit 7,7% vertreten. Aber der alte hohe Anteil des AuBenhandels der
DDR - der einmal 10% des gesamten sowjetischen Imports ausmachte -
hat die Vereinigung und den Ubergang zur Marktwirtschaft nicht
tiberlebt.
Die Btirger der neuen Bundeslander sind keine Komparatisten. Es
trostet sie nicht, dass sie im Vergleich zu Osteuropa einmalige
Spitze sind. Nur bis 1990 hat der Vergleich im RGW als die Nr. 1
des Wohlstands im Ostblock erhebende Wirkungen gezeigt. Vielleicht
soUte wieder einmal der Ostver gleich den Westvergleich erganzen,
urn nicht zu allzu harschen Urteilen tiber die Wirkungen der
Einheit zu gelangen.
Die Schrumpfung der industriellen Basis Ostdeutschlands war
betrachtlich: 1991-1992 ca. 57%, am starksten in ThUringen (-65%),
am geringsten in Brandenburg (-49%). Diese war die unvermeidliche
Folge des sofortigen Beitritts der DDR. Es gab jedoch keine
Alternative. Eine Verschiebung hlit-
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 9
te zu einer beispiellosen Abwanderungsquote gefiihrt und die
Sanierung der DDR-Wirtschaft ware nur mit westdeutschen Transfers
zu leisten gewesen, die bei staatlicher Unabhangigkeit schwerlich
in der Hohe der Nachverei nigungsziffem geflossen waren. Die
Stimmung der westdeutschen Politiker war etwa, wie Lambsdorff es in
Worte fasste: "Die konnen doch nicht auf unsere Kosten noch ein
bisschen Sozialismus spielen". Daher entfallt auch das gemilderte
Szenario, man hatte die Regierung de Maiziere bis zum
Staatsbankrott weiterwursteln lassen sollen, damit die Ostdeutschen
den Ernst der Lage voll erfassen. Einmal haben sie diese durchaus
in ihren Be trieben versptirt. Zum anderen ware das Szenario
riskant gewesen. Schon so kam die Meinung auf: "Wir mUssen die DDR
kaufen - und zwar zu U berhohten Preisen". Trotzdem hat man sich
weiter Illusionen gemacht, was die Treuhand aus dem Verkauf des
DDR-Vermogens fUr Gewinne erzielen wiirde. 1m schlimmsten Fall
hatte dieses Szenario dazu gefiihrt, dass der Deutsche Bundestag
nach einigen Jahren nicht mehr anschlussbereit gewe sen ware, aber
auch die Praambel nicht hatte andem konnen (wofUr seit langerem
viele Griine und SPD-Mitglieder gewesen sind). Die DDR hatte sich
dann in Karlsruhe auf der Grundlage der Praambel in die Bundesrepu
blik hineinklagen mUssen - flirwahr ein unwiirdiges Schauspiel, das
uns zum GlUck erspart worden ist.
2. Der ostdeutsche Sonderweg
Kaum hat die Sozialgeschichte begonnen, liebgewordene Stereotypen
Uber den deutschen Sonderweg zu hinterfragen, kam es zu einem neuen
deut schen Sonderweg. Nur Ostdeutschland wurde durch kompletten
Transfer der Institutionen, durch finanzielle Transfers, welche die
Marshallplan Gelder, die Westdeutschland einst erhielt, urn ein
zehnfaches und mehr U berstiegen, und durch umfangreichen Transfer
der Eliten transformiert. 1m transnationalen Vergleich lieBen sich
im Ausland die alten Stereotypen des kolonialen "Drangs nach Osten"
wiederbeleben. "Enthauptungsstrategie" und "Therapie auf dem
elektrischen Stuhl" (Bryson 1992:138) lauteten die Urteile. Eine
"Suizidartige Angliederung" (DiimckeNilmar 1995:7) wurde bedauert.
Aber selbst bei den eifrigsten Kolonialisierungstheoretikem war
es
10 von Beyme
schwer, die Mitschuld der Kolonialisten zu tibersehen: "Der ...
HeiBhunger auf die stabile Mark knurrte lauter in den Magen der
DDR-Btirger als der Appetit auf alternative Politikfonnen"
(ebd.:73).
Der Bund - und vor allem die westdeutschen Lander - haben viele
kurzsich tige Fehler gemacht. Die Lander haben den Bund finanziell
tibervorteilt und bekarnen Schritt fur Schritt die Rechnung durch
Aushohlung von immer mehr Kompetenzen der Lander prasentiert.
Selbst in der Kulturpolitik haben sie sich gedrtickt, in der dem
Bund eigentlich die Kompetenzen fur sein En gagement fehlten. Die
Selbstgerechtigkeit Westdeutschlands, die nicht ein mal nach dem
sofortigen Beitritt einen verfassungsgebenden Prozess in Gang zu
setzen wagten, der ungefahrlich und doch integrativ hatte wirken
konnen, war machiavellistisch konsequent. Die Einigungsarchitekten
haben klar die Parole ausgegeben: "Ich habe immer eisern auf dem
Grundsatz be harrt, es gehe jetzt urn die Einheit und nicht darum,
bei dieser Gelegenheit etwas fur die Bundesrepublik zu andern. Die
Wiedervereinigung ist nicht die giinstige Gelegenheit, etwas durch
die Hintertiir durchzusetzen, was oh ne diese Gelegenheit seit
Jahren nicht gelungen ist" (Schauble 1991:156). Selbst die
zogernden Kolonisatoren, die in der ersten Goldgraberphase bei
seite standen, wie die Gewerkschaften, haben Anteil an dieser
tiberforcierten Integration, welche die Tarifvereinbarungen
praktisch zu einem ,,Beschafti gungsverbot in diesem Landesteil"
werden lieBen (Sinn/Sinn 1991: 150). Der Schock ohne Therapie
(WiesenthaI1995:141) hatte selbstmorderische Aspekte im Bereich der
Sanierung von Industrien und Erhaltung von Ar beitspUitzen. Aber
er hielt sich an die machiavellistische Maxime, dass Staa
teneroberer unvenneidliche Grausarnkeit kurz und auf einmal begehen
mtissten, urn langsarn Vertrauen durch "Wohltaten" zu erwerben. Die
Transfonnationsschocks wurden zeitgleich und irreversibel
angesiedelt. Wiesenthal (1995:140) sah darin nicht nur die
Grausarnkeit gegentiber den Kolonisierten. Man war gleichsarn hart
gegen sich selbst und brutal gegen andere. Der Akt heroischer
SelbstgeiBelung galt dem demokratischen Be trieb in
Westdeutschland, der in seinem nonnalen fragmentierten, halbsou
veranen Zuschnitt eine Ftille von halbherzigen MaBnahmen vorgezogen
hat teo In der Transfonnation musste gleichsarn sicher gestellt
werden, dass die MaBnahmen nicht von Anfang an abgeschwacht werden
konnten. Dies ge schah noch frtih genug, als
Beschleunigungsgesetze alte Fehler korrigieren
Transfonnation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 11
mussten und rigide egoistische Grundsatze, wie die liberale Maxime
"Ruck gabe vor Entschadigung" langsam verwassert werden
konnten.
Die Transformationsstrategie als deutsche Besonderheit bestand in
ihrem altmodemen Holismus, der von der Theorie langst als unmoglich
zu den Akten gelegt worden war. Das Unwissen uber die Prozesse der
Transforma tion und die mangelnde Fahigkeit zur Prognose, in
Bereichen, wo nicht einmal, wie sonst bei Innovationsentscheidung,
,,half knowledge" herrscht, entfaltete eine politische Dynamik, die
bei Routinepolitik ganz undenkbar ware. Sie erwies sich als
Vorteil, wo eine technokratische Politikkonzeption nur Nachteile
wittem wiirde (v. Beyme 1995a). Obwohl die deutsche Trans
formation voluntarisch und auf der Basis heroischer Annahmen oder
sogar Mythen ad hoc konzipiert wurde, ist ihr
"Demokratievertraglichkeit" be scheinigt worden
(WiesenthaI1995b:528), weil sie sich urn Widerstande or
ganisierter Gruppen nichtkiimmem musste und irreversible Fakten
schuf, die selbst der politische Demiurg, der sie schuf, nicht
willkiirlich wieder an dem konnte. Politik fiel so in die
Frtihzeit des Konstitutionalismus zurUck: Ohne viel Rucksicht auf
die Betroffenen wurde patemalistisch entschieden - "car tel est
notre plaisir." Aber der Furst war nicht mehr Absolutist. Er hielt
sich an die geschaffenen Regeln, wie ein deistisch gedachter Gott
als Uhr macher der Welt nicht mehr willkiirlich in das
selbstgeschaffene Raderwerk eingriff. Da ein so umfangreiches
Transformationswerk mit den normalen Prozedu ren der Vorbereitung
von Gesetzgebung nicht zu bewaltigen war, war das "Durchwursteln"
mit einem Maximalziel ohne wissenschaftlich solide Vor bereitung
der einzelnen Schritte, die dort hinfiihren sollten, vermutlich die
einzige Moglichkeit zu handeln. Die Bundesregierung hat sich schon
langer urn die wissenschaftliche Einschatzung des Handlungsbedarfs
ex ante be moot und die Evaluation getroffener MaJ3nahmen ex post
verbessert. In den Priiffragen des Innen- und Justizministeriums
sind 10 Hauptfragen als Mess latte an aufkommende Probleme gelegt
worden. Die erste Frage traf die Re gelungsfahigkeit eines
Problems, die zweite fragte nach den Altemativen. Das Ganze war auf
Nichtentscheidung geeicht: im Zweifel sollte der Ge setzgeber sich
zurUckhalten (Text in: GrimmIMaihofer 1988:420-423). Eine fundierte
Ex-ante-Evaluation hatte vielfach schon zur Vemeinung der Re
gelbarkeit gewisser Probleme im Transformationsprozess gefiihrt.
Die Prii-
12 von Beyme
fung des Handlungsbedarfs nach den Regeln der beiden Ministerien
sind fUr Innovations- oder gar Transfonnationsentscheidungen nicht
anwendbar, weil sie zu stark auf die Routinegesetzgebung
zugeschnitten sind.
Die soziologische Transformationsforschung geht weniger von
gesetzes technischen Kriterien aus. Vier Kriterien wurden zur
Messung des sozialen Wandels vorgeschlagen: Tempo, Tiefgang,
Richtung und Steuerbarkeit (Zapf 1995:69). Diese Kriterien konnten
im Falle Ostdeutschlands zu allzu positiver Bewertung verleiten:
das Tempo war atemberaubend, die Tiefe der Eingriffe betdichtlich.
Die Richtung - Dank der Schnelle und Tiefe der Ein griffe kam es
zu keinen Richtungsanderungen, wie in fast allen osteuropai schen
Nachbarstaaten, die ein Comeback der Reformkommunisten oder we
nigstens die Ruckkehr der sozialvertraglichen Kompromissstrategien
erlebten - wurde in einigen Beschleunigungsgesetzen nur
unwesentlich verandert. Allenfalls bei der Steuerbarkeit tauchen
Zweifel auf. ,,Bliihende Landschaften" waren versprochen worden.
Aber hat jemand diese blumigen Fonnulierungen wortlich genommen?
Die zentrale Steuerbarkeit der Bun desebene war begrenzt. Die
Steuerungsfunktionen wurden weit gestreut, auf staatliche
Institutionen (Bund, Lander, Kommunen), aufparastaatliche Insti
tutionen. Die Treuhand hatte die undankbare Aufgabe den "Teufel der
Staatswirtschaft" mit dem "parastaatlichen Beelzebub" einer
Mammutbe horde auszutreiben. Immerhin hat sie ihren Zeitplan
eingehalten und sich selbst als "original sin" im Vergleich zu
allen anderen angeblich einmaligen SUnden, die neue Regime in der
Institutionengeschichte begingen, wirklich tenningerecht
uberflussig gemacht. Die gewichtigsten Steuerungsfunktionen in wei
ten Bereichen, wie der Agrarpolitik, Lohnpolitik, soziale
Sicherung, Gesundheitswesen, Forschungspolitik und Hochschulpolitik
wurden weit gehend von nichtstaatlichen gesellschaftlichen
Akteuren bewaltigt. Die U bemahme westlicher Institutionen - und
was einmalig war im Vergleich zu anderen Sektoren, in denen
nichtstaatliche westliche Akteure mitwirkten, selbst bei den
Rundfunkanstalten - die Ubemahme der groBen Mehrheit des
Forschungs- und Lehrpersonals aus dem Westen, ist als unvenneidlich
an gesehen worden (Lepsius 1991: 144, Zapf 1995 :70).
Die okonomischen Evaluationskriterien waren am stlirksten von der
Gleich zeitigkeit der Transfonnation des Wirtschafts- und des
politischen Systems
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 13
gekennzeichnet. Wo die Okonometriker von politischen Bedingungen in
der Entwicklung der Wirtschaftssysteme weitgehend abstrahierten,
mussten die Transformationsokonomen nun empfehlen, alles aus dem
Datenkranz wie der herauszuholen, das friiher dort hinein verbannt
worden war (Hedtkamp in: Gahlen 1992:88). Die Okonomen empfahlen
vielfach der Schaffung des rechtlichen-institutionellen Rahmens
Prioritat zu geben, und nach einer ge samtwirtschaftlichen
Stabilisierung erst in der dritten Phase die Privatisie rung
umfassend voranzutreiben (Kloten in Gahlen 1992:29). Daran hielt
sich kaum ein postkommunistisches Land. In Osteuropa begann die
Privati sierung als Manager-Privatisierung notfalls anomisch. Im
ostdeutschen Sonderweg war die erste Phase durch komplette Obemahme
des Rechtssys terns und der Institutionen ubersprungen worden und
die Privatisierung konnte sofort mit der Losung aller anderen
Probleme simultan beginnen.
FUr die Neuordnung der Eigentumsverhaltnisse gab es
unterschiedliche Mo delle: neb en der zentral gesteuerten
Treuhand-Privatisierung (Ostdeutsch land, Bulgarien), gab es
Ministerien oder andere Hauptverwaltungen, die sich dieser Aufgabe
stellten. Sie wurde, wie in Russland, Polen oder Tsche chien
vielfach mit der Voucher-Privatisierung kombiniert. Ein dritter
Typ, wie in Ungam, der von Fall zu Fall pragmatisch entschied und
vor aHem auf die Gewinnung auslandischen Kapitals gerichtet war,
lieB sich unter scheiden. Immer wieder ist auch fUr Ostdeutschland
die Voucher-Privatisierung in ei ner Variante als
sozialvertraglich nahegelegt worden (Sinn/Sinn 1991:11Off). Nach
den ublichen Evaluationskriterien ist der Streit schwer zu
schlichten: Tempo und Vollstandigkeit garantieren das
Treuhandmodell am ehesten. Die Sauberkeit des Prozesses und die
Minimierung der Korruption ist theoretisch beim
Vouchermodellieichter zu erreichen. Es zeigt sich frei lich bei
den Mischungsverhaltnissen, von Anteilseignem, die vor allem in
Polen geschaffen wurden, dass auch die Traditionen der Rechtskultur
hier nicht weniger wichtig sind als das gewahlte
Privatisierungsmodell. Chan cengleichheit der Burger beim Erwerb
von Eigentum wird yom Treuhand modell nicht ermoglicht. Nicht
einmal auslandische GroBuntemehmen fiihl ten sich gleichberechtigt
in der Verteilung des aufgelOsten Staatseigentums der DDR.
Kleinanbieter hatten kaum Chancen. Die EfJizienz der verblei
benden Wirtschaftseinheiten war im Treuhandmodell groBer, wamend
das
14 von Beyme
Vouchennodell zu chronischer Unterversorgung mit Kapital fiihrte.
In der Fiihigkeit, ausliindisches Kapital anzuziehen, waren beide
Modelle begrenzt erfolgreich und das pragmatische Modell Ungarns
schien uberlegen.
Die Wahl der Wirtschaftsstrategie in den Refonnstaaten schlieBlich
zeigte, dass viele Randbedingungen in die Evaluation der Erfolge
von Transfonna tionsprozessen einbezogen werden mussen. Polen und
Russland versuchten es voriibergehend unter Balcerowicz und Gajdar
mit einer Schocktherapie. Sie hatte gewisse Erfolge in Polen und
geringe in Russland. Die Differenz ist mit mehreren Randbedingungen
erkHirt worden (Ellmann 1992:51). Die Lohnkontrolle musste im
Staatssektor aufrechterhalten werden. In Polen wurden Betriebe, die
hohere Lohnsatze gewahrten als die staatlich vorgege benen und
damit urn mehr Staatssubventionen einkamen, mit einer Art
Strafsteuer (popiwek) belegt (WiesenthaI1995:139). Die
Inflationsbekamp fung musste effektiv sein und die ausHindischen
und inHindischen Stabilisie rungshilfen mussten gegen mafioses
Versickem geschutzt sein. In Russland war dies nicht der Fall. Die
schiere GroBe des Landes und das Bewusstsein vieler Kader "im Felde
unbesiegt" urn den realen Sozialismus geprellt wor den zu sein,
konnte keine staatliche Lenkung im Transfonnationsprozess ef
fektiv werden lassen.
Die Kriterien der soziologischen Transfonnationsforschung messen
den outcome und den impact in mittelfristiger Perspektive.
Politikwissenschaftli che Evaluationskriterien sind in der Regel
eklektische Biindel aus den ver schiedenen Bereichen der
Rechtswissenschaft, der Okonomie und der So ziologie, unter
Hinzufiigung eigener Kriterien. Sechs Kriterien sind in der
Evaluation staatlicher MaBnahmen im Schwange:
(l) Die Regelungsfohigkeit eines Problems. Sie wurde
dezisionistisch ge setzt. Es gab kein Rezept fur den Ubergang von
einer Plan- zur Marktwirt schaft, und es konnte in einer freien
Gesellschaft keines geben, wo nicht einmal der Marxismus fur Lenin
ein Konzept des Ubergangs vom Kapita lismus zum Sozialismus bereit
gehabt hatte. Die Ziele wurden gesetzt. Sie waren von der
heroischen und mythischen Annahme begleitet, dass Privat eigenturn
effizientere Wirtschaftsbedingungen schafft als
Staatseigentum.
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 15
(2) Prozedura1e Effizienz: Das Tempo der Vedinderung Ein deutscher
Sonderfall der besch1eunigten Schaffung von faits accomplis lag
anfangs in der intemationa1en Unsicherheit der Lage. Die Zeitsach
zwange waren zunachst auI3erer Natur. Bis zu den Zwei-p1us-Vier
Verhand1ungen musste noch befUrchtet werden, dass eine unhei1ige
Allianz von Freunden in Westeuropa und Feinden in den Resten des
sozialistischen Lagers sich aufnichts einigen konnten a1s auf das
Veto gegen die Vereini gung. Mitterand hat dabei zweifellos auf
Gorbatschow gesetzt und seinen Widerstand erst aufgegeben a1s die
sowjetische Karte nicht mehr stach. Die spateren Zeitzwange der
ersten Phase waren gerade in Deutschland von ei ner panischen
Angst vor dem Denken in Termini des "Dritten Weges" ge zeichnet.
Das Lambsdorff-Diktum, dass man doch nicht "auf unsere Kos ten"
noch ein bisschen Sozia1ismus weiterspielen konne, deutete dies an.
In keinem Reform1and wurde so stark auf irreversible Entscheidungen
gesetzt, wei I kein Land soviel Hilfe von auI3en bekam.
Ostdeutschland musste noch einma1 vollziehen, was aIle Deutschen
gemeinsam 1945 hinter sich gebracht hatten: "unconditional
surrender". Wie 1945 fUr Westdeutsch1and 10hnte sich diese
Unterwerfimg, wei1 die Bundesrepublik zur gesamten Hand hafte teo
Die westlichen AIliierten tiberwanden ihre Bedenken gegen den
verein ten deutschen Moloch aufgrund der Mog1ichkeit, die Kosten
fiir die Integra tion der DDR in Deutschland zu intemalisieren. In
einer Demokratie, in der der Osten wenigstens ein Fiinfte1 aller
Wahlerstimmen steIlte, war das Wag nis begrenzt. Westdeutsch1and
konnte sich nicht 1eisten, die Erwartungen Ostdeutsch1ands vollig
zu enttauschen, da ein ostdeutsches Sonderparteien system - wenn
die An1iegen nicht mehr im gesamtdeutschen Parteisystem
durchsetzbar schienen - zu einer Sperrminoritat hatte fiihren
mtissen, eine Sperrminoritat, welche die PDS mit ihrem Fiinfte1
innerha1b des Fiinfte1s der ostdeutschen Stimmen nicht aufbauen
konnte. Auch politisch war die Integ ration irreversibel
vollzogen. Das ostdeutsche Protestpotential war auf den Weg einer
Pressure group verwiesen. Aber auch dieser Weg wurde tiber ko-
10nialisierende Organisationen gegangen. Die Verbande haben trotz
der Ausdehnung ihrer Strukturen auf ostdeutsches Gebiet sehr
flexibel auf die Bediirfnisse der ostdeutschen Bevolkerung
Rticksicht genommen. Das gilt keineswegs nur flir die zogerlichen
Kolonisatoren, wie die Gewerkschaften, sondem auch fUr Verbande,
die im Westen nach a1terti.imlichen Idea1en des mitte1bauerlichen
Fami1ienbetriebes 1ebten und doch im Osten die Trans-
16 von Beyme
fonnation der LPGs, vielfach von alten Kadem gesteuert, in ihrer
neuen Gestalt als "Agrobusiness" akzeptiert haben.
Das Tempo des Transfonnationsprozesses setzte sich nicht in
entsprechende Erfolge der "bliihenden Landschaften" urn. Einerseits
erwiesen sich die un gekHirten und nicht in gleichem Tempo
kHirbaren Eigentumsverhaltnisse als Hemmschuh fUr den Aufschwung.
Andererseits waren Beschleunigungsge setze nOtig, weil die
TransfonnationsmaBnahmen nicht hinreichend griffen. Der Zwang, zur
Aufrechterhaltung und Beschleunigung des Veranderungs tempos immer
neue MaBnahmen starten zu mussen, ist als "Verostung der
bundesrepublikanischen Staatspraxis" gebrandmarkt worden, weil er
an das Kampagnen-Unwesen des realen Sozialismus zu erinnem schien
(Offe 1994: 267). Der Neokapitalismus teilte in der Tat mit dem
alten Sozialis mus, den er als Erbfeind ansah, die Illusion, dass
MaBnahmen, die nicht griffen durch mehr MaBnahmen in die gleiche
Richtung ersetzt werden mussten. Beide Paradigmen lieBen sich ungem
durch Skepsis gegenuber dem Endziel beirren, obwohl die
Chicago-Boys von Chile bis Israel doch vielfach hinreichend
Niederlagen erlitten hatten. Die Praxis immer neuer
Beschleunigungen ist aber kein Privileg unter den
Transfonnationsentschei dungen. Wo Staaten handeln, obwohl der
Erfolg von MaBnahmen kaurn ra tional kalkulierbar ist und doch von
den Wahlem Handlungen verlangt wer den, wird vielfach ganz ahnlich
optiert. Man denke an den Bereich der Asylverfahrensanderungen und
der Terrorismusbekampfungsgesetze.
(3) Die Einschatzung von MaBnahmen als innovativ oder bloJ3
reaktiv, die bei nonnalen Staatstatigkeiten eine Rolle in der
Evaluation spielt, stellt sich in Transfonnationsprozessen so
nicht. Die restaurative MaBnahme, die Wiederherstellung des
Privateigenturns gilt als ipso facto innovativ. Umge kehrt gilt
den Kritikem der Kolonialisierungspolitik nur der Erhaltungsgrad
der "Errungenschaften der DDR" als Kriteriurn der Innovation. In
einigen Bereichen, wie dem Gesundheitswesen wurde dem DDR-System
auch von offiziellen Publikationen Westdeutschlands bescheinigt,
dass der outcome an Indikatoren der Gesundheit gemessen, im ganzen
etwa aquivalent war (Indikatoren 1993:628). Dennoch hielt sich das
Gesundheitssystem der DDR nicht, weil die Mehrheit der Arzte der
DDR, nach anfanglichem Zo gem, den Sirenenklangen des Westens und
der Hoffnung auf gesteigertes
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 17
Einkommen folgte. Die Patienten wurden nicht gefragt, ob sie die
Errungen schaften erhalten wollten oder das westdeutsche
Praxis-System iibemehmen wo11ten. Sie konnten sich erst nach
einigen Jahren in den Umfragen auBem und da waren die BUrger
Ostdeutschlands in ihren Optionen durchaus ge spalten (Kocher
1994:5).
Die Nostalgie nach den Errungenschaften iibersah vielfach die
Dynamik des egalisierenden Rechtsstaats. Der liickenlose
Rechtswegstaat konnte nach dem Beitritt nicht an der friiheren
Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufgehalten werden.
Die Architekten der Einheit, wie Schauble (1991:153), haben
glaubhaft versichert, dass sie sich die Dbertragung des
westdeutschen Rechtssystems durchaus ohne sofortige Einfiihrung des
"Nachtbackverbots" vorste11en konnten, und dass manche Normen im
Bau-, Sozial-, oder Umweltrecht in ihrem Perfektionismus sogar
negative Folgen in Ostdeutschland entwickeln konnten. Aber die
Selbstkolonialisierung hat auch in diesem Punkt an der
Beschleunigung der Rechtsvereinheitlichung mitgewirkt. Die
DDR-Unterhandler haben in der zweiten Runde der Ver handlungen
ihren Standpunkt der Autonomie des DDR-Rechts weitgehend
aufgegeben, wei 1 der vorauseilende Gehorsam im Rechtssystem die
naehei lende soziale Integration in der Angleichung der
Lebensverhaltnisse ver sprach. Es kam auch in diesem Punkt zu
einer Enttauschung. Der alte Artikel 72,3 Grundgesetz hatte noch
von der "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebens verhiiltnisse"
gesprochen. Von "Wahrung" konnte fur Ostdeutsehland nieht die Rede
sein. Bei der Gelegenheit der Anderung des Grundgesetzes kam ein
aktiverer Zungensehlag in den neuen Art. 72,2 GG, wei 1 nun von
"Her ste11ung" die Rede war. Aber die Einheitliehkeit der
Lebensverhaltnisse war nun auf ,,gleichwertige Lebensverhiiltnisse"
gesehrumpft. Damit sehien ei nerseits ein unterprivilegierter
Sonderweg Ostdeutsehlands mit dem Grund gesetz vereinbar gemaeht.
Andererseits - haben aueh nieht direkt durehsetz bare Normen, wie
der Artikel 72, we1che nur Anhaltspunkte fur die Befugnisse des
Bundes bei der konkurrierenden Gesetzgebung bieten so11- ten, eine
Verselbstandigung erlebt. Sie werden dureh ihren Appe11eharakter
wie ein Verfassungsgebot ausgelegt. Es waren eher westliehe Akteure
in Ostdeutschland, die vor diesem Appell wamten, wie
Biedenkopf(1992:64). Sie mieden eine unreflektierte Aufholjagd und
lieBen die alte Ulbrieht-
18 von Beyrne
Maxime unter neuem Vorzeichen wieder aufleben: "Oberholen ohne
einzu holen". Die administrativen Akteure, der "Kolonialisten"
verdachtigt, ver halten sich jedoch auch ohne Grundgesetz-Appell
so, als ob die soziale In tegration in der klirzest moglichen Zeit
das Transformationszie1 sei. Auch die Soziologen, die dem Tempo aus
modemisierungstheoretischer Sicht wohlwollend gegeniiber stehen,
waren skeptisch, dass dies in wenigen Jah ren erreicht werden kann
(Zapf 1995:78). Bei der dennoch angesetzten Auf holjagd wird immer
wieder vergessen, dass zu den "gleichwertigen Lebens
verhaltnissen" auch solche Bereiche gehOren, in denen der Osten
schon im alten Deutschen Reich einen permanenten Nachteil
gegeniiber Westdeutsch land hatte, wie im Wohnungswesen und vor
allem im Wohnungseigentum (v. Beyme 1995:62). Auf diesen Gebieten
gleichzuziehen wird Jahrzehnte dauem.
(4) Selbst bei hoher Zieltreue von staatlichen MaBnahmen kann das
AusmaJ3 der nichtintendierten Nebenfolgen partielle Erfolge
konterkarieren. Bei Transformationsentscheidungen sind die
Reaktionen der Betroffenen kaum zu antizipieren. Transformatoren
brauchen daher mindestens soviel soziale Kompetenz wie
politisch-organisatorische Fahigkeiten. Zu den unerwiinsch ten
Nebenfolgen gehOrt die Zersplitterung und Informalisierung der Ent
scheidungsprozesse, die Entstehung immer neuer Beratungsgremien und
Nebenhaushalte (Czada 1994:247). Bei der Evaluation vieler fUr
erfolgreich angesehenen Gesetze spie1en Mitnahmeeffekte eine groBe
Rolle, wie bei WohnungsbaufOrderungsmaBnahmen und protektiven
Gesetzen im sozialen Bereich. Dass die Zahl der ungerechtfertigten
Bereicherungen in einem Transformationsprozess hOher ist als bei
Routineentscheidungen, ist ver standlich. Aber diese Einsicht
sollte vor iibertrieben scharf en Bewertungs kriterien schiitzen,
wo die Staaten sich doch schon iiberlegen miissen, ob sie
hinreichend Kapazitat haben, Baustellen auf Schwarzarbeiter hin zu
kontrol lieren. Die taglichen Enthiillungen iiber
Subventionsbetrug miissen mit ost europaischen
Transformationsprozessen verglichen werden. Das System der
Transfers wird in Deutschland nicht grundsatzlich mafios gehandhabt
und es kommt von dem Geld vergleichsweise mehr an den vorgesehenen
Ort als in anderen ex-sozialistischen Landem. Der Bund hat sich
1990 von den Lan dem in der Finanzierung der Einheit
ausmanovrieren lassen. Er rachte sich gleichsam durch einen
geringen Anteil von Finanzierung durch Steuem im
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 19
Vergleich zur Kreditaufuahme und der Abwalzung von
Einigungsfolgekos ten auf die Beitrage zur Sozialversicherung
(Mading 1995:111). Aber tiber die regionale und funktionale
Verteilung der Transfers bei der Empfanger seite wurde bisher
weniger Klage gefiihrt als tiber die Benachteiligung de rer, die
zu Opfem dieser Finanzpolitik vomehmlich in Westdeutschland wurden.
Nur die Unmerklichkeit der versteckten Opfer der Westdeutschen hat
den Unmut in der alten Bundesrepublik in Grenzen gehalten. Auch
darin kann man machiavellistischen Zynismus wittem. Schon tiber den
realen So zialismus hat man einst gespottet. Der Westen kanne von
ihm lemen, wie man "Errungenschaften" durch das ungerechteste
System finanzieren kanne, das es, gemessen an sozialistischen
Zie1en, gabe, namlich durch indirekte Steuem, da der Sozialismus
bekanntlich ein geringes Steueraufkommen aus den
Wirtschaftseinheiten zog.
(5) Ein wichtiges Kriterium bei Routineentscheidungen ist die
Implemen tierbarkeit von MaJ3nahmen. Sie hat am Anfang gelitten,
als Transfers gele gentlich noch durch Einbestellung der Landrate
und Btirgermeister per ScheckUberreichung abgewickelt werden
mussten, weil das Bankensystem noch nicht zufriedenstellend
funktionierte. Gemessen an diesen Startschwie rigkeiten ist der
komplette Verwaltungsumbau in Ostdeutschland gUnstig, oder
wenigstens als "erfolgreiches Scheitem" beurteilt worden (Seibel
1994).
(6) Je machiavellistischer eine Veranderungsstrategie, umso starker
spielt ein letzter Gesichtspunkt eine Rolle, die Akzeptanz, welche
die MaBnahmen finden. J ede Transformation begann mit tiberhahten
Erwartungen, was der Kapitalismus des "Goldenen Westens" bewirken
kanne. Insofem waren Ak zeptanzdefizite und Enttauschungen
vorprogrammiert. Die "subjektive Mo dernisierung" (Hradil 1996:
107ft), die allein die Erwartungen realistisch machen kann, weil
man das eigene patemalistische Versorgungsdenken ab baut und
entgangene Transfergewinne durch den Zuwachs an Maglichkei ten des
Lebensweiseparadigmas in einer freien Gesellschaft kompensiert,
halt mit der objektiven Modemisierung nicht Schritt. Sie tut dies
umso we niger, als der Realsozialismus ja nicht auf allen
Bereichen einer nachholen den Modemisierung bedurfte. In vielen
Prozessen, wie Alphabetisierung, Sakularisierung, Urbanisierung,
soziale Nivellierung hatte er im Vergleich
20 von Beyme
zur marktwirtschaftlichen Konkurrenz eher ein ObermaB an
Modernisierung erlangt. Die Intemalisierung altmodemer sekundarer
Tugenden des Arbeits ethos machen Arbeitslosigkeit und
Statusverfall fUr Ostdeutsche schwerer ertrliglich als fUr
westliche BUrger des nachmodemen Zeitalters.
FUr die Ostdeutschen ist die subjektive Verarbeitung des Umbruchs
leichter und schwerer zugleich. Leichter erscheint sie, weil
objektiv die Lage giinsti ger erscheint als in den anderen
Reformstaaten. Schwerer ist diese psychi sche Verarbeitung, weil
die Hilfe aus dem Westen, verbunden mit einer Hal tung, die als
patemalistische Bevormundung empfunden wird, nicht nur Dankbarkeit
sondem auch Groll erzeugt. Die verbliebenen Differenzen fiih ren
zu Neidgefiihlen gegeniiber dem Westen. Der alte Stolz der DDR auf
die "abgewetzten Hosen" kompensiert mit dem Bewusstsein im Ostblock
die am besten versorgte Nation gewesen zu sein, ist
gebrochen.
Die Umfragen kommen und gehen. Die Momentaufuahmen zeigen jedoch,
dass etwa die Hlilfte der Ostdeutschen anerkennt, dass es ihnen
wirtschaft lich besser geht als vor der Wende. Ein Fiinftel
hingegen fiihlt sich schlech ter gestellt (Gensicke 1995: 128).
Nach anderen Umfragen geben Zweidrittel der Ostdeutschen zu
Protokoll, dass es in ihrer Umgebung aufwlirts gehe. In der Jugend
waren 1994 laut Umfrage sogar 76% relativ optimistisch. Am
unzufriedensten waren die mittleren Altersgruppen (35-45 Jahre)
(Kurz Scher:£IWinkler 1994:27). Ostdeutschland liegt in der
Systemakzeptanz nach der Tschechischen Republik in transnationalen
Umfragen an zweiter Stelle. Ost- und Westdeutschland wiesen
hinsichtlich der Zufriedenheit mit den materiellen
Lebensbedingungen schon erstaunlich geringe Unterschiede auf
(Rose/Seifert 1995: 295f). Von einer Angleichung der
Lebensverhliltnisse mogen auch die Modernisierungsoptimisten noch
nicht sprechen. Aber die rasche Integration fiihrte zu einer
Verlangsamung der Veranderungsge schwindigkeiten in
Ostdeutschland, wamend der Wandel in anderen Re formstaaten erst
langsam in Gang kommt (ZapfIHabich 1995:154f). Das Klagen tiber die
Rolle der PDS, etwa in der Ablehnung der Fusion der Lan der
Brandenburg und Berlin, verdeckt den Umstand, dass in keinem
anderen postkommunistischen Land ,mit Ausnahme Tschechiens, der
Anteil der Postkommunisten so niedrig ist wie in Ostdeutschland.
Von einer Mehrheit ist die PDS auch in den benachteiligsten
ostlichen Bundeslandem weit ent-
Transformation Ostdeutschlands irn Vergleich der
postkornrnunistischen Systeme 21
femt, wo selbst Staaten, die nicht als besonders pro-kommunistisch
im An cien-Regime galten, inzwischen die Reformkommunisten wieder
an die Macht brachten (Litauen 1992, Polen 1993, Ungam 1994,
Estland 1995).
Das Gefiihl der wirtschaftlichen Besserstellung war begleitet von
einem vielfachen Verlust oder einer Degradierung des
Arbeitsplatzes, die keine hinreichende Zufriedenheit tiber die
materielle Sicherung aufkommen las sen. Die Rentner geh6ren
eindeutig zu den besser Gestellten. Aber die rUckwirkende
Entwertung ihrer Lebensarbeit treibt gleichwohl viele in die Arme
der PDS. Ein regionales Sonderbewusstsein ist daher auf langere
Zeit vorprogrammiert. Ostdeutschland ist mit Schottland verglichen
worden, das selbst 300 Jahre nach der Fusion im Vereinigten
K6nigreich die verlorene Macht mit dem Kampf urn kulturelle
Identitat kompensiert. Auf den Zeit raurn ,,300 Jahre" werden sich
nicht einmal die Anhanger von Kolonialisie rungshypothesen
festlegen wollen. Schottland hatte seine alte Identitat seit dem
Mittelalter, als groBe Teile des heutigen Ostdeutschlands zurn
ersten Mal von dem damals noch nicht bestehenden "Westdeutschland"
koloniali siert wurde.
40 Jahre Sonderentwicklung reichen verrnutlich nicht aus fiir die
Herausbil dung eines slikularen Sonderbewusstseins. Je langer die
Integration dauert, urnso mehr wird die Mitgift von
DDR-Hinterlassenschaften eher zur Erblast (ReiBig 1994). Die
Erforschung der ostdeutschen Befindlichkeit ist langst aus dem
Gefiihlsstau-Gejammer herausgetreten. Pragmatisch und ohne ex
treme Stress- und Anomie-Symptome scheint die Mehrheit der Ostdeut
schen den "Schock ohne Therapie" tiberstanden zu haben. Ais
Erklarungen wurden dafiir die aktive Selbstbeteiligung am Umbruch
(die Parole "wir sind ein Volk" wurde zuerst im Osten gerufen!) die
Besserstellung, die kol lektive Gemeinsamkeit des Erleidens von
Veranderungen ailgeboten. Verbleibende Erkll:irungsreste werden mit
einer "Durststreckenhypothese" angegangen (Becker 1992b:36). In der
Tat zeigt sich, dass die Prognosen der Entwicklung fUr die Zukunft
noch wesentlich gtinstiger sind. Darin al lerdings steht
Ostdeutschland nicht allein. Verschiedene Surveys haben An fang
der 90er Jahre fUr alle postkommunistischen Staaten festgestellt,
dass eine Schere klaffte zwischen der Einschatzung der momentanen
Lage und den Hoffuungen fUr die nahe Zukunft (v. Beyme
1994:335ff).
22 von Beyme
Die Erforschung der Befindlichkeiten in Ostdeutschland ist Hingst
von der Kritik des Konventionalismus der Ostdeutschen in das Lob
ihrer Chaosfa higkeit (Hradil 1996:74) umgeschlagen, die fUr
kommende Umbruche in Gesamtdeutschland Startvorteile versprechen.
Selbst die Analysen der PDS Nahesteher differenzieren sich aus.
Wahrend die einen fUr die Friktionen im feindlosen Kapitalismus,
der seine Kohasion verloren hat, gleichsam drohen "ihr im Westen
kommt auch noch dran!", weil die alten Krisenszenarien sich noch
immer auf das "postfordistische Akkumulationsregime" anwen den
Hisst (Klein 1996:25), sehen andere eher die Chance der
organisierten Minderheit, im fragmentierten und f6deralistischen
System mit weiten Par tizipationsfreiheiten ihre Bediirfnisse
aktiv durchzusetzen (Brie 1994). Die Hoffuung auf krisenhafte
Bruche und Wandlungen im Westen wird auch von Autoren nicht
geteilt, die den Traum von der immerwahrenden Prospe ritat seit
langem entlarvt haben. Der Wandlungsdruck im Westen erh6ht sich
(Zapf 1995 :78). Aber die Grlinde dafUr liegen eher in der
Europaisierung der Politik und der Globalisierung der Okonomie als
im Verlinderungs druck, der aus der deutschen Einheit
resultiert.
Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen
Systeme 23
Tabelle 1: Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung in
Osteuropa
Russ- Ukrai- Polen Tsch. Un- Ruma- Bulga- land ne Rep. gam nien
rien
Reales BSP (% Veriinder- -7,0 -3,6 4,7 0,5 4,3 -2,0 3,7
ung) 1999 Anteil des pri- vaten Sektors 1991: 10 1991: 8 1991:42
1991: 16 1991: 30 1991: 23 1991: 17
am BSP 1996:70 1996:48 1996:60 1996:74 1996:73 1996: 50
1996:45
an der Be- schiiftigung n.d. 1991: 3 1991: 54 1991: 16 1991: 48
1991: 34 1991: 10
1994: 10 1995:63 1995:65 1995:60 1996:62 1996:41
Anteil der ein- zelnen Sekto- renin % am BSP 1995: 1994: 1994:
1995: 1995: 1994: 1994:
Landwirt- 15 14,3 6,0 5,2 7 20 14,7 schaft
Produktion 38 42,4 38,0 41,0 34 38 33,6
DienstIeis- 53 30,3 56,0 53,8 59 22 51,7 tungssektor
HaushaIts- 1996: 1997: 1997: 1997: 1997: 1996: 1996:
defizit -6,0 -6,1 -3,0 -2,0 -5,1 -2,0 -5,0
1991: 93 1991:94 1991: 76 1991:57 1991: 34 1991: 161 1991: 333
Inflation
1998:28 1998: 11 1998: 12 1998: 11 1998: 14 1998: 59 1998:22
1992: 1992: 1992: 1992: 1992: 1992: 1992:
Arbeitslosig- 4,9 0,3 13,6 2,6 13,2 8,4 15,2
keit 1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998:
11,0 12,0 13,0 4,5 10,5 10,0 17,0
1991: 1991: 1991: 1991: 1991: 1991: 1991:
-12,9 11,9 -7,0 -14,2 11,9 -12,9 -11,7 Wachstum
1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998:
2,0 4,0 6,0 3,0 3,5 0.0 5.0
Investitionen 1996 im Ver-
30,9 26,9 116,1 121,5 91,1 68,6 55,8 gleich zu 1989 in% BSP 1996 im
Vergleich zu 56,5 40,3 104,5 88,1 86,9 88,2 68,9 1989
24 von Beyme
Russ- Ukrai- Polen Tsch. Un- Ruma- Bulga- land ne Rep. gam nien
rien
1994: 1994: 1994: 1994: 1994: 1994: 1994:
BSP per capi- 17.8 10.1 21.2 34.4 23.5 15.8 16.9 tal verglichen mit
US $* 1995: 1995: 1995: 1995:
2240 n.d. 2790 3870
Aus1ands- schu1den in % 25.4 21.2 31.4 20.4 58.7 23.5 102.7 des BSP
Verhliltnis zwischen Im- porten und Exporten und ausllindischen 2.5
-3.3 -9.5 -8.5 -3.0 -6.5 7.0 Transfers im Verhliltnis zum BSP%
1997
Steuern in % 1989:41 1989:26 1989:41 1989:62 1989:59 1989:51
1989:60
des BSP 1994:28 1994:42 1994:46 1994:51 1994:52 1994:33
1994:38
% der Beviil- 25 21.1 13 10.8 35 n.d. 19.5
kerung unter 35 der Armuts- (World grenze Bank)
zweite infor- melle Wirt- 1994:40 46 15 18 29 17 29 schaft in
%
* Griechenland: 8210; Portugal: 9740; Spanien: 13580
Quellen: DIW u.a.: Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel-
und Osteuropa. Bonn, BMW 1997; OECD: the Russian Federation. Paris
1997; World Banle World Economic Outlook. Washington, Mai 1999;
Salvatore Zecchini (Hrsg.): Lessons from the Economic Transition.
Central and Eastern Europe in the 1990s. Paris, OECD 1997; Klaus
Muller: Postsozialistische Krisen. In: ders. (Hrsg.):
Postsozialistische Krisen. Opladen, Leske & Budrich 1998:
177-249; Finanzbericht 1999 und 2000. Bonn, BMF.
Transformation Ostdeutschlands irn Vergleich der
postkommunistischen Systeme 25
Tabelle 2: Gesamtwirtschaftliche Daten im OECD-Vergleich
Bruttoinlandsprodukt Land Jahr Ver- Arbeits- Leistungs Steuem
Staats- durch
braucher- losen- -bilanz- und schulden in Streiks preise in quote
in saldo v. Sozialab- v. H. des verlorene
nomi- real Defla- v. H. v. H. H. des gaben in BIP Arbeitstage nal
gegen- tor gegenuber BIP v. H. des in 1000
inv.H. uber Vorjahr BIP Vo~ahr
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
BRD, 1985 4,1 2,0 2,1 1,5 8,2 2,7 40,3 41,5 1990:363 ab 1991
einschl. 1990 9,0 5,7 3,2 2,7 6,4 3,3 38,5 43,2 1995:247
NBL 1995 4,1 1,9 2,2 1,9 9,4 -1,0 41,9 57,1 1996: 98
1998 4,5 rd. 3,0 rd. 1,5 rd. 2,0 rd. 11,0 rd. 60,S
2000 3,5 rd. 1,5 rd. 10,5 rd. -0,2 41,0 60,0
Belgien 1985 6,5 0,9 6,0 5,7 12,4 0,9 47,7 122,1 1990:103
1990 6,6 3,7 2,9 3,3 8,8 1,9 44,9 129,7 1995:100
1995 2,4 1,9 1,9 1,6 13,1 5,7 45,9 133,5 1996:146
1998 4,5 2,6 2,6 1,8 12,3 6,3 124,5
Dane- 1985 8,8 4,3 4,3 4,3 9,0 -4,6 49,0 76,0 1990:97
mark 1990 4,1 1,4 2,7 2,7 9,6 1,0 48,7 59,9 1995:197
1995 4,5 2,7 1,9 1,9 10,3 10,3 51,7 72,1 1997: 99
1998 6,2 2,9 3,2 3,2 7,4 7,4 61,9
Frank- 1985 7,8 1,9 5,8 5,8 10,2 -0,1 44,S 38,6 1990:528
reich 1990 5,7 2,5 3,1 2,8 8,9 -0,8 43,7 35,4 1995:521
1995 3,7 2,1 1,6 1,6 11,5 1,1 44,S 53,1
1998 4,3 2,8 1,4 1,4 12,2 2,0 58,S
Gro6bri- 1985 9,4 3,5 5,7 5,3 11,0 0,6 37,9 58,9 1990:5925
tannien 1990 6,8 0,4 6,4 5,5 5,8 3,4 36,4 39,4 1995:5771
1995 4,9 2,5 2,3 2,5 2,5 0,6 35,2 54,0 1997:4497
1998 4,9 2,7 2,2 2,3 2,3 0,2 52,8
26 von Beyme
Bruttoinlandsprodukt Land Jahr Ver- Arbeits- Leistungs Steuem
Staats- durch
braucher- losen- -bilanz- und schuldenin Streiks preise in quote in
saldo Y. Sozialab- Y. H. des verlorene
nomi- real Defl.- Y. H. Y.H. H. des gaben in BIP Arbeitstage n.l
gegen- tor gegenuber BIP Y. H. des in 1000
iny.H. uber Vorj.hr BIP Vorjahr
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Italien 1985 12,1 2,8 9,0 9,3 8,6 -0,9 34,5 82,3 1990:5181
1990 10,0 2,2 7,6 6,3 9,1 -1,6 39,1 98,0 1995:909
1995 8,1 2,9 5,0 5,6 12,0 2,6 41,8 124,4 1996:1930
1998 4,1 1,8 2,3 2,0 11,9 4,7 122,2
Japan 1985 6,6 4,4 2,1 2,3 2,6 3,6 27,6 67,0 1990:144
1990 7,5 5,1 2,3 2,6 2,1 1,2 31,3 65,1 1995:76
1995 0,8 1,4 -0,6 -0,5 3,1 2,1 27,8 80,6 1996:42
1998 3,7 2,9 0,8 1,0 3,1 2,3 93,4
Nieder- 1985 4,8 3,1 1,7 2,4 9,2 3,3 44,1 71,6 1990:206
lande 1990 6,5 4,1 5,3 2,2 6,0 3,2 45,9 78,8 1995:691
1995 3,6 2,1 1,5 0,9 7,1 5,0 44,4 79,5 1997: 14
1998 5,3 3,2 2,1 1,9 5,6 4,9 72,6
Schweiz 1985 6,9 3,7 3,1 3,7 0,8 6,0 32,0 1990:4
1990 8,1 2,3 5,7 5,3 0,5 3,8 31,5 k.A. 1995:0,3
1995 2,6 0,1 2,5 1,8 4,2 7,0 32,4 1997:0,4
1998 3,0 1,8 1,2 1,4 5,0 6,8
USA 1985 7,1 3,7 3,3 3,7 7,2 -3,0 26,0 49,5 1990:5925
1990 5,6 1,3 4,3 5,1 5,6 -1,6 26,7 55,5 1995:5002
1995 4,6 1,2 2,5 2,4 5,6 -2,0 27,6 63,4
1998 4,2 2,0 2,2 2,4 5,1 -2,4 64,6
2000 3,5 1,8 4,4 -3,5 51,7
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Tyll Necker-
neuen BundesHinder
l. Der Weg von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft...
................................ 33
2. GroBe Unterschiede bei der Entwicklung in Mittel- und Osteuropa
................. 34
3. Die Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa
......................................................... 38
4. Verlust von Arbeitspliitzen in Deutschland durch niedrige
Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa?
.....................................................................................
40
5. Auf dem Weg zu einer Region des Aufschwungs
............................................ .41
6. Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa
.................................................. .42
7. Standortliberlegungen im einzelnen Untemehmen
.......................................... .42
8. Investitionen in Ostdeutschland anstatt in Polen?
............................................ .44
9. Ostdeutschland muss die Nlihe zu Mittel-IOsteuropa nutzen
........................... .45
- Dr. h.c. Tyll Necker, Geschaftsftihrer und Gesellschafter der
Hako Holding & Co, Bad Oldesloe
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999
33
Ais ich vor etlichen Monaten gebeten wurde, zum Thema des Symposi
ums "Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa
1989-1999 - Auswirkungen auf die neuen BundesHinder aus
untemehmerischer Per spektive" einen Beitrag zu 1eisten, war ich
zunachst entsch10ssen, abzusa gen. Ich kann nicht behaupten, ein
Spezialist fUr die Entwicklung in Ost europa in den letzten 10 J
ahren zu sein, wenn unsere Untemehmens gruppe auch mit zwei
Direktinvestitionen in Polen und VertriebsaktiviHi ten in
praktisch allen mittel/osteuropaischen Staaten aktiv ist. In den
neu en Bundeslandem haben wir, die Hako-Gruppe, schon im Jahre
1991 ein Maschinenbauuntemehmen von der Treuhandanstalt in Glindow
nahe Potsdam erworben, die Havellandische Maschinenbau GmbH.
Nach dem Erwerb der Mehrheitsbeteiligung der Firma Multicar in Wa1-
tershausen im Jahre 1998 haben wir von der Firma Daimler Benz den
k1einsten Unimog gekauft und von der Firma Kramer zwei Kommuna1-
fahrzeuge. Durch die Verlagerung der Produktion dieser Maschinen
nach Waltershausen in Thiiringen ist dort ein Kompetenzzentrum fUr
Spezia1- fahrzeuge mit steigenden Beschaftigtenzahlen entstanden.
Wenn ich mich trotz begrenzter Fachkompetenz zu dem heutigen
Vortrag bereit erklart habe, so sehen Sie darin bitte meine groBe
Verbundenheit mit den neuen Bundes1andem, dem Prozess der
Wiedervereinigung und der Universitat Rostock.
Der Stammsitz unserer Firma 1iegt heute in Bad 0ldes10e und damit
in Schleswig-Holstein. Der Grunder unserer Firma ist mit seiner
Fami1ie iib rigens 1945 aus Neustre1itz nach Westen geflohen. Es
gibt also vie1faltige natiirliche Verbindungen.
1. Der Weg von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft
Vor rd. 10 Jahren fand der politische Umbruch von der
Planwirtschaft zur Marktwirtschaft in Mittel- und Osteuropa statt.
1m Dezember 1989 nahm ich als BDI-Prasident an einer Reise von
Bundeskanz1er Kohl und Fi-
34 Necker
nanzminister Waigel nach Budapest teil. Es ging vor aHem urn einen
Dank an die ungarische Regierung flir ihren Mut bei der Offnung der
Grenze nach Osterreich und bei der Ausreise von DDR-Fltichtlingen
nach Westdeutschland.
Ungam war damals das am starksten marktwirtschaftlich orientierte
Land innerhalb des Ostblock. Der ungarische Ministerpdisident
erliiuterte in sehr klaren und realistischen Ausflihrungen, dass
nicht nur sein Land, sondern ganz Mittel- und Osteuropa zu einer
"Zone der Rezession" wer den mtisse. Ungam hatte zum damaligen
Zeitpunkt tiber 70 % seiner Ex porte und Importe auf Lander des
COMECON, also den Ostblock, kon zentriert. Ungam rechnete mit der
Notwendigkeit, so schnell wie moglich Westkontakte auf- und
auszubauen, urn den Rtickgang der Ostverbindun gen kompensieren zu
konnen. Die Umstellung von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft
werde, so meinte Ministerprasident Hom, auch erhebli che
Reibungsverluste und Verwerfungen bringen. Die ganze ungarische
Regierung sah aber zur Marktwirtschaft keine Alternative. Das
Ansehen von Ludwig Erhard als Vater des "Wirtschaftswunders" in
Westdeutsch land war in Ungarn damals ganz offensichtlich weit
hOher als in den alten Bundeslandern.
2. GroBe Unterschiede bei der Entwicklung in Mittel und
Osteuropa
Schon 1989 war die Ausgangsbasis in den Landern Mittel- und
Osteuro pas sehr unterschiedlich. Tschechien z.B. hatte eine sehr
geringe Aus landsverschuldung und eine starke industrielle
Tradition. In Polen hatten sich in der Landwirtschaft noch
deutliche marktwirtschaftliche Strukturen bei Kleinbetrieben
erhalten. Ungarn hatte schon, vor allem seit 1986, mit ersten
marktwirtschaftlichen Reformen begonnen.
Die weitere Entwicklung in Mittel- und Osteuropa lasst sich am
anschau lichsten durch die Wachstumsraten des
Bruttoinlandsproduktes in den verschiedenen Landern verdeutlichen.
Ein besonders positives Beispiel
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999
35
hierzu stellt Polen dar, das sofort unter dem damaligen
Finanzminister Balcerowicz eine sehr energische und zielstrebige
Politik der Privatisie rung und der Marktwirtschaft einleitete.
Abbildung 1) zeigt sehr deutlich die positiven Ergebnisse dieser
Strategie.
7,0 6,9
n 6,1
D 5,6
D 4,8
*Prognose
Abb. 1: Bruttoinlandsprodukt Polen (real; Veranderung in %)
Ein krasses Gegenbeispie1 ist das Where Herzland der Sowjetunion,
Russ1and. Hier blieben alle Reformen ha1bherzig, staatliche
Monopole wurden nur allzu oft in private Monopole umgewandelt.
Marktwirtschaft ohne Wettbewerb fiihrt aber nur allzu haufig zu
privaten Monopolen und Monopo1gewinnen und zur Ausbeutung von
Konsumenten.
0,4
0 D -4,0 -6,0
*Prognose
36 Necker
Abbildung 2) zeigt, dass das Bruttoinlandsprodukt in Russland in
den letzten Jahren Jahr fur Jahr gefallen ist. Nur 1997 keimte
etwas Hoffnung auf. Wenn wir tiber Mittel- und Osteuropa sprechen,
so mtissen wir uns zual lererst immer wieder klarmachen, dass
keineswegs alle Lander tiber einen "Kamm geschoren" werden dtirfen.
Die Unterschiede sind gewaltig. Die Verlierer im
Transformationsprozess sind so1che Lander, die halbherzig oder nur
in Ansatzen politische und wirtschaftliche Reformen durchge fuhrt
haben.
Und zu einer leistungsfahigen Marktwirtschaft gehoren neben Wettbe
werb eine funktionierende Offentliche Verwaltung und
Rechtssicherheit. Unterschiede in der Organisation des Bankwesens
sind z.B. eine weitere Ursache fur Differenzen im Wachstum.
Bekanntlich hat die EU mit 5 Landem, die sich besonders positiv
entwi ckelt haben, Beitragsverhandlungen aufgenommen. Es sind
dies: - Polen - Ungam - Tschechien - Estland - Slowenien
Wie weit aber auch diese Lander noch im Bruttoinlandsprodukt pro
Kopf hinter Westeuropa hinterher hinken, zeigt die Abbildung
3).
Po1itische und wirtschaftliche Entwick1ung in Osteuropa 1989-1999
37
EU-Durchschnitt 100 ;
Abb. 3: BIP pro Kopf in Kautkraftstandards 1997 in %
Trotz giinstiger Wachstumsperspektiven in den meisten dieser Lander
bleibt das Wohlstandsgefalle zu Westeuropa auch weiterhin immens.
1m Jahre 2004 wird das Pro-Kopf-Einkommen Polens bei einem
moglichen Beitritt zur EU auf etwa 40% des Durchschnittes der EU
geschlitzt. Grie-
38 Necker
chenland und Portugal sind die beiden armsten Lander innerhalb der
EU und tibertreffen noch deutlich alle mittel- und osteuropaischen
Landem im Wohlstand pro Kopf. Lassen Sie mich an dieser Stelle
schon zwei Bemerkungen zu den neuen Bundeslandem machen:
Ostdeutschland hat schon heute ein Einkommensniveau erreicht, das
bei 87,4% des EU-Durchschnittes liegt. Dieser enorme
Wohlstandszuwachs in den neuen Bundeslandem war allerdings mit sehr
hohen Untersttit zungsleistungen Westdeutschlands verbunden.
Wtirden sich die Btirger der neuen Bundeslander mit ihren Nachbam
im friiheren Ostblock ver gleichen, so konnten sie mit dem
Erreichten nur auBerordentlich zufrieden sein. Unzufriedenheit muss
allerdings dann entstehen, wenn man sich nicht an den gewaltigen
Fortschritten misst, die seit der Wiedervereini gung und durch die
westdeutsche Finanzhilfe entstanden sind, sondem wenn man als
MaBstab die alte Bundesrepublik wahlt. Hatte sich die
Bundesrepublik 1948 vorrangig am Wohlstand in der Schweiz und in
den Vereinigten Staaten orientiert, hatte sie sich sicherlich
selbst gelahmt, an statt in einer beispiellosen Aufholjagd Kraft
aus den eigenen Fortschritten zu ziehen. 1m Januar 1990 habe ich
hier in Rostock sehr darnr pladiert, dem Stolz auf die eigene
Heimat und den selbst erreichten Erfolgen Vor rang vor der
schnellen Angleichung der Lebensverhaltnisse zu geben. Un temehmen
konnen nur das bezahlen, was sie im Markt im Wettbewerb
erwirtschaften konnen. Produktivitat steigt aber nicht so schnell
wie die Wtinsche der Menschen.
3. Die Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa
Abbildung 4) zeigt die Arbeitskosten in Osteuropa aus der Summe der
StundenlOhne und der Personalzusatzkosten. Auch diese Graphik macht
deutlich, welcher gewaltige Rtickstand zu Westdeutschland bei den
Ar beitskosten gegeben ist. Die Arbeitskosten pro Stunde liegen
brutto in Ostdeutschland bekanntlich noch unter denen in
Westdeutschland. Bei meist gleichen Tarifeinkommen sind haufig die
Arbeitszeiten in Ost deutschland noch langer als im Westen und die
tariflichen Nebenleistun-
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999
39
gen niedriger. Eine sehr wichtige Rolle spielt aber auch, dass in
wei ten Bereichen Ostdeutschlands unter Tarif bezahlt wird und die
Tarifbindung z.B. in der Metall- und Elektroindustrie nur noch bei
ca. 30% der Unter nehmen gegeben ist. Da andererseits die Abziige
von den Bruttoeinkom men in Ostdeutschland etwas niedriger liegen
als in Westdeutschland und die Lebenshaltungskosten begrenzt
giinstiger sind, ist das Verhaltnis der Realeinkommen netto
giinstiger als der Bruttoeinkommen.
Bulgarien
Rumanien
Russland
Litauen
LettIand
EstIand
Tschechien
Ungam
Slowakei
Polen
Slowenien ••••
Abb. 4: Arbeitskosten in Mittel- und Osteuropa 1997 in DM
40 Necker
4. Verlust von ArbeitspHitzen in Deutschland durch niedrige
Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa?
Ein verbreiteter Irrglaube in der Bundesrepublik geht davon aus,
dass die niedrigen Arbeitskosten in Mittel- und Osteuropa
ArbeitspHitze in der Bundesrepublik in groBer Zahl zerstOren
wurden.
Nun gibt es ohne Zweifel Branchen, die einen sehr hohen
Arbeitskosten anteil an ihrer Produktion haben und durch
NiedriglohnHinder, insbeson dere im naheren Umfeld, akut gefahrdet
sind. Teile der Textil und Mobel industrie, aber auch der Werften,
sind gute Beispiele. Korea stellt flir die Werften allerdings eine
gefahrlichere Konkurrenz dar als Polen.
Insgesamt muss man jedoch sehen, dass die westlichen Lander durch
die Offuung der friiheren Staatshandelslander mehr gewonnen als
verloren haben. Zwischen 1992 und 1998 legten die Exporte der
mittel- und osteu ropaischen Staaten urn jiihrlich gut 8% zu - die
Importe stiegen jedoch urn mehr als 14% pro Jahr! Und Deutschland
hat an den Lieferungen in diese Lander den Lowenanteil. Abbildung
5) zeigt hier die Importe aus der Bundesrepublik der wichtigsten
mittel- und osteuropaischen Lander. Fur die Bundesrepublik sind die
Lander Mittel- und Osteuropas heute schon ein besserer Kunde als
die Vereinigten Staaten.
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999
41
Moldawien
Estland
Lettland
Bulgarien
Litauen
Ukraine
Kroatien
Rumanien
Siowenien
Siowakei
0 5000 10000 15000 20000 25000
Abb. 5: Importe aus der Bundesrepublik Deutschland 1997 in Mio.
DM
5. Auf dem Weg zu einer Region des Aufschwungs
Das Wirtschaftswachstum in der EU lag zwischen 1993 und 1998 im
Schnitt bei 2,6%. Polen und die Slowakei sind dagegen urn rd. 6%
pro Jahr, Slowenien urn 4,3% und Ungam urn 3,1 % gewachsen. Die an
die EU grenzenden Lander holen sehr deutlich auf. Aber die
Angleichung der Lebensbedingungen wird noch Jahrzehnte dauem, denn
die Lander der
42 Necker
EU kommenja auch voran, und wir haben gesehen, wie gewaltig der
Vor sprung der meisten dieser Lander heute noch ist. Nach
Uberwindung der groBen Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die
Marktwirtschaft kommen insbesondere die EU Beitrittskandidaten mit
steigenden Wachstumsraten voran. Portugal und Irland sind gute
Beispie Ie, welche Wachstumspotentiale durch Aufuahme in die EU
freigesetzt werden konnen. An eine Zone des Aufschwungs in Mittel-
und Osteuropa zu grenzen, ist rur Deutschland immer erfreulich. Die
Chancen liberwie gen nach meiner Uberzeugung deutlich die
Risiken.
6. Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa
Die Dynamik der derzeitigen und zuklinftigen Entwicklung wird ganz
be sonders deutlich, wenn man die Direktinvestitionen in diese
Lander aus dem Ausland betrachtet.
Seit 1992 haben auslandische Untemehmen mehr als 50 Milliarden
Dollar in den mittel- und osteuropaischen Staaten investiert. Mit
rd. 14,5 Milli arden Dollar im Jahre 1998 stiegen die
Direktinvestitionen sogar urn fast 50% in Relation zum Vorjahr!
Diese Direktinvestitionen erreichten damit 1998 meist zwischen 3%
und 5% des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes. Noch wichtiger als
dieser "VitaminstoB" sind aber das Know-How und die
Produktivitatsbeispiele, die mit diesen Direktinvestitionen
verbunden sind.
7. Standortiiberlegungen im einze1nen Untemehmen
Am Beispiel des eigenen Untemehmens mochte ich deutlich machen,
welche Uberlegungen bei uns vor den Investitionen in Mittel- und
Osteu ropa angestellt wurden. Zunachst haben wir in langen
Beurteilungstabel len Kriterien fUr unsere Entscheidung ermittelt
und bewertet. Flir uns war hierbei ein wichtiger Faktor die GroBe
des potenziellen Absatzmarktes.
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999
43
Hier erhielt Polen mit 38,6 Mio. Einwohnem Pluspunkte vor
Tschechien mit 10,3 Mio. Einwohnem und Ungam mit 10,2 Mio.
Einwohnem.
Estland
Slowenien
Lettland
Litauen
Slowakei
Bulgarien
o 20 40 60 80 100 120 140 160
Abb. 6: Einwohner Mittel- und Osteuropas in Mio. 1999
Zweitwichtigster Faktor waren die erwartete politische und wirt
schaftliche Kontinuitat und Rechtssicherheit im jeweiligen Land.
Hier konnen Beitrittskandidaten zur EU klare Vorteile verbuchen.
Hatten wir uns ausschlieBlich nach den Arbeitskosten gerichtet, so
waren Lander wie Russland, Rumanien und Bulgarien Favoriten
geworden (s. Abbildung 4). Flir uns erhielt aus der Summe dieser
und weiterer Faktoren - wie z.B. der Entfemung und der damit
verbundenen Transport- und Kommunikations kosten - Polen die
glinstigste Bewertung. Aber Polen ist groB und als Nachstes musste
die Frage beantwortet werden: Wenn in Polen, dann wo
44 Necker
in Polen investieren? Unter Marktgesichtspunkten bot sich der
Sliden Polens, z.B. Lodz, an. Tatsachlich haben wir eine kleine
Vertriebsfirma in Krakau gegriindet. Hier sprachen auch personelle
Griinde mit. Mit einer Fertigungsstatte sind wir dagegen in das
friihere Koslin, das heutige Koszalin - auf halbem Wege zwischen
Stettin und Danzig - gegangen.
In Kattowitz, Krakau, Warschau und Posen ist heute der Arbeitsmarkt
schon relativ ausgeschopft. In Koszalin dagegen, fanden wir
qualifizierte Arbeitskrafte bei einer hohen Arbeitslosenquote von
ca. 20% vor. Zu nachst haben wir zwei Jahre in gemieteten Raumen
mit der Produktion begonnen und schlieBlich in diesem Jahr den
Neubau einer Fabrik von gut 3.000 qm Flache gewagt. Sie wird in
diesem Monat fertiggestellt. Unser Geschaftsruhrer in Koszalin ist
ein Deutscher mit langjahrigen Erfahrun gen in Polen. Die Qualitat
unserer Produkte in Polen ist voll wettbewerbs fahig. Wir werden
Ende 2000 mit rd. 45 Mitarbeitem dort produzieren. Ein hoher Anteil
geht an Drittkunden in Deutschland, also nicht an Fir men der
Hako-Gruppe.
Was uns Schwierigkeiten in Polen macht? Wie schon gesagt, weder die
Mitarbeiter noch die Qualitat, aber der Umgang mit Behorden beim
Er werb unseres Grundsmckes, bei der Verzollung, bei Steuerfragen
etc. Und qualifizierte Wirtschaftspriifer und z.B. Controller sind
schwer zu finden und teuer.
8. Investitionen in Ostdeutschland anstatt in Polen?
Unser Thema heiBt bekanntlich: Politische und wirtschaftliche
Entwick lung in Osteuropa 1989-1999 - Auswirkungen auf die neuen
Bundeslan der. Insbesondere in den neuen Bundeslandem wird mir
haufig die Frage gestellt, ob wir mit der Investition in einen
Fertigungsbetrieb in Polen nicht zum Verlust von Arbeitsplatzen in
Ostdeutschland beitragen. Meine Antwort ist ganz klar: Nein! Bei
der Hohe der Arbeitskosten in Deutsch land - auch in
Ostdeutschland - ist eine arbeitskostenintensive Blech -
Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999
45
und SchweiBfertigung in der Regel nicht mehr wettbewerbsfahig. Es
ging nicht urn die Entscheidung: ArbeitspHitze in Deutschland oder
in Polen. Es ging urn die Frage: Arbeitsplatze in Polen oder keine
Arbeitsplatze. Dariiber hinaus konnen wir schon heute sagen, dass
eine Mischkalkulati on aus giinstigen Arbeitskosten in Polen und
anspruchsvollen Produkten und Entwicklungen in Deutschland zur
Erhaltung und Vermehrung von Arbeitsplatzen bei uns und in
Ostdeutschland beitragt. Es ist der Produk tionsverbund, der
unsere Wettbewerbsfahigkeit insgesamt verstlirkt. Die ErschlieBung
neuer Markte - in denen wir mit einer eigenen Produktions statte
natiirlich auch noch emster genommen werden - kommt positiv hin
zu.
Neben Marktzugangen und giinstigen Arbeitskosten miissen wir uns
noch mit einem dritten Faktor befassen. Wie konnen wir in
Deutschland den Innovationsengpass Ingenieure iiberwinden? In dem
Hochkostenland Bundesrepublik miissen wir versuchen, durch
Innovationsvorspriinge Vorteile zu erarbeiten. Die Knappheit an
guten Ingenieuren setzt hier Grenzen. In mehreren Landem in Mittel-
und Osteuropa sind dagegen qualifizierte Ingenieure in
betrachtlicher Zahl arbeitslos und kostengiins tig. Durch modemste
Kommunikationsmittel (Bildschirmverbindungen) konnen Grenzen immer
leichter iibersprungen werden.
9. Ostdeutschland muss die Nahe zu Mittel-IOsteuropa nutzen
Ich habe vor vielen Jahren versucht, diesen Gedanken in ein Bild zu
klei den: Die neuen Bundeslander miissen eine Funktion gegeniiber
Mittel und Osteuropa iibemehmen, die mit der Arbeitsteilung
zwischen Hong kong und China verglichen werden kann.
Ostdeutschland kann weit direk ter als ihre ostlichen Nachbam
Know-How und Ressourcen des Westens anzapfen und Ostdeutschland ist
bekanntlich sofort Mitglied der EU ge worden. Die USA und die EU
sind bekanntlich fast gleichauf die bei wei tern groBten und
kaufkraftigsten Markte der Erde. Sachsen und Thiiringen ist es
durchaus gelungen, ihre Exporte in die ostlichen
Nachbarllinder
46 Necker
wieder auszuweiten. Wie Hongkong gegenuber Rotchina, haben Sachsen
und Thuringen weit hohere Arbeitskosten als ihre ostlichen
Nachbarn. Und trotzdem gelingt es, yom Nachholprozess in diesen
Uindem zu profi tieren. Hierzu sind natfulich besondere
Anstrengungen und uberlegene Leistungen erforderlich. Und zum
Abschluss mochte ich noch einmal die Frage stellen, was erhalt und
was schafft eigentlich ArbeitspHitze? Meine Antwort als Untemehmer
lautet: Die Gewinnung von rentablen Auftra gen!
Urn Auftrage zu gewinnen, muss man aber wettbewerbsfahige Produkte
und Leistungen erbringen. Die Kosten der Leistungserstellung sind
dabei ein sehr wichtiger Faktor. Der rasante Anstieg der
Arbeitskosten in den neuen Bundeslandem in den letzten neun Jahren
ist der entscheidende Grund, warum viele ArbeitspHitze ihre
Wettbewerbsfahigkeit verloren ha ben.
Ein zweiter wichtiger Faktor ist aber, wie innovativ sind die
eigenen Leis tungen? In einem Hochkostenland wie Deutschland - und
dies gilt auch fur Ostdeutschland - entstehen Gewinne bei Produkten
im intemationalen Wettbewerb vor all em durch
Vorsprungsrenditen.
Es wurde mich sehr freuen, wenn dieses Symposium dazu beitragen
konnte, daruber nachzudenken, wie viel schneller der Wohlstand in
Ost deutschland in den letzten neun Jahren gewachsen ist als in
anderen ost und mitteleuropaischen Landem. Und wenn daraus Stolz
auf die eigene Leistung und nicht nur Frust uber einen noch
bestehenden Ruckstand ge genuber einigen Landem in Westeuropa
entstehen wurde. Und weiter sollte in den neuen Bundeslandem der
Sicherung und Schaffung von Ar beitsplatzen Vorrang vor der
Gleichheit der Lebensverhaltnisse zwischen Ost und West eingeraumt
werden. Was hilft mir ein hohes Einkommen, das ich als Arbeitsloser
nicht beziehen kann? Und die Wohlstandsunter schiede verschiedener
Regionen innerhalb Westdeutschlands sind durch aus mit
Unterschieden zwischen Ost und West vergleichbar. Produktivitat und
Einkommen konnen eben nicht staatlich verordnet werden; man muss
sie erarbeiten.
Z we iter Teil
Osteuropa
1.1 Der Internationalisierungsprozess der deutschen N ahrungs- und
Genussmitte1industrie in Osteuropa im Fokus einer
wissenschaftlichen Untersuchung
..........................................................................................................
51
1.2 Zie1setzung der Untersuchung
.................................................................................
53
2. Entwick1ung des Untersuchungsdesigns
..................................................................
54
2.1 Theoretische Grund1agen
........................................................................................
54
3. Ausgewahlte Ergebnisse der empirischen Untersuchung
........................................ 61
3.1 Anmerkungen ZUI Stichprobe
..................................................................................
61
3.2 UnternehmensgroBe a1s interne Determinante der
Internationa1isierung ................ 64
3.3 Zur Bedeutung okonomischer und politisch-rechtlicher Faktoren
im Internationalisierungsprozess der Unternehmen
...................................................... 66
4. Fazit
.........................................................................................................................
79
Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und
Genussmittelindustrie 51
1. Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
1.1 Der Intemationalisierungsprozess der deutschen Nahrungs und
Genussmittelindustrie in Osteuropa im Fokus einer
wissenschaftlichen Untersuchung
Politische Reformen in der ehemaligen UdSSR ermoglichten vor 10
Jah ren die Ablosung kommunistischer Regierungen und die
Einleitung von Transformations- und Liberalisierungsprozessen in
den osteuropaischen Staaten I. Die Lander Osteuropas waren vor
Beginn dieses Wandels durch das politische System des Kommunismus
und dem damit einhergehenden Wirtschaftssystem der zentralen
Planwirtschaft gekennzeichnet. Die Ver wobenheit von Politik und
Wirtschaft in Verbindung mit der Dominanz der politischen
Interessen tiber die Okonomik pragten und steuerten die
Ausgestaltung der Wirtschaftsorganisation und des
Gesellschaftssystems. Ein hohes MaB an Homogenitat in Bezug auf die
wirtschaftlichen und ge sellschaftlichen Strukturen war somit
allen Staaten gemeinsam2• Die Ab schottung der Miirkte Osteuropas
gegentiber Westeuropa war Ausdruck der Inkompatibilitat beider
Wirtschaftssysteme und des "Kalten Krieges", der zwischen den
politischen Raumen herrschte.
Die Einleitung der politischen und wirtschaftlichen
Transformationspro zesse flihrte zu einer schrittweisen Offnung
der Markte und verfolgt die Zielsetzung, die bestehenden Strukturen
an das westeuropaische, markt wirtschaftliche Wirtschaftssystem
anzupassen. Durch diesen in der Ge schichte bislang einmaligen
Prozess entstand ein neuer Wirtschaftsraum, der aus Sicht der
Nahrungs- und Genussmittelindustrie ein Absatzpoten zial von ca.
320 Mio. Menschen besitzt und damit annahemd dem West europas
entspricht3.
Mit der Offnung der Markte endet gleichzeitig die homo gene
Struktur der politischen und wirtschaftlichen Systeme Osteuropas.
Unterschiedliche
I vgl. Wesnitzer, M. (1993), Seite I
2 Vgl. Engelhard, J.lEckert, S. (1994), Seite 7
3 vgl. Miischen, 1. (1998), Seite 21
52 ZangerlHauler
Die deutsche Nahrungs- und Genussmittelindustrie gehort zu den vier
groBten Industriezweigen in Deutschland. Der Schwerpunkt der
Branche liegt im Emahrungssektor, der mit ca. 6000 Betrieben mehr
als 500.000 Personen beschaftigt. Die Branchensituation lasst sich
seit einigen Jahren durch eine nachhaltige Sattigung der
Produktmiirkte und einen Riickgang der Inlandsnachfrage
beschreiben. Die demographische Entwicklung be legt - die Prognose
fUr das Jahr 2020 geht von 79 Mio. Menschen in Deutschland aus -
dass die mengenmiiBige Nachfrage nach Nahrungs und Genussmitteln
aufgrund sinkender Einwohnerzahlen weiter abneh men wird.
Wichtigster Absatzkanal ist der Lebensmittelhandel, iiber den rund
70% der Waren zum Endverbraucher gelangen. Die Struktur des Handels
er moglicht den zehn groBten Handelsfinnen, 80% des Umsatzes auf
sich zu vereinigen. Diese Marktmacht ennoglicht es dem Handel,
Druck aufPrei se und Margen der Produzenten auszuiiben und so den
wirtschaftlichen Druck auf die Branche weiter zu
verschiirfen5.
Vor diesem Hintergrund stellt die ErschlieBung neuer Miirkte fUr
die Un temehmen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie eine
zentrale Aufga benstellung dar, urn die Konkurrenzfahigkeit auf
langere Sicht zu erhal ten. AuBerhalb der EU, die in den
Kemmiirkten tendenziell die gleichen Rahmenbedingungen wie
Deutschland aufweist, stell en die osteuropai schen Lander deshalb
attraktive Absatzmiirkte dar, deren Potenzial durch die Untemehmen
der Nahrungs- und Genussmittelindustrie erschlossen werden kann6.