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283 REVIEW ESSAY Sérgio Costa Postkoloniale Studien und Soziologie: Differenzen und Konvergenzen Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenberg, 408 S. Conrad, Sebastian/Shalini Randeria (2002) (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Frankfurt a.M./New York: Campus, 396 S. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument, 240 S. Hall, Stuart (2000): Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hamburg: Argument, 158 S. Pieterse, Jan Nederveen (2004): Globalization & Culture. Maryland: Rowman & Littlefield, 149 S. Beginnend mit denjenigen Autoren, die als Intel- lektuelle der schwarzen oder migratorischen Diaspora bezeichnet werden, entstanden die post- kolonialen Studien vor allem in der Literaturkritik Englands und der Vereinigten Staaten ab den 1980er Jahren. Danach expandierten sie in andere Länder und in andere wissenschaftliche Diszipli- nen, wobei die Arbeiten von Homi Bhabha, Ed- ward Said, Gayatri Chakravorty Spivak, Stuart Hall, Paul Gilroy und anderen weltweit mit Inter- esse rezipiert wurden. 1 Ausgangspunkt des postkolonialen Ansatzes ist die Feststellung, dass jede Aussage ihrem Ent- stehungsort verpflichtet ist. Auf diesem Befund, der nach den Debatten zwischen Strukturalisten und Poststrukturalisten eigentlich trivial gewor- den ist, gründen die postkolonialen Autoren ihre Kritik am wissenschaftlichen Produktionsprozess. Demzufolge trägt die etablierte Form der wissen- schaftlichen Wissensproduktion dazu bei, die in- terne Logik des Kolonialismus zu verbreiten, in- dem sie Denkmuster reproduziert, die den euro- päischen Nationalkulturen entsprechen. Dadurch werden sowohl die Erfahrungen sozialer Minder- heiten als auch die Transformationsprozesse in den nicht-westlichen Gesellschaften stets im Kontext ihrer funktionalen Verhältnisse zu dem betrachtet, was man als modernes Zentrum der Weltgesellschaft definiert hat. In diesem Sinne meint das „post“ nicht einfach ein „danach“ im zeitlich linearen Sinne; es handelt sich um eine Rekonfiguration im diskursiven Feld, in dem die hierarchischen Beziehungen gedeutet werden (Hall 2002). Das Koloniale seinerseits geht über den Kolonialismus hinaus, es bezieht sich auf di- verse Herrschaftsverhältnisse, seien sie über Be- ziehungen zwischen Geschlechtern, Ethnien oder Klassen definiert. Das theoretische Feld genau zu begrenzen, in dem die postkolonialen Studien angesiedelt sind, ist keine einfache Aufgabe, da die postkolonialen Studien danach suchen, einen Diskurs „beyond theory“ zu produzieren (Bhabha 1994) 2 . Dessen ungeachtet lassen sich enge Beziehungen zwi- schen postkolonialen Studien und mindestens drei weiteren Strömungen erkennen. Die erste ist der Poststrukturalismus, vor allem die Arbeiten von Derrida und Foucault, denen die postkolonialen Studien die Erkenntnis entnehmen, dass das So- ziale einen diskursiven Charakter aufweist. Die Rezeption des Poststrukturalismus ist allerdings nicht mit derjenigen postmoderner Prägung gleichzusetzen – der zweiten wichtigen Referenz für die postkolonialen Studien. Genau genommen

Postkoloniale Studien und Soziologie: Differenzen und Konvergenzen

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REVIEW ESSAY

Sérgio Costa

Postkoloniale Studien und Soziologie: Differenzen undKonvergenzen

Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenberg, 408 S.

Conrad, Sebastian/Shalini Randeria (2002) (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Frankfurta.M./New York: Campus, 396 S.

Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg:Argument, 240 S.

Hall, Stuart (2000): Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3.Hamburg: Argument, 158 S.

Pieterse, Jan Nederveen (2004): Globalization & Culture. Maryland: Rowman & Littlefield,149 S.

Beginnend mit denjenigen Autoren, die als Intel-lektuelle der schwarzen oder migratorischenDiaspora bezeichnet werden, entstanden die post-kolonialen Studien vor allem in der LiteraturkritikEnglands und der Vereinigten Staaten ab den1980er Jahren. Danach expandierten sie in andereLänder und in andere wissenschaftliche Diszipli-nen, wobei die Arbeiten von Homi Bhabha, Ed-ward Said, Gayatri Chakravorty Spivak, StuartHall, Paul Gilroy und anderen weltweit mit Inter-esse rezipiert wurden.1

Ausgangspunkt des postkolonialen Ansatzesist die Feststellung, dass jede Aussage ihrem Ent-stehungsort verpflichtet ist. Auf diesem Befund,der nach den Debatten zwischen Strukturalistenund Poststrukturalisten eigentlich trivial gewor-den ist, gründen die postkolonialen Autoren ihreKritik am wissenschaftlichen Produktionsprozess.Demzufolge trägt die etablierte Form der wissen-schaftlichen Wissensproduktion dazu bei, die in-terne Logik des Kolonialismus zu verbreiten, in-dem sie Denkmuster reproduziert, die den euro-päischen Nationalkulturen entsprechen. Dadurchwerden sowohl die Erfahrungen sozialer Minder-heiten als auch die Transformationsprozesse inden nicht-westlichen Gesellschaften stets imKontext ihrer funktionalen Verhältnisse zu dem

betrachtet, was man als modernes Zentrum derWeltgesellschaft definiert hat. In diesem Sinnemeint das „post“ nicht einfach ein „danach“ imzeitlich linearen Sinne; es handelt sich um eineRekonfiguration im diskursiven Feld, in dem diehierarchischen Beziehungen gedeutet werden(Hall 2002). Das Koloniale seinerseits geht überden Kolonialismus hinaus, es bezieht sich auf di-verse Herrschaftsverhältnisse, seien sie über Be-ziehungen zwischen Geschlechtern, Ethnien oderKlassen definiert.

Das theoretische Feld genau zu begrenzen, indem die postkolonialen Studien angesiedelt sind,ist keine einfache Aufgabe, da die postkolonialenStudien danach suchen, einen Diskurs „beyondtheory“ zu produzieren (Bhabha 1994)2. Dessenungeachtet lassen sich enge Beziehungen zwi-schen postkolonialen Studien und mindestens dreiweiteren Strömungen erkennen. Die erste ist derPoststrukturalismus, vor allem die Arbeiten vonDerrida und Foucault, denen die postkolonialenStudien die Erkenntnis entnehmen, dass das So-ziale einen diskursiven Charakter aufweist. DieRezeption des Poststrukturalismus ist allerdingsnicht mit derjenigen postmoderner Prägunggleichzusetzen – der zweiten wichtigen Referenzfür die postkolonialen Studien. Genau genommen

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variiert die Offenheit zum Postmodernismus sehr,je nach postkolonialem Ansatz. Generell lässt sichfeststellen, dass die postkolonialen Studien Post-modernität als Gegebenheit, ja als empirischeKategorie annehmen, welche die „Dezentrierung“des modernen Subjekts beschreibt. Der Postmo-dernismus als ein theoretisches und politischesProgramm hingegen wird insofern zurückgewie-sen, als der Kampf gegen die Unterdrückung einezentrale Stelle bei den meisten postkolonialenAnsätzen einnimmt (z.B. Appiah 1992; Gilroy2004). Der dritte wichtige Fundus sind die Cultu-ral Studies, vor allem in ihrer englischen Ausprä-gung, wie sie am Birmingham University’s Cen-tre for Contemporary Studies erarbeitet wurden.Es lässt sich vielleicht behaupten, dass der Unter-schied zwischen Cultural Studies in der Form,wie sie sich in England entwickelt haben, und denpostkolonialen Studien lediglich ein chronologi-scher ist. Seit Stuart Hall, ein zentraler Vertreterder englischen Cultural Studies, sein Interesse abMitte der 1980er Jahre immer stärker vom Hege-monieansatz Gramscis weg und hin zu „blackcultural studies“ und Themen wie Rassismus,Ethnizität, Gender und kulturellen Identitätenwandte, lässt sich letztlich eine thematische undtheoretische Überschneidung zwischen postkolo-nialen Studien und Cultural Studies beobachten.Heute sind beide Felder im Grunde nicht mehrklar voneinander zu unterscheiden.

Im Mittelpunkt dieses Review Essays stehtfreilich keine Genealogie der postkolonialen Stu-dien. Ausgehend von neueren Publikationen so-wie von bekannten Titeln postkolonialer For-schung, die im Laufe der letzten Jahre ins Deut-sche übersetzt wurden, geht es hier vielmehr dar-um, die von den postkolonialen Studien an dieSoziologie gerichtete Kritik zu untersuchen unddie daraus folgenden Alternativen aufzuzeigen.Zuletzt wird gegen die These argumentiert, dassdie postkolonialen Studien die erkenntnistheoreti-sche Basis der Soziologie sprengten (McLennan2003). Eher konvergiert die postkoloniale Kritikmit den Bemühungen von immer mehr Soziolo-ginnen und Soziologen, eine Makrosoziologiejenseits der modernisierungstheoretischen Tradi-tion zu entwickeln. Auch andere, von den postko-lonialen Studien aufgeworfene Probleme destabi-lisieren nicht notwendigerweise die Soziologie alsDisziplin, im Gegenteil: Sie können das Fach so-gar bereichern.

1. Das Wissen verorten: diepostkoloniale Erkenntnistheorie

Nicht ohne Grund gilt das klassische Buch „Ori-entalism“ (Said 1978) als ein „Gründungsmani-fest“ des Postkolonialismus (Conrad/Randeria2002: 22). Der Orientalismus, von dem Saidspricht, charakterisiert sich durch eine besondereArt der Darstellung moderner Geschichte, welcheauf der scharfen Unterscheidung zwischen Okzi-dent und Orient basiert. Dabei schreibt sich derTeil der Welt, der sich als Westen versteht, dieAufgabe zu, den Orient zu definieren. Der Orien-talismus bildet damit eine bestimmte Form, dieWelt wahrzunehmen, und konsolidiert sich zu-gleich dadurch, dass die nach diesem Muster er-zeugten Erkenntnisse immer wieder die ur-sprüngliche binäre Unterscheidung Okzident/Orient bestätigen.

Der Impuls, der Said und eine große Anzahlpostkolonialer Autoren inspiriert, ist die KritikFoucaults (1972: 418ff.) an den „Erkenntnistheo-rien“ moderner Geisteswissenschaften, bei denender französische Autor eine methodische Zirkula-rität konstatiert: Der Kritik zufolge spiegeln„neue“ Erkenntnisse, die von einem bestimmtenRepräsentationssystem ausgehen, dasselbe Sys-tem wider.

Stuart Hall (1994) versucht seinerseits, dieDekonstruktion des Orientalismus von Said zugeneralisieren, indem er die Polarität zwischendem Westen und dem Rest der Welt (West/Rest)als Gründungsmotiv der modernen Geisteswis-senschaften erfasst. Der Ausgangspunkt Halls istder von Foucault abgeleitete Begriff der „diskur-siven Formation“, wobei Diskurs nicht mit Ideo-logie, verstanden als verfälschte Repräsentationder Welt, zu verwechseln ist. Daher geht es Hallnicht darum, den Wahrheitsgehalt der Diskurse zudiskutieren, sondern den Kontext, in dem dieseDiskurse produziert werden, zu erkunden. Zuüberprüfen ist dabei, inwiefern das „Wahrheitsre-gime“, innerhalb dessen der Diskurs Bedeutungund Plausibilität erlangt, seine praktische Effizi-enz beweist. Diese „Wahrheitsregime“ oder – inder von Hall bevorzugten Variation – „Repräsen-tationsregime“ sind nicht geschlossen und erwei-sen sich zudem als fähig, neue Elemente in ihrBedeutungsgefüge zu inkorporieren, ohne dasssich dabei dessen ursprünglicher Sinnkern verän-dert.

Indem Hall auf die Idee von Said zurückgreift,die Diskurse als „Archive“ oder geteilte Erkennt-nisquellen zu betrachten, listet er die Hauptele-mente auf, die im Verlauf des langen Prozessesder kolonialen Expansion den Diskurs West/Rest

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konstituiert haben: klassisches Wissen, die bibli-schen und religiösen Quellen, die Mythologiensowie die Reiseberichte. Ausgehend von diesenQuellen konstituieren sich die Polaritäten zwi-schen dem Westen (zivilisiert, fortschrittlich,entwickelt, gut) und dem Rest (wild, zurückge-blieben, unterentwickelt, schlecht). Sind sie ein-mal konstituiert, werden diese Gegensätzlichkei-ten zu Werkzeugen, um die Realität zu erfassenund zu begreifen.

Anhand der Werke von Gründungsautoren derGeisteswissenschaften aus der Mitte des 18. Jahr-hunderts (vor allem Adam Smith, Henry Kame,John Millar, Adam Ferguson) zeigt Hall auf, dasssich die Polarität West/Rest in der inneren Logikder Aufklärung herausgebildet hat und noch heutedas Fundament der modernen Soziologie darstellt,indem die Disziplin die Werte und Strukturen derals westlich definierten Gesellschaften als univer-selle Parameter für die Definition dessen nimmt,was eine moderne Gesellschaft ist. Aus soziologi-scher Perspektive können deshalb alle Spezifikanicht-westlicher Gesellschaften nur als Mangelund Unzulänglichkeit erscheinen, da sie vomGrundmuster abweichen, das man ausschließlichaus den sich selbst als westlich definierenden Ge-sellschaften abgeleitet hat.

Die Polarität West/Rest prägt Hall zufolgeauch das Muster der historischen Erzählung, diedie moderne Soziologie verwendet. Es handeltsich um ein „grand narrative“, das auf die westli-chen Nationalstaaten zentriert ist und bei dem diemoderne Geschichte auf eine allmähliche und he-roische Verwestlichung der Welt reduziert wird,ohne zu berücksichtigen, dass zumindest seit derkolonialen Expansion des 16. Jahrhunderts dieWelt in unterschiedliche „Zeitlichkeiten und Ge-schichtlichkeiten unwiderruflich und gewaltsamzusammengespannt worden“ ist (Hall 2002: 234).Das bedeutet natürlich nicht, dass der Autor aneine Symmetrie der Machtverhältnisse und an einGleichgewicht der gegenseitigen Einflüsse zwi-schen den Regionen glaubt. Er geht vielmehr da-von aus, dass die als gegensätzlich und getrenntvoneinander, im Grunde als Antinomien darge-stellten Teile sich historisch und semantisch er-gänzen.

Die Methode des impliziten Vergleichs unddie Art der historischen Erzählung, die in der So-ziologie vorherrscht, bewirken, dass alles, was im„Rest“ anders ist, als etwas noch nicht Existentesgedeutet wird, als ein Mangel, der durch den je-weils „geeigneten“ Eingriff zu kompensieren sei:koloniale Unterwerfung, Entwicklungshilfe, hu-manitäre Interventionen etc. Damit möchte Hallnicht die moderne Soziologie für die Kolonialis-men und den Imperialismus verantwortlich ma-

chen. Er zeigt allerdings, wie diese Disziplin diekoloniale Perspektive reproduziert, indem sie dasherrschende Repräsentationsmodell der Bezie-hungen zwischen Europa und dem Rest der Weltlegitimiert.

Die „Dekonstruktion“3 der Polarität West/Restkonstituiert einen gemeinsamen Nenner, der dieverschiedenen, als postkolonial bezeichnetenAnsätze vereint. Genau mit dieser Kritik amkolonialistischen Einschlag der modernen Wis-sensproduktion hängt das Präfix „post“ desPostkolonialen zusammen. Rein zeitlich gesehenbezieht es sich auf Ex-Kolonien, deren postko-loniale Zustände sich radikal voneinander unter-scheiden, da diese verschiedene Entwicklungsver-läufe aufweisen. Daher kann das Postkoloniale alsDekonstruktion der Polarität West/Rest erörtertwerden, die sich historisch vor dem Hintergrundder kolonialen Beziehungen konstituiert hat, aberauch noch nach dem Verschwinden des Kolonia-lismus Prozesse der Wissensproduktion und poli-tische Verhältnisse steuert.

Die Aufgabe, die sich postkoloniale Autorenzuschreiben, ist unbescheiden. Es geht ihnen inerster Linie darum zu zeigen, dass die PolaritätWest/Rest ein irreversibel asymmetrisches Ver-hältnis zwischen dem Westen und seinem Ande-ren diskursiv konstruiert und politisch legitimiert.Dabei wird dem Westen eine Überlegenheit zu-gewiesen, die weder von historischen Umständenbedingt noch auf einen bestimmten Handlungsbe-reich (Ökonomie, Technologie, Militär usw.) be-zogen ist. Es handelt sich darum, dem Westen ei-ne alles umfassende ontologische Überlegenheitbeizumessen. Die vermeintliche Überlegenheit istdeshalb absolut, weil sie die logische Konstitutiondes Paares West/Rest selbst bedingt: Wird sie re-lativiert, ergibt die Antinomie West/Rest keinenSinn mehr. Der zweite Schritt, den die postkolo-nialen Autoren machen, zielt darauf zu zeigen,dass die Polarität West/Rest kognitiv unergiebigist, da sie genau das ausblendet, was eigentlichder Erhellung bedarf: nämlich die inneren Unter-schiede der multiplen sozialen Phänomene, die ineinem generalisierten Anderen zusammengefasstwerden, ebenso wie die tatsächlichen Beziehun-gen zwischen dem imaginierten Westen und demRest der Welt.

Das Bemühen um eine Dekonstruktion der(kolonialen) Gegensätze folgt verschiedenenStrategien im Rahmen der postkolonialen For-schung, und spätestens seit dem wichtigen Auf-satz Spivaks (1988) hat sich die Erwartung zer-schlagen, dass eine neue erkenntnistheoretischePerspektive entwickelt werden könnte, indemman die (Post)-Kolonisierten sprechen lässt. DieAutorin zeigt, dass der Verweis auf ein subalter-

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nes Subjekt, das sprechen könnte, illusorisch ist.Sie konstatiert, bezogen auf Indien, dass es eineHeterogenität der Subalternen gibt, die kein au-thentisches prä- oder postkoloniales Bewusstseinbesitzen; es handelt sich um „prekäre Subjektivi-täten“, die am Rande der „erkenntnistheoretischenGewalt“ entstanden sind. Für die postkolonialenStudien zeichnet sich die koloniale Gewalt da-durch aus, dass das Wissen und die Weltanschau-ungen der Kolonisierten deklassifiziert werdenund ihnen somit gleichzeitig das Vermögen zumündiger Äußerung abgesprochen wird. Anstattalso die Position eines Vertreters der Subalterneneinzunehmen, der ihre „Stimmen“ hört, wie sie inden heroischen Aufständen gegen die Unterdrü-ckung widerhallen, versucht der postkolonialeIntellektuelle, die koloniale Herrschaft als eineSinnbeschneidung zu verstehen, welche die Spra-che des Subalternen verstummen lässt, indem siesie disqualifiziert.

In groben Zügen lassen sich drei miteinanderverbundene Dimensionen des Postkolonialismusnachzeichnen, in denen die „Dekolonisierungmoderner Imagination“ (Pieterse/Parekh 1995:12) betrieben wird: die Dekonstruktion einer Te-leologie der Moderne, die Definition eines post-kolonialen erkenntnistheoretischen Ortes und dieKritik am modernen Subjektbegriff.

2. Kritik am teleologischenModernitätsbegriff

Die postkoloniale Reinterpretation moderner Ge-schichte versucht, den Kolonisierten in die Mo-derne einzufügen – nicht als Gegenpart zum We-sten oder als Synonym der Rückständigkeit, desTraditionellen, des Mangels, sondern als konsti-tutiven und essenziellen Bestandteil dessen, wasman als Moderne diskursiv konstruiert hat. DieserAnspruch impliziert die Dekonstruktion der he-gemonialen modernen Geschichtsschreibung, inder die Verhältnisse zwischen dem „Westen“ unddem „Rest“ beschrieben werden. Dabei soll er-sichtlich werden, dass diese beiden Begriffe ima-ginäre Konstruktionen sind, die keinen unmittel-baren empirischen Erkenntniswert haben. Dies istjedenfalls das Projekt, dem Chakrabarty (2002)nachgeht. Unter der Devise „Europa zu provin-zialisieren“, versucht der Autor, den liberalenUniversalismus zu radikalisieren. Er will zeigen,dass das Rationale, die Wissenschaft etc., keineMerkmale der europäischen Kultur, sondern Ele-mente einer globalen Geschichte sind, in der derWesten das Monopol über die Definition des Mo-

dernen paradoxerweise mit direkter Beteiligungder nicht-westlichen Welt erobert hat. Dement-sprechend werden außereuropäische Nationalge-schichten zu Erzählungen über die Konstruktionvon Institutionen wie die Staatsbürgerschaft, dieZivilgesellschaft etc., die nur als Projektionen imSpiegel eines „hyperrealen Europas“ Sinn erge-ben können. Denn derartige Projektionen gehenvöllig an den konkreten Erfahrungen der Mehr-heit der Weltbevölkerung vorbei. In diesen Natio-nalgeschichten ist das vorgestellte Europa dieHeimstatt des wahren modernen Subjektes, vondem selbst die militantesten Sozialisten und Na-tionalisten ausgehen, um durch Imitation eine na-tionale Entsprechung zu schaffen. So wird „durchjene Geschichten (…), die sowohl der Imperia-lismus als auch der Nationalismus den Koloni-sierten erzählt haben“ (ebd.: 302), das europäi-sche Epos der Modernisierung geschaffen.

Europa zu provinzialisieren bedeutet zu erken-nen, dass erstens die Beanspruchung des Attributsmodern seitens Europas das Kapitel einer globa-len Geschichte ist, „von der die Geschichte deseuropäischen Imperialismus ein untrennbarer Teilist“ (ebd.: 306), und dass zweitens der Beteili-gung der Nationalisten in den Ländern der DrittenWelt am Triumph der modernistischen Ideologie,die Europa als Inbegriff des Modernen zelebriert,eine fundamentale Rolle zukommt.

Randeria (2000, 2005) erweitert mit ihrenKonzepten der „geteilten Geschichten“ und derverwobenen Moderne (entangled modernity) die-ses Programm. Mit ihrer Begrifflichkeit be-schreibt die Autorin Geschichten, die sich, ob-wohl sie als nationale Geschichten erzählt wer-den, gegenseitig durchdringen und bestimmen.Damit veranschaulicht sie auf der einen Seite dieInterdependenz und die simultanen Konstituie-rungsprozesse gegenwärtiger Gesellschaften. An-dererseits will sie auf Irrtümer einer dichotomi-schen Historiographie aufmerksam machen, wel-che die geschichtliche Komplementarität zwi-schen dem „Westen“ und dem „Rest“ ausblendet.Der Begriff „entangled“ beinhaltet im doppeltenSinne die Ausdrücke „shared“ und „divided“. Eshandelt sich also um Geschichten, die in ihremVerlauf ineinander greifen, aber in ihrer Vorstel-lung und Darstellung getrennt werden. Es ist wich-tig hervorzuheben, dass die Autorin, indem sie dieInterdependenz moderner Geschichten betont, nichtdie Asymmetrien der Machtverhältnisse verschlei-ert, von denen diese Beziehungen geprägt sind.Außerdem impliziert diese Sichtweise nicht, dassalles im gleichen Maße und in gleicher Proportionmiteinander verwoben ist. Es geht darum, die be-obachteten Wandlungsprozesse im Kontext dermiteinander geteilten Geschichten zu verorten,

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um die Asymmetrien und Ungleichheiten zwi-schen den Weltregionen im Inneren dieser ge-meinsamen modernen Geschichte zu begreifen.

Die Idee einer ineinander verwobenen Kon-stitutierung der Moderne ist mit einer doppeltenIntention verbunden. Zum einen geht es darum,das erkenntnistheoretische Problem aufzuzeigen,nämlich den blinden Punkt herauszufiltern, dender Gegensatz West/Rest in den verschiedenenDisziplinen der Humanwissenschaften erzeugt.Indem die Soziologie dieses „Andere“ des We-stens in einer evolutionistischen und hierarchi-schen Weise behandelt und es als Vakuum an Ge-sellschaftlichkeit bzw. als „Vorstufe des europäi-schen Selbst“ betrachtet (Randeria 2000: 42),stuft sie Phänomene wie die Schwächung natio-naler Souveränität, Flexibilisierung des Arbeits-markts, Fernsteuerung usw. als neuartige Folgender Globalisierung ein, ohne dabei zu erkennen,dass die (post-)kolonialen Gesellschaften diesePhänomene seit je her kennen. Ferner zielt derAnsatz der „entangled modernity“ darauf ab zuzeigen, dass die Kolonien immer schon Experi-mentierfelder der Moderne waren.

3. Der Ort postkolonialen Sprechens:das Lob des Hybriden

Anstatt Tatsachen und Verbindungen zu suchen,die den (Post-)Kolonisierten innerhalb der mo-dernen Geschichte neu positionieren könnten,konzentrieren sich verschiedene Autoren, die vonden Möglichkeiten des Poststrukturalismus über-zeugter sind, auf die Verbindung zwischen Dis-kurs und Macht. Sie versuchen, einen „site ofenunciation“ – also den Ort, von dem aus manseine Aussagen macht – zu finden, der sich denfest gefügten Zuschreibungen entziehen könnte,und dabei die kulturellen Grenzen zu überschrei-ten, die vom kolonialen Denken gezogen wurden.Bhabha (2000) verfolgt diese Strategie mit be-harrlichstem Nachdruck. Sein Interesse ist auf denAusgangsort des Sprechens gerichtet, der nichtdurch die Polarität des Draußen/Drinnen be-stimmt ist, sondern sich an den Grenzen, in denZwischenräumen jeglicher kollektiv konstituierterIdentität befindet.

Im Visier seiner Bemühungen, symbolischeGrenzen zu dekonstruieren, steht verständlicher-weise vor allem die Nation. Bhabha sieht in derNation den entscheidenden Ort, von dem aus dieMachtverhältnisse konstruiert werden, ebenso wieden Ausgangspunkt für die Grenzbestimmung,die es erlaubt, Hierarchien zwischen Kolonisier-

ten und Kolonisierenden, Insiders und Outsidersaufzubauen. In Gegenüberstellung zur Nation alsLegitimationsgrundlage für homogenisierendeIdentitätskonstruktionen, die versuchen, die Kul-tur zu fixieren und fest zu verorten, wird die Ideeder Differenz gesetzt, die sich in den Sinnlückenzwischen den kulturellen Grenzen kontextuell ar-tikuliert. Differenz bezieht sich hier weder auf daskulturelle oder gar biologische Erbe noch auf dasReproduzieren einer symbolischen Zugehörigkeit,die von der Geburt, dem Wohnort, dem sozialenund kulturellen Umfeld etc. abgeleitet wird, son-dern ist eine Größe, die im Prozess ihrer Manife-station konstruiert wird. Bhabha zufolge ist Diffe-renz also kein Ausdruck eines akkumuliertenkulturellen Vorrats. Differenz meint einen Stromvon Repräsentationen, die sich gleichsam zwi-schen den Zeilen der totalisierenden und essen-zialistischen Identitäten (Nation, Arbeiterklasse,Schwarze, Migranten etc.) ad hoc artikulieren.Daher muss selbst der Verweis auf eine ur-sprüngliche und authentische Tradition als Be-standteil einer Performanz von Differenzen be-handelt werden, welche ausgehend von dem dis-kursiven Kontext zu verstehen sind, der sie um-gibt.

Die Konstruktion und Dekonstruktion von Dif-ferenz, so wie Bhabha sie beschreibt, dürfen nichtals soziale Handlung in dem von soziologischenTheorien üblicherweise verwendeten Sinn begrif-fen werden, da das damit assoziierte Handelnnicht in eine theoretische Narration umgeschrie-ben werden kann. In Bhabhas Texten lässt sichweder eine entzifferbare Beziehung zwischenHandeln und Struktur noch eine Korrelation zwi-schen dem Selbst und der Gesellschaft ausma-chen, die anhand eines verallgemeinernden so-ziologischen Modells erfasst werden könnte:„There can be no final discursive closure of theo-ry“ (Bhabha 1994: 30; siehe auch McLennan2000: 77). Selbst die Vorstellung vom Subjektmuss außerhalb des soziologischen Kanons ver-standen werden. Bhabha versucht den BegriffSubjekt zu vermeiden, der über seine Bindung zueinem Ort innerhalb der sozialen Struktur defi-niert werden müsste oder sich anhand der Vertei-digung eines bestimmten Ideenkomplexes cha-rakterisieren lässt. Das Subjekt ist immer ein pro-visorisches und kontingentes.

Dies impliziert jedoch nicht die Unmöglichkeitdes Widerstands gegen Unterdrückung. Die mögli-che Subversion ist diejenige, die mit den Bedeu-tungsverschiebungen von Zeichen verbunden ist.Diese vom Poststrukturalismus entliehene Ideegeht davon aus, dass die Zeichen unerschöpflicheBedeutungsmöglichkeiten enthalten und ihren Sinn– provisorisch und variierbar – jeweils nur durch

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die konkrete Verwendung innerhalb eines be-stimmten Bedeutungskontextes erlangen. Kein dis-kursiver Kontext kann das Bedeutungsrepertoireeines Zeichens komplett ausschöpfen. Die kreativeHandlung ist diejenige, die das Zeichen von einemdiskursiven Ort aus neu definiert, welcher außer-halb geschlossener Repräsentationssysteme liegt.Es handelt sich also, Bhabha gemäß, nicht um eineHandlung, die von einem konkurrierenden Reprä-sentationssystem ausgeht, sondern die an einemGrenzort außerhalb der totalisierenden Bedeu-tungszuschreibungen anzusiedeln ist. Deshalb er-möglicht diese Handlung, „Unruhe“, d.h. semanti-sche Störungen, herbeizuführen, die den fragmen-tarischen und ambivalenten Charakter jeglichenRepräsentationssystems entlarvt. Die Effizienz derIntervention ist daher auch immer ungewiss, offenund unbestimmt. Es handelt sich um eine Handlunginnerhalb des Einflussbereichs des Subjektes, aberaußerhalb seiner Kontrolle.

Die „sites of enunciation“ zwischen den Re-präsentationssystemen werden von Bhabha als ein„third space“ bezeichnet, der einem Kontext ent-spricht, „in which the spatial contingency of na-tional and racial borders is combined with (…)the temporal contingency of the indecidable“(Philips 1999: 68). Das heißt, dass der dritteRaum sich nicht an einem festen Ort innerhalbdes sozialen Gefüges befindet; er bezieht sicheher auf die Momente, in denen der willkürlichkonstruierte Charakter kultureller Grenzen deut-lich wird. Das geschieht, wenn die Zeichen auseinem bestimmten zeitlichen und räumlichen Be-zugsrahmen herausgelöst werden, aber gewisser-maßen noch in Bewegung sind, d.h. noch in keinneues Repräsentationssystem einbezogen wurden.Dieses In-Bewegung-Sein entspricht der „Hybri-disierung“ von Zeichen und ist ein kontingenter,vom Zufall abhängiger Prozess.

Das von Bhabha vertretene Konzept von „Hy-bridität“ hat seinen Ursprung in den linguisti-schen Analysen Mikhail Bakhtins, wo dieser voneiner unfreiwilligen „Mischung zweier sozialerSprachen innerhalb einer gleichen Aussage“ undvon „der dialogischen Konfrontation“ zweierSprachen in Form einer „intentionalen Hybridität“ausgeht (Grimm 1997: 53). Bhabha spricht derIntentionalität die Bedeutung ab und zeigt, dassdas Phänomen der Hybridisierung vom Willen ei-nes Subjektes unabhängig ist.

Ausgehend von der von Bhabha geprägten Be-griffsbestimmung verbreitet sich das KonzeptHybridisierung innerhalb der postkolonialen Stu-dien, obwohl die Begrifflichkeit bei jedem Autoreine unterschiedliche Färbung annimmt (für einenVergleich siehe Papastergiadis 1997). Dem Kon-zept werden zwei erkenntnistheoretische Aufga-

ben zugeschrieben. Die erste ist dekonstruktivisti-scher Art: Indem die hybriden Züge aller kultu-rellen Konstruktion aufgedeckt werden, versuchtman zu belegen, dass es keinen homogenen, neu-tralen „site of enunciation“ gibt. Jeder Aussageortist immer ein partieller, heterogener. Daher ist derAnspruch auf (kulturelle) Homogenität immer miteiner Hierarchisierungsabsicht verbunden. Daszweite Anliegen ist sozusagen normativer Natur:Die Hybridität definiert einen kosmopolitischenglobalen Zustand. Es handelt sich dabei um denVerweis auf eine hybride Weltkultur, die eineweltumfassende Ökumene beschwört, in der dierassistischen, nationalen, ethnischen Grenzenaufgehoben seien: „an international culture, basednot on the exoticism of multiculturalism or thediversity of cultures, but on the inscription andarticulation of culture’s hybridity“ (Bhabha 1994:38). Demzufolge ist die Veranlagung zur Hybridi-sierung den zeitgenössischen Biographien in ge-wisser Weise inhärent, doch in der Figur des„postkolonialen“ Migranten findet diese Tendenzihre emblematische Verkörperung. Der Kosmo-politismus als Hybridität erscheint so am Horizontder Möglichkeiten als Alternative zu den modernenUniversalismusansprüchen: „The latter (moder-nism) combated ethnicity in the name of universa-lism, the identity of all people and thus of their in-dividual rights. The former (post-colonialism) doesthe same in the name of mixture and hybridity, aclaim to a humanity so fused in this cultural char-acteristics that no ,ethnic absolutism‘ is possible.This is what I have referred to as cosmopolitismwithout modernism. Cosmopolitanism withoutmodernism is not without modernity as such, butwithout the rationalist, abstract and develop-mentalist project of modernism“ (Friedman 1997:75f., Hervorhebung des Autors).

Über die Funktion hinaus, auf einen „site ofenunciation“ zu verweisen, der zwischen denkulturellen Grenzen liegt, gewann der BegriffHybridität durch die Arbeit von Pieterse (2004)eine makroanalytische Verwendung im Rahmender Globalisierungsforschung. Der Autor geht da-von aus, dass die geläufigen Analysen die Globa-lisierung mit der Moderne assoziieren und soletztlich zu einer Erweiterung der Modernisie-rungstheorie werden. Danach begreifen diese An-sätze Globalisierung als Verwestlichung der Welt(Westernization). Die Autoren wiederum, welchedie Globalisierung nicht als Homogenisierung se-hen wollen, fallen insgesamt unweigerlich, soPieterse, auf einen Polyzentrismus zurück, der ei-ne statische und eindimensionale Auffassung derGlobalisierung beinhaltet: „the multiplication ofcentres still hinges on centrism“ (ebd.: 64). Allediese Ansätze missachten etwas Fundamentales

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im Globalisierungsprozess, nämlich die Globali-sierung der Diversität.

Pieterse postuliert, dass die Globalisierung alsHybridisierung verstanden werden sollte, die fol-gende Dimensionen umfasst: einen Prozess derMultiplizierung bzw. gegenseitigen Durchdrin-gung möglicher Organisationsmodi und -ebenen(transnational, international, regional, kommunal);eine in verschiedenen sozialen Bereichen vollzoge-ne Kombination unterschiedlicher Steuerungslogi-ken (kapitalistisch, solidarisch, formell, informelletc.) sowie eine kulturelle Durchmischung – eine„global mélange“. Damit behauptet Pieterse nicht,dass die unterschiedlichen kulturellen Elemente,die dabei jeweils vermischt werden, eine Reinheitoder Ursprünglichkeit aufweisen. Sie sind selbstschon hybride Formen und daher entspricht seineglobale Mélange einer Mischung aus Mischun-gen.

Um seine Argumentation plausibel zu machen,lehnt Pieterse die Vorstellung von Kultur als ei-nen Komplex orthogenetischer und endogener Ei-genschaften ab, welche mit einer organischen undhomogenen Gemeinschaft und einem bestimmtengeographischen Ort assoziiert werden. Dagegenstellt er das Konzept einer translokalen, heteroge-netischen und heterogenen Kultur, die sich in ver-schiedenen diffusen Netzen entwickelt. Währendim ersten Fall der kulturelle Austausch als stati-sches Phänomen verstanden wird, das immer eineReferenz an ein Zentrum beinhaltet, sind die In-teraktionen im zweiten Fall dezentriert undtranskulturell. Die Globalisierung stellt so den of-fensichtlich nicht-linearen Prozess dar, in den dieGeneralisierung dieses zweiten Typs der kulturel-len Beziehungen mündet. Daher führt die Globali-sierung nicht zur Homogenisierung, sondern zurDiversifizierung, nicht zur kulturellen Hegemonie,sondern zur gegenseitigen kulturellen Durchdrin-gung, und nicht zur Verwestlichung, sondern zurglobalen Mélange, also zur Hybridisierung.

Obwohl innovativ, bringt der von Pietersevorgeschlagene Gebrauch der Kategorie Hybri-dität Probleme mit sich, was er selbst teilweiseanerkennt, indem er den Begriff im Rahmen sei-ner Auseinandersetzung mit dem neuen „anti-hybridity backlash“ (Pieterse 2004: 85 ff.) präzi-siert. Dennoch scheint mir die Ungenauigkeit desKonzeptes nicht ein Defizit theoretischer Verfei-nerung zu sein; Pieterse Versuch, das Modelldurch neue Forschungsergebnisse zu korrigieren,führt nicht weiter. Das Problem ist eher metho-dologischer Art. In der von Pieterse betriebenenAnwendung nimmt das Konzept der Hybridisie-rung so viele Funktionen und Definitionen auf,dass es zum Synonym dessen wird, was es ei-gentlich erklären sollte: „globalization as hybri-

dization“. Mit anderen Worten: Der Autor suchtangeblich nach einem pluralen Modernitäts- undKulturbegriff, der der Vielfalt der Produktions-und Reproduktionsdynamiken der Moderne ge-recht wird. Was dabei herauskommt, ist allerdingseine Vereinigung aller Prozesse in einem Attribut:hybrid. Obwohl der kritische Anspruch, den Au-toren wie Bhabha oder Pieterse mit ihrem Hybri-disierungsbegriff verbinden, nachvollziehbar ist,liegt seiner Verwendung als analytischer Katego-rie meines Erachtens eine Fehleinschätzung zu-grunde. Dieses Mehrzweckkonzept fungiert wieein Werkzeug, das seinen Gegenstand zuerst zer-legt, danach aber Nuancen und Differenzierungenvermischt, die in der wissenschaftlichen Analyseeigentlich hervortreten sollten. Am Ende führt dasKonzept als analytische Kategorie zu einem er-nüchternden heuristischen Mehrwert. Denn zuwissen, dass die Moderne, die Kulturen, die Men-schen, die Globalisierung hybrid sind und hybridbleiben, hilft wenig weiter, um die Komplexitätmoderner Gesellschaften zu veranschaulichen.

4. Von der Differenz zum Subjekt

Die Konzeption der Differenz, die sowohl Bhabhaals auch Stuart Hall geprägt haben, leitet sich vomPoststrukturalismus, genauer von Derridas Begriffder différance, ab. Ohne hier in eine Debatte aus-greifen zu wollen, die immer noch sehr lebhaftgeführt wird und dabei die verschiedensten Wis-sensfelder durchkreuzt, möchte ich doch kurzfesthalten, dass Derrida, indem er den Neologis-mus différance als absichtlich „falsche“ Variantedes französischen Wortes différence schuf, dieArt einer Differenz benennt, die weder im Signi-fikationsprozess von Zeichen erfassbar noch inPolaritäten aufteilbar ist, wie Ich/Andere, Wir/Sie,Subjekt/Objekt, Mann/Frau, schwarz/weiß, Bedeu-tung/Meinung. Demzufolge konstituieren solchegegensätzlichen Bestimmungen und Klassifizie-rungen das westliche, logozentrische Modell derWeltwahrnehmung und bilden gleichzeitig dieGrundlage für moderne Herrschaftsstrukturen.Überdies schaffen sie die Illusion vollständigerRepräsentationen, die totalisierend sind und keineLücken lassen. Doch die Unvollständigkeit derRepräsentationen liegt in der Sprache selbst be-gründet, da Signifikant und Signifikat niemalskomplett übereinstimmen. Die différance beziehtsich auf den Bedeutungsüberschuss, der mittelsbinärer Differenzierungen nicht erfasst wird undauch nicht erfasst werden kann.

Dies darf jedoch nicht ein neues Paar suggerie-ren, als ob es sich um eine vollständige Realität

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als prä-linguistisches Sein einerseits und derenunvollständige und reduzierte sprachliche Reprä-sentation andererseits handeln würde (Derrida1972: 44). Dieser Ansicht nach gibt es keine vor-gängige Realität, die dem Diskurs zeitlich oderontologisch vorgeordnet wäre. Die soziale Reali-tät wird durch die Sprache konstituiert, weshalbsich die différance nur auf der Ebene des Diskur-ses konstituieren kann. Das Konzept der différan-ce bricht eben gerade mit der Idee einer prä-existenten, ontologischen und essenziellen Diffe-renz, die diskursiv dargestellt werden kann. Diedifférance konstituiert sich im Akt ihrer Manife-station, im Rahmen des Netzes von Repräsenta-tionen, Differenzen und Differenzierungen. Auchdas Subjekt wird dabei dezentriert. Es konstituiertsich in den beweglichen Signifikationsketten, esist eigentlich Teil von ihnen: Es existiert wedervor der Sprache noch ist es eine autonome Entitätoder eine unabhängige Identität, die auf die dif-feránce einwirkt, um die von ihr zurückgelasse-nen „Sinnlücken“ zu füllen und damit die Totali-tät zu (re)konstruieren. Es handelt sich nicht umSubjekte, die in einer Struktur eingeordnet sind.Subjekte und Strukturen haben den gleichen Sta-tus als schwebende Zeichen, welche ihre – immerunvollständige und provisorische – Bedeutungdurch ein semantisches Differenzierungsspiel be-ständig neu annehmen.

Derridas Radikalität, die sich im Konzept derdifférance und in der Auflösung der Oppositionzwischen Subjekt und Struktur widerspiegelt,wird jeweils von Bhabha und Hall unterschiedlichinterpretiert. Beide stützen sich auf den Post-strukturalismus, um der Idee der fixen, essenziel-len Differenz zu entkommen, sei sie aufgestülptoder selbst zugeschrieben. Die Differenz ist fürbeide eine „category of enunciation“, „opposed torelativistic notions of cultural diversity, or the ex-otism of the diversity of cultures“ (Bhabha 1994:160). Der Poststrukturalismus hat somit für beideeine zentrale Bedeutung, da sie auf ihn zurück-greifen, um antinomische Diskurse zu dekonstru-ieren, die ein „Ich“ und einen „Anderen“, ein„Wir“ und ein „Sie“ gegenüberstellen. Dies giltsowohl für den kolonial-imperialistischen alsauch für den nationalistischen und den multikul-turellen Diskurs. In diesen Diskursen wird dieDifferenz als homogene Identität, also als eindeu-tige „sameness“ zelebriert, nämlich unter der An-nahme, dass hier eine Koppelung zwischen dersoziokulturellen Position in einer prä-diskursivenStruktur und einem bestimmten Ort des linguisti-schen und politischen Sprechens besteht. Auf die-se Weise wird die Differenz gezähmt, homogeni-siert, mit einer neue Grenze eingefangen, womitsie ihren unvorhersehbaren und unsicheren Cha-

rakter verliert, von dem Bhabha und Hall ihresubversiven Möglichkeiten ableiten. Anstatt vonIdentität sprechen die Autoren lieber von Identifi-zierung, die sich eher auf die umstandsbezogenePosition in den Signifikationsnetzwerken bezieht(Hall 2000: 52ff.).

Bhabha scheint indessen die Kontingenz derlinguistischen Spiele bis zur letzten Konsequenzzu treiben. Papastergiadis hat Recht, wenn er sagt,dass das Hauptanliegen Bhabhas nicht die Ret-tung oder die Transformation ist. Es handelt sichvielmehr um eine Chronik der Prozesse „throughwhich the tactics of survival and continuity arearticulated“ (1997: 279). Bhabha setzt zwar aufdie Multiplizierung „hybrider“ Differenzen, diesich den kulturellen Zwischenräumen artikulieren.Er sieht in ihnen die Möglichkeit, die totalisieren-den Diskurse zu unterlaufen, seien sie hegemonialoder kontra-hegemonial. Damit hat die Verbrei-tung hybrider Zustände, die mit der Migrationvon Menschen und Zeichen einhergehen, eine po-sitive Folge: Sie schaffen Bedingungen für einemögliche Artikulierung neuer Differenzen. Dieserklärt die Aufmerksamkeit, die der Autor denImmigranten ebenso wie den nationalen Minder-heiten zuteil werden lässt. Dennoch ist deren Re-levanz nicht diejenige des reflexiv Handelnden,der gegen die herrschenden Diskurse vorgeht. Dieräumlichen und zeitlichen Verschiebungen vonZeichen hybridisieren potenziell die Signifikati-onskontexte, womit Ungewissheiten, Ambivalen-zen und Zweifel daran eingeführt werden, was zu-vor als „kohärent“, rein und präzise erschien. DieseHaltung führt nicht zu einer „Rezentralisierung“des Subjektes, indem ihm im Rahmen der Hybri-disierung eine Rolle als sozialer Protagonist zuge-sprochen würde. Der Prozess, es sei nochmalsbetont, entgleitet der Kontrolle des Handelnden.Es gibt weder eine Teleologie der Hybridisierungnoch eine Verdinglichung des Bewusstseins vonAkteuren, die diese Teleologie umsetzen könnte.Was Bhabha behauptet, ist lediglich, dass die Mi-grationen von Zeichen die Kontexte der Produkti-on von hybriden Bedeutungen vermehren – abernur als Möglichkeit! Die Präsenz „fremder Zei-chen“ kann auch zur Versteinerung der kulturel-len Grenzen führen, indem die Konstruktion des„Fremden“ als etwas der eigenen Identität Entge-gengesetztes erfolgt. In welchem Maße die Mi-gration der Zeichen eher Hybridisierung oderdoch neue Zuschreibungen hervorruft, wird vommigrierenden Subjekt beeinflusst, aber kann nichtvon ihm kontrolliert werden – schließlich ist dasSubjekt nur noch ein Zeichen innerhalb der Signi-fikationsketten.

Im Gegensatz dazu will Hall über die textuel-len Inskriptions- und Reinskriptionsspiele hinaus

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mithilfe eines dezentrierten Subjektkonzeptes ei-ne politische Soziologie der kulturellen Ver-handlungen konstruieren. Er unterscheidet zwi-schen drei Konzeptionen von Subjekt: das karte-sianische oder aufgeklärte Subjekt, das eineselbstreferenzielle, durch die Vernunft konstitu-ierte Identität aufweist, das soziologische Subjektund das dezentrierte Subjekt – welches er alspostmodern bezeichnet. Demnach konstituiertsich das soziologische Subjekt in seinen Bezie-hungen mit den „‚bedeutenden Anderen‘, die demSubjekt die Werte, Bedeutungen und Symbolevermitteln – die Kultur, in der er/sie lebt. In dieserSicht (hat) das Subjekt immer noch einen innerenKern, ein Wesen, dass ‚das wirkliche Ich‘ ist, aberdieses wird in einem kontinuierlichen Dialog mitden kulturellen Welten ‚außerhalb‘ und den Iden-titäten, die sie anbieten, gebildet und modifiziert“(Hall 1994: 182). Die Konzeption des dezentrier-ten Subjekts leitet sich wiederum von den theore-tischen Entwicklungen ab, die in ihrer Gesamtheitein Bild eines Subjekts produzieren, das nicht ei-ne permanente oder essenzielle Identität besitzt.Die Idee einer umfassenden und einzigen Identitätwird angesichts der „verwirrenden fließendenVielfalt möglicher Identität“ (ebd.: 183) zu einerPhantasie erklärt.

Die Konzeption des dezentrierten Subjektes,so wie sie von Hall entwickelt wird, kann alsWeiterführung des theoretischen Projektes vonFoucault betrachtet werden, das darauf ausge-richtet ist, die Subsumierung des Subjekts unterdie Diskurse aufzuzeigen. Um sein eigenes Kon-zept zu formulieren, rekonstruiert Hall die späte-ren Arbeiten Foucaults und stellt dabei fest, dassdie Erzeugung des Subjektes durch die Diskurseauf zwei verschiedenen Ebenen abläuft. Die ersteEbene bezieht sich auf den jeweiligen Momentder Konstruktion und Institutionalisierung einesdisziplinierenden Diskurses, der das Subjekt kon-stituiert, indem er es darin einordnet: „Thesesubjects have the attributes we would expect asthese are defined by the discourse: the madman,the hysterical woman, the homosexual, the indi-vidualized criminal, and so on“ (Hall 1997: 41).

Auf einer zweiten Ebene schaffen die Diskursedennoch einen „Ort für das Subjekt“, indem sieeinen Raum für eine eigene Positionierung eröff-nen. Der Diskurs erhält erst einen effektiven Sinn,wenn die Menschen sich ihm gegenüber positio-nieren. Dabei konstituieren sie sich als Subjekt imRahmen des Wahrheitsregimes, das mit einer be-stimmten diskursiven Formation korreliert. DiesePositionierung sollte nicht mit einer Autonomieund Intention des Subjekts verwechselt werden:Doch immerhin erlaubt sie es, einen Moment in-nerhalb des Prozesses der Erzeugung des Selbst

zu erfassen, der durch die Selbst-Konstituierung –die „subjectivation“ – gekennzeichnet ist. Ausge-hend von diesem Moment der Selbstkonstituie-rung im Rahmen der diskursiven Erzeugung desSelbst versucht Hall, die theoretische Konzeptiondes dezentrierten Subjekts aufzubauen. Es gehtdarum, die Beziehung zwischen dem Subjekt undder diskursiven Formation zu untersuchen unddabei festzustellen, wie sich das Subjekt kontex-tuell „artikuliert“. „Artikulation“ meint hier beideBedeutungen, die der Begriff im Englischen hat:zum einen die des Sprechens, des Sichäußerns,zum anderen im Sinne der Verbindung zweierElemente, die unter bestimmten Umständen eineEinheit eingehen können.

Das Prinzip der möglichen, aber nicht vorde-terminierten Artikulation kann sowohl anhand desKonstituierungsprozesses des individuellen Sub-jekts beobachtet werden, das sich permanent ge-genüber der diskursiven Formation neu positio-niert, als auch anhand der Erzeugung kollektiverSubjekte. Damit besteht die Aufgabe der Theoriegenau darin, die Umstände zu erfassen, unter de-nen sich bestimmte Diskurse und Subjekte kon-stituieren bzw. artikulieren: „die Theorie der Ar-tikulation fragt, wie eine Ideologie ihre Subjekteentdeckt und nicht wie das Subjekt die notwendi-gen und unvermeindlichen Gedanken denkt, diezu ihm gehören. Sie ermöglicht uns zu denken,wie die Ideologie Menschen handlungsfähigmacht und es ihnen ermöglicht, auf einsichtsvolleWeise ihre historische Situation zu begreifen, oh-ne diese Formen der Einsicht auf ihre sozioöko-nomische, Klassen- oder soziale Position zu redu-zieren“ (Hall 2000: 65f.).

Der Verweis auf kollektive Subjekte sollte alsonicht die Vorstellung von vordiskursiv konstituier-ten Gruppen vermitteln, die aufgrund von objekti-ven und materiellen Bedingungen virtuell existie-ren, als würden sie lediglich auf einen Diskurswarten, der sie durch Benennung ihrer Gemein-samkeiten als kollektives Subjekt konstituiert.Subjekte und Diskurse konstituieren sich simultanoder anders gesagt: Subjekte können sich nur überDiskurse artikulieren. Die Artikulation bleibt fürHall ein streng analytisch-deskriptives Konzept,das auf jegliche Beziehungen zwischen Subjektenund diskursiven Formen angewendet werden kannund nicht a priori determiniert, ob eine bestimmtePositionierung innerhalb einer diskursiven Forma-tion dazu beiträgt, ungleiche Herrschaftsbeziehun-gen zu reproduzieren oder doch die Verhältnisse zutransformieren. In den Arbeiten von Hall gibt eskeinen normativen Ort außerhalb des Diskursesoder des politischen Spiels, von dem aus die Posi-tionen, die vom Subjekt eingenommen werden,bewertet werden könnten; noch gibt es normative

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Konstanten, die als Vermessungsparameter fungie-ren, und anhand derer sich „Gewünschtes“ und„Unerwünschtes“ theoretisch unterscheiden ließe.Trotzdem erzeugen die Instrumente des Autors beiihrer Anwendung auf konkrete soziale Prozesseprägnante Analysen und erlauben es, nicht nurPhänomene zu beschreiben, sondern sie politischund normativ zu differenzieren.

5. (Un-)Möglichkeiten einerpostkolonialen Soziologie

Ausgehend von den Arbeiten Bhabhas versuchteMcLennan (2003), die postkolonialen Reflexio-nen in soziologische Begriffe zu übertragen sowieihren Einfluss auf die Theoriebildung auf demGebiet der Sozialwissenschaften zu bewerten.Dabei gelangt er zu einem ambivalenten Resultat.Einerseits zeigt er, wie die postkolonialen Studienauf dreifache Weise Positionen der Soziologiegrundlegend infrage stellen. Erstens entziehen sieeiner gewissen Soziologie der Unterentwicklungihre Legimitation, indem sie zeigen, dass diesedie materiell ärmeren Gesellschaften immer nochals ein unterlegenes und zivilisationsbedürftigesAnderes repräsentiert. Die zweite Form „soziologi-schen Bewusstseins“, die die postkoloniale Theorietrifft, wäre eine multikulturelle bzw. pluralistischeSoziologie, da die postkolonialen Studien die Vor-stellung desavouieren, dass es einen unpartei-ischen Raum für die Repräsentation präexistenterkultureller Differenzen gibt. Die dritte Front, ander die postkoloniale Reflexion die Soziologieangreift, bezieht sich auf deren generalisierendenTheoriestil, der für die Erfassung sozialer Prozes-se nicht adäquat sei: „Postcolonial cultural stu-dies, by highlighting performativitiy and limina-lity rather than structural positioning and rationa-list assessment, offers a wider canvas and a moreinclusive sense of the richness of social experi-ence than sociology“ (ebd.: 82). Gleichzeitig zeigtMcLennan dennoch, dass die postkoloniale Theo-rie, solange sie einen analytischen Anspruch hat,Gefangene desselben Dilemmas ist, dem die So-ziologie aufsitzt: Theorie zu bilden impliziert frü-her oder später, die sozialen Erfahrungen denPrioritäten und konzeptionellen Kategorien desgewählten analytischen Ansatzes anzupassen, wo-bei die konkreten Erfahrungen reduziert und sim-plifiziert werden.

Es lässt sich aber auch eine von McLennansabweichende Bewertung des Verhältnisses zwi-schen den postkolonialen Studien und der Sozio-logie plausibel machen. Es geht darum, die Radi-

kalität des postkolonialen Diskurses, der sich anti-generalisierend, gegen das „Establishment“ ge-richtet und der modernen Soziologie gegenüberbedrohlich zeigt, nicht streng beim Wort zu neh-men, sondern als performative Strategie zu be-greifen, um neue institutionelle Räume zu er-schließen. Das Interesse richtet sich dann darauf,den rhetorischen Nebel des Postkolonialen zudurchstoßen, um herauszufinden, welche neuenImpulse die postkolonialen Studien der Soziolo-gie vermitteln können. Es sollen hier nicht „theo-retische Stile“ oder Erkenntnistheorien miteinan-der konfrontiert, sondern einige Berührungs- undÜbersetzungsmöglichkeiten zwischen den post-kolonialen Studien und der Soziologie verdeut-licht werden. Zu diesem Zweck sollen die obenanalysierten Leitlinien der postkolonialen Kritiknochmals aufgegriffen werden, und zwar: dieKritik an einem teleologischen Verständnis derModerne, die Suche nach einem hybriden „site ofenunciation“ und die „Artikulationen“ eines de-zentrierten Subjektes.

Die Soziologie ist zweifelsohne anfällig ge-genüber der postkolonialen Kritik am teleologi-schen Modernitätsverständnis. Zentrale Prämissender Modernisierungstheorie, deren heuristischeGrenzen bereits in den 1960er Jahren deutlichwurden, erfahren im Zuge der Globalisierungsfor-schung eine Renaissance. Dabei werden jüngsteglobale Transformationen mit einer erhofften Ok-zidentalisierung gleichgesetzt, durch die sich an-geblich „moderne Werte“ (wie die Menschen-rechte bei Habermas 1998) oder „moderne Sub-jektivitätsformen“ (wie das „reflexive self“ beiGiddens 1990) von einem „westlichen Zentrum“weltweit ausbreiten (zur Kritik s. Costa 2004b).Diese Forschungsprogramme reproduzieren mitaller Deutlichkeit die West/Rest-Dichotomie, dieHall mit Recht desavouiert.

Schon seit den 1970er Jahren bestehen Kriti-ken an der Modernisierungstheorie, die deren eth-nozentrischen und endogenen Charakter angrei-fen. Überdies hat sich in den letzten Dekaden einemakrosoziologische Reflexion gebildet, die dempluralen Charakter einer entgrenzten Modernenachgeht, wie Knöbl (2001) anhand der Arbeitenvon Shmuel Eisenstadt, Johann Pall Arnason undMichael Mann exemplarisch zeigt und ebenfallsin den Ausführungen von Therborn (1995) undWallerstein (1997) nachzulesen ist. Indem diepostkolonialen Studien einen teleleogischen Mo-dernitätsbegriff ablehnen, konvergieren sie miteiner bereits bestehenden kritischen Makrosozio-logie, die Historizismus und Evolutionismusebenfalls abschwören.

Das zweite Moment der postkolonialen Kritikbetrifft die Suche nach einem hybriden Ort des

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Sprechens im Zwischenraum der kulturellen Gren-zen. Die Idee eines außerhalb kultureller Grenzenliegenden dritten Ortes mag zwar als ein Augen-blick innerhalb des literarischen Textes ihre Rele-vanz haben. Soziologisch erscheint mir der Be-griff allerdings jeglicher Relevanz zu entbehren.Das heißt, dass es keine dritten Orte innerhalb dersozialen Topographie gibt – alle „sites of enun-ciation“ definieren sich innerhalb von Grenzen. Indiesem Sinne ist das Lob der Hybridität auch„nur“ ein Diskurs wie der Nationalismus oder derNativismus, und als solcher schafft er neue Iden-titätsgrenzen, indem er geäußert wird. Der Hybri-ditätsdiskurs kann in bestimmten politischen undhistorischen Umständen den Charakter konstru-ierter kultureller Einheiten aufdecken. Dies istallerdings nicht der Grammatik des Hybridismus-diskurses inhärent, sondern den Artikulationen,die dieser Diskurs unter bestimmten Bedingungenermöglicht: Das gleiche Lob des Hybriden, das inEngland einer kultivierten Migrantenelite ermög-licht, ihre Tribüne für die berechtigte Kritik an derEnglishness aufzubauen, und in Deutschland, denAnspruch einer „Leitkultur“ zu dekonstruieren (Ha1999), kann Ideologien fördern, die nationalistisch,homogenisierend und fremdenfeindlich sind, wieetwa die Geschichte des Mestizaje-Diskurses inLateinamerika zeigt (Costa 2004a).

Die Soziologie kann sich mit dem Hybriden alsDiskurs der Akteure beschäftigen, da dieser Diskursunter bestimmten Umständen Zweifel gegen essen-zialistische Gewissheiten einführt und dabei kultu-relle Minderheiten zum Handeln bewegt. Doch alsnormative oder analytische Kategorie springt dieUnzulänglichkeit des Ansatzes ins Auge.

Zuletzt soll noch auf den Beitrag des Postkolo-nialismus zur Untersuchung der Verhältnisse zwi-schen Differenz und Subjekt eingegangen werden.Nach den postkolonialen Studien ergibt sich dieEntstehung von individuellen und kollektivenSubjekten nicht primär aus vorgegebenen, totalisie-renden Zuschreibungen – the Blacks, die Türken,die moslemische Frau, die Europäer –, sondern ausder alltäglichen Verhandlung variierbarer und mul-tidimensionaler Differenzen. Gemeint ist, dass dieunterschiedlichen Differenzen einerseits kontingent– also nicht deterministisch – artikuliert werden,andererseits „aufeinander nicht reduzierbar (sind),sie weigern sich, sich entlang einer einzigen Achsezu verbünden“ (Hall 2000: 109). Mit ihrem dezen-trierten, mikrosoziologisch konstruierten Subjekt-konzept vermeiden die postkolonialen Studien ei-nen üblichen theoretischen Irrtum: Die Hypostasie-rung eines „reflexiven“ Subjekts, das sich überdie evidente soziale Desintegration hinaus seineinterne Zentriertheit noch behauptet. Ferner ver-lagert sich ein großer Teil der postkolonialen Stu-

dien von den „rhetorical excesses of literary post-structuralism“ (Gilroy 1993: 110) hin zum Im-perativ der politischen Stellungnahme4 und umgehtdamit die postmoderne Versuchung, die Subjekt-idee aufzugeben. Es bleibt zu erwarten, dass daspostkoloniale dezentrierte Subjekkonzept und diedavon abgeleiteten analytischen Kategorien (nego-tiation, Artikulation, provisorische Identifizierungstatt Identität usw.) einen nachhaltigen Eingang indie Soziologie finden werden, da die Disziplin überkein vergleichbares Instrumentarium zur Untersu-chung der multiplen Aushandlungsprozesse vonDifferenzen in unseren komplexen Gesellschaftenverfügt.

Anmerkungen

1 Anders als im Rahmen der Kulturwissenschaf-ten ist in den deutschen Sozialwissenschaftenbisher nur eine nüchterne Rezeption postkolo-nialer Studien zu verzeichnen: Neben einigenwichtigen Sammelbänden (Bronfen/Marius/Steffen 1997; Conrad/Randeria 2002) ist dasInteresse für den Ansatz vor allem bei jüngerenWissenschaftlern (Ha 1999) zu beobachten.

2 Die Zitate des in deutscher Sprache erschienenHauptwerks von Bhabha (2000) werden hieraufgrund der sprachlichen Präzision nach derenglischen Originalpublikation (Bhabha 1994)wiedergegeben.

3 Hall (2002: 239) und andere mit dem Postko-lonialismus assoziierte Autoren begreifen De-konstruktion in Anlehnung an Derrida als einekritische Methodik, die den Konstruktionspro-zess von Konzepten und Repräsentationssys-temen mit der Absicht zerlegt, ihre metaphysi-sche Basis zu entlarven.

4 Dies bedeutet selbstverständlich keine Ab-wertung der Theorie, sondern, wie Hall (2000:42) zeigt, die Feststellung einer unauslösbarenSpannung zwischen Theorie und Politik: „Esgeht nicht um Anti-Theorie, sondern es gehtum die Bedingungen und Probleme bei derEntwicklung von theoretischer Arbeit als ei-nem politischen Projekt.“

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