55
Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin Konvent der Krankenhausseelsorge in der EKvW Haus Villigst - 25. Januar 2012

Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisierung medizinischer Leistungen:Ein Weg zu einer bedarfsrechten und

gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ?

Heiner RaspeSeniorprofessur für Bevölkerungsmedizin

Konvent der Krankenhausseelsorge in der EKvWHaus Villigst - 25. Januar 2012

Page 2: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Zur finanziellen Situation der GKV *)

*) GKV = Gesetzliche Krankenversicherung

Kostenexplosion ?Knappheit ?

Page 3: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Werden in der Verteilung des Zuwachses keine Prioritäten gesetzt?

Ausgabenträger 1995 2000 2005 2006 2009 2006/09

 Öffentliche Haushalte 19,9  13,6  13,6  13,4  13,7 + 2,2 %

 Gesetzliche  Krankenversicherung

112,5  123,9  135,9  139,8  160,9 + 15,1 %

  Soziale Pflegeversicherung

5,3  16,7  17,9  18,1  20,3 + 12,2 %

 Gesetzliche  Rentenversicherung

4,4  3,5  3,6  3,6  4,0 + 10,0 %

 Gesetzliche  Unfallversicherung

3,4  3,7  4,0  4,1  4,5 + 12,5 %

 Private  Krankenversicherung 14,3  17,6  22,0  22,5  26,0 + 15,6 %

 Arbeitgeber 7,8  8,7  10,1  10,4  11,6 + 11,5 %

 Private Haushalte/private  Organisationen o.E.

19,0  24,7  32,2  33,3  37,5 + 12,6 %

 gesamt 186,5  212,4  239,3  245,0  278,3 + 13,6 %

11,6 % BIP

Page 4: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Sinn und Zweck der GKV

ist es, mit diesem Geld ...

eine bedarfsgerechte, gleichmäßige, wirtschaftliche, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende und humane Versorgung ihrer Mitglieder sicher zu stellen.

einen Solidarausgleich zu bewirken: Gesund/krank, Mann/Frau, begütert/ärmer, jung/alt, Single/Familie, kinderlos/kinderreich (“Umverteilung”).

den Einzelnen vor katastrophalen Behandlungkosten zu schützen.

Page 5: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Zur finanziellen Situation der GKV

2009

Land

% GDP

USA 17,3

CH 12,0

F 11,8

D 11,6

D 2009

3400 € / Kopf

70 % aus Sozial-versicherungen

Page 6: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Fazit für Deutschland

Von einer „Kostenexplosion“ kann keine Rede sein.

Die finanziellen Mittel der GKV sind jedoch begrenzt.

Die Mittel sind aber nicht knapp,

und Not sieht anders aus.

Wir sollten uns nicht nur fragen: Woher soll das

viele Geld kommen? Sondern auch: Wofür wollen wir es

ausgeben? Was sind unsere Prioritäten? Und:

Wer soll darüber beraten und entscheiden?

Statt dessen geht bei uns ein Gespenst um ….

Page 7: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Rationierung

Page 8: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

„Ration“

W. Pfeiffer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen.München (DTV) 1995

Ration f. ‘zugeteilte Menge, Portion’, Entlehnung (18. Jh.) von gleichbed. frz. ration; vgl. afrz. racion ‘Rechnungsführung und Kasse einer Gruppe von Soldaten’, mfrz. ‘kirchliche Pfründe’, das auf lat. ratio (s. rational), mlat. ‘Pfründe, zugemessener Anteil an nötiger Verpflegung (für Soldaten)’ beruht.

Page 9: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Rationierung und ihre zwei Gesichter

Rationierung: Das systematische Vorenthalten medizinisch indizierter, d.h. wenigstens überwiegend nützlicher (und prinzipiell verfügbarer) medizinischer Leistungen aus Knappheitsgründen, in der Regel mit dem Ziel einer gerechten Zuteilung knapper Ressourcen unter Anerkennung unterschiedlicher Bedarfe

Page 10: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Aber … sind wir hier schon der zunehmenden Ökonomisierung auf den Leim gegangen ?

„Ökonomisierung“ ist die Wahrnehmung, Diskussion und Behandlung von (früher) nicht-ökonomischen Sachverhalten als ökonomische, in ökonomischen Termini, Modellen, Logiken bzw. als ökonomische Größen.

Stadium 1 Begriffswechsel: Arzt – Leistungsanbieter, Patient - Kunde, erster/zweiter Gesundheitsmarkt, …

Stadium 2 Gedankliche Kurzschlüsse

Stadium 3 Alles wird „Gesundheitswirtschaft“ incl. IGeL, div. Case Managements, Belegungsberatung,

Fallsteigerungsvereinbarung, Indikationsschwindel, ….

Page 11: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Ökonomisierung Stadium 2

Priorisierung

Rationierung

Page 12: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Eine andere Orientierung

Lancet 2002;359:520-22

Page 13: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

„Professionalism“ (Definition)

„Medical professionalism signifies a set of values, behaviours, and relationships that underpins the trust the public has in doctors.“

Royal College of Physicians 2005, 45, 44

Page 14: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Fokus der Charta

„Professionalism is the basis of medicine‘s contract with society. It demands placing the interests of patients above those of the physician, setting and maintaining standards of competence and integrity, and providing expert advice to society on matters of health…

Essential to this contract is public trust in physicians, which depends on the integrity of both individual physicians and the whole profession…

… reafferming the fundamental and universal principles and values of medical professionalism… becomes all the more important.“

Page 15: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Drei Grundprinzipien und 10 Selbstverpflichtungen

Grundprinzipien„fundamental principles“

• Vorrang des Patientenwohls• Patientenautonomie• Soziale Gerechtigkeit

Selbstverpflichtungen„responsibilities“, „commitments“

Professionelle KompetenzAufrichtigkeit VertraulichkeitAngemessene BeziehungenQualitätsentwicklungGleicher ZugangGerechte Verteilung WissenschaftlichkeitInteressenskonflikteSelbstregulierung d. Profession

Page 16: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Die erste Stellungnahme erschien 2000und blieb ohne jede Reaktion.

Page 17: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisierung (ZEKO 2007)

„Die ZEKO versteht unter Priorisierung die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vor anderen. Ihr Gegenteil wird mit Posteriorisierung bezeichnet.

Grundsätzlich führt Priorisierung zu einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht, was nach Datenlage und fachlichem wie öffentlichem Konsens als unverzichtbar bzw. wichtig erscheint, am Ende das, was wirkungslos ist bzw. mehr schadet als nützt.

Nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen (d.h. Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher Problemlagen mit zu ihrer Lösung geeigneten Leistungen) können priorisiert werden.“

Page 18: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisieren

Priorisieren zielt auf systematische Vergleiche zwischen einer bekannten Zahl von verwandten “Objekten”, um jedem von ihnen einen Rang zuzuschreiben – auf der Basis definierter Werte und Kriterien.

Eins ihrer Ziele ist es, Allokationsentscheidungen von Politikern, Administratoren und Klinikern zu informieren.

Priorisieren ist zuerst eine intellektuelle Aufgabe “am grünen Tisch”; sie zielt nicht auf unmittelbare praktische Konsequenzen.

Aber wenn rationiert werden müsste, dann nicht ohne vorherige Priorisierung.

Page 19: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

These

Priorisierung beinhaltet ein (u.a. von Rationierung) klar abgrenzbares Reflexions-

und Handlungsprogramm.

Vor befürchteter Knappheit (D 2012) und

vor drohendem Reichtum (N 1985)

Page 20: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Zur Vorgeschichte von Priorisierung

Page 21: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

In Europa begann es in Norwegen

Norwegens Sozialministerin richtete im Mai 1985 ein wissenschaftliches Komitee ein, dessen Führung dem Osloer Theologen Prof. Inge Lønning übertragen wurde.

Im Juni 1987 wurden vom Komitee

Guidelines for prioritizations in the Norwegian health service

vorgelegt. Sie wurden im Parlament zustimmend diskutiert.

Ein zweites von Inge Lønning geleitetes Komitee arbeitete von 1996 – 1997 (Prioritizations revisited): In der Zwischenzeit war nichts Wesentliches geschehen.

Page 22: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Angesichts des Nordsee-Öls …

„In the opinion of the [Lønning I] committee, the major challenge facing Norwegian health policy will be to find acceptance for the fact that some, in themselves, desirable forms of care and treatment will have to be pushed to the back of the queue.“

„The committee is of the opinion that the guidelines for prioritizations in the health service should be formulated in such a way that they may be applied independently of whether the health sector‘s total financial resources increase, are reduced or remain stable.“

(NOU 1987: 23: Summary)

Page 23: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur
Page 24: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Schweden als Beispiel

Gesetzlicher Rahmenab 1.7.1997:

„Die Menschen mit dem größten Bedarf

an Gesundheitsleistungen haben Vorrang in der

Versorgung“ 1995 !

Page 25: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Ethische Kriterien der Priorisierung„in ranking order“

„Humanist view of man“ „in the welfare society“

„The Commission [of the Swedish Parliament 1995] proposes three principles on which priorities should be based:

The principle of human dignity: all people are equal in dignity regardless of personal characteristics and functions in society.

The principle of need and solidarity: resources should be commited to the person or activity most in need of them.

The principle of cost-efficiency: … a reasonable relation between cost and effect … should be aimed for“

Page 26: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Noch einmal Norwegen 1987…

„In its discussion of objectives, principles and guidelines for the future process of prioritization within the Norwegian health service, the committee has based its work on generally-accepted values in Norwegian society… [ → nationale Moralität]

…(the) social responsibility for socially-deprived and underpriviledged individuals in the health sector should manifest itself as a prioritized obligation in respect of the weakest individuals in society.“

Page 27: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Ein etwas unterschiedlicher Katalogethischer Werte und Prinzipien

Equal human worth Solidarity Security and safety Freedom and self-determination

The Danish Council of Ethics 1996

Page 28: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

In Deutschland begann die öffentliche

Diskussion nicht mit den ZEKO-

Stellungnahmen, sondern mit der

Rede Prof. Hoppes 2009.

Page 29: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Deutsche Gesundheitspolitiker „Dass es eine Liste von Krankheiten gibt, die man behandelt

und andere nicht, stimmt nicht mit meinem Verständnis von Humanität und dem Artikel 1 des Grundgesetzes überein.“ (U. Schmidt, Gesundheitsministerin SPD, 07.09)

… Drittens kann ich eine solche Rangfolge auch mit meinen ethischen Vorstellungen als Arzt nicht in Einklang bringen. Deshalb wundere ich mich, dass diese Diskussion von Ärzten angestoßen wird. Eine Rangfolge zu bilden heißt doch, Wertigkeiten einzuführen. Ich möchte aber Menschen und Krankheiten nicht bewerten. Deshalb bin ich auch nicht bereit, diese Diskussion zu führen.“

„Priorisierung lässt sich ethisch nicht vertreten“ (J. Graalmann, Vorstand AOK BV, 10/11)

Page 30: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisierung ist also ein essentiell politischer Prozess.

Page 31: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Ein geeigneter Gegenstand von Priorisierung:Indikationen (Bedarfe)

In Indikationen verbinden Ärzte und andere Kliniker die

Analyse und Bewertung der klinischen Situation eines Patienten

mit der Wahl einer Untersuchungs/Behandlungsmethode

in Hinblick auf ein legitimes und erreichbares Behandlungsziel.

„Die Anzeige ist also das durch den Verstand aufgefundene Vermittelungsglied zwi-schen der Krankheit und dem ihrer Heilung entsprechenden Verfahren des Arztes. Die Symptome der Krankheit sind das Anzeigende, die Heilmittel das Angezeigte,

die Anzeige selbst steht zwischen beiden in der Mitte....“ (Gmelin 1820)

Page 32: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Indikation

Krankheit Ziel(e)

Heilmittel

„Verstand“ Wunsch Routine Profit

Eine positive Indikation setzt ein empirisch belegtes zielgerechtes Nutzenpotential voraus

Möglichkeiten, Ethik, Recht, Präferenzen

Evidenz aus empirischer Forschung

Page 33: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Im Zentrum: „absolute Indikationen“

Absolut „notwendig“ sind Leistungen, wenn sie

• sich auf schwere Krankheiten beziehen,• wirksam sind und ausreichend nützlich (netto),• unverzüglich eingesetzt werden müssen• keine Alternative haben und• im System verfügbar sind

Notwendigkeit ist abstufbar („mehr oder weniger notwendig“); das Notwendige ist der Kern des Nützlichen und hat höchste Priorität.

Page 34: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Meta-Kriterium

Page 35: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Vertikale Priorisierung von CTPs

durch nationale Leitlinien z.B. für Herzkranke

1.20042.20083.2011

und über RangplätzeSkala 1 - 10

„must do“ 1 - 3„should do“ 4 - 6„can do“ 7 - 10

2011

Page 36: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Socialstyrelsen: Update 2011

3. Kategorie: Icke göra / tu es nicht

Page 37: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Beispiele (KHK 2008 – 7 / 144 Positionen)

Position Krankheitszustand/Maßnahme (Indikation) Priorität *

A1Zigarettenkonsum bei Patient ohne KHK – kurze Aufklärung über Einstellen des Rauchens

1

A131Akute KHK oder Z. n. Revaskularisierung oder CABG – körperliches Training innerhalb der Herz-Reha

2

A46 Ischämische Herzerkrankung - ASS 3

A133Stabile Angina Pectoris – körperliches Training anstatt Revaskularisierung

F & E

A135Akute KHK oder Z.n. PCI oder CABG – Verhaltensänderung in Form von Stressbewältigung

8

A142A144

Bekannte KHK – AntioxidantienBekannte KHK nach Menopause - HRT

Nicht tun

Keine Daten zur Epidemiologie = Budgetbelastung; keine professionelle Zuordnung

Page 38: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Zum normativen Status

Hiernach liegt es bei den Entscheidungsträgern, was „Priorität“bedeutet: auf jeden Fall tun, zeitlich vorziehen, mehr Geld, Zeit oder Personal investieren, höhere Qualitätsanforderungen, Selbstbeteiligung …..

Page 39: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisierung und klinische Freiheit

Priorisierung informiert klinische und System-Entscheidungen, sie ersetzt diese nicht.

Im Rahmen begrenzter und unelastischer

(finanzieller, personeller, zeitlicher …) Budgets erhalten Priorisierungsleitlinien das „therapeutische

Privileg“ der Kliniker in höherem Maße als Richtlinien und klinische Praxisleitlinien.

Page 40: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Besonderheiten des schwedischen Modells

Lange Vorbereitungszeit, expliziter politischer Prozess Parlamentskommission, deliberatives Verfahren Ethische Plattform, „viewpoint of the individual not of the national

economy“ Vertikale Priorisierung von Indikationen innerhalb eines Bereiches Starker klinisch-professioneller Einfluss, geringe Rolle der

Gesundheitsökonomie, keine juristische Mitwirkung Implementation durch Leitlinien (Empfehlungen, keine Richtlinien) Fortschrittsoffenheit, Flexibilität (Auf/Abwertungen), Aktualisierungen Viele Aktivitäten der Vermittlung, breite Partizipationsmöglichkeiten Erhalt des „therapeutischen Privilegs“ der Kliniker unter fixen Budgets Beobachtung des Versorgungsgeschehens (Register) Steuerung durch öffentliche Beobachtung, Benchmarking, soziale

Verstärkung (nicht Geld, nicht Recht) Bisher Orientierungshilfe, (fast) kein Instrument harter Rationierung

Page 41: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Chancen von Priorisierung

Vergegenwärtigt und bekräftigt die eigene (nationale, professionelle u.a.) Moralität

Grenzt das eigene Territorium ab, schützt vor Überbeanspruchung und Vereinnahmung

Gibt der klinischen Perspektive das Primat, steht gegen schlichte Ökonomisierung

Stärkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Medizin Fördert Evidenzbasierung, gibt Forschungsimpulse Unterstützt bedarfsgerechte und gleichmäßige Versorgung Ermöglicht begründete und transparente Rationierung

(gegen Rasenmähermethode oder unkontrolliertes bzw. opportunistisches Verweigern)

Hilft bei der Einordnung neuer Methoden

Page 42: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisierung beinhaltet ein klar abgrenzbares Reflexions- und Handlungsprogramm.

Die Diskussion wir in Deutschland bisher aktiv unterdrückt.

Dennoch scheint sie mir unvermeidlich.

Das größte Problem liegt darin, dass jeder „Rationierung“ hört (hören will?), wenn von „Priorisierung“ gesprochen wird.

Das wird Ihnen hoffentlich nicht mehr passieren.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld !

Page 43: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur
Page 44: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Das Thema Priorisierung interessiert unsere Mitbürger nicht und ist für sie zu kompliziert.

„Das Thema [Priorisierung] insgesamt ist für die Bürger zu abstrakt. Darüber kann man nur anhand konkreter

Beispiele sprechen.“ (C. Reimann 2009)

Page 45: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Prof. Hoppe (Präsident der BÄK) 2010

„Dabei sollte Priorisierung als ethische Methode verstanden werden, um begrenzte Mittel, Kapazitäten und Zeitressourcen so effektiv, redlich, sachlich und gerecht wie möglich einzusetzen. Ein aus Ärzten, Ethikern, Juristen, Gesundheitsökonomen, Theologen, Sozialwissenschaftlern und Patientenvertretern zu besetzender Gesundheitsrat sollte mit dieser Aufgabe betraut werden, um Empfehlungen an die politischen Entscheidungsträger zu geben.“

Page 46: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

20 zufällig ausgewählteBürger1 Moderator9 Experten2 Organisatoren

Page 47: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Ziele der Bürgerkonferenz

Die Fortsetzung der nationalen Diskussion unterstützen

Die Ausgabenseite, nicht die Einnahmeseite reflektieren

Ein Modell von Bürgerbeteiligung exemplarisch vorführen und erfolgreich sein

Werte und Kriterien fokussieren

Für Bürger einen Platz in einem „Gesundheitsrat“ oder einem ähnlichem Gremium reklamieren

Page 48: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Bürgerbefragung„Was ist mir wichtig in der

medizinischen Versorgung?“

• Repräsentative Umfrage in der Lübecker Bevölkerung zu Kriterien der Priorisierung im Gesundheitswesen im November / Dezember 2009

• Auswertbare Antworten erhielten wir von 1360 von 2990 Angeschriebenen im Alter von 18 oder mehr Jahren (Rücklaufquote 45,5 %).

• Unter den Nicht-Antwortenden waren überzufällig häufig jüngere Frauen und Männer.

• Aus den Antwortenden rekrutieren sich die Teilnehmer der

Page 49: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Priorisierungskriterien (n = 1360)

Es sollen bevorzugt werden….

Eindeutig Ja %

Eher Ja %

Gesamt %

Unter den 3 wichtigsten

Behandlungen mit großem Nutzen 55 28 84 43

Behandlungen mit eindeutigem wissenschaftlichen Nachweis

48 31 78 48

Patienten mit schweren Erkrankungen

45 29 74 83

Kinder 32 25 57 32

Patienten mit großer familiärer Verantwortung

21 26 47 28

Patienten mit gesundem Lebensstil

24 22 46 23

Behandlungen mit günstigem KNV 18 19 37 23

Patienten mit großer gesellschaft-licher Verantwortung

3 7 10 4

Page 50: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur
Page 51: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Vergleich: Survey mit BürgerkonferenzSurvey BürgerkonferenzÜberwiegend abgelehnte Kriterien  

Alter “kalendarisches Alter”

gesellschaftliche Verantwortunggesellschaftliche Bedeutung/Nutzen

Kosten-Nutzen-Verhältnis  

Nicht eindeutig bewertete Kriterien  

Lebensstil Eigenverantwortung und Selbstverschulden(Verantwortung fördern, aber freie Entfaltung ermöglichen, auch ungesunde)

familiäre Verantwortung familiäre Fürsorge  Berufsfähigkeit (ggf. zu berücksichtigen als Aspekt der Lebensqualität)

Bevorzugung von Kindern  

Überwiegend akzeptierte Kriterien  Patienten-Nutzen Lebenserhaltung u. Lebensqualität (Schmerzen, Mobilität u. Teilhabe)

Behandlungsrisiken u. Nebenwirkungen Schwere der Erkrankung derzeitiger Krankheitszustand

Bedarfsgerechte VerteilungPrognose des Krankheitsverlaufs

Nachweis der Wirksamkeit Nachweis der Wirksamkeit (Evidenz)Kosteneffektivität

  Patientenwille (alle Leistungen können abgelehnt, nicht gefordert werden)

kulturelle Normen (Glaubensgebote u. Traditionen berücksichtigen)

Menschen, die sich nicht selbst vertreten können: besondere Unterstützung u. Schutz vor Benachteiligungpalliative und pflegerische Versorgung fördern

  Medizinischer Fortschritt (auch für zukünftige Generationen ermöglichen)

GenerationengerechtigkeitWartezeit

Page 52: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Warum griffen Politik u.a. das Thema bisher nicht auf ?

Generell: Vermeidung einer schlechten Nachricht Kompliziert, schwer zu vermitteln, verunsichernd Gefährlich, da es Forderungen nach weiteren Mitteln anregt

(GKV sei „unterfinanziert“) Die GKV leiste doch (nach SGB V) alles Notwendige Gefährlich, da es die Diskussion um Grund- vs.

Zusatzversicherung erleichtert und den IGeL-Markt fördere Unbequem, da es je eigene Spielräume einengt Gefährlich, da es andere Diskussionen (um Qualität,

Überversorgung, Effizienz, Transparenz, Arzneimittelpreise …) verdränge

Unnötig, wenn richtige Reformen Unethisch, weil explizit wertend

Page 53: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Merkmal Klinische PraxisLL PriorisierungsLL

GemeinsamkeitenSystematisch, multiprofessionell und partizipativ

entwickelt, Evidenz-basiert, Empfehlungscharakter, unterschiedliche Empfehlungsstärken

Fokus Patientenprobleme Indikationen

Auflösung fein grob

Ziel E-b klinische MedizinWertegeleitete und E-b Ressourcenallokation

Bindungswirkung im Einzelfall

hoch gering

Klinische VoraussetzungSymptome, Befunde,

(Diagnose) Geklärte „medical

condition“

Evaluationspotential Einzelfälle Einrichtungen

Interessent Kliniker, PatientenOrganisationsverantortlic

he

Page 54: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

Leitliniengruppe Kardiologie 2004

67 Experten

Kardiologen, Thoraxchirurgen, Kinderchirurgen, Physiologen, Internisten, klinische Pharmakologen, Infektiologen, Geriater, Hausärzte, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Gesundheitsökonomen, Ethiker

Dazu Vertreter von Socialstyrelsen

= intraprofessionelle Selbstvergewissernung und -bindung

Offenbar keine Politiker, keine Bürger, keine Patienten/Kranken

(bei „Stroke Care“ auch Patientenvertreter) involviert

Page 55: Priorisierung medizinischer Leistungen: Ein Weg zu einer bedarfsrechten und gleichmäßigen Versorgung bei begrenzten Ressourcen ? Heiner Raspe Seniorprofessur

hjä

rtin

fark

tspatiente

r <

80 å

r, p

er

sjukhus

med m

inst

10 p

atiente

r i m

ålg

ruppen 2

006.

Figur

2h.

PC

I so

m r

eperf

usi

onsb

ehandlin

g a

v m

ålg

ruppen S

TEM

I/LB

BB

bla

nd

Linköpin

gB

orå

sS

ahlg

rensk

a H

IALu

nd

Uppsa

laU

meå

Karo

linsk

a S

oln

aM

ota

laS

:t G

öra

n B

SE

Ljungby

Växjö

Lindesb

erg

S:t

Göra

n H

IAM

öln

dal

Karl

stad

Halm

stad

Söders

jukhuse

tV

äst

erv

ikK

arl

skro

na

Kalm

ar

Osk

ars

ham

nJö

nköpin

gM

alm

öH

els

ingborg

Södert

älje

Kungälv

Dandery

dV

äst

erå

stra

Öre

bro

Karl

skoga

Karo

linsk

a H

uddin

ge

Tro

llhätt

an

Köpin

gA

lingså

sV

arb

erg

Tre

lleborg

Gävle

Ängelh

olm

Falu

nYst

ad

Norr

köpin

gK

rist

ianst

ad

Värn

am

oEsk

ilstu

na

Enköpin

gS

kene

Arv

ika

Häss

leholm

Eksj

öTors

by

Karl

sham

nA

vest

aLu

dvik

aU

ddevalla

Norr

tälje

Katr

ineholm

Skelle

fteå

Nyköpin

gS

kövde

Lidköpin

gM

ora

Bolln

äs

Vis

by

Örn

sköld

svik

Lyck

sele

Sundsv

all

Kir

una

Hudik

svall

Öst

ers

und

Solle

fteå

Kalix

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

64%

PCI-Behandlung bei STEMI

oder LSB, < 80 Jahre

2004

2006