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Psychologische Typen Bernhard v. Guretzky Version 1.13 Individuation begins and ends with typology. Carl Alfred Meier 1. Einführung Zu Beginn der 1920iger Jahre entstand Jungs Arbeit über Psychologische Typen, in der er versuchte nachzuweisen, wie die vier Hauptfunktionen des Bewusstseins – die rationalen Funktionen »Denken« und »Fühlen« und die irrationalen Funktionen »Empfinden« und »Intuieren« den Lauf der westlichen Philosophie bestimmt haben (Nagy, 75). Diese "vierfältigen" Symbole treten offenbar immer dann auf, wenn versucht wird, die Polarität der Welt zu überwinden und eine ganzheitliche Betrachtungsweise des menschlichen Seins zu benutzen, die nicht nur einzelne Tatsachen beleuchtet, sondern allgemeine Phänomene betrachtet. Die Vier ist für Jung ein archetypisches Symbol der Ganzheit, der Ganzheit der Seele. Die Vier symbolisiert das Ende eines Entwicklungsschrittes, bei dem die Gegensätze wieder einheitlich, jedoch in differenzierter Einheit gesehen werden. Insofern steht das Vierschema – das Quaternio, in dem Jung die psychologischen Typen darzustellen pflegte, für die Ganzheit und Vollständigkeit der menschlichen Entwicklung. Um diese Ganzheit ging es Jung und deshalb ist die Analytische Psychologie weniger Therapie als vielmehr das Finden des eigenen Sinnes; das, was er als Prozess der Individuation bezeichnete. Es geht um die Entwicklung der Persönlichkeit, die nicht länger mit einer Funktion, einer der vier psychologischen Typen identifiziert ist: Die Intuition und das Empfinden muss in unserem westlichen Kulturkreis das gleiche Gewicht erhalten wie das Denken und das Fühlen. Dasselbe gilt für den Ausgleich der extravertierten Einstellung zugunsten der Introversion (Clarke, 30). Es geht um die Aufgabe der Identifikation mit dem eigenen Bewusstsein und dem eigenen Unbewussten, um ein Verweilen auf der »mittleren Ebene« (v. Franz; Hillman, 106). Aus diesem dem Menschen spezifischen Drang nach Bewusstsein entstanden die Schulen der Spiritualität. In diesem Sinne ist die Individuation ein spiritueller Prozess, einer Spiritualität die nicht auf Erkennen eines äußeren Gottes sondern auf Selbsterkenntnis gründet. Die Theorie psychologischer Typen oder kurz »Typologie« beschreibt die repräsentativen – eben »typischen« – Verhaltensweisen des Menschen beim Umgang mit seiner inneren und äußeren Welt. Dabei werden die vorherrschenden, relativ konstanten Charakteristika aufgezeigt, ohne dabei eine Wertung abzugeben. Sie sind

Psychologische Typen

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Der hier abgelegte Aufsatz über Jungs Psychologische Typen ist aus zweierlei Gründen entstanden. Die Typologie ist neben den Archetypen, dem Kollektiven Unbewussten und der Alchemie eine der Säulen Jungschen Denkens, weshalb hier der Versuch gemacht wurde, ihr entsprechenden Raum zu geben. Der Schwerpunkt der Abhandlung liegt dabei auf dem Zusammenhang zwischen Typologie und Individuation. Der Typologie und insbesondere der sog. »inferioren Funktion« kommt dabei die Rolle zu, unbewusste Inhalte – Komplexe und ihren Kern, den Archetypen – sichtbar zu machen. Ähnliches ist ja auch das Ziel systemischer Strukturaufstellungen. Diesen Verbindungen wird in dem Papier hier nachgegangen, notabene noch in tastenden und wenig durch Literatur untermauerten Thesen. Neben einer kurzen Einführung in einen Teil Jungschen Denken sollen auch Thesen zur Diskussion gestellt werden, inwieweit Typologie und Strukturaufstellungen zusammenfinden.

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Psychologische Typen Bernhard v. Guretzky

Version 1.13

Individuation begins and ends

with typology.

Carl Alfred Meier

1. Einführung

Zu Beginn der 1920iger Jahre entstand Jungs Arbeit über Psychologische Typen, in der er versuchte nachzuweisen, wie die vier Hauptfunktionen des Bewusstseins – die rationalen Funktionen »Denken« und »Fühlen« und die irrationalen Funktionen »Empfinden« und »Intuieren« den Lauf der westlichen Philosophie bestimmt haben (Nagy, 75). Diese "vierfältigen" Symbole treten offenbar immer dann auf, wenn versucht wird, die Polarität der Welt zu überwinden und eine ganzheitliche Betrachtungsweise des menschlichen Seins zu benutzen, die nicht nur einzelne Tatsachen beleuchtet, sondern allgemeine Phänomene betrachtet. Die Vier ist für Jung ein archetypisches Symbol der Ganzheit, der Ganzheit der Seele. Die Vier symbolisiert das Ende eines Entwicklungsschrittes, bei dem die Gegensätze wieder einheitlich, jedoch in differenzierter Einheit gesehen werden. Insofern steht das Vierschema – das Quaternio, in dem Jung die psychologischen Typen darzustellen pflegte, für die Ganzheit und Vollständigkeit der menschlichen Entwicklung.

Um diese Ganzheit ging es Jung und deshalb ist die Analytische Psychologie weniger Therapie als vielmehr das Finden des eigenen Sinnes; das, was er als Prozess der Individuation bezeichnete. Es geht um die Entwicklung der Persönlichkeit, die nicht länger mit einer Funktion, einer der vier psychologischen Typen identifiziert ist: Die Intuition und das Empfinden muss in unserem westlichen Kulturkreis das gleiche Gewicht erhalten wie das Denken und das Fühlen. Dasselbe gilt für den Ausgleich der extravertierten Einstellung zugunsten der Introversion (Clarke, 30). Es geht um die Aufgabe der Identifikation mit dem eigenen Bewusstsein und dem eigenen Unbewussten, um ein Verweilen auf der »mittleren Ebene« (v. Franz; Hillman, 106). Aus diesem dem Menschen spezifischen Drang nach Bewusstsein entstanden die Schulen der Spiritualität. In diesem Sinne ist die Individuation ein spiritueller Prozess, einer Spiritualität die nicht auf Erkennen eines äußeren Gottes sondern auf Selbsterkenntnis gründet.

Die Theorie psychologischer Typen oder kurz »Typologie« beschreibt die repräsentativen – eben »typischen« – Verhaltensweisen des Menschen beim Umgang mit seiner inneren und äußeren Welt. Dabei werden die vorherrschenden, relativ konstanten Charakteristika aufgezeigt, ohne dabei eine Wertung abzugeben. Sie sind

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so etwas wie ein »Erfassungs- und Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten« (Jacobi, 14), ohne dabei die jeweiligen Inhalte zu berücksichtigen. Jungs Typologie besteht aus acht Haupttypen, die sich in zwei Funktionstypen aufteilen: die Einstellungstypen der Extravertierten und Introvertierten. Jede dieser beiden Gruppen ist wieder unterteilt in vier Untergruppen – die Bewusstseinsfunktionen, die jeweils durch ihre sog. Hauptfunktion bestimmt werden und zwar die Funktionen des Denkens, des Fühlens, des Empfindens und des Intuierens. Diese Typologie erlaubt es, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen Individuen herauszuarbeiten und damit differenzierte Beschreibungen der Persönlichkeit zu erhalten, deshalb sprach Jung in diesem Zusammenhang von einer »Tonleiter psychologischer Perspektiven« (Spoto, 73) auf der die hierin erfahrene Persönlichkeit sein Bewusstsein entwickeln kann. Die Typenlehre war also nie dahingehend intendiert, eine Art von Charakterlehre zu entwickeln, um Menschen in irgendeiner Form zu klassifizieren – ein Versuch der aufgrund der Vielfältigkeit menschlichen Verhaltens von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre – sondern vielmehr, um ein Hilfsmittel in die Hand zu bekommen, »psychologisches Material« zu ordnen und zu erläutern.

Die Typologie ist neben dem kollektiven Unbewussten und den Archetypen eine der drei Säulen, auf denen die Analytische Psychologie ruht. Für Carl Alfred Meier, dem ersten Präsidenten des C.G. Instituts, Nachfolger Jungs an der ETH in Zürich und Herausgeber des Pauli-Jung Briefwechsels war die Typologie und insbesondere die Theorie der Bewusstseinsfunktionen das grundlegende und am sorgfältigsten herausgearbeitete Konzept in Jungs Analytischer Psychologie (Meier 1986, 251). Er schrieb, als er die Monographie (GW 6) in den Händen hielt:

When Jung asked me what it was that had moved me so deeply, I said, I thought that he had given nothing less than the clearest pattern to simply all of the dynamics of the

human soul. Then he said that this was exactly what he had intended to do. (Meier

1986, 245)

Diesem Urteil mögen heute vergleichsweise wenige noch folgen, obwohl die Einstellungstypen (»extravertiert«, «introvertiert«) inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind und auch wissenschaftlich anerkannt sind. Ich halte dies jedoch für ungerechtfertigt und sehe in der Typologie Jungs ein probates Mittel der persönlichen Entwicklung und nicht nur ein psychologisches Konzept. Der Grund, warum Jungs psychologische Typenlehre so wenig Anerkennung gefunden hat, liegt wohl nicht nur in ihrer Komplexität. Jung hat es aus gutem Grund stets vermieden, eindeutige Definitionen und Beschreibungen für seine Konzepte zu liefern, denn seine mehrdeutige Sprache soll der Komplexität der Psyche, ihrem Doppelaspekt von Bewusstem und Unbewusstem gerecht werden. Eindeutige Definitionen, die keinen Interpretationsspielraum mehr lassen, wären der Natur der Psyche unangemessen.

Psychologische Typologien sind nicht neu. Plato sprach im »Staat« von drei fundamentalen Typen von Menschen: die, die Weisheit lieben; die, den Sieg lieben und

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die, die den Profit lieben. 500 Jahre später führte Galen, aus Pergamon stammender Arzt am römischen Kaiserhof, vier Temperamentstypen ein, die auf der »Lehre der vier Körpersäfte«, wie sie Hippokrates bereits zu Zeiten Platos eingeführt hatte, basieren: den Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker. Dem Choleriker werden dabei Eigenschaften wie schnell erregt, egozentrisch, hitzköpfig, theatralisch, aktiv zugeschrieben; dem Melancholiker Eigenschaften wie ängstlich, beunruhigt, misstrauisch, ernst, gedankenvoll; dem Phlegmatiker Eigenschaften wie vernünftig, prinzipientreu, beherrscht, beharrlich, standhaft, ruhig und schließlich dem Sanguiniker Eigenschaften wie gutmütig, gesellig, sorglos, hoffnungsvoll, zufrieden. Galens Typologie hatte Gültigkeit bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, bis sie durch die Entdeckung des Blutkreislaufs und des Stoffwechsels nicht mehr haltbar war. In den 1920iger Jahren sind von Georges Gurdjieff die sog. Enneagramme als Typologie im westlichen Kulturraum eingeführt worden, die eine Aufteilung in neun (εννεα = neun) Typen vorsieht: Typ 1: Perfektionist, Kritiker; Typ 2: Geber, Fürsorger; Typ 3: Leistungs- und Erfolgsmensch, Schauspieler; Typ 4: Romantiker, Melancholiker; Typ 5: Beobachter, Denker, Typ 6: Skeptiker, Verteidiger; Typ 7: Optimist, Genießer; Typ 8: Führer, Beschützer und Typ 9: Friedensstifter, Bewahrer.

Jung betrachtet die Typologie nicht nur als Metapher dafür, wie der Einzelne sich gegenüber seiner inneren und äußeren Welt verhält, sondern auch als ein Versuch, die Weltsicht, seine Weltanschauung besser zu verstehen. Sie geben dem Bewusstsein des Einzelnen eine Zielrichtung, in dem sie beschreiben, wie es auf das eigene Verhalten und das anderer typischerweise reagiert und Absichten und Wünsche vorträgt (v. Franz; Hillman, 106). Die Typologie liefert damit eine Beschreibung, wie Menschen die Welt wahrnehmen und in ihr reagieren. Die Arbeit an den Psychologischen Typen begann Jung ursprünglich deshalb, um genau herauszuarbeiten, worin sich seine Position zu Alfred Adler und Sigmund Freud unterschied. Hier fand er, dass der psychologische Typ das Urteil des Einzelnen bestimmt aber auch limitiert. Die Typentheorie ist letztendlich Jungs Versuch zu beschreiben, wie Wissen und Erkenntnis beim Einzelnen zustande kommt und wie dieses Wissen begründet wird. In diesem Sinne kann man sie als epistemologische Theorie ansehen, wovon in einem späteren Papier ausführlicher die Rede sein soll.

2. Einstellungsfunktionen

Das Konzept der Introversion und Extraversion stellte Jung bereits 1913 auf dem Münchner Psychoanalytischen Kongress vor. Dieser Vortrag war der erste zaghafte Versuch, sich von Freuds Prinzipien abzusetzen, mit dem Erfolg, dass der Meister nicht nur in Ohnmacht fiel, sondern auch dessen Anhänger dafür sorgten, dass Jungs Papier nicht auf deutsch veröffentlicht wurde. Erst zwei Jahre später erschien es in französischer Sprache (Meier 1986, 243).

Für den Extravertierten ist das Objekt a priori interessant und anziehend. Sein Urteil basiert auf Verhältnissen, die für ihn objektiven Charakter haben. Diese Verhältnisse

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brauchen sich dabei nicht auf konkrete Tatsachen beziehen, sie können auch einen ideellen Charakter haben, insofern allerdings dass diese Ideen von außen vermittelt sind (Jung, 1960, §643). Für den Introvertierten dagegen ist die eigene seelische Gegebenheit, die sich mit der Beschäftigung mit dem Objekt einstellt, der bestimmende Faktor. Den Objekten – den äußeren Ereignissen – kommt nur dann eine Bedeutung zu, wenn sie zu Meilensteinen der inneren Entwicklung werden (Aziz, 38). Sind die Erkenntnis bestimmenden Faktoren aus der äußeren Welt abgeleitet, handelt es sich also um Extraversion, sind sie aus der inneren Welt abgeleitet, handelt es sich dagegen um Introversion; ist man mit der äußeren Welt und ihren Objekten befasst, in dem man etwa mit anderen Menschen kommuniziert, in seinen Handlungen auf andere bezogen ist, in dem man etwa kocht o. ä., dann handelt man extravertiert; ist man dagegen in seiner eigenen Vorstellungswelt verhaftet, etwa beim Lesen eines Buches, beim Durchdenken von Problemen oder beim Analysieren der eigenen Gefühle, so sind das introvertierte Tätigkeiten. Der Introvertierte erfasst das Objekt durch einen Abstraktionsprozess, durch einen zwischen "ihm und dem Objekt eingeschalteten Denkvorgang" (Iselin, 123). Nicht das Objekt steht im Vordergrund sondern die "archetypische" Idee in Form eines Gedankens, eines Wertes, eines metaphorischen Bildes oder eines Models der Wirklichkeit, die mit diesem Objekt am engsten verbunden ist (Beebe, 134). Vor diesem Hintergrund lässt sich Einstein als introvertierter Wissenschaftler verstehen, denn hat er seine Relativitätstheorien als geometrische Modelle der Wirklichkeit sich ausgedacht, ohne dafür experimentelle Hinweise zu haben. Im Falle der allgemeinen Relativitätstheorie folgten diese erst vier Jahre später. Pauli – ein anderer Introvertierter – erlebte die Bestätigung seiner Symmetriegesetze nicht mehr, sie wurden erst 40 Jahre nach seiner Formulierung experimentell bestätigt.

Extraversion wird durch "kulturelle Standards" (Marshall) vermittelt wie Gesetze, Moral, Erziehung, Bildungsgang, Tradition, Religion oder ästhetisches Empfinden. Die introvertierte Betrachtung stützt sich auf das Gefühl, ob etwas übereinstimmt mit dem inneren Gefühl der Gerechtigkeit, der Moral und der Ästhetik, das ja in der Regel von den normierten, gesellschaftlichen Normen abweicht. Diese Einstellung zum Objekt lässt sich an folgenden Beispielen illustrieren: der extravertierte Programmierer wird eher den Programmcode entsprechend ökonomischen Gesichtspunkten schreiben, während der Introvertierte ihn eher gemäß seinem ästhetischen Empfinden, also entsprechend seinen inneren Vorstellungen kreieren wird. Bei Mathematikern und Physikern ist diese Vorgehensweise ebenfalls häufig zu beobachten. Während den einen nur die Tatsache eines erfolgreichen Beweises interessieren mag, legt der andere Wert auf »Einfachheit« und »Schönheit« der Beweisführung, ja wird sogar diese Eigenschaften als inhärenten Gültigkeitsnachweis an sich mit heranführen. Diese entgegen gesetzte »eigentümliche« Einstellung zum Objekt beschreibt Jung wie folgt:

Der Introvertierte verhält sich dazu abstrahierend; er ist im Grunde immer darauf

bedacht, dem Objekt die Libido zu entziehen, wie wenn er einer Übermacht des

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Objektes vorzubeugen hätte. Der Extravertierte dagegen verhält sich positiv zum

Objekt. Er bejaht dessen Bedeutung in dem Maße, dass er seine subjektive Einstellung

beständig nach dem Objekt orientiert und darauf bezieht. (GW 6, §612)

Wenn sich jemand »abstrahierend« gegenüber einem Objekt verhält, dann weist er ihm Eigenschaften zu, die für ihn selbst von Bedeutung sind, wie etwa die »Schönheit« oder »Einfachheit« eines mathematischen Beweises. Er erfreut sich daran und entzieht dadurch dem Objekt die Aufmerksamkeit, die Libido. Für den Extravertierten dagegen spielen Nützlichkeitserwägungen die dominante Rolle; das Objekt wird nach utilitaristischen Gesichtspunkten betrachtet.

Der Extravertierte verlässt sich vorzugsweise auf soziale Beziehungen und seine inneren Bilder und Muster werden dabei eher vernachlässigt, während für den Introvertierten diese subjektiven Faktoren Einfluss haben und das soziale Umfeld kaum von Interesse ist. Hat der Extravertierte "blühende soziale Beziehungen" (Iselin, 124) so versucht der Introvertierte sich diese durch die »subjektiven Faktoren« – durch Werte – zu ergattern. Der Eine kann sich dabei auf seinen Lust-Unlustmechanismus verlassen, während der andere das Machtprinzip einsetzt (Iselin, 124). Es ist für beide beschwerlich ja bisweilen erschreckend, sich mit den jeweils entgegen gesetzten Positionen auseinanderzusetzen. Nun ist diese Einstellung dem Objekt gegenüber keine Entscheidung zwischen entweder extravertiert oder introvertiert. Wichtig ist die Polarität (Spoto, 37) der beiden Einstellungsweisen, d.h. die unbewusste Gegenbewegung (v. Franz; Hillman, 7) ist ebenfalls zu berücksichtigen. Dabei geht es nicht darum, einem Ideal nachzueifern, dem jegliche psychische Energie abhanden gekommen ist, sondern um das Nichtanerkannte, individuell Wertvolle, das Kuriose und das Lebendige (Iselin, 126). Auch geht es nicht – und das trifft für die ganze Typologie zu – um eine Herausstellung der einen oder anderen Funktion: Vorwürfe des Extravertierten, der Introvertierte sei egozentrisch bzw. des Introvertierten, der Extravertierte sei anpasserisch sind nichts anderes als Projektionen der eigenen weniger differenzierten Einstellung (Iselin, 132). Eine krankhafte Übersteigerung der Extraversion führt umgekehrt zur Hysterie im Falle der Introversion zur Schizophrenie (Iselin, 137).

Die Funktion, die den Charakter des Zufälligen und Spontanen hat, ist dabei die minder differenzierte, die zudem infantile und primitive Eigenschaften besitzt. Die höher differenzierte, ist diejenige Funktion, der die Kontrolle über Bewusstsein und die Motivation unterstellt ist (GW 6, §641). So ist sich der Introvertierte meist nicht der unbewussten Extraversion gewahr, mit der er das Objekt mit Energie versorgt und umgekehrt ist sich der Extravertierte seiner unbewussten Einstellung gegenüber dem Objekt kaum gewahr und wie er sich dadurch mit psychischer Energie versorgt. Dieser Doppelcharakter der Einstellungsfunktion tritt im Umgang mit Wissen zutage, muss doch Information zunächst internalisiert werden, um als Handlungswissen zur Verfügung zu stehen, auf ein äußeres Objekt also angewendet werden kann. Der

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Lernprozess von Internalisierung und Externalisierung von Wissen wird vom Kreislauf zwischen Extraversion und Introversion angetrieben.

Extraversion, "das die Welt beobachtende Ich-Bewusstsein", und Introversion, "das mystische Erlebnis der Einheit (»unus mundus«)" (Dürr, 19), sind komplementäre Einstellungsfunktionen. Ganz ähnlich beschreibt v. Franz (v. Franz 2009, 17) die Komplementarität von Extraversion und Introversion: der extravertierte Blick offenbart die Materie, während der introvertierte Blick das kollektive Unbewusste entschleiern hilft. Die eine Sicht ist, wie Dürr es ausdrückt, eine "lebensdienliche", eine "fragmentierende" Einstellung, mit der der Mensch die Welt in ihrer Vielfalt zu begreifen versucht. Die andere versucht mit einer "mystischen Grundhaltung" zum Wesen der Dinge vorzudringen. Die extravertierte fragmentierende Einstellung bestimmt die polare Sicht auf die Außensicht. »Wahr« und »falsch« sind dabei die vorherrschenden Kriterien mit der man die Welt "deformiert" (Dürr, 20). Die introvertierte mystische Grundhaltung dagegen umfasst das »sowohl als auch« und öffnet damit zusätzliche Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten. Diese Aufspaltung der Einstellung gegenüber der Welt um uns gründet wohl auf dem erkenntnistheoretischen Imperativ, dass »nichts sei im Verstande, was nicht vorher durch die Sinne wahrgenommen wurde«, welches nichts anderes als das Motto der durch die griechische Philosophie geprägten westlichen Extraversion ist (Clarke, 277) und im Zeitalter der Aufklärung zur Grundlage westlichen Denkens wurde. Hier wurde die Wissenschaft, die damals noch Alchemie hieß, zu einer rein extravertierten Naturwissenschaft. Demgegenüber ist für die introvertierte östliche Einstellung der subjektive Faktor der Ausgangspunkt. Das »östliche« Bewusstsein braucht deshalb keine Typologie im Sinne Jungs im Gegensatz zur objekt-orientierten »westlichen« Einstellung, der der subjektive Faktor abhanden gekommen ist:

Introversion wird im Westen als anormal, morbid oder sonst als unzulässig

empfunden. Im Osten dagegen wird unsere zärtlich gehegte Extraversion als trügerische Begehrlichkeit gewertet. (Clarke, 266)

Die Entwicklung der minder differenzierten Einstellung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entwicklung des eigenen Bewusstseins (Spoto, 116). Dies geschieht nicht dadurch, dass geistige Techniken der minder differenzierten Einstellung wie etwa Yoga oder Meditation im Falle der höher entwickelten Extraversion auswendig gelernt werden, sondern indem herauszufinden ist, ob im Unbewussten Kontakt zu solchen Prinzipien herzustellen ist. Der Extravertierte muss von innen zur Introversion gelangen, deren Eigenschaften also im Unbewussten suchen und umgekehrt. Genau aus diesem Grund stand Jung der Übernahme östlicher Lebensweisen im Westen kritisch gegenüber, weil damit das Mantra der Extraversion »alles Gute ist draußen« (Clarke, 268) nur wieder bestätigt wird. Die Differenzierung von Extraversion und Introversion dient also einem gemeinsamen Zweck, nämlich das Bewusstsein dafür zu

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gebrauchen, den Geist über die Materie zu stellen und die »bloße Naturhaftigkeit des Lebens zu besiegen« (Clarke, 278).

Die beiden Einstellungsfunktionen lassen sich als eine Dimension im dreidimensionalen »psychischen Raum« (GW 7, §367) versinnbildlichen. Die beiden anderen Dimensionen bilden die rationalen und irrationalen Bewusstseinsfunktionen und werden im folgenden Kapitel vorgestellt.

3. Bewusstseinsfunkionen

Jung verstand unter einer psychischen Funktion einen "Erfassungs- und Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten ohne Rücksicht auf ihren jeweiligen Inhalt" (Jacobi, 14). Hier zeigt sich eine charakteristische Eigenart Jungschen Denkens, nämlich die strikte Trennung von Funktion und Inhalt, die er 15 Jahre später auch bei der Formulierung der Theorie der Archetypen beibehalten sollte. Jung unterschied vier psychologische Funktionen, die des »Denkens«, des »Fühlens«, des »Empfindens« und des »Intuierens«. Im Falle des Denkens bedeutet die Trennung von Funktion und Inhalt, dass es nicht entscheidend ist, was man denkt sondern wie man denkt, wie man mit dem "Verarbeitungsmodus" des Denkens an die Aufnahme und Verarbeitung der Inhalte herangeht. Diese vier Verarbeitungsmodi sind in jedem Menschen angelegt, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung, die durch Erziehung, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Herkunft – also genetische Unterschiede – bestimmt werden. Auf der Stufe der einfachsten Differenzierung und in Anlehnung an die Umgangssprache gibt es einerseits die Kopfmenschen, die eher rational urteilen und ihre Entscheidungen gründlich abwägen und andererseits die Gefühlsmenschen, die aus dem Bauch heraus entscheiden. In einer von Rationalität und Berechenbarkeit geprägten Welt ist dieser Typus allerdings kaum gefragt und wird sehr schnell auf Grund von nicht vorhandenen »harten Fakten«, die sich jederzeit reproduzieren lassen müssen, denunziert. Gefühlsmenschen, insbesondere wenn es sich dabei um Männer handelt, haben es außerhalb des Kunstbetriebs in der westlichen Welt schwer.

Die Aufklärung im 17. Jahrhundert – im englischen wie französischen Sprachraum sinnigerweise auch das Zeitalter der »Erleuchtung« genannt – markiert das Ende der Einheit von Individuum und Welt. Descartes' cogito ergo sum hat den Menschen ein zweites Mal aus dem Paradies einer einheitlichen Welt vertrieben. Sein Satz bezeichnet den Beginn der Trennung von Subjekt und Objekt, in dem es das Sein über das Denken definiert und damit eine Abwertung aller nicht vom »Denken« und »Empfinden« bestimmten Bewusstseinsfunktionen impliziert. Die Denkfunktion erhöht Descartes, in dem sie das Ich bestimmt, zur superioren Funktion überhaupt in der Welt (Spoto, 113). Die uralte alchemistische Idee von der Einheit von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie hat damit ihr vorläufiges Ende gefunden. Der Geist beherrscht nun die Welt im Sinne des Laplace'schen Determinismus, wo die anderen Bewusstseinsfunktionen schlicht keine Rolle mehr spielen:

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"Wir müssen den gegenwärtigen Zustand des Universums als die Auswirkung des

vorherigen Zustands betrachten und als die Ursache dessen, was folgen wird. Nehmen

wir eine Intelligenz an, die alle die Kräfte, durch die die Natur bewegt wird, kennen könnte und, für einen bestimmte Moment, die genauen Zustandsgrößen aller

physikalischen Objekte, aus denen sie besteht; für diese Intelligenz wäre nichts

ungewiss; und die Zukunft und die Vergangenheit läge klar vor ihren Augen." (zitiert nach: Atmanspacher, 162)

Diese Art des Denkens hat drei Jahrhunderte das westliche Bewusstsein geprägt und hat selbst, nachdem es durch die Quantentheorie vor 100 Jahren und durch die Komplexitätstheorie vor etwa 40 Jahren grundsätzlich erschüttert wurde, heute noch erheblichen Einfluss in Wissenschaft und Philosophie. Einsteins trotzige Forderung nach einem nichtwürfelnden Gott mag hier für diese archetypisch geprägte Epistemologie stehen. Jungs Theorie der Bewusstseinsfunktionen, welche das Individuum wieder mehr in den Fokus zu rücken versucht, kann die westlich geprägte Idealisierung der Denkfunktion zusammen mit der extravertierten Einstellung und das damit einhergehende Vorurteil gegen das Unbewusste und das Subjektive korrigieren helfen.

Mit den vier Bewusstseinsfunktionen und den zwei Einstellungsfunktion lassen sich differenzierte Persönlichkeitsbeschreibungen durchführen (Spoto, 118). Auf einer intuitiven Stufe lässt sich »Bewusstsein« beschreiben als das Erkennen des Individuums der eigenen Persönlichkeit. Für das Funktionieren des Bewusstseins sind sowohl eine wahrnehmende als auch eine urteilende Funktion notwendig. Empfinden und Intuieren sind wahrnehmende Funktionen, die auf entgegen gesetzte Weise eine direkte Erfahrung der inneren wie äußeren Welt vermitteln. Im Vordergrund steht die Auswahl von Erfahrungen und deren Beurteilung. Hier stehen die Fragen nach dem "Was ist es?" bzw. nach dem "Woher kommt es?" und "Wohin führt es?" im Vordergrund. Demgegenüber sind Denken und Fühlen urteilende Funktionen, die wiederum auf entgegen gesetzte Weise Standards, Werte und Normen bereitstellen, nach denen die innere wie äußere Welt gedeutet wird. Die eigenen Erfahrungen werden geprüft und bewertet und aufgrund dieses Prozesses erfolgt die Reaktion. Hier stehen Fragen nach dem "Was bedeutet es?" bzw. "Was ist es wert?" als treibende Kraft im Mittelpunkt. Die beurteilenden Prinzipien sind beim Denken mit dem Kopf und beim Fühlen mit dem Bauch bzw. Herz assoziiert. Einmal wird vielleicht die Funktionalität einer Struktur einer Sache zum urteilenden Maßstab, beim Fühlen dann vielleicht die Schönheit oder Eindringlichkeit mit der eine Sache an die Oberfläche tritt.

Als »rational« bezeichnet man einen Menschen, der auf Basis von gesellschaftlich anerkannten Standards, Werten und Normen beurteilt; als »irrational« jemanden, der sich nicht aufgrund von messbaren und damit auch auf wiederholbaren Indikatoren leiten lässt, sondern dessen Sinne, Gefühl und Intuition leitende Prämisse sind. Denken und Fühlen werden deshalb als rationale Funktionen bezeichnet, weil für beide

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das Urteil »wahr-falsch« Ziel der Erkenntnis ist. Die rationalen Funktionen werden auch als »beurteilend« – judging bezeichnet. Das Denken versucht die Wirklichkeit in einem Prozess der Abstraktion zu beschreiben; das Fühlen dagegen versucht die Wirklichkeit zu beeinflussen und mit ihr in Kontakt zu treten. Ein "rationaler" Mensch reagiert auf Probleme und sucht nach "besseren" Beschreibungen der Wirklichkeit bzw. "besseren" Handlungsmöglichkeiten in der Wirklichkeit. Die Differenzierung dieser Funktionen führt zu fein abgestuften Begriffen von Wahrheit, Gültigkeit, Stimmung oder Schönheit, wobei diese eher von allgemeiner Art sind als eine konkrete Beschreibung, also eher Theorie oder Konzept wie etwa eine mathematische Beschreibung physikalischer Sachverhalte als anschauliche und greifbare Darstellungen.

Empfinden und Intuieren werden als irrationale Funktionen bezeichnet. »Irrational« ist hier nicht im Sinne von »nicht-rational« sondern im Sinne von »über die Grenzen des Rationalen hinausgehend« zu verstehen. Die irrationalen Funktionen vermitteln also ein apriorisches Wissen, was auf rationale Weise nicht zugänglich ist. (Stevens, 265) Ein "irrationaler" Mensch ist deshalb mehr an intensiven inneren oder äußeren Erfahrungen oder Wahrnehmungen interessiert, als über diese zu reflektieren, wobei die irrationalen Funktionen durchaus strukturierend auf Erfahrungen wirken können. Die irrationalen Funktionen werden deshalb auch als »wahrnehmend« – perceiving bezeichnet. Die Informationen, auf die sich der irrationale Mensch bei seinen Entscheidungen und Wahrnehmungen stützt, beziehen sich einmal aus den konkreten Empfindungen, die aus unseren Sinnen abgeleitet werden oder es werden daraus verallgemeinerte Handlungs- oder Erkenntnismuster abgeleitet. Dabei wirkt das Empfinden auf die Elemente der Erfahrungen selbst und die Intuition auf die Verbindungen dieser Elemente untereinander. Die Intuition vervollständigt das Gesamtbild, indem es eventuell fehlende Verbindungen herzustellen vermag und synthetisiert dadurch die einzelnen Teile zu einem Ganzen, während umgekehrt das Hauptinteresse beim Empfinden in der Analyse der Wahrnehmungsobjekte liegt (Marshall, 20).

In der Wissenschaft werden die rationalen Funktionen, die erst ein Bild der Realität vermitteln, dass dann mit der Wirklichkeit überprüft wird, zum Träger des deduktiven Schließens, während die irrationalen Funktionen, die erst die Fakten geben, nach denen man sich ein Bild der Realität formt zum Träger einer induktiven Vorgehensweise. Die Bewusstseinfunktionen bestimmen also gewissermaßen unsere Logik und ohne sie lässt sich die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen – also unsere Erkenntnistheorie – nicht verstehen. Die rationalen bzw. irrationalen Funktionen entsprechen dem, was Kant »Tätigkeit« bzw. »Gefühl« genannt hat (Fierz, 62). In der Umgangssprache bezeichnen wir diese unterschiedliche Art, die Welt wahrzunehmen, einmal als »logisch«, »zivilisiert« oder »erwachsen« und im anderen Fall als »mythisch«, »primitiv« oder »kindlich« (Hillman, 118). Rationale bzw. irrationale Funktionen führen, wenn man so will, zu zwei verschiedenen Realitäten in der Welt.

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Sie sind damit auf eine ähnliche Weise komplementär wie die beiden Einstellungsfunktionen der Extra- und der Introversion.

Abb. 1: Rationale und irrationale Bewusstseinsfunktionen

Die im Bild dargestellten vier Bewusstseinsfunktionen liefern Schablonen oder Muster dafür, wie ein Individuum mit seiner Umwelt interagiert. Sie beschreiben damit auf eine einfache Weise einen Typ von Mensch. Deshalb werden die Bewusstseinsfunktionen auch unter dem Begriff »Typologie« subsumiert. Der Typologie geht es jedoch nicht darum, Menschen zu kategorisieren, sondern vielmehr darum einen Apparat zur methodischen Untersuchung psychischer Erfahrungsmaterialen zur Verfügung zu stellen, mit dem sich die Psyche des Einzelnen entwickeln lässt. Dieser Begriffsapparat ermöglicht es einem nicht nur, sich mit der eigenen Persönlichkeit vertraut zu machen und seine typischen Verhaltsmuster zu verstehen, sondern diese damit auch bewusst und aktiv zu beeinflussen:

Die Theorie der Typen ist von großer praktischer Wichtigkeit, da es das einzige ist, das verhindert, gewisse Menschen vollkommen miss zu verstehen. Es gibt einem den

Schlüssel zum Verständnis einer Person, deren spontane Reaktionen einem sonst

unverständlich bleiben. (v. Franz; Hillman, 77)

Jung hat keine wissenschaftliche Begründung für seine Theorie der Typologie geliefert, sondern stets deren praktischen Wert betont. Ihm ging es um eine heuristische Hypothese, "mit der man Dinge herausfinden kann" (v. Franz; Hillman, 75f). In den 1960iger Jahren wurde die Jungsche Typologie weiterentwickelt. Hier sind insbesondere Katherine Briggs und ihre Tochter Isabel Briggs Myers zu nennen (siehe etwa http://www.personalitypage.com/home.html , http://www.humanmetrics.com/cgi-win/JTypes2.asp , http://www.teamtechnology.co.uk/mmdi/questionnaire/ oder Spoto), die die die Funktionen des »Urteilens« (»J«) und "Wahrnehmens« (»P«) anstelle der für einige verwirrenden Bezeichnungen von »irrational« und »rational« eingeführt haben,

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je nachdem welche als erste eine rationale bzw. irrationale Funktion ist. Auf dieser Typologie bauen zahlreiche Tests zur Bestimmung des sog. Myers-Briggs-Typindikators (MBTI) auf, die besonders im englischsprachigen Kulturkreis weit verbreitet sind.

Der Fühl-Typus schätzt Harmonie und Beziehungen. Vertrauen und Anerkennung sind die treibende Kraft und er ist geschickt im Meistern zwischenmenschlicher Situationen und Probleme. Dabei weiß er in den meisten Fällen ziemlich genau, was ihm selbst und anderen Menschen aus seiner Umgebung gut tut. (Spoto, 44) Man ist im »Fühlmodus«, wenn man Dinge macht, die man mag aber die nicht unbedingt nützlich sind. Der Fühltyp hat ein ausgeprägtes Moralbewusstsein, das ihn bisweilen als blasiert erscheinen lässt und, wird dieses verletzt, er intensiven Stimmungsschwankungen ausgesetzt ist. Ihre Vorliebe für subjektive Bewertungen drücken Gefühlstypen durch Sätze aus wie: "Ich mag das", "das hat mir nicht gefallen", "können Sie nicht verständnisvoller sein" oder "ich möchte mich Ihnen mitteilen". Typische Berufe von Fühltypen sind Künstler, Musiker, Schriftsteller, Designer, Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter, Personalberater, Verkäufer oder Politiker.

Für den Denk-Typus sind Objektivität und logisches Schließen die Grundlage seiner Argumentation, wobei er persönliche Werte und Vorlieben beiseite zu schieben trachtet. Man ist im »Denkmodus«, wenn man einen Plan entwickelt, um komplexe Aufgaben durchzuführen oder sich ausführlich über Produkte informiert, die man plant zu kaufen. Dies bezieht sich jedoch nicht nur auf geistige Dinge, denn Denktypen können ebenso praktisch und handwerklich veranlagt sein. Sie analysieren das vorliegende Material und können daraus generelle Prinzipien ableiten. Diese ausgeprägte Fähigkeit zur Abstraktion lässt sie bisweilen unpersönlich und kritisch, ja verletzend gegenüber ihren Mitmenschen erscheinen. Da sie gewohnt sind, Situationen kühl nach ihren Vor- und Nachteilen zu beurteilen, wirken sie aufgrund der Überzeugungskraft ihrer logisch begründeten Darlegungen oft einschüchternd und manipulierend auf ihre Umgebung (Spoto, 45). Ihr Moralverhalten basiert auf logischen Wertmassstäben. Ihr Tun und ihre Aufgaben haben deshalb Priorität; Gesundheit, Beziehungen oder sonstige persönlichen Interessen treten eher in den Hintergrund. Auf eigenes Fehlverhalten oder das anderer können sie kleinlich, verletzend oder feindselig reagieren. Umgekehrt nehmen sie aber Kritik an ihrer Arbeit persönlich. Typische Berufe von Denktypen sind Handwerker, Ingenieure, Systemanalytiker, Lehrer und Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Unternehmensberater, Unternehmer, Rechtsanwälte, Militärführer oder Piloten.

Da für den Empfindungs-Typus die Sinneswahrnehmungen Priorität haben, sind sie an ihrer Umgebung, so wie sie sich ihnen darstellt, am meisten interessiert. Das lässt sie zu guten Beobachtern werden; Fakten und Phänomene mit ihren Einzelheiten stehen für sie im Vordergrund. Sie verfügen über einen ausgeprägten "gesunden Menschenverstand" und lösen Probleme, im dem sie diese nach Unterschieden und

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Gemeinsamkeiten zu ihren eigenen Erfahrungen zu analysieren versuchen. (Spoto, 46) Man ist typischerweise im »Empfindungsmodus« bei der Weinprobe oder wenn man sich den Inhalt einer Rede, die man halten will, noch einmal vergegenwärtigt. Diese durchaus bedächtige Vorgehensweise kann jedoch schnell undifferenziert werden, nämlich wenn die subjektive Wahrnehmung jegliche objektive Sicht auf die Realität ausblendet. Der Empfindungstyp neigt also stark zur Projektion, Misstrauen und Eifersucht sind die Folge, wobei in solchen Fällen ausgeprägte Phantasien oder mystische Bilder evoziert werden. Empfindungstypen sagen typischer Weise Sätze wie: "Sei vernünftig", "bleib auf dem Boden der Tatsachen", "alles wird sich bald wieder einrenken". (Spoto 46) Typische Berufe von Empfindungstypen sind Unternehmer, Manager, Buchhalter, Sozialarbeiter, Polizisten und Kriminalbeamte, Richter und Rechtsanwälte, Mediziner, Systemanalytiker, Offiziere oder Designer.

Der intuitive Typus ist direkt mit seinem Unbewussten verbunden, was häufig zu erratischem und unverständlichem Handeln aus Sicht seiner Umgebung führt. Der Intuitive betrachtet gern die Dinge aus der Entfernung, um einerseits einen Blick auf das "große Ganze" zu haben und andererseits sich nicht mit lästigen Details beschäftigen zu müssen. Er ist daran interessiert, die tiefer liegende Bedeutung von dem herauszufinden, was Menschen tun oder sagen. Sie neigen eher zu ungewöhnlichen Perspektiven, was sie dazu befähigt, vielerlei Verbindungen zu ziehen. Hinter scheinbar einfachen Gegebenheiten visionieren sie häufig abstrakte, universell gültige Beziehungen. Imagination, Querdenken aber auch Spekulation und Tagträumereien sind ihr Metier und sie haben dabei ein Faible für die Welt der Mythen und Symbole (Spoto, 47), weswegen ihre Ideen gern missverstanden und sie als Traumtänzer abgetan werden. Stoßen sie auf Widerstand oder merken sie, dass ihre Ideen keinen Anklang finden, fangen sie schnell an, sich zu langweilen und diese fallen zu lassen. Durchhaltevermögen ist ihre Sache nicht. Typische Berufe von intuitiven Persönlichkeitstypen sind Universitätsprofessoren und Lehrer, Wissenschaftler, Ingenieure, Rechtsanwälte, Systemanalytiker, Schauspieler, Offiziere oder Politiker.

Fühlen und Empfinden dürfen nicht verwechselt werden. Ersteres hat nichts mit Emotionen zu tun, es geht um Beziehungen und deren Bewertungen. Im Letzteren geht es um Wahrnehmung. Im Französischen wird der Unterschied klar durch die zwei verschiedenen Begriffe von »sentiment« und »sensation« (Jacobi, 14).

Denken und Fühlen einerseits sowie Empfinden und Intuieren andererseits sind als komplementäre Funktionen zu verstehen, so wie in der Quantenmechanik »Geschwindigkeit« und »Weg« oder »Energie« und »Zeit« komplementär sind. Denken schließt gleichzeitiges Fühlen aus, da es sich nicht durch Kriterien des Gefühls beeinflussen lassen kann. Das Empfinden wiederum schließt gleichzeitiges Intuieren aus, weil es sich um die Möglichkeiten kümmert, die über die Sinne wahrgenommen werden, während beim Intuieren primär über das Unbewusste wahrgenommen wird. In beiden Fällen drängt die Entwicklung der einen Funktion die andere ins Unbestimmte;

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je ausgeprägter die eine Funktion ist, d.h. je stärker sie das Bewusstsein bestimmt, desto mehr wird die andere ins Unbewusste gedrückt. Jung nannte die durch das Bewusstsein bestimmte Funktion »differenziert«, die ins Unbewusste gedrückte Funktion nannte er entsprechend »undifferenziert«.

Diese Komplementarität führt zur Dichotomie von Denken und Fühlen bzw. von Empfinden und Intuieren. Diese Dichotomie besteht, wie wir oben bereits gesehen haben, auch zwischen Extraversion und Introversion. Bewusstseins- und Einstellungsfunktionen sind also wohldefiniert in dem Sinne, dass es keine gleichzeitig gültigen Zuweisungen der Funktionen gibt. Man kann sie daher als Achsen eines Koordinatensystems, bestehend aus den Einstellungsfunktionen, den rationalen sowie den irrationalen Funktionen, benutzen. Indem die Einstellungsfunktion mit den Bewusstseinsfunktionen kombiniert wird, werden durch dieses Koordinatensystem neue Typen eingeführt: es gibt also den extravertierten Denktyp und den introvertierten Denktyp, usf. Diese acht Typen können in dem dreidimensionalen "psychischen Raum" eindeutig dargestellt werden:

Abb. 2: Der psychische Raum

Die Bedeutung einer gleichzeitigen Betrachtung der beiden Funktionen mag folgendes Beispiel erläutern: Eine handwerkliche Tätigkeit hängt überwiegend mit extravertiertem Empfinden zusammen, denn die Herstellung ist auf ein Objekt bezogen, somit extravertiert und gleichzeitig erfolgt die Tätigkeit in Isolation. Darstellende Kunst wie Photographieren, Malen oder Bildhauern hängt dagegen überwiegend mit introvertiertem Empfinden zusammen. Ähnliches gilt auch für wissenschaftliche Tätigkeiten, nur spielen hier die Ordnungsprinzipien eine zusätzliche Rolle, die ein extravertiertes Intuieren erfordern. Allgemein gilt: je komplexer eine Aufgabe ist, desto mehr gewinnen die anderen Bewusstseins- und Einstellungsmodi an Bedeutung.

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4. Psychische Funktionen

Wie bereits erwähnt besitzt der Mensch anlagemäßig alle vier Bewusstseinsfunktionen, wobei es allerdings eine dieser Funktionen ist, mit der er sich hauptsächlich in seiner Umgebung orientiert. Im Laufe des Lebens entwickelt sich diese Funktion immer stärker und steht damit dem Bewusstsein immer ausgeprägter zur Verfügung. Gleichzeitig ist es diese Funktion, die seine Wahrnehmung am stärksten beeinflusst. Sie ist die Brille, durch die er die Welt sieht. Jung bezeichnete diese am meisten differenzierte Funktion auch als superiore Funktion oder Hauptfunktion. Die Hauptfunktion gehört völlig zu unserer »lichten, unserer Bewusstseinsseite« (Jacobi, 16f). In der Praxis wird allerdings die Hauptfunktion nie in ihrer Reinform anzutreffen sein, sondern man wird im Leben Mischtypen wie intuitives Denken oder intuitives Fühlen etc. vorfinden. Diese der Hauptfunktion nach geordnete und weniger differenzierte Funktion heißt Hilfsfunktion und ist stets bei einer Typologisierung mit ein zu beziehen. Sie verleiht dem Menschen eine noch »andere« zusätzliche bewusste Seite. Aufgrund der Komplementarität der psychischen Funktionen ergibt sich die Regel, dass im Falle einer rationalen Hauptfunktion die Hilfsfunktion irrational sein muss und umgekehrt. Entsprechendes gilt für die Einstellungsfunktionen. Damit erhalten wir sechzehn Persönlichkeitstypen:

1. extravertiertes Denken als superiore Funktion; introvertiertes Empfinden als Hilfsfunktion

2. Introvertiertes Fühlen als superiore Funktion; extravertierte Intuition als Hilfsfunktion

3. etc.

Dazu gibt es eine gleiche Anzahl von »Gegen-Persönlichkeitstypen« auf der unbewussten Seite. Diese sechzehn Gegen-Persönlichkeitstypen sind denen der bewussten Seite komplementär:

1'. introvertiertes Fühlen als superiore Funktion; extravertierte Intuition als Hilfsfunktion

2'. extravertiertes Denken als superiore Funktion; introvertiertes Empfinden als Hilfsfunktion

3'. etc.

Die der superioren entgegen gesetzte Funktion heißt die »inferiore« Funktion; sie ist im Unbewusstsein verankert und steht unserem bewussten Willen nicht mehr zur Verfügung. Die Hilfsfunktion der inferioren Funktionen heißt die »tertiäre« Funktion. Der bewusste Anteil der tertiären Funktion ist nur schwach ausgeprägt. Führt man nun alle vier Funktionen zusammen, so erhält man sechzehn Typen:

1''. extravertiertes Denken als superiore Funktion; introvertiertes Empfinden als Hilfsfunktion; extravertierte Intuition als tertiäre Funktion; introvertiertes Fühlen als inferiore Funktion

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2''. Introvertiertes Fühlen als superiore Funktion; extravertierte Intuition als Hilfsfunktion; introvertiertes Empfinden als tertiäre Funktion; extravertiertes Denken als inferiore Funktion

3''. etc

Diese hierarchische Darstellung positioniert die vier Funktionen in Bezug auf das Bewusstsein: Die superiore als die am meisten differenzierte – bewusste – Funktion bestimmt vorwiegend Charakter und Persönlichkeit. Die inferiore Funktion als die am wenigsten bewusste Funktion entzieht sich der Kontrolle der Persönlichkeit am meisten. Weil undifferenziert und völlig mit dem Unbewussten vermischt, ist ihr typischerweise ein infantiler, triebhaft-primitiver, Charakter zu eigen. (Jacobi, 22) So neigen Menschen mit inferiorer Fühlfunktion zur Sentimentalität und die mit inferiorer Denkfunktion zu Starrsinn und Rechthaberei. Inferiore und tertiäre Funktion agieren unkontrolliert und unangepasst aus dem Unbewussten heraus und haben uns damit in der Hand. Sie sind der "blinde Fleck" (Metzner et al.), unbewusst der Person aber deutlich für andere sichtbar. Beim Mann wird die inferiore Funktion deshalb oft mit der Anima in Verbindung gebracht, bei der Frau entsprechend mit ihrem Animus (Beebe, 140). Der offensichtliche Mangel, der durch die tertiäre und die inferiore Funktion hervorgerufen wird, ist für die jeweilige Person charakteristisch. Ihr Wirken macht den persönlichen Schatten deutlich, den Teil unserer Persönlichkeit, den wir am stärksten ablehnen.

Da Hilfsfunktion wie tertiäre Funktion noch mehr oder weniger im Bewusstsein verankert sind, können beide bewusst differenziert werden. Dies ist bei der inferioren Funktion, die ganz im Unbewussten verankert ist, nur noch auf eine indirekte Weise möglich. Ihr Einfluss kann nur durch imaginierte Bilder oder Metapher deutlich gemacht werden oder durch das Wirken ihres direkten Widerpart, der superioren Funktion. Wenn die superiore Funktion als metaphorisches Licht verstanden werden kann, dann lässt sich auch die inferiore Funktion als metaphorisches Bild des Schattens indirekt wahrnehmen (Spoto, 87). Nur in der Komplementarität zur superioren Funktion kann die inferiore Funktion differenziert werden (Spoto, 160): Beim Typ n zeigt n' die zu entwickelnde inferiore Funktion an. Während die Differenzierung von Haupt- und Hilfsfunktion "höchstens" das Bewusstsein schärfen, ist die Arbeit mit den unbewussten Funktionen immer auch mit einer grundsätzlichen Veränderung der Person verbunden (Spoto, 162). Die vierte, die inferiore Funktion bildet die Brücke zwischen Bewusstsein und dem Unbewusstem. Sie stört das Bewusstsein auf eine unbewusste Art und Weise, was sich beispielsweise oft beim Freudschen Versprecher oder Affekthandlungen zeigt. Da die inferiore Funktion sich nicht direkt differenzieren lässt, kann sie sich nur auf diese "negative" Weise zeigen. Deshalb sind die beiden unbewussten Funktionen wie die Haupt- und Hilfsfunktion zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Psychischen unerlässlich (Jacobi, S. 69). Aus diesem Grund hat sich Jung bei der Formulierung seiner Typentheorie vom Archetyp der Quaternität, der Vollständigkeit leiten lassen (Fierz, 63).

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In letzter Zeit sind Ansätze unternommen worden, die inferiore Funktion mehr in den Fokus der Betrachtung zu rücken und zwar zuungunsten der zweiten – bewussten – Funktion, der Hilfsfunktion. Dies macht deshalb Sinn, weil über die inferiore Funktion der Schatten, der unbewusste Teil der Psyche, "unsere 'dunkle Seite', jene Uranlage in unserer Natur, die man aus moralischen oder ästhetischen Gründen verwirft und nicht aufkommen lässt, weil sie zu den bewussten Prinzipien im Gegensatz steht" (Jacobi, 166) sichtbar gemacht werden kann, während die Differenzierung der Hilfsfunktion die bewusste Seite stärkt. Die Bearbeitung der inferioren Funktion ist keine leichte Aufgabe. Es ist keine Aufgabe der Logik, ihr Wirken sichtbar zu machen. Ohne Berücksichtigung des persönlichen wie des kulturellen Zusammenhangs wird man keinen Erfolg haben, ihr auf die Schliche zu kommen (Roth). Jolande Jacobi (28f) sieht in der Entwicklung der inferioren Funktion sogar eine "ethische Aufgabe". Die Gegensatzpaare von superiorer und inferiorer Funktion sind (Metzner et. al.):

Denken-Fühlen Dies ist der klassische Rationalist, der geistigen Werten und der Logik folgt. Die Unterentwicklung der Fühlfunktion lässt ihn einerseits kalt und emotional gehemmt erscheinen; anderseits kann das zu unvorhergesehenen heftigen Gefühlsausbrüchen führen, die er nicht kontrollieren kann. Diese kindlich wirkenden Gemütsbewegungen können auch dazu führen, dass die sonst so im Vordergrund stehenden geistigen Werte zu Affekthandlungen missbraucht werden.

Fühlen-Denken Dies ist der warmherzige Typ, dessen Denkvermögen oft oberflächlich, »irrational« und negativ konnotiert erscheint. Sie sind – wenn extravertiert – mitfühlend, zuversichtlich und generell heiter gestimmt – wenn introvertiert – melancholisch und grübelnd.

Empfinden-Intuition Dies ist der phantasielose Realist, der voll und ganz im Hier und Jetzt verankert sind. Sein Leben ist von Konventionen geprägt, Abenteuer sind ihm ein Graus und i. A. ist er mit seiner gegenwärtigen Situation zufrieden. Der Antrieb, diese zu ändern, ist deshalb gering.

Intuition-Empfinden Dies ist der Träumer, der mit den Dingen des praktischen Lebens auf Kriegsfuss steht. Seine Visionen sind grenzenlos, mit deren Verwirklichung dagegen hapert es. An einmal angefangen Dingen verliert er schnell das Interesse. Für andere Menschen dagegen wirkt er reizvoll und inspirierend. Bei Männern übernehmen diese Typen bisweilen die Rolle der Muse.

Metzner et. al. sind dieser Idee gefolgt, die inferiore Funktion mehr in den Fokus zu rücken, haben aber dabei die Komplementarität aufgegeben, so dass es zur superioren Funktion drei inferiore Funktionen geben kann. Wenn man also die beiden

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Einstellungsfunktionen mitberücksichtigt, kommt man auf 24 psychologische Typen. Der Nachteil dabei ist, dass das Erkennen und damit das Bearbeiten der inferioren Funktion als Komplement der superioren Funktion nicht mehr möglich ist. Die Bearbeitung der inferioren Funktion kann hier nur über einen mühsamen Abgleich von Verhaltensmustern erfolgen.

Die von Jung und Meier eingeführten Adjektive wie »inferior« bzw. »minderwertig« für die 4. Funktion sind aus heutiger Sicht unglücklich gewählt, beinhalten sie doch eine Wertung und beurteilen damit etwas, mit dem man sich tunlichst nicht auseinanderzusetzen soll. Dies wird aber ihrer Bedeutung in keinerlei Weise gerecht, denn, wie oben schon erwähnt, spielt sie für die Persönlichkeitsentwicklung, für die Bearbeitung des persönlichen Unbewussten die entscheidende Rolle. Vor diesem Hintergrund wäre eine Bezeichnung wie »komplementär zur superioren Funktion« für die 4. Funktion bzw. »komplementär zur Hilfsfunktion« für die 3. Funktion angemessen. Die beschreibenden Beiwörter »inferior« und »minderwertig« beziehen sich also auf die Verbindung der Funktion mit dem Unbewussten.

5. Das Quaternio und die Individuation

In den vorangegangenen Abschnitten ist die Typologie vom Standpunkt der analytischen Psychologie also des Selbsterkennens beschrieben worden. Dabei wurde sie als "Erfassungs- und Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten" (Jacobi, 14) veranschaulicht. In diesem Abschnitt sollen die tiefer liegenden Muster und deren Bedeutung beschrieben werden. Die vier Bewusstseinsfunktionen lassen sich ja als vier Arten verstehen, das Leben zu gestalten (v. Franz; Hillman, 107). Die Komplementarität der Bewusstseinsfunktionen ergibt, dass diese wohldefiniert sind und dies führt zu eindeutigen Zuweisungen im "psychischen Raum", d.h. die psychologischen Typen sind notwendig und hinreichend und definieren so etwas wie ein "archetypische Modell, Dinge anzuschauen" (v. Franz; Hillman, 75).

Die »Vier« taucht hier also nicht von ungefähr als Metapher für "ein grundlegendes Prinzip der menschlichen Natur" (v. Franz; Hillman, 107) auf und unterscheidet sich damit grundlegend von der Trinität von Körper, Geist und Seele bzw. Gott, Christus und hl. Geist des Christentums. Schon 1902 in seiner Dissertation hat Jung das Mandala, den viergeteilten Kreis, in sein Denken eingeführt und es liegt nahe, die vier Typen im Zusammenhang mit dem Symbol des Mandalas zu verstehen (Meier 1986, 257), um die Dynamik der charakterlichen Entwicklung auszudrücken. Der viergeteilte Kreis ist ein archetypisches Symbol der Ganzheit und Vollständigkeit der Persönlichkeit und ist dann erreicht, wenn die komplementären Funktionen differenziert sind, wenn also die superiore und inferiore Funktion als Träger des Bewusstsein bzw. des Unbewussten miteinander verknüpft sind und in lebendigem Bezug stehen. Für Jung war die Ausdifferenzierung der Funktionen die "sine qua non des Bewusstseins", und umgekehrt war das Unbewusste undifferenziert, wobei jede unbewusste Handlung auf der Basis der Undifferenziertheit abläuft (Aziz, 195).

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Während das Bewusstsein Hilfsfunktion und tertiäre Funktion ausdifferenziert, obliegt es der inferioren Funktion, den Schatten, das Unbewusste sichtbar zu machen. Der viergeteilte Kreis – das Quaternio – stünde dann ganz im Licht und man würde von einer »runden« (Jacobi, 21) Persönlichkeit sprechen. Da das Unbewusste nie vollständig bewusst gemacht werden kann, bleibt das Streben nach Ganzheit immer relativ (Jacobi, 159f). Das Quaternio wird so zum Sinnbild einer lebenslangen Bewusstseinsarbeit. Jung bezeichnete diesen Prozess als Individuation, weil die Verbindung von Bewusstsein und Unbewussten durch einen gemeinsamen Mittelpunkt führt, das Selbst; der Weg zum Selbst ist der Weg der Individuation und über die inferiore Funktion wird dieser psychische Prozess mit der notwendigen Energie versorgt. In diesem Änderungsprozess spielt das Unbewusste eine aktive und kreative Rolle (Knox, 177). Die Entwicklung der inferioren Funktion führt also zur Individuation, wobei die einzelnen psychologischen Typen dabei quasi überwunden werden.

Über die so entwickelten Erfassungs- und Verarbeitungsmodi kommt man zu einem neuen Verhältnis zwischen Geist und Materie, zu einer neuen Sicht auf die Welt. Wolfgang Pauli, einer der raren Verfechter quaternären Denkens des 20. Jahrhunderts, hat diesen Gedanken so ausgedrückt:

Das Ziel der Wissenschaft und des Lebens wird daher letzten Endes der Mensch bleiben: In ihm ist das ethische Problem des Gut und Böse, in ihm ist Geist und

Materie und seine Ganzheit wird mit dem Symbol der Quaternität bezeichnet. (Meier

1995, 97)

Wenn es letztendlich um das ethische Problem von Gut und Böse, um den Geist in der Materie geht, dann bringt Pauli damit den Sinn ins Spiel. Jedem Erkenntnisprozess liegt ein tiefer liegender Sinn zu Grunde. Und die Ganzheit, von der Pauli spricht, ist die "eigene Verbindung mit dem universellen Sinn" (v. Franz 1988, 316). Wir können also verstehen, warum für Jung diese Suche nach dem Sinn dasselbe ist wie die Individuation. In dieser Suche nach dem Sinn steckte für Jung die wahre Bedeutung nicht nur des eigenen Lebens sondern der Entwicklung der Spezies überhaupt hin zu einem bewussten Wesen.

Typologisch gesprochen bedeutet das, die inferiore Funktion zu entwickeln und so den Schritt vom trinitarischen Denken, das von den drei bewussten Funktionen bestimmt wird aber noch "flächig, intellektuell und deshalb zu Verabsolutierungen neigend" (v. Franz 1970, 118), zur Quaternität der ganzen Persönlichkeit zu gehen. Dabei muss man lernen, denjenigen Hinweisen, die kennzeichnend für die inferiore Funktion sind, in seinem Verhalten wie in seinen Gefühlen und Empfindungen genügend Beachtung zu schenken. Dies funktioniert nur auf symbolischer Ebene, denn nur durch das Symbol drückt sich das Unbewusste aus, weshalb die Individuation nicht ohne Kenntnis der Symbole beschritten werden kann. Nur durch diese Symbole oder Signale, und nicht wenn man selbst im emotionalen Chaos steckt, gelingt es, mit dem eigenen Schatten und dem persönlichen Unbewussten in Kontakt zu kommen (Spoto,

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91). Es erfordert eine »doppelsinnige, paradoxe« (v. Franz, 2008, 153), ja vielleicht eine chaotische Einstellung des Bewusstsein, damit sich das Unbewusste durch die Symbole manifestieren kann und der Widerstand gegen das Unbewusste minimiert wird. Solange das Ego als Träger des Bewusstseins noch vom Unbewussten überschwemmt wird, wird man nicht in der Lage sein, die bislang vernachlässigten Aspekte der Persönlichkeit, die sich über die inferiore Funktion immer wieder Gehör verschaffen, zu integrieren und eine neue Sicht auf die Welt einzunehmen.

Der Weg von der »Drei« zur »Vier« – zur abgerundeten Persönlichkeit – besteht dabei nicht nur in einer intellektuell-begrifflichen Ausdifferenzierung sondern auch in der Entwicklung der menschlichen Beziehungen. Sozialisation und Individuation mit ihrer extravertierten Bezogenheit auf das Außen und ihrer introvertierten Einsamkeit werden damit zu zwei Aspekten des psychischen Entwicklungsprozesses. Typentwicklung und Egoausprägung gehen Hand in Hand durch die Entwicklung der Einstellungsfunktionen von Extraversion und Introversion sowie der Bewusstseinsfunktionen Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren. Die Typologie dient hier als Hilfsmittel eines schrittweisen Perspektivwechsels, eines »iterativen Reframings«, unser Umfeld zu betrachten. Erst wenn diese Integration und der damit verbundene Perspektivwechsel gelungen ist, hat man seine Emotionen und Affekte weitgehend in der Hand und die Unabhängigkeit eines innerlich freien Menschen erreicht (Jacobi, 185).

Dies ist der Moment, wo man seine Projektionen zurücknimmt, aufhört über die Fehler Anderer zu reden sondern sie als die seinigen begreift und erkennt, wer man ist und nicht wer man sein will. Dieser Schritt oder genauer, diese schrittweise Annäherung an die "Inhalte der psychischen Gesamtheit und der Anerkennung der Wirkung" (Jacobi, 198f) ist, wie sich leicht nachvollziehen lässt, "mit schmerzlichen Einsichten verbunden" (v. Franz 1970, 122). Dieser Prozess wird von dem der Psyche innewohnenden Drang nach Ganzheit angetrieben. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Jung nach dem schmerzlich empfundenen Bruch mit Freud und der anschließenden über Jahre sich hinziehenden Konfrontation mit seinem Unbewussten, die Idee der Individuation entwickelte.

Neben der Ausdifferenzierung der inferioren Funktion, also der Bewusstwerdung der eigenen Schattenaspekte gehören noch zwei weitere Punkte zum Individuationsprozess: die Kenntnis über die eigene gegengeschlechtliche Komponente Animus bzw. Anima und die Vereinigung des Bewusstseins mit dem kollektiven Unbewussten. Der letzte Schritt bedeutet eine Erweiterung des Bewusstseins ohne Aufblähung des Egos und kein Verschmelzen mit einem wie auch immer gearteten Kollektiv. Das Ego zieht sich vielmehr zugunsten seines Zentrums, des Selbst, zurück (v. Franz 2009, 152). Deshalb hat Jung die Individuation auch als "Verselbstung" oder "Selbstverwirklichung" (GW 7, §267) bezeichnet, geht es doch darum, zum Einzelwesen zu werden, d.h. das eigene Selbst zu verstehen. Er verstand die Individuation als "ein hohes Ideal, eine Idee vom Besten, das man tun kann" (GW

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7, §373), wobei der Drang zur Individuation im Menschen angelegt zu sein scheint. Dies zeigen synchronistische Phänomene wie beispielsweise das berühmte Beispiel des Skarabäus, die einen gewissermaßen auf die Notwendigkeit des Individuationsprozesses aufmerksam machen und zwar solange, bis dieser Weg tatsächlich eingeschlagen wird. Synchronistische Phänomene begleiten die Individuation, ja lösen sie in vielen Fällen aus. Für den Introvertierten, dem die Außenwelt oft rätselhaft, ja bedrohlich gegenübertritt, weil sie mit seinen inneren Erfahrungen nicht zusammen zu passen scheint, können synchronistische Ereignisse als Brücke zwischen eben diesen inneren Erfahrungen und der äußeren Welt, zwischen Bewusstsein und Unbewussten so etwas wie eine äußere Bestätigung seiner inneren Erlebnisse sein. Im Gegensatz zum Extravertierten braucht der Introvertierte eine konkrete äußere Erfahrung, damit er spürt, dass er vollständig ist und dass die Welt, die er wahrnimmt, ganz ist. (v. Franz 2008, 146) Der Individuationsprozess ist nicht nur der Weg zur Ganzheit er fordert den Einsatz des Ganzen, "keine billigen Bedingungen, noch Ersatz, noch Kompromiss" (Clarke, 296). Das Erkennen, was das Eigene ist, führt damit zwangläufig im Individuationsprozess zu Trennung und Differenzierung. Jung sprach sogar davon, dass sich das Selbst und das Ego im Individuationsprozess opfern, in dem sie sich den Begrenzungen der Inkarnationen unterwerfen (Aziz, 115).

Kehren wir zum Symbol der Ganzheit, dem Quaternio zurück. Wie oben schon erwähnt, führte Pauli ausdrücklich den Sinn und die Bedeutung wieder in die Naturbetrachtung ein. Er sah also nicht nur einen Zusammenhang von Ereignissen durch Wirkung sondern eben auch durch einen inhärenten Sinn, der Ereignisse miteinander verbindet. Diese Sicht auf die Welt nimmt abermals die alchemistische Tradition auf mit ihrer Suche nach der Vereinigung der vier Elemente, dem legendären Stein des Weisen. Diese alchemistischen Symbole stehen natürlich für die Individuation. Das Gold des Alchemisten war das innere Gold der Erleuchtung und symbolisierte die Transformation seiner Seele. Pauli war es, der als einer der Ersten nach drei Jahrhunderten der dem extravertierten Denken ergebenen Naturwissenschaft der introvertierten Einstellung wieder Raum gab und zwar nicht, weil er zu lange an Jungs Seite dem alchemistischen Gedankengut ausgesetzt war, sondern weil ihn die Ergebnisse der neuen Quantentheorie dazu zwangen, das Geheimnis der inneren Strukturen des Universum in ihm selbst zu suchen (v. Franz 2009, 16).

Für Pauli war die Quantentheorie eine "symbolische Erfassung der Möglichkeiten des Naturgeschehens, die einen Rahmen bereithält, um auch die irrationale Aktualität des Einmaligen aufzunehmen" (Meier 1995, 95). Aus diesen Erkenntnissen ist im regen Austausch zwischen Jung und Pauli das berühmte »Weltbildquaternio« (Meier 1995, 63) entstanden. Im Quaternio, so Paulis Überzeugung, fanden die Akausalität und Diskontinuität der modernen Physik nicht nur ihren symbolisch begründeten Platz. Ein quaternäres, ein »zirkuläres« Denken, das sich über das auf Ursache und Wirkung

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beschränkte Vorgehen erhebt, machte für Pauli die Wissenschaft fruchtbarer und half, ihr ein dem Menschen dienenden Sinn zu geben. Beim zirkulären oder »assoziativen« Denken erschließt sich die Bedeutung eines Ereignisses also nicht nur aus den Beziehungen zu vorangegangenen Ereignissen. Erst durch die Betrachtung von Mustern einer ganzen Gruppe von dazugehörenden Ereignissen, erschließt den Sinn. Diese Muster und nicht die Kausalkette sind letztendlich der Schlüssel zum Verständnis. Man kann das auch als synchronistisches Denken bezeichnen. (Aziz, 138f)

Abb. 3: Das Weltbildquaternio

Beim trinitären Vorgehen, wie man es bei Kepler, Descartes, Einstein und überhaupt beim Großteil heutiger Wissenschaftler beobachten kann, herrschen die rationalen Bewusstseinsfunktionen vor. Die irrationalen Werte werden hier weitgehend ausgeschlossen. Das quaternäre Vorgehen eines Kant, Schopenhauer, Bohr oder eben Pauli umfasst alle vier Funktionen. (Gieser, 194) Dieses Quaternio darf jedoch nicht zum starren Schema werden, in das alles hineingezwängt wird. Es dient der Orientierung und es soll Mut machen, dieses Schema letztendlich zugunsten eines besser passenden zu erweitern.

6. Komplexe

Aus Freuds Idee des Überichs als der Summe der internalisierten gesellschaftlichen Regeln und Normen, die ins Unbewusste abgedrängt wurden, folgt zwangsläufig der Begriff des Komplexes. Komplexe sind diejenigen Gefühle, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Wünsche die, weil sie mit den Vorstellungen des sozialen Milieus nicht vereinbar sind, aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Grundlage jedes Komplexes ist ein Archetyp oder genauer: Komplexe sind aktualisierte Archetypen. Die Tatsache, dass viele Komplexe von jedermann wiedererkannt werden, deutet darauf hin, dass sie eine den Menschen gemeinsame Basis haben: die Archetypen. Da der Kern der Komplexe Archetypen sind, gibt es entsprechend der Struktur des Unbewussten »sozio-kulturelle Komplexe«, die dem kollektiven Unbewussten der

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Gruppe, der Gesellschaft oder der Kultur entstammen. Davon zu unterscheiden sind »individuelle Komplexe«, die sich auf die Identität und das Selbstwerterleben beziehen, also etwa auf das eigene Aussehen. »Beziehungskomplexe« beziehen sich auf Menschen und Tiere, also etwa den Mutter- oder Spinnenkomplex. Schließlich gibt es noch »Objektkomplexe«, die sich auf die Erfahrungen mit der Umwelt beziehen, also etwa den Höhen- oder Flugkomplex.

Der Ursprung des Komplexes ist also häufig ein Trauma oder ein emotionaler Schock, wodurch ein Stück Psyche eingekapselt oder abgespalten wurde (Jacobi, 55). Diese Abspaltung führt dazu, Teile des eigenen Wesens abzulehnen, wodurch der Komplex beginnt, sich wie ein Fremdkörper zu verhalten und anfängt, autonom und unter der Bewusstseinschwelle zu agieren. Dieser Fremdkörper hat was von einer eigenständigen Persönlichkeit mit ihren eigenen Bildern und Gefühlen, der sein "eigenes Ziel verfolgt", dass sich durch Selbstreflexion erkennen lässt (Knox, 90). Papadopoulos (S. 21) spricht sogar von einer zweiten Psyche, die den bewussten Absichten zuwiderhandelt:

We are justified in regarding the complex as somewhat a small secondary mind, which

deliberately drives at certain intentions, which are contrary to the conscious intentions

of the individual.

Die Konstellation eines Komplexes bedeutet eine Störung des Bewusstseinszustandes, der die eigenen Intentionen hemmt oder ganz unmöglich macht (Knox, 92). Sie beschränken in solchen Momenten die persönliche Freiheit, weil sie bewusstes Handeln unterlaufen. Sie werden zu einem "Geschwür" und zwar ohne dass die für das Körpergefühl zuständige psychologische Funktion des Empfindens davon etwas bemerkt, weshalb sie oft einen obsessiven und posessiven Charakter annehmen, die sich wie kleine Teufel aufführen. Deshalb sind Komplexe Zeiger auf Unvereintes und Unassimiliertes und damit unentbehrlich für den Individuationsprozess.

Komplexe werden erfahren in Fehlleistungen, Missgeschicken, Unfällen, Affektausbrüchen, Phantasiebildern, peinlichen Versprechern oder körperlichen Symptomen. Sie sind mehr oder weniger unbewusste psychische Inhalte, die durch gemeinsame Archetypen miteinander verbunden sind, weshalb man auch davon spricht, das Archetypen eine »Äquivalenzklasse« eines Komplexes (Saunders; Skar) bilden. So hat etwa der Mutterkomplex einen entscheidenden Einfluss auf den Anima-Archetyp und damit auf die Art und Weise, wie ein Mann seine Beziehungen zu Frauen gestaltet: Ein Mann, dem es nicht gelang, sich in seiner Jugend dem Einfluss der dominanten Mutter zu entziehen, wird meist ebensolche Frauen als Partner suchen. Jeder ideologische Fanatismus und jeder überwältigende Affekt stammt aus der Konstellation eines Archetyps. Werden Komplexe auf der Ebene der Emotionen oder der Bedeutungen angesprochen, dann wird das gesamte dieser unbewussten Verknüpfungen aktiviert samt der dazugehörigen Emotionen, den Bezügen zur

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Lebensgeschichte und den daraus resultierenden Erlebnis- und Verhaltensweisen. Dieser Vorgang verläuft, solange der Komplex unbewusst ist, autonom und stereotyp ab. Werden Komplexe nicht bewusst gemacht, behalten sie ihre Autonomie, können zur Identifikation des Individuums mit ihnen führen oder werden projiziert.

7. Typologie und Strukturaufstellungen

Das abschließende Kapitel hat eher spekulativen Charakter. Die hier aufgeführten Gedanken entspringen eigenen Überlegungen und Erfahrungen und können sich (noch) nicht auf weitere Quellen stützen. Es geht um die Idee, eine Verbindung zwischen Komplexen und psychologischen Typen herzustellen und einen Bogen zu systemischen Strukturaufstellungen zu schlagen. Zunächst jedoch soll der Begriff des Komplexes im Jung'schen Sinne rekapituliert werden.

Jedem Komplex liegt ein archetypischer Kern zugrunde, der Wahrnehmungen und Erinnerungen und damit auch die Erwartungen und Emotionen beeinflussen. Jede aktuelle Erfahrung und jedes sich daraus abgeleitete innere Abbild der Außenwelt wird durch diese archetypischen Verhaltensmuster interpretiert und dementsprechend darauf reagiert. Das Vorgehen der Analytischen Psychologie ist nun dadurch gekennzeichnet, die Wurzeln der Komplexe in ihren archetypischen Bildern zu externalisieren und so den Selbstheilungsprozess der Psyche in Gang zu setzen (Knox, 167), wobei die Erlebnisse des Analysanden in der Außenwelt unbewusstes Material produzieren. Diese Affekte, Traumbilder, Erinnerungen, Projektionen und Fantasien, die die Beziehung des Analysanden zur Welt beeinflussen, lassen sich auch durch die inferiore Funktion studieren, bildet sie doch wie der Komplex eine Brücke zum Unbewussten. Beide – inferiore Funktion wie Komplex – binden also psychische Energien (Libido), wodurch das Individuum eine Einschränkung seines Potenzials erfährt. »Den Komplex zu integrieren« bzw. die »inferiore Funktion auszudifferenzieren«, bedeutet, die Bilder und Fantasien bewusst zu erleben und zu gestalten. Die Erforschung der Komplexe ist der Königsweg, die via regia, wie Jung sich diesbezüglich auszudrücken pflegte, zum Unbewussten. Der Empfindungsfunktion fällt dabei eine wesentliche Aufgabe zu, denn über sie nähert man sich den symbolischen, den archetypischen Äußerungen der Komplexe (v. Franz; Hillman, 115).

Die Anliegen systemischer Strukturaufstellungen, die über Zeiträume von denselben Personen aufgestellt werden, scheinen sich grundsätzlich zu ähneln, obwohl sich die Bilder von Aufstellung zu Aufstellung durchaus unterscheiden können. Deshalb lässt sich die These aufstellen, dass in Aufstellungen versucht wird, das Wirken von unbewussten Strukturen symbolhaft darzustellen. Diese Strukturen des kollektiven wie des individuellen Unbewussten werden von den Archetypen und damit auch von Komplexen gebildet. Im Schlussbild zeigt sich ja das »mythische« Symbol, das den Klienten aus der Zwanghaftigkeit seines komplexbehafteten Verhaltens befreien kann. Die Wirkung der Analytischen Psychologie basiert auf der unbewussten Kommunikation zwischen Analysand und Analytiker. Diese unbewusste

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Kommunikation besteht natürlich auch zwischen den Repräsentanten in einer Aufstellung. Deshalb ist das, was der Repräsentant in einer Aufstellung erlebt, nicht nur das Wirken der eigenen unbewussten Vorstellungen, sondern auch die des Klienten. Beide sind hier über das kollektive Unbewusste verbunden. In einer Aufstellung internalisieren die Repräsentanten also das Unbewusste des Klienten. Das Gleiche gilt für den Individuationsprozess, wo ebenfalls Unbewusstes Anderer internalisiert wird und es als "fremder aber gleichzeitig auch eigener Teil der Psyche erfahren wird" (Knox, 126). Die Ausdifferenzierung der inferioren Funktion und insbesondere der gerade in unserem Kulturkreis eher unterdrückten Empfindungsfunktion bildet also das therapeutische Hilfsmittel zur Komplexbewältigung.

Bei der therapeutischen Nachbearbeitung einer Aufstellung ist also Übersetzungsarbeit notwendig, um von den Reaktionen der Repräsentanten und der Struktur des Schlussbildes auf die zugrundeliegenden Komplexe schließen zu können. Bei dieser Übersetzungsarbeit kann nun die Typologie helfen, liefert sie doch Hinweise auf unentwickelte Bewusstseinsfunktionen. Insbesondere die Entwicklung der Empfindungsfunktion mag dabei helfen, nicht nur die Strukturen und Beziehungen in einer Aufstellungen deutlich zu machen, also bei der Extraversion psychischer Prozesse. Und nichts anderes sind ja Aufstellungen. Sie werden damit zu Stationen des Individuationsprozesses und Mittel zur Selbsterkenntnis.

8. Links

o Atmanspacher, H. (1992): "Alchemie und moderne Physik bei Wolfgang Pauli"; in: Unus Mundus :

Kosmos und Sympathie; Verlag Peter Lang

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