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Vandenhoeck & Ruprecht Stavros Mentzos / Alois Münch (Hg.) Psychose im Film Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie | Band 14

Psychose im Film · 2016-09-13 · Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek dem Film »Lost Highway« des amerikanischen Regisseurs David Lynch. Zizek zeigt auf, dass die Filmsprache

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Vandenhoeck & Ruprecht

Stavros Mentzos/Alois Münch (Hg.)

Psychose im Film

Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie | Band 14

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Stavros Mentzos / Alois Münch (Hg.): Psychose im Film

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451151

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FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE

Schriftenreihe des Frankfurter Psychoseprojekts e. V. (FPP)

Herausgegeben von Stavros MentzosMitherausgeber: Günter Lempa, Norbert Matejek,Thomas Müller, Alois Münch, Elisabeth Troje

Band 14: Stavros Mentzos / Alois Münch (Hg.)Psychose im Film

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Stavros Mentzos /Alois Münch (Hg.)

Psychose im Film

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

ISBN 13: 978-3-525-45115-1ISBN 10: 3-525-45115-6

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen.Internet: www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen

als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages

öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke.

Printed in Germany.Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Stavros MentzosKann das psychodynamische Psychoseverständnis einer breiten Öffentlichkeit durch den Film gefördert werden? . . . . . 11

Ralf ZwiebelDas Dilemma des Denkens. Anmerkungen zum Film »Spider« von David Cronenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Slavoj Zizek»Lost Highway« oder die Kunst des lächerlich Erhabenen . . . . 39

Benigna Gerisch»Ich kann nicht weiter sehen als bis zu dir«. Zum Liebeswahn im Film in der gegenwärtigen Moderne . . . . 54

Wolfgang HeringScham, Neid und Psychose im Film »Amadeus« von Milos Forman nach dem Drama von Peter Shaffer . . . . . . . . . . 66

Yehonala Gudlowski und Georg JuckelUmgang mit Schizophrenie im Spielfilm und Antistigma-Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Inhalt

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p INFORMATIONEN

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Literaturhinweise und Rezensionsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . 96

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

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Die kreative Verarbeitung des von der Konvention und dem Com-monsense Abweichenden, also des ganz Anderen, des scheinbarUnerklärlichen, Unverständlichen, Fremden und Bedrohlichen imMenschen hat die Künstler, Schriftsteller, Drehbuchautoren undFilmregisseure immer wieder beschäftigt, gereizt und herausgefor-dert. Der davon ausgehende Schock, der Horror, der angstvolleSchreck, der kalte Schauer, die bange Hoffnung, das blanke Entset-zen, die ängstliche Neugier, die vibrierende Angstlust und die großeErleichterung und Befriedigung, dass dies alles am Ende nicht wirk-lich gewesen und vor allem man selbst nicht betroffen ist – das alleshat bis heute ein breites Publikum affiziert und zwischenzeitlichauch viel Geld in die Kinokassen und auf die Konten einer gut flo-rierenden Kulturindustrie gespült.

Psychologische, psychiatrische, psychopathologische, psychoti-sche Phänomene respektive Erlebnis- und Erfahrensweisen bildenhier seit jeher eine reiche Ressource. Schon das 19. Jahrhundert be-dient sich dieser Quellen. Man denke nur an die nahezu klassischgewordenen Narrative, so an Mery Shelleys »Frankenstein oder dermoderne Prometheus« (1818), an Bram Stokers »Dracula« (1897)oder etwa Robert Louis Stevensons Erzählung von »Dr. Jekyll undMr. Hyde« (1886). Diese Stoffe haben Drehbuchautoren und Film-regisseure immer wieder fasziniert und bis in die Gegenwart zu fil-mischen Verarbeitungen herausgefordert. Das 20. Jahrhundert hateine ganze Reihe von Meisterregisseuren hervorgebracht, welche fil-mische Meilensteine in diesem Genre produziert haben. So sind un-ter anderen zu erwähnen: G. W. Pabsts Film »Geheimnisse einerSeele« (1926), der erstmals versucht, das Funktionieren der Psycho-analyse im Film zu demonstrieren; die surrealistischen Filmexperi-mente von Luis Buñuel oder von Jean Cocteau (»Ein andalusischer

Editorial

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Hund«, 1929, »Das goldene Zeitalter«, 1930, »Das Blut eines Dich-ters«, 1930), in denen spielerisch die Trennung von Traum und Re-alität aufgehoben wird; Regisseure wie Ingmar Bergman, der zumBeispiel in »Wilde Erdbeeren« (1957) den Traum als Erinnerungs-bild in die Filmerzählung einbezieht, oder Federico Fellinis Film»Achteinhalb« (1963), wo die Gegenwartserzählung sich gleichsamim Traum auflöst. Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch andie Filme von Alfred Hitchcock, Stanley Kubrick, Bernardo Berto-lucci, Pier Paolo Passolini, Luchino Visconti, Jean-Luc Godard,Claude Chabrol, Francoise Truffaut, Theo Angelopoulos oder Ro-man Polanski zu erinnern.

Für die Literatur und den Film des 20. Jahrhunderts lässt sichsagen, dass die Psychoanalyse mit ihren Erkenntnissen von bedeut-samem Einfluss gewesen ist, wie natürlich auch umgekehrt künst-lerisch gestaltete Erfahrungen den psychoanalytischen Erkennt-nisprozess seit Freud beeinflusst und befördert haben. Zentrale psy-choanalytische Theoreme und Behandlungselemente wie die ge-wichtige Bedeutung unbewusster Vorgänge im Seelenleben, die Psy-chopathologie des Alltagslebens, die sich in Vergessen, Versprechenund anderen Fehlleistungen äußert, der Traum als Königsweg zumUnbewussten, die große Bedeutung der Kindheit und der psycho-sexuellen Entwicklung respektive des ödipalen Konflikts für dieAusgestaltung der Persönlichkeit, die Relevanz der psychotherapeu-tischen Behandlung bei seelischen und psychosomatischen Erkran-kungen, das psychoanalytische Setting von der Couch zur freien As-soziation bis zum deutenden Psychoanalytiker haben Eingang in dieFilmhandlung, Filmerzählung und Filmtechnik gefunden.

Für die Thematisierung der Psychose im Film ist sicher Hitch-cocks »Psycho« (1960) ein signifikantes cineastisches Ereignis, aberauch die Filme von Roman Polanski wie »Ekel« (1965), »RosmariesBaby« (1967) oder »Der Mieter« (1976) sind zu nennen. Hinsicht-lich der Thematisierung der psychiatrischen Institution haben derantipsychiatrisch inspirierte Film von Milos Forman »Einer flogüber das Kuckucksnest« (1974) und auch der sehr viel differenzier-tere Fernsehfilm von Heinar Kipphardt »Leben des schizophrenenDichters Alexander März« (1975) eine große Öffentlichkeit erreichtund viele Diskussionen angestoßen. Die psychoanalytische Behand-lung einer Psychose ist über die Verfilmung des Buches von HannaGreen »Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen« einem brei-ten Publikum zugänglich geworden.

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Der Band »Psychose im Film« der Reihe Forum der psychoanaly-tischen Psychosentherapie wendet sich auch neueren Produktionendes Genres zu, wobei der Vielfalt im psychoanalytischen Zugangund der Verarbeitung des Gegenstands nur in Ansätzen Rechnunggetragen werden konnte.

So setzt sich Stavros Mentzos in seinem Beitrag mit der Frageauseinander, ob das psychodynamische Psychoseverständnis einerbreiten Öffentlichkeit durch den Film gefördert werden kann. Erfokussiert dabei auf die schwierige Aufgabe, einerseits die künst-lerische Dimension und andererseits die Vermittlung von Informa-tionen, auch wissenschaftlich begründeter Konzepte und Hypothe-sen, im Film zu integrieren. Mentzos untersucht diese zwei Anliegenam Beispiel des Films »Shining« von Stanley Kubrik und »A Beauti-ful Mind« von Ron Howard, in dem die psychotische Erkrankungeines Mathematikprofessors und Nobelpreisträger filmisch insze-niert wird.

Der Artikel von Ralf Zwiebel wendet sich dem Film »Spider« deskanadischen Regisseurs David Cronenberg zu. Zwiebel thematisiertzunächst die Frage des möglichen psychoanalytischen Zugangs zumFilm, spricht sich für einen echten Dialog zwischen Psychoanalyseund Filmkunst aus und entdeckt schließlich bei seiner eingehendenAnalyse des Films, dass dieser einen Aspekt der Psychose zur Dar-stellung bringt, der auch im aktuellen psychoanalytischen Diskursimmer mehr Beachtung zu finden scheint.

Von einem anderen psychoanalytischen Standort, nämlich in-spiriert durch die Psychoanalyse Jacques Lacans, nähert sich derPhilosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek dem Film »LostHighway« des amerikanischen Regisseurs David Lynch. Zizek zeigtauf, dass die Filmsprache Lynchs, die sich zwar durch eine den Zu-schauer irritierende Hermetik auszeichnet, aber dennoch ernst ge-nommen werden sollte und einer konsequenten Interpretation un-terzogen werden kann. Er argumentiert dabei auch gegen einefalsche Vereinnahmung der Filme Lynchs durch die Philosophiedes New Age.

Mit dem Liebeswahn im Film der gegenwärtigen Moderne be-schäftigt sich die Suizidforscherin und Psychoanalytikerin BenignaGerisch. Sie weist darauf hin, dass dieses Thema in Filmen und Ro-manen in den letzten Jahren recht häufig bearbeitet wurde und dasPhänomen des Stalking durch eine spektakuläre Aufarbeitung inden Medien breite Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden

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hat. Beispielhaft geht sie auf den Film der italienischen RegisseurinLaetitia Colombani »Wahnsinnig verliebt« ein.

Wolfgang Hering unterzieht den Film »Amadeus« des tschechi-schen Filmregisseurs Milos Forman einer Analyse und weist auf diedarin gestaltete schizoaffektive Psychose des musikalischen und fil-mischen Gegenspielers von Mozart Salieri hin, wobei Hering dieBedeutung der Affekte Scham und Neid herausarbeitet.

Wieder einen anderen Zugang zum Thema finden Yehonala Gud-lowski und Georg Juckel aus der Berliner Charité. Nach einem kriti-schen Überblick über frühere, von Klischees und Vorurteilen ge-kennzeichnete Filme kommen sie auf jüngere, realistischere undwertvolle Spielfilme zu sprechen. Besonders beschäftigen sich diebeiden Autoren mit Hans Weingartners »Das weiße Rauschen« undbesprechen auch statistische Ergebnisse der Befragung von BerlinerSchülern zu ihren Reaktionen auf diesen Film.

Das Buch endet in gewohnter Manier mit Rezensionen sowie Li-teratur- und Rezensionshinweisen.

Stavros Mentzos /Alois Münch

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Die gewisse Umständlichkeit dieses Beitragstitels ist unvermeidlich,weil sie für die Abgrenzung der Zielsetzung meiner Überlegungenerforderlich ist. Der Schwerpunkt meiner Analyse liegt also nichtdarin, die künstlerischen Möglichkeiten filmischer Darstellung psy-chotischer Zustände zu eruieren. Das wäre eine Aufgabe, für die ichohnehin nicht die ausreichende Kompetenz besitze. Es geht in die-sem Beitrag auch nicht um das differenzierte Aufspüren von imFilm »versteckten« psychogenetischen oder psychodynamischen Zu-sammenhängen, die durch eine psychoanalytische Interpretationaufgedeckt und gleichsam gedeutet werden sollen – etwa in der Art,wie Psychoanalytiker Träume oder Mythen zu deuten versuchen.Solche oft sehr interessanten und wertvollen Analysen werden zu-nehmend häufiger veröffentlicht, so zum Beispiel durch eine Hei-delberger Gruppe von Psychoanalytikern, die sich systematisch mitPsychoanalyse und Film beschäftigt und ein Heft ihrer Zeitschrift»Widerspruch« (2003/1) dem Thema gewidmet hat, oder viele Pu-blikationen von Mechthild Zeul (zuletzt z. B. Zeul 2005), die eineähnliche Betrachtung eines Films bietet, oder schließlich auch eini-ge der in diesem Band erscheinenden Beiträge.

Um eine solche Analyse geht es hier nicht. Es handelt sich viel-mehr um die bei Filmen zwangsläufig bewusst oder unbewusst demZuschauer sozusagen nebenbei vermittelten Inhalte, also um sachli-che Informationen, aber auch kognitive und emotionale Einstellun-gen, Haltungen zu psychotischen Störungen sowie die damit ver-bundenen Lebensläufe, subjektiven Erlebnisse und Leidenszuständeder Betroffenen. Die Qualität eines Films wird freilich nicht danachzu beurteilen sein, ob diese zuletzt erwähnten Inhalte richtig erfasstund vermittelt wurden. Es ist im Gegenteil vorwiegend die gelunge-ne Form, die anschauliche und auch szenisch-symbolische Darstel-

Stavros Mentzos

Kann das psychodynamische Psychoseverständnis einer breiten Öffentlichkeit durch den Film gefördert werden?

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lung, also das Künstlerische, was an erster Stelle zählt. Und trotz-dem sind die gleichzeitig transportierten Informationen, Überzeu-gungen, Stereotypen, Haltungen von immenser praktischer Bedeu-tung, zumal bei einem Massenmedium wie dem Film, der Millio-nen, auch Milliarden von Menschen erreicht und beeinflusst, ob siees wollen oder nicht.

Nun gehören zwar intrapsychische und interpersonale Konflikte,psychologische Verwicklungen und auch psychische Störungen seitjeher – sowohl für sich allein als auch viel häufiger in andere The-matiken eingeflochten – zu den häufigsten Filmszenarien. Das giltweniger für regelrechte psychotische Zustände, jedoch auch sie wer-den in letzter Zeit häufiger benutzt und erregen mehr als früher dieAufmerksamkeit des Publikums und der Filmkritik. Wenn wir nunÜberlegungen zu dieser direkten und indirekten Vermittlung vonEinstellungen und Haltungen anstellen, so müssen wir noch einmalvorsorglich hervorheben, dass Filme eigentlich nicht der Informati-onsvermittlung und nicht anderen didaktischen Zielen dienen, son-dern dass sie an erster Stelle unterhalten, fesseln und bei höherenAnsprüchen auch ästhetischen Genuss ermöglichen wollen und sol-len. Die Integration und Synthese dieser Hauptziele der Filmema-cher mit der uns hier besonders interessierenden Wissens- und Ein-stellungsvermittlung ist zwar prinzipiell möglich, aber schwierig.Denn der kognitive Inhalt, das präzise Wissen, die didaktisch ord-nende Darstellung können die künstlerische Spontaneität, die emo-tionale Ansprechbarkeit, das Fesseln durch das Sensationelle, diefür den künstlerischen Film charakteristische Sprengung logischerGrenzen und Ordnungen konterkarieren. Das ist auch der Grund,warum meistens psychische Störungen, zumal auch Psychosen, alsfilmische Thematik nicht präzise, nicht wissenschaftlich korrekt be-handelt werden. Das geschieht also nicht nur aus Ignoranz; andereInteressen und Gesichtspunkte stehen im Vordergrund: das Sensati-onelle, das Unerwartete, das Spannung erzeugende, das Horrormä-ßige – oder auf einer anspruchsvolleren Ebene die Originalität derFormgebung, die gelungene szenische Anschaulichkeit. Das sind dieZielsetzungen, welche bei weitem im Vordergrund stehen und dieArbeit des Drehbuchautors und des Regisseurs bestimmen.

Ich beschäftigte mich etwas ausführlicher mit der Unterschei-dung dieser zwei Dimensionen (Unterhaltung, ästhetische Formge-bung, Genuss einerseits, direkte oder indirekte Vermittlung von In-formationen und Einstellungen andererseits), weil nicht selten ein

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in der ersten Dimension kommerziell erfolgreicher, möglicherweiseauch ästhetisch gelungener Film in der zweiten Dimension einemäßige Leistung darstellt und in dieser Hinsicht sozusagen eineschlechte Benotung bekommen muss. Diese Unterscheidung, wel-che eigentlich von differenzierten Filmkritikern berücksichtigt wer-den sollte, ist aber eine Aufgabe, die wahrscheinlich die meisten vonihnen überfordert, denn ihre Erfüllung würde voraussetzen, dassdie Filmkritiker in der Lage wären, nicht nur in Bezug auf die ästhe-tischen Qualitäten eines Films, sondern auch wissenschaftlich rich-tige Aussagen in Bezug auf psychologische und psychopathologi-sche Phänomene zu machen.

Ich selbst traue mir zu, in Bezug auf die zweite Dimension einigebrauchbare Hypothesen zu formulieren, während ich mich für dieerste Dimension auf mein Gefühl und mein ästhetisches Verständ-nis des durchschnittlichen Zuschauers beschränken muss.

Wenn man nun an konkrete Beispiele von Filmen herangeht, diepsychotische Störungen darstellen, so kann man meistens allenfallspartiell oder punktuell aussagekräftige Passagen registrieren undverwerten.

»Shining«

Der Film »Shining«1 von Stanley Kubrick erscheint mir, obwohl erkeine typische Psychose zum Thema hat, dazu geeignet, eine ersteIllustration des Geschilderten zu bieten. Dieser galt, und tut es zumgroßen Teil noch heute, als ein ästhetisch gelungener Film, in derKomposition und Durchführung ein Meisterstück. Schon die ein-leitende Musik und die ersten Aufnahmen erzeugen beim Zuschau-er eine Atmosphäre der Erwartung, die das noch Kommende undden Höhepunkt ankündigt. Das Ziel des Romanautors StephenKing und des Drehbuchautors und Regisseurs Kubrick war abernicht die Darstellung einer psychotischen Störung, sondern (nebendem kommerziell interessierenden Horror) die auch bei jedem Zu-schauer vorhandene Bereitschaft, die Neugierde und das Interessefür die Realität hinter der Realität, die Wahrnehmung hinter der

1 Ich spreche vom ursprünglichen Film von Kubrick des Jahres 1980 undnicht von der amerikanischen Fernsehversion 1997 oder von der dreiteili-gen RTL-Serie von 2000.

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Wahrnehmung zu wecken und anzusprechen (Shining heißt »daszweite Gesicht«, also die angebliche Fähigkeit mancher Menschen,eine hinter den Dingen existierende Realität wahrzunehmen). Dasfängt mit den harmlosen Visionen eines 5- bis 6-jährigen Jungen anund kulminiert im Höhepunkt der totalen, nunmehr tatsächlichpsychotischen, halluzinatorischen Orgie seines Vaters, der von einergewalttätigen, mordenden, blutigen Phantasiewelt überflutet wird.Der Verlauf erhält dadurch etwa ab der Mitte des Films auch dieCharakteristika eines Horrorfilms, ohne jedoch dass der Regisseurjenes andere Ziel aus den Augen verlieren würde, nämlich eine Ah-nung der Realität hinter der Realität oder auch der Problematisie-rung unseres Zeitbegriffs zu vermitteln.

Schon diese Bemerkungen deuten an, dass die kubricksche Ver-filmung, obwohl künstlerisch sehr gelungen, im Hinblick auf unse-re Zielsetzung wenig ergiebig ist: Sie erweckt manche irrtümlicheund weniger richtige Vorstellungen über Psychosen. Sie enthältaber, wie wir sehen werden, auch einige sehr gelungene Passagen zupsychotischen Abwehrmechanismen.

Zum besseren Verständnis gebe eine kurze Zusammenfassung fürdiejenigen, die den Film nicht kennen. In der 1980 gedrehten Verfil-mung des Romans »The Shining« von Stephen King spielt Jack Ni-cholson den verkrachten Schriftsteller Jack Torrance, der den Jobübernimmt, das in den Wintermonaten geschlossene große HotelOverlook in den Bergen von Colorado als eine Art Hausmeister zuüberwachen, auch in der Absicht, dort die Ruhe und die Zeit zu fin-den, um einen Roman zu schreiben. Er nimmt seine Frau und sei-nen etwa fünfjährigen Sohn mit. Die Hoteldirektion informierteihn zwar während des Vorgesprächs darüber, dass vor einigen Jah-ren dort ein Mann, der denselben Job übernommen hatte, in derEinsamkeit im Winter »durchgedreht« sei und seine Frau samt zweikleinen Töchtern grausam in Stücke geschlachtet und dann auchsich selbst getötet habe. Jack Torrance zeigt sich jedoch davon unbe-rührt. Lediglich sein mit »dem zweiten Gesicht« begabter Sohn ahntdas Furchtbare, erlebt für Sekunden »Erscheinungen«, Visionen, indenen er die zwei ermordeten Mädchen und dann auch ein vonBlut überströmtes Zimmer sieht, in dem der mehrfache Mord ge-schehen ist. Er behält aber alles für sich. Die erste Zeit im Hotel ver-läuft relativ ereignislos, aber bald beginnen, besonders in der Nähedes verhängnisvollen Zimmers 237 (des damaligen Tatorts), auchden Vater Sinnestäuschungen, Mordphantasien und Bilder von

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strömendem Blut zu befallen, worüber aber auch er zunächst nichtsverrät. Die Ehefrau Wendy beginnt erst später zu merken, dass et-was nicht in Ordnung ist, wird sehr ängstlich, als sie merkt, dass derJunge sehr beeinträchtigt, bedrückt und krank wirkt. Sie entdeckt,dass ihr Mann, obwohl er täglich stundenlang an der Schreibma-schine getippt hat, in Wirklichkeit in zwanghafter Weise lediglichimmer wieder dasselbe Wort niederschreibt. Als er sie wiederumdabei ertappt, kommt es zu einer heftigen Szene mit Handgreiflich-keiten. Jack Torrance wird nun zunehmend auffällig, läuft in denKorridoren entlang und versucht die Hirngespinste, die ihn quälen,mit heftigen Kopfbewegungen sozusagen abzuschütteln, aber ohneErfolg. Inzwischen ist das Hotel durch schwere Schneefälle von derAußenwelt abgeschnitten. Ein Koch des Hotels, mit dem sowohl derVater als auch der Sohn schon vor Beginn des Abenteuers, also nochin der Stadt, ein Gespräch hatten, der auch über »das zweite Ge-sicht« verfügt und jetzt von schlimmen Ahnungen geplagt wird,zumal auch über das Ereignis mit dem damaligen HausmeisterBescheid weiß, erreicht nach abenteuerlicher Fahrt durch tiefenSchnee das Hotel. Dort wird er von Jack Torrance, der inzwischenmit einem Beil alles kaputt haut und Frau und Kind töten will, er-schlagen. In der Endphase des Films findet eine eindrucksvolle Jagdin dem schwer verschneiten Heckenlabyrinth des Hotels statt. Dervom Kampf mit dem Koch schwer verwundete Jack Torrance ver-folgt mit dem Beil den Jungen; dem gelingt es geschickt, sich zu ver-stecken und mit seiner Mutter in einem Schneepflug zu entfliehen.Der Protagonist bleibt im Schnee stecken und ist am nächsten Mor-gen erfroren.

Die harmlos beginnende und in raschem Tempo bis ins Uner-trägliche kulminierende Story ist überzeugend entwickelt und exzel-lent interpretiert, allerdings auf dem Hintergrund einer geisterhaf-ten, übernatürlichen, mal esoterisch, mal horrorhaft anmutendenzweiten Realität, deren Existenz indirekt, wenigstens auf den erstenBlick, an der psychotischen Dekompensation und Explosion desProtagonisten schuld sein soll. Zwar könnte der aufmerksame undreflektierende Zuschauer halb bewusst oder auch bewusst andere,mehr psychogenetische Zusammenhänge ahnen (etwa die psycho-pathologische Vorgeschichte eines schwer zwanghaften, narzisstischgestörten und gekränkten Mannes, der seine Wut, besonders in derEinsamkeit und ohne die korrigierende Wirkung des sozialen Um-felds, nicht mehr kontrollieren kann und psychotisch entgleist, wo-

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bei die ihm bekannt gewordene Mordgeschichte als geeignete Kris-tallisation und Externalisierung seines Konflikts dient). SolcheÜberlegungen haben jedoch im Hinblick auf die Visionen der zweiunneurotisch wirkenden und mit dem zweiten Gesicht begabtenZeugen (also des Jungen und des schon in der Präambel des Filmsauftauchenden Kochs des Hotels) keine Chance. Über die Psycho-genetik ist also wenig aus dem Film zu erfahren. Etwas ergiebiger istder Blick auf psychodynamische Zusammenhänge, insbesondereAbwehrmechanismen. Im folgenden Beispiel wird sehr eindrucks-voll gezeigt, auf welche Weise extreme psychotische Angst mithilfead hoc produzierter halluzinatorischer Szenarien eines quasi nor-malen, sozialen Milieus wenigstens vorübergehend verschwindet,weil dieses mit Menschenkontakten und Menschenpräsenz angerei-cherte Szenario erstaunlich beruhigend und sozusagen antipsycho-tisch wirkt. Allerdings nicht lange, sondern nur bis zu dem Punkt,als die Dynamik der inneren Phantasiewelt (nach dieser kurzen Er-holungsphase) wieder aufflammt. In dieser Szene läuft Jack Torran-ce, wie auch die Tage davor, höchst erregt und nervös die Korridorerauf und runter, auch in der Nähe des furchterregenden Zimmers237, bis dann plötzlich die bis dahin entsprechende horrorhafte Be-gleitmusik langsam in eine einem wunderbaren Walzer ähnlicheMelodie übergeht und der Protagonist eine Tür aufmacht, um inden großen luxuriösen Aufenthaltsraum des Hotels zu gelangen, womehrere Dutzende Menschen lässig sitzen, diskutieren, rauchen,Kaffee und Tee trinken. Der psychotische Spuk und die Angst schei-nen blitzartig verschwunden zu sein. Jack Torrance lockert sich,zeigt sich zufrieden, ja fast glücklich. Das Glück dauert aber nur einpaar Minuten, bis er in den Augen des Barkeepers offensichtlich et-was Verdächtiges zu erkennen scheint, und das Drama beginnt,nachdem er diesen Raum durch die andere Tür verlässt, von neuem.

Solche Passagen sind im Film aber selten und von daher würdeich dem Film in Bezug auf die erwähnte zweite Dimension der di-rekten oder indirekten Informationsvermittlung keine so gute Notegeben, obwohl er im Hinblick auf die erste Dimension offensicht-lich ein heute noch, nach so vielen Jahren, filmisches Meisterwerkist, und zwar nicht nur aufgrund des Ästhetischen, sondern auchwegen der sozusagen philosophischen Einsprengsel.

Ich schildere kurz die letzten zwei Minuten des Films, in denenmit einem relativ einfachen Trick und einer unerwarteten Wendungder Zuschauer plötzlich mit der Rätselhaftigkeit der Zeit und unse-

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res Zeitbegriffs massiv konfrontiert wird. In einem Bild, das in demgroßen Empfangsraum des Hotels hängt, kann man bei Annähe-rung der Kamera allmählich in der Mitte den glücklich lächelndenJack Torrance erkennen. Darunter steht auf dem Bild: Großer Gala-Tanz im Hotel Overlook 1924 (also über ein halbes Jahrhundert zu-rück)!

»A Beautiful Mind«

Der Film »A Beautiful Mind« (2001) von Ron Howard ist im Hin-blick auf unsere Thematik eindeutig ergiebiger. Die Hauptperson,der Mathematikprofessor und Nobelpreisträger John Nash, hatauch in der Realität den Nobelpreis erhalten und tatsächlich eineschizophrene Psychose mit wiederholten Rückfällen in früherenJahren durchgemacht. Er hat sogar bis zuletzt eine Restsymptoma-tik beibehalten, die er aber, wie er selbst sagt, zu ignorieren gelernthat.

Der Film erzählt, mit gewissen Abweichungen, die wahre Lebens-geschichte des von Russell Crowe gespielten Mathematikers JohnNash, der schon als junger, vielversprechender Princeton-Studenteinen eigenartigen Hang zu seinen inneren Vorstellungen und Wel-ten hatte. Er war ungesellig, entwickelte eine zielstrebige Arbeits-wut, war geradezu verliebt in die Zahlen, interessierte sich für keineder üblichen irdischen Vergnügungen des Studentenlebens. Sein in-neres und äußeres Leben bestand aus logischen Strukturen. Er ver-suchte eine Spiel- und Entscheidungstheorie zu entwickeln, in derder ökonomische Wettbewerb über mathematische Prinzipien er-fasst wird. Er machte trotz seiner Besonderheiten und seines Statusals Sonderling und trotz seiner Introvertiertheit eine steile Karriere,wurde Dozent und heiratete eine seiner Studentinnen.

Im realen Leben des John Nash sah es etwas anders aus als imFilm. In der Zeit vor seiner Eheschließung pflegte er störanfälligehomoerotisch gefärbte Beziehungen zu Männern, verlor wegen ei-nes entsprechenden »Vorfalls« seine Stelle. Er hatte einen uneheli-chen Sohn. Nachdem er manifest psychotisch wurde mit einer alsSchizophrenie diagnostizierten Störung, verbrachte er mehrere Jah-re seines Lebens abwechselnd in psychiatrischen Kliniken und aufder Flucht vor erneuter Einweisung. Seine Frau ließ sich scheiden,nahm ihn lange Zeit später aber wieder bei sich auf. Die Konkur-

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renzbeziehung zu seinem Vorbild John von Neumann ist im Filmreduziert auf ein Gespräch mit einem wohlwollenden älterenHerrn. Ein uneheliches Kind gibt es ebenso wenig wie die dazuge-hörige erste Freundin. Die idealisierte Gattin, verkörpert von Jenni-fer Connelly, bleibt – im Film – durch allen Horror hindurch bei ih-rem Mann, von Homosexualität ist überhaupt nicht die Rede.

Trotz dieses Verschweigens von – psychoanalytisch betrachtet –wichtigen anamnestischen Daten kann man auf keinen Fall be-haupten, dass die dann ausbrechende Psychose einseitig biologis-tisch dargestellt wird, obwohl sie zur damaligen Zeit der fünfzigerund sechziger Jahre mit Insulin, Elektroschocks und später mitmassiver neuroleptischer Dosierung behandelt wird. Im Gegenteil,die Schilderung der Persönlichkeit und des Verhaltens in den Jahrendes Studiums und danach bis zur Dozentur weisen Auffälligkeitenauf, die sowohl rein deskriptiv als auch in Bezug auf die dahinter zuvermutende Psychodynamik aussagekräftig sind. Das Arrogante,das Überhebliche, ungewöhnlich stark Intellektualisierende, jene je-de beginnende Beziehung störende und zerstörende Reaktionsweisebei einer dahinter spürbaren starken narzisstischen Unsicherheitund Brüchigkeit sowie jener unersättliche Hunger nach Anerken-nung und Bestätigung und dann das allmähliche Auftauchen vonpsychotisch anmutenden Paradoxien und Merkwürdigkeiten, diesalles ist sehr überzeugend inszeniert.

Im weiteren Verlauf wird zwar auf jegliche psychogenetische undpsychodynamische Aussage verzichtet, die Gespräche mit dem be-handelnden Psychiater gehen immer davon aus, dass es sich um ei-ne medizinisch definierbare Krankheit handelt, die lediglich auf-grund der großen Begabung des Patienten und den dazu zufälligpassenden Inhalten lange Zeit nicht erkannt werden konnte; denndie psychotischen, überwertigen und megalomanen Ideen erschei-nen zum Teil durch seine Leistungen realistisch. In Bezug auf die er-staunliche therapeutische Besserung wird aber die Beziehung zurFrau als wichtigstes Therapeutikum in den Vordergrund gestellt.Auch in der Rede anlässlich des Empfangs des Nobelpreises 1994 inStockholm bedankt sich Nash öffentlich bei seiner anwesendenFrau; sie habe ihm sein Leben wieder zurückgegeben. Das alles istetwas sentimental, hollywoodartig geglättet. Aber die dazwischenund davor gezeigten Einzelszenen, Wendungen und Krisen der Be-ziehung und die Konstanz der von der Ehefrau angebotenen empa-thischen Begleitung erscheint mir nicht idealisiert, sondern realis-

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tisch. Sie berücksichtigt auch alle bekannten Gegenübertragungs-reaktionen des Partners im Zusammenleben mit einer Person, diean einer akuten paranoiden schizophrenen Psychose leidet. Auchdie Beeinträchtigung sowohl seiner genialen mathematischen Fä-higkeiten als auch seiner Beziehungsfähigkeit durch die Neurolepti-ka wird nicht bagatellisiert, ebenso wenig die Gefahren des Wagnis-ses, es von einem gewissen Zeitpunkt an auch ohne Medikamentezu versuchen. Es wird auch nicht suggeriert, dass der späte berufli-che Erfolg bis zum Nobelpreis die Besserung beziehungsweise Hei-lung bewirkte. In Wirklichkeit verhält es sich wahrscheinlich umge-kehrt. Dass Drehbuchautor und Regisseur sich zeitweise (mankönnte auch sagen, notwendigerweise) horrorhafte Entgleisungenund krimiartige Verfolgungsjagden erlaubt haben, kann dem Filmim Hinblick auf die sonstigen Vorzüge »verziehen« werden.

Das gilt nicht nur für die uns hier wichtigen psychodynamischenAspekte. Dietmar Dath von der FAZ etwa schreibt: »Alle Schwächendes Films werden über der hochanständigen Kapitulation vor sei-nem Thema verzeihlich: Die alberne, Nashs fieberndem Hirn zuge-schriebene Agentengeschichte, welche noch einmal die ganze käsigeDämonie des Kalten Krieges mit Gehirnwäsche, Bomben und Co-de-Knackereien aufwärmt, die grobe Umsetzung von fixen Ideen alsGespenster, die wüste Verherrlichung allein selig machende Zwei-samkeit, bei der die heilende Hand der treuen Frau die Rolle einessäkularisierten Herz-Jesu-Wunders spielt – wen kümmert das alles,wenn Crowes Nash dafür Gelegenheit erhält, einen ganzen Filmlang nichts anderes zu tun, als zu denken?« Darin sieht also dieserKritiker eine Art philosophisch-ästhetischen Wert des Films undhat vielleicht von seinem Standpunkt auch Recht.

Wir interessieren uns hier mehr für die psychodynamisch rele-vanten Inhalte: Alles in allem kann man auch von unserer Perspek-tive aus einigermaßen zufrieden sein. Sowohl der Mensch JohnNash als auch seine psychotische Störung werden vorsichtig undmit Respekt und wenigstens teilweise mit einem richtigen psycho-dynamischen Verständnis behandelt und begleitet.

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Abschließende Überlegung und eine daran anknüpfende Arbeitshypothese

Es ist bemerkenswert, dass, obwohl psychotische Menschen lautStatistik nicht auffällig häufig in der Realität massiv destruktiv be-ziehungsweise verbrecherisch werden, in Filmen, die sich thema-tisch mit Psychosen beschäftigen, horrorhafte Morde und sonstigeVerbrechen oft von den Betroffenen begangen werden. Das brauchtnicht auf eine absichtliche Verzerrung durch das Produzieren vonfiktiven Szenarien zurückzuführen zu sein. Es könnte sich lediglichum eine Selektion solcher Biographien und sich darauf stützendeDrehbücher handeln, die durch ein solch explosives, unkontrollier-tes und wildes Agieren besonders dazu geeignet sind, das kommer-ziell nutzbar Horrorhafte als auch das tiefsinnig philosophisch-äs-thetische Interessante zu ermöglichen.

Solche gleichsam eigennützige Motive des Filmdramaturgen undRegisseurs reichen aber meiner Meinung nach nicht aus, diese ein-seitige Selektion zu erklären. Man muss auch herrschende Stereoty-pien berücksichtigen. Diese gehen davon aus, dass bei dem psycho-tischen Menschen die bis dahin verdrängten und verleugnetenaggressiv-destruktiven Impulse durch die Psychose nicht nur an dieOberfläche gelangen, sondern nunmehr auch durch die ebenfallspsychotisch bedingte Ungehemmtheit und den Kontrollverlust zumrealen destruktiven Agieren führen. Diese Überzeugung ist sehrwahrscheinlich falsch! Es ist nicht die als eine unbegreifliche, dämo-nische Macht hypostasierte Psychose, die dies tut. Im Gegenteil, diePsychose ist der – freilich pathologische – Versuch, gerade die da-hinter stehenden gewaltigen Gegensätze und Dilemmata durch sichin der Phantasie abspielende Szenarien und unter Vermeidung einesrealen destruktiven Agierens zu »lösen«. In den wenigen Fällen, beidenen es dann doch zu einer realen Destruktivität kommt, hatgleichsam die Psychose in ihrer Funktion versagt! Das ist ähnlichwie bei unseren allnächtlichen »normalen Psychosen«, nämlich denTräumen, die ebenfalls durch Projektionen in einer nur phantasier-ten Welt eine Kompensation oder eine Lösung suchen. Wenn diesdem Traumdramaturg und -regisseur nicht gelingt, so werden wirwach; diese Traumfunktion konnte in solchen Fällen nicht erfülltwerden. Bei den meisten Träumen werden wir aber nicht wach, dasheißt, die dramaturgische Arbeit für die Befriedigung des Aus-drucksbedürfnisses ist gelungen.

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Aufgrund ähnlicher Überlegungen in Bezug auf die höchste undschrecklichste Form realer Destruktivität, nämlich den Krieg, habeich die Formulierung gewagt: Kriege sind – leider! – keine Psycho-sen! (Mentzos 2004, S. 75). Wären die Kriege nämlich Psychosen, sowürde das Schreckliche quasi nur in der Phantasie externalisiert,beim Krieg aber handelt es sich um reale Grausamkeiten.

Ich gehe also davon aus, dass Psychosen – obwohl grob patholo-gische – Versuche der Verarbeitung und Lösung massiver intrapsy-chischer Gegensätzlichkeiten sind (auch wenn sehr wahrscheinlichdiese Art der Verarbeitung und des Lösungsversuchs durch be-stimmte biologische Gegebenheiten gefördert oder vielleicht aucherst möglich wird). Real und eben nicht in der Phantasie agierterMord und sonstige Destruktivität finden wir also in den relativ we-nigen Fällen, bei denen diese Funktion der Psychose versagt hat. Ei-ne solche Auffassung würde die Seltenheit von real destruktivemAgieren psychotischer Menschen erklären als auch unsere Einstel-lung ihnen, ihren zentralen Problem und ihrer Tragik gegenüber er-heblich vertiefen und, nebenbei gesagt, vielleicht auch Filmemacherdazu veranlassen, sich mit diesen hinter den psychotischen Lösungs-versuchen liegenden zentralen Gegensätzlichkeiten, die den psycho-tischen Menschen zu zerreißen drohen, zu beschäftigen und siedann auch in geeigneter Form filmisch darzustellen.

Literatur

Dath, D. (2002): Im Spukhaus des reinen Denkens. FAZ 27. 02. 2002. Mentzos, S. (2002): Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen.

Göttingen.Zeul, M. (2005): Zeul, M. (2005): Augenmaske. Psychoanalytische Me-

thode als Filmanalyse am Beispiel des Blickes im Film »Die barfüßigeGräfin«. Psyche – Z. Psychoanal. 59: 431–443.

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I.

Der Film »Spider« (2002) des kanadischen Regisseurs David Cro-nenberg1 nach dem Roman von Patrick McGrath ist zweifellos einhervorragendes und eindrucksvolles Beispiel für die Thematik»Film und Psychose«. In diesem Film geht es um einen schwer ge-störten, chronisch psychotischen Mann, der nach über zwanzigJahren aus der Anstalt für psychisch kranke Straftäter in eine ArtÜbergangswohnheim entlassen wird, das in seinem früherenWohnbezirk gelegen ist, in dem er in der Kindheit mit seinen Elternlebte. Die Wiederbegegnung mit diesen Örtlichkeiten mobilisiertseine traumatischen Erinnerungen, die um den Mord an seinerMutter kreisen und die schließlich zu einem Aufflackern seinerpsychotischen Symptomatik führen mit erneuter und wahrschein-lich endgültiger Einweisung in die Psychiatrie. Das besondersEindrucksvolle des Films scheint mir darin zu liegen, dass es demRegisseur gelingt, die konflikthafte innere Welt dieses vereinsamtenund verzweifelten Mannes visuell nachvollziehbar und verständlichzu machen und damit die Fremdheit der psychotischen Symptoma-tik ein Stück aufzuschlüsseln, um damit auch dem Zuschauer daseigene Fremde und »Verrückte«, falls er sich auf den Film einlassenkann und die Identifizierung mit dem Protagonisten nicht abweh-ren muss, etwas näher zu bringen.

Wie kann man sich einem solchen Film aus psychoanalytischerSicht nähern? Das gegenwärtige Interesse der Psychoanalytiker amFilm weitet sich in verschiedene Perspektiven aus. Davon möchte

1 Frühere Filme von Cronenberg sind unter anderem »Dead Ringers«,»Naked Lunch«, »Die Fliege« und »eXistenZ«.

Ralf Zwiebel

Das Dilemma des Denkens

Anmerkungen zum Film »Spider« von David Cronenberg

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ich einige nur kurz erwähnen: die Psychoanalyse des unmittelbarenFilmerlebens (z. B. Zeul 2005), die analytisch orientierte Filminter-pretation (deren methodische Probleme bislang nicht ausreichendausgearbeitet sind), psychoanalytische Filmbetrachtung als Verste-henshilfe für den Laienzuschauer (wie sie sich in den zunehmendauf Interesse stoßenden öffentlichen Filmvorführungen mit Analy-tikern dokumentiert), der Dialog mit den Filmwissenschaftlern(wie er beispielhaft in den Mannheimer Tagungen von Peter Bärund Gerhard Schneider praktiziert wird) und der Dialog zwischenFilmkünstlern und Psychoanalytikern (wie er eindrucksvoll in denvon A. Sabbadini organisierten europäischen Filmtagungen in Lon-don zu erleben ist, z. B. Sabbadini 2003).2 Diese letzte Perspektiveerscheint mir besonders interessant, wenn man davon ausgeht, dassFilmkünstler und Psychoanalytiker mit ähnlichen und vergleichba-ren zentralen Thematiken und Problematiken des menschlichen Le-bens befasst sind, sie jedoch aus ihrer jeweils unterschiedlichenkünstlerischen und klinischen Perspektive darzustellen und zu ver-stehen versuchen. Lassen sich Filmkünstler und Psychoanalytikerauf einen echten Dialog ein, können sie bei der notwendigen Be-grenztheit ihrer jeweiligen eigenen Perspektive durch den Anderengerade die Aspekte vertiefen, die in ihrem eigenen Ansatz mög-licherweise bislang unverstanden oder ausgeblendet blieben. Als einBeispiel erwähne ich den Film »Vertigo« von Hitchcock, den manaus analytischer Perspektive als einen relativ typischen Angsttraumdes Analytikers verstehen kann, oder den Film »Dekalog IV« despolnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski, der einen Aspekt derödipalen Problematik aufgreift, der in der klinischen Theorie erst injüngster Zeit intensiver diskutiert wird (Zwiebel 2003, 2005). Indiesem Sinn möchte ich Cronenbergs Film »Spider« betrachten unddie These vertreten, dass bei aller Komplexität und subtilen Dichte

2 Gabbard betrachtet die Thematik von »Film und Psychoanalyse« als an-gewandte Psychoanalyse und beschreibt insgesamt sieben Perspektiven,unter denen Filme aus psychoanalytischer Sichte betrachtet werden kön-nen (die Beschreibung kultureller Mythologien, die biographischenAspekte des Filmregisseurs, die Reflexion von universellen, krisenhaf-ten Entwicklungen, die Beziehung von Film und Traum, die Analysedes betrachtenden Zuschauers, die Anwendung von psychoanalytischenKonzepten durch den Regisseur und die psychoanalytisch orientierteCharakteranalyse). Psychoanalytische Filmbetrachtung setzt nach seinerAuffassung einen multidimensionalen Blick voraus (Gabbard 2001).

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dieser meiner Ansicht nach meisterhafte Film gerade auch einenAspekt der gegenwärtigen, modernen psychoanalytischen Theoriespiegelt, der bislang nur in einigen theoretischen Ansätzen zentraleBeachtung fand, aber wahrscheinlich in Zukunft die klinische Ar-beit und die wissenschaftliche Diskussion zunehmend bestimmenwird. Um diese Überlegung zu verdeutlichen und vor allem nach-vollziehbar zu machen, werde ich dem Film in seinen einzelnen Sze-nen etwas genauer folgen und meine psychoanalytische Diskussiondaran anschließen.

II.

Titel und Vorspann

»Spider« ist sowohl der Titel des Romans von McGrath als auch desFilms von Cronenberg in seiner englischen und deutschen Fassung.Er spielt auf den Spitznamen des Protagonisten Dennis Cleg an, derihn von seiner Mutter bekommen hat. Der Name »Spider« ist na-türlich eine metaphorische Anspielung, weil er sich nicht nur aufdie spinnenartige Gestalt des jungen Dennis, sondern vor allemauch auf die innere Struktur der Beziehung zu seiner Mutter, aberwohl auch auf die Struktur seines Denkens bezieht: Dennis Cleghat, wie der Zuschauer immer mehr nachvollziehen wird, sich insein eigenes Denken »eingesponnen«, ist in der Tat wie in einemSpinnennetz gefangen, das tödliche Dimensionen bekommt. Inso-fern könnte man den Protagonisten auch als »Spinner« in diesemdurchaus mehrdeutigen Sinn bezeichnen, wenn dies nicht gleichzei-tig eine abwertende Konnotation hätte. Und auch das zentrale,traumatische Ereignis, nämlich der reale oder phantasierte Mord anseiner Mutter, wird mit spinnenartigen Mitteln ausgeführt, nämlichmit einem Netz von Schnüren und Seilen, mit dem er sein Zimmerüberzogen hat und mit deren Hilfe er seine Mutter mit Gas vergif-ten wird. Eine mit diesem Muttermord in Zusammenhang stehendezentrale Thematik des Films wird im Vorspann sogleich angespro-chen: Zu einer sehnsuchtsvollen, volksliedartigen Musik blicken wirauf die Leinwand mit abstrakt wirkenden Mustern, die auf den ers-ten Blick Assoziationen mit Rorschach-Bildern auslösen, aus denenunvermeidlich plötzlich Gesichter oder Figuren auftauchen, vondenen man nicht weiß, ob man sie selbst hineinprojiziert oder ob

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sie dort draußen auf der Leinwand »wirklich« vorhanden sind. Ausder Kenntnis des Romans kann man vermuten, dass diese Bilder diefleckige, alte Tapete in Spiders Kinderzimmer repräsentieren, in dieer seine innere Welt oft genug hineinprojizierte. Phantasie und Rea-lität, Projektion und Erinnerung, Wahn und Wirklichkeit, Innenund Außen: Dies ist wohl eine zentrale Thematik des Films.

Mr. Cleg

Dennis Cleg (eindrücklich von Ralph Fiennes dargestellt), ein ge-brochener und tief verstörter Mann mit einem abgerissenen Mantelund einem schäbigen Koffer als seinem einzigen Hab und Gut, ver-lässt mit ängstlichen und verlangsamten Bewegungen einen Zug,der ihn aus der Anstalt nach London gebracht hat. Als Zuschauerverfolgen wir seinen Weg durch ein verlassenes Londoner East Endbis zu seinem neuen Wohnort, einem Wohnheim für psychischKranke, das von einer Mrs. Wilkinson geleitet wird, einem müt-terlichen Drachen, vor deren energischen Zugriff er sich sogleicherschreckt zurückzieht. In seinem armseligen Zimmer, mit einemstillgelegten Gaskamin und einem Blick auf das nahe gelegene Gas-werk wird er von einem quälenden Gasgeruch überfallen, den ernicht genau lokalisieren kann: Kommt er aus dem Kamin, vondraußen oder gar aus seinem eigenen Körper? Als Zuschauer be-trachten wir diesen verzweifelten Menschen mit seinen tastendenSchritten in eine ihm fremde, aber, wie wir sogleich begreifen wer-den, doch aus seiner Vergangenheit vertraute Welt. Gleichzeitig las-sen sich diese Szenen als ein Bild seiner inneren Welt begreifen,denn man spürt tiefste Verlassenheit, Angst und Verzweiflung, eineLeere, ja fast eine Welt ohne innere lebendige Objekte. Mr. Cleg er-scheint selbst wie eine »tote Seele«, wie die Mitbewohner der Pensi-on im Roman genannt werden.

Das Notizbuch

Nachdem er seinen Koffer mit dem chaotischen Inhalt ausgepackthat, bleibt ein altes, zerfleddertes Notizbuch als offenbar wertvolls-ter Besitz übrig, für das er sogleich einen sicheren Ort finden will: ineinem Schubfach unter einer Zeitung oder schließlich in einer Eckeunter dem zerschlissenen Teppich. Seine ersten Erkundungen dernäheren Umgebung führen ihn durch die menschenleere, verlasse-

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