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Marc Weinhardt (Hrsg.) Psychosoziale Beratungs- kompetenz Pilotstudien aus der Arbeitsstelle für Beratungsforschung

Psychosoziale Beratungs- kompetenz

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Marc Weinhardt (Hrsg.)

Psychosoziale Beratungs- kompetenzPilotstudien aus der Arbeitsstelle für Beratungsforschung

Der Band publiziert Pilotstudien zum Kompetenzerwerb in der psychosozialen Beratung, die an der Arbeitsstel-le für Beratungsforschung entstanden sind. Die Studien sind durch ein gemeinsames Strukturmodell psychoso-zialer Beratungskompetenz gerahmt und fokussieren unterschiedliche Aspekte von Lehr-, Lern- und Bildungs-prozessen angehender Fachkräfte. Dabei kommen vor allem frühe Kompetenzerwerbsstadien und das Bera-tungslernen an der Hochschule in den Blick. Zu diesem Fragenkomplex liegen bisher nur sehr wenige empirische Studien vor.

www.juventa.deISBN 978-3-7799-3271-0

Marc Weinhardt (Hrsg.) Psychosoziale Beratungskompetenz

Marc Weinhardt (Hrsg.)

Psychosoziale Beratungskompetenz Pilotstudien aus der Arbeitsstelle für Beratungsforschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2015 Beltz Juventa · Weinheim und Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim www.beltz.de · www.juventa.de

ISBN 978-3-7799-4155-2

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Inhalt

Marc Weinhardt Einleitung 9 Felicitas Lauinger Beraten lernen?! Biographisch-informelle Einflüsse auf Lern- und Bildungsprozesse von Studierenden während Studium und Beratungspraktikum 18 Barbara Stauber Kommentar zum Beitrag von Felicitas Lauinger 40 Katharina Harter Lern- und Bildungsprozesse von Studierenden – eine objektiv-hermeneutische Analyse 42 Gunther Graßhoff Kommentar zum Beitrag von Katharina Harter 66 Philipp Szeteli Die Nutzung von Simulationsklienten im Rahmen einer innovativen Lehrveranstaltung zum Erwerb von Beratungskompetenz 68 Wolfgang Widulle Kommentar zum Beitrag von Philipp Szeteli 101 Deborah Blessing Selbsteinschätzung und Vorerfahrung: Ein Vergleich zwischen Bachelor- und Diplomstudierenden hinsichtlich des Erwerbs von Beratungskompetenz 104 Eberhard Bolay Kommentar zum Beitrag von Deborah Blessing 122

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Marie-Theres Pooch Kompetenzempfinden in der psychosozialen Beratung: Entwicklung und Validierung eines standardisierten Inventars zur Erfassung beraterischer Selbstwirksamkeit (TIBS) 124 Petra Bauer Kommentar zum Beitrag von Marie-Theres Pooch 150 Die Autorinnen und Autoren 153

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Vorbemerkung

Der vorliegende Band dokumentiert sowohl einzelne Studien als auch die Entwicklung des zugehörigen Forschungs- und Entwicklungskontextes, nämlich der Arbeitsstelle für Beratungsforschung: Was 2007 als kleines Pro-jekt, damals noch unter der Leitung von Maja Heiner und mir, begann, hat sich im Laufe der Zeit gefestigt und ausdifferenziert. Die Arbeitsstelle für Be-ratungsforschung hat sich zu einer Netzwerkstruktur entwickelt, in der un-terschiedliche KollegInnen mitarbeiten und deren Kern derzeit die Evange-lische Hochschule Darmstadt und die Abteilung Sozialpädagogik der Universität Tübingen darstellen.

Der Text erscheint mit einigen Verzögerungen. Sie sind zum einen den üblichen Widrigkeiten des Wissenschaftssystems geschuldet – Stellenwech-sel, Berufungsverfahren und dergleichen mehr. Zum anderen liegen sie aber auch in der Sache selbst begründet: Das Thema Beratungskompetenzerwerb hat in den letzten Jahren enorm an Fahrt aufgenommen und mich mehr als geplant beschäftigt. Was in Form von Pilotstudien angedacht und durchge-führt war, wurde rasch nachgefragt, weiterentwickelt, in andere Zusammen-hänge eingebracht etc.

Dass das Buch nun vorliegt, ist vielen KollegInnen zu verdanken: Allen voran natürlich den AutorInnen und KommentatorInnen. Ermöglicht, mit-getragen und weiterentwickelt haben jedoch noch wesentlich mehr Men-schen, denen ich herzlich danken möchte: Petra Bauer, die zusammen mit Anke Züricher seit meiner Berufung nach Darmstadt den Tübinger Teil der Arbeitsstelle verantwortet, Augustin Kelava für seinen wertvollen Beitrag im Rahmen der derzeitigen Auswertung des auf ca. 500 Videografien angewach-senen KES-Datensatzes, Caterina Gawrilow und Wolfgang Widulle für ihr Engagement, um KES in weiteren Studiengängen zu implementieren und meinen Darmstädter Kollegen Heino Hollstein-Brinkmann, Andreas Schröer und Michael Vilain für die freundliche Aufnahme des Arbeitsstel-lenkonzeptes an der EHD und schließlich Janina Baaken für die Mithilfe bei der Erstellung des Manuskriptes.

Darmstadt und Tübingen, Januar 2015 Marc Weinhardt

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Marc Weinhardt

Einleitung

1. Zum Kontext des vorliegenden Bandes

Der vorliegende Sammelband bündelt Pilotstudien zum Beratungskompe-tenzerwerb, die an der Arbeitsstelle für Beratungsforschung entstanden sind. Diese Arbeitsstelle wurde 2007 auf Initiative von Maja Heiner und des Her-ausgebers des vorliegenden Bandes mit dem Ziel gegründet, unter einer transdisziplinären Perspektive empirische und theoretische Beiträge zum Diskurs um psychosoziale Beratung zu leisten. Ursprünglich angesiedelt in der Abteilung Sozialpädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen, hat sich die Arbeitsstelle zu einer hochschulübergrei-fenden Struktur entwickelt, in der KollegInnen an unterschiedlichen Stand-orten mitarbeiten. Die hier publizierten Pilotstudien sind – trotz ganz unter-schiedlicher Anlagen – durch den gemeinsamen Entstehungskontext und ein zugehöriges Beratungskompetenzmodell vereint. Sie thematisieren sowohl grundlagenorientierte Fragen wie die Entwicklung und Evaluation von Ver-fahren und Instrumenten zur Erfassung von Beratungskompetenz (z. B. Nut-zung von SimulationsklientInnen im Rahmen hoch inferenter Videostudien, Online-Fallszenarien) als auch anwendungsbezogene Fragen, z. B. hinsicht-lich der optimalen Gestaltung von Lernumgebungen. Die Idee zu einem Sammelband entstand sehr rasch nach Vorliegen der durch ihn dokumen-tierten Einzeluntersuchungen aufgrund der intensiven Nachfrage nach den Ergebnissen unserer Studien. Das Thema Beratungskompetenzerwerb – vor allem in frühen Lern- und (Aus)bildungsphasen – hat dabei seit dieser Zeit noch weiter an Bedeutung gewonnen, auch und gerade durch die Verände-rungen im Zuge der Bologna-Reformen. Dieses bis heute anhaltende Inte-resse zeigt sich auch daran, dass alle der hier vorgestellten Pilotstudien in größere Forschungs- und Entwicklungsprojekte gemündet sind, in denen die aufgeworfenen Fragen weitergehend bearbeitet werden.

Im Rahmen der Einleitung zu diesem Band soll nun das zugrundeliegende Beratungskompetenzmodell skizziert und darauf aufbauend ein Überblick über den Band erfolgen, in dem die Einzelstudien thematisch auf dieses Mo-dell bezogen werden.

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2. Ein Kompetenzmodell psychosozialer Beratung

Abbildung 1 zeigt das vorgeschlagene Kompetenzstrukturmodell psychoso-zialer Beratung. Es dient im Kontext der Arbeitsstelle für Beratungsfor-schung als wichtige theoriegestützte Heuristik zur Entwicklung von For-schungsfragen und der Analyse empirischer Befunde. Zugrundeliegend ist ein Verständnis psychosozialer Beratung als „[…] eine spezifische Form der zwischenmenschlichen Kommunikation: Eine Person ist (oder mehrere Per-sonen sind) einer anderen Person (oder mehreren anderen Personen) dabei behilflich, Anforderungen und Belastungen des Alltags oder schwierigere Probleme und Krisen zu bewältigen. Beratung umfasst Hilfen bei der kogni-tiven und emotionalen Orientierung in undurchschaubaren und unüberseh-baren Situationen und Lebenslagen. Sie unterstützt Ratsuchende dabei, Wahlmöglichkeiten abzuwägen, sich angesichts mehrerer Alternativen zu entscheiden oder aber Optionen bewusst offen zu halten. Beratung ermög-licht und fördert Zukunftsüberlegungen und Planungen […] und begleitet erste Handlungsversuche mit Reflexionsangeboten“ (Nestmann/Sickendiek, 2011). Ein solches Beratungsverständnis ist nicht an spezifische Settings ge-bunden, sondern in der Sozialen Arbeit sowohl als spezialisierte Tätigkeit (z. B. in der Beratungsstellenarbeit) als auch als Querschnittsaufgabe (z. B. in Tür-und-Angel-Beratungen, Hollstein-Brinkmann/Knab 2015) aufzufinden. Um dieser Auffassung psychosozialer Beratung gerecht zu werden, ist das Modell weder arbeitsfeld- noch methodenspezifisch konzipiert. Psychosozi-ale Beratung wird vielmehr als eine abgrenzbare Domäne Sozialer Arbeit ge-fasst, zu deren Verständnis Wissensbestände, performative Aspekte berateri-schen Handelns sowie die biographisch-personale Rahmung der handelnden Fachkräfte in Bezug zu setzen sind und in der deshalb Aspekte unterschied-licher Disziplinen integriert sind.

Der Mehrwert eines solchen Modells liegt darin, dass Beratung unmittelbar anschaulich als generalisierbare, eigenständige Handlungsform definiert wird und nicht nur als kleine Psychotherapie (z. B. als klientenzentrierte oder tiefen-psychologische Beratung) für leichte und mittelschwere Fälle oder als arbeits-feldspezifisches Spezialistentum (z. B. in der Schuldner-, Krisen- oder Schwan-gerschaftskonfliktberatung) erscheint. Um der domänenspezifischen Anlage gerecht zu werden, sind die einzelnen Bestandteile des Kompetenzmodells auf einer Ebene mit mittlerem Generalisierungsgrad angelegt. Eine weitere Abs-traktion würde die Gefahr bergen, lediglich ein sehr allgemeines Modell psy-chosozialer Arbeit zu erzeugen, eine weitere Konkretisierung hingegen eine sehr ausführliche Darstellung erfordern. Diese ist aber spätestens in der empi-rischen Forschung in der Auswahl der Operationalisierung der Konstrukte vorzunehmen. Im Folgenden werden deshalb die Elemente etwas präzisiert, um einen ungefähren Eindruck der domänenspezifischen Merkmale zu ver-

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mitteln. Die Trennung in die drei Sphären der biographischen Rahmenfakto-ren, des Wissens und des Könnens mit ihren zugehörigen Lernorten werden dabei sowohl in der Identifikation von Forschungsfragen als auch in der Ana-lyse und der Bilanzierung gefundener Ergebnisse besonders produktiv.

Abbildung 1: Beratungskompetenzmodell

Die erste Einflusssphäre beinhaltet Überzeugungen/Werthaltungen, motiva-tionale Orientierungen und Selbstregulationsfähigkeiten. Diese Faktoren werden für einen breiten Bereich psychosozialer Tätigkeiten, beispielsweise auch für das Lehrerhandeln im Rahmen der COACTIV-Studie (Baumert/ Blum/Brunner/Dubberke/Jordan/Klusmann 2009) als wichtige Einflüsse an-gesehen. Das Modell unterstellt, dass diese Faktoren in einer für Beratung notwendigen Ausformung nicht nur einen wesentlichen Einfluss auf die pro-fessionelle Handlungskompetenz haben, sondern vor allem auch in biogra-phisch-informellen Kontexten ihre individuelle Erstausprägung erhalten. Diese konzeptionelle Hereinnahme solcher bisweilen schwer fassbarer Fak-toren hat den Grund, dass Fachkräfte mit ihrer gesamten Person das Haupt-werkzeug menschlicher Veränderungsarbeit in der Sozialen Arbeit darstellen (Heiner 2007; Müller 2009; Galuske 2011). Hierzu gehören beispielsweise Fragen nach unterschiedlichen kognitiven Konzepten von Beratung und As-pekte von Motivation und Volition. So macht es einen bedeutsamen Unter-schied, ob Beratung z. B. primär als helfende, instruierende oder reflexive Handlungsform angesehen wird, welche epistemischen Überzeugungen (z. B. in Form von Mindsets, Dweck 2006) gegenüber menschlicher Verände-rungsarbeit in Anschlag gebracht werden, ob Aspekte von Selbstfürsorge und Psychohygiene handlungsleitend werden können oder ob im Sinne von

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Selbstregulation auch in herausfordernden Situationen, z. B. im Konflikt oder bei der Versuchung, KlientInnen eigene Norm- und Wertvorstellungen überzustülpen, die Fallverantwortung behalten und nach eigener Unterstüt-zung, z. B. in Super- oder Intervision, nachgesucht werden kann.

Der Bereich des Wissens stellt die zweite Einflusssphäre dar. Er unterglie-dert sich nochmals entlang der Unterscheidungen zwischen feldspezifischem Wissen, Interaktions-/Methodenwissen und diagnostisch-pädagogischem Wissen (Nestmann/Engel/Sickendiek 2011). Mit feldspezifischem Wissen ist gemeint, dass Beratungsfachkräfte z. B. einschlägige rechtliche Regelungen (bspw. bezüglich der Schweigepflicht) kennen, aber auch z. B. über Wissen hinsichtlich der Lebenslagen ihrer AdressatInnen oder der verhandelten be-raterischen Fragestellungen (z. B. über unterschiedliche Substanzen und de-ren Wirkungsweisen in der Suchtberatung) verfügen. Der Bereich des Inter-aktions- und Methodenwissens beinhaltet Kenntnisse in Interventions- und Gesprächsführungstechniken. Diagnostisch-pädagogisches Wissen schließ-lich umfasst z. B. die für Beratung relevanten Aspekte menschlicher Entwick-lung (und deren Abweichung) oder Wissen über psychiatrische Diagnosen im Kontext multiprofessioneller Zusammenarbeit. Auch für den Bereich des Wissens macht das Modell nicht nur theoriebasierte Vorschläge zur inhaltli-chen Bestimmung der Elemente, sondern spezifiziert auch den Hauptlernort, der hier im Bereich der institutionalisierten Bildung liegt, also vor allem ei-nem einschlägigen Studium und der darauf folgenden beraterischen Weiter-qualifikation in Fort- und Weiterbildungsinstitutionen.

Der letzte Bereich schließlich adressiert das Können, also den Performan-zaspekt beraterischen Handelns. Auch dieser Bereich ist nochmals in drei Teile untergliedert und definiert jeweils einen sozialen, zeitlichen und sach-lichen Aspekt. Die soziale Dimension lässt sich im Sinne einer Balancier- fähigkeit zwischen Aktivität und Passivität (z. B. in der Fähigkeit, stille KlientInnen zu animieren und lebhafte oder aggressive KlientInnen zu struk-turieren) oder einem gelingenden Umgang mit Konflikten beschreiben. Der zeitliche Aspekt umfasst die Strukturierung von einzelnen Beratungssitzun-gen, aber auch des Gesamtprozesses in seiner Aneinanderreihung von Ter-minen. Und schließlich beschreibt der sachliche Aspekt z. B. die Fähigkeit zur Auswahl der für einen Fall angemessenen Techniken, Methoden und Set-tings. Auch für den Bereich des Könnens gibt das Modell den angenomme-nen Hauptlernort an, der hier in der (übenden) Praxis und den dort stattfin-denden Routinisierungsprozessen liegt.

In nicht wenigen Kompetenzmodellen wird eine postulierte Verbindung zwischen Wissen und Können mitmodelliert, z. B. unter der Annahme der Prozeduralisierung als gerichtete Verbindung zwischen Wissen und Können oder in Form einer zirkulären Schleife zur Verdeutlichung stellenweise hoch impliziter Lernprozesse auf professionstheoretischer Basis (Neuweg 2007;

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Gigerenzer 2007; Schön 1983). Das hier vorgeschlagene Modell bleibt an die-ser Stelle in seiner Anlage als Strukturmodell zunächst bewusst sparsam. Dies hat den Grund, dass Erkenntnissen aus der Expertiseforschung folgend an-genommen werden muss, dass gerade die Relation von Wissen und Können ein dynamischer Prozess ist, dessen Modellierung eine eigenständige Frage-stellung darstellt und deshalb ein eigenständiges Modell erfordert (einen ers-ten Vorschlag dazu macht Abbildung 2). Entlang der gängigen Annahmen der Expertiseforschung (Dreyfus/Dreyfus 1980, Strasser 2006) ist nämlich auch beim Beratungslernen anzunehmen, dass in frühen Kompetenzer-werbsstadien (in der Sprache der Expertiseforschung bei NovizInnen) von der Herausbildung einer zunächst einfachen Wissensbasis, die Handeln di-rekt instruieren kann, auszugehen ist. In der dauerhaften, lernenden und bil-denden Beschäftigung mit den domänenspezifischen Inhalten – das sind be-zogen auf Beratung vor allem Lernformen die Fallarbeit, Wissensvermittlung und Reflexion integrieren – kommt es dann bei fortgeschrittenen Anfänge-rInnen und beginnend kompetenten BeraterInnen zur zunehmend rekursi-ven Bezugnahme von Wissen und Können. D. h. die Zunahme an Können verändert die Wissensbasis in spezifischer Weise, bis schließlich bei Errei-chen beraterischer Expertise eine amalgierte Form von Wissen und Können vorliegt, die weitgehend implizit ist.

Abbildung 2. Mögliche Veränderungen über die Zeit im Verhältnis von Wissen und Können

Die Beschäftigung mit solchen spezifischen Veränderungen über längere Zeitabschnitte hinweg ist in einigen der in diesem Band dargestellten Studien schon explizit angelegt (z. B. in der Längsschnittstudie BKIL) und wird in derzeitigen und zukünftigen Untersuchungen noch weiter vertieft.

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3. Überblick über den Band

Die ersten beiden Untersuchungen von Felicitas Lauinger und Katharina Harter in diesem Band fokussieren Fragestellungen im Projekt BKIL (Bera-tungskompetenz im Längsschnitt). BKIL ist ein transdisziplinäres For-schungs- und Entwicklungsprojekt und vereint eine Lehr- und eine For-schungskomponente. Die Lehrkomponente stellt auf Professionalisierung durch Erwerb und Reflexion von Beratungsmethoden ab. Teilnehmende Stu-dentInnen im BA Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpädagogik haben die Möglichkeit, das vorgesehene Blockpraktikum im vierten Semester durch ein kontinuierliches, studienbegleitendes Praktikum vom ersten Se-mester an zu ersetzen. Dieses Praktikum wird an einer eng kooperierenden Praxisstelle abgeleistet, die E-Mail-Beratung für Jugendliche und junge Er-wachsene in Lebenskrisen und bei Suizidgefahr anbietet. Die Form der On-lineberatung wurde aus didaktischen Gründen gewählt (Weinhardt 2009, 2013, 2014), da in diesem Setting nach Absolvierung einer 60-stündigen be-raterischen Grundausbildung an der Praktikumsstelle von Beginn des Studi-ums an echte Beratungsfälle unter dauernder Supervision erfahrener päda-gogisch-therapeutischer Fachkräfte bearbeiten werden können. Das Setting erlaubt das Üben und Lernen am Fall vom Studienbeginn an, da am Anfang der Tätigkeit keine Beratungsantworten ohne intensive Durchsicht, Refle-xion und Korrektur abgeschickt werden. Aus Sicht der Expertiseforschung ergeben sich so die wichtigen Bedingungen von „reflecting in action“ und „reflecting on action (Boshuizen 2004, S. 91) innerhalb eines ethisch1 vertret-baren Rahmens. In einem zweimal je Semester stattfindenden Praktikums-kolloquium werden zusätzlich kontinuierlich Fragen der Studiengestaltung und der Entwicklung und Reflexion der Handlungskompetenz thematisiert. Von diesem gezielt gestalteten Lern- und Bildungsarrangement erhoffen wir uns Antworten auf die Fragen, wie und ob sich professionelle Fachlichkeit entlang einer gezielten Methodenausbildung entwickeln lässt, die sich später aus diesem „prozessorientierten Lern- und Bildungslabor“ heraus angemes-sen verallgemeinern lassen. Die Forschungsperspektive adressiert dabei das Thema Beratungskompetenzerwerb durch zwei Instrumente: Biographische Interviews in den Semestern zwei, vier und sechs sowie ein Fallszenario in

1 Ethische Fragestellungen der Gestaltung kompetenzorientierter Lern- und Bildungs-angebote sind aus Sicht des Autors bisher zu wenig als Problem thematisiert. So kann als gesichert angenommen werden, dass auch und vor allem BeratungsanfängerInnen von unmittelbarer Fallarbeit unter gesicherten Bedingungen profitieren. In vielen Fäl-len unklar ist jedoch, wie diese (unabhängig von finanziellen und organisatorischen Problemen) hergestellt werden können.

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den Semestern eins, drei und fünf. Das Fallszenario besteht aus standardi-sierten E-Mail-Beratungsfällen mit überschaubarem Schwierigkeitsgrad, die aus Originalfällen generiert wurden. Die Antworten der Studierenden wer-den inhaltsanalytisch codiert. Die biographischen Interviews sind narrativ angelegt und werden sequenzanalytisch (Oevermann 2004) ausgewertet. Die Untersuchungen von Felicitas Lauinger und Katharina Harter nehmen dabei im Rahmen von Einzelfallstudien das durch die narrativen Interviews ge-wonnene Datenmaterial in den Blick und fokussieren mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auf den Zusammenhang von Biographie, Bildung und den allgemeinen und spezifischen Strukturgesetzlichkeiten des BKIL-Lernar-rangements. Die beiden Studien werden jeweils im Anschluss durch Kom-mentare von Barbara Stauber und Gunther Graßhoff aufgenommen, poin-tiert und gerahmt.

Philipp Szeteli nimmt mit seinem Beitrag zur Nutzung von Simulations-klientInnen Datenmaterial aus der Studie KES (Kompetenzerwerb in der Sys-temischen Beratung) in den Blick. Das Projekt KES (Kompetenzerwerb in der Systemischen Beratung) adressiert Fragen nach Eingangsvoraussetzun-gen und Effekten von Methodenveranstaltungen. Auch dieses Projekt ver-steht sich als transdisziplinärer Zugang zu Lehr-/Lernprozessen und beinhal-tet eine Lehr- und eine Forschungskomponente. In der Lehrkomponente absolvieren teilnehmende StudentInnen ein Kompaktseminar zu systemi-scher Beratungskompetenz im Rahmen von Lehrveranstaltungen zur über-fachlichen Qualifikation. Das Seminar beinhaltet zwei Übungsgespräche mit ausgebildeten SimulationsklientInnen, die prototypische Beratungsfälle aus der Sozialen Arbeit darstellen. Ein Kompaktwochenende dient der fertig-keitsorientierten Vermittlung systemischer Beratungskompetenz auf Grund-lage der in den Gesprächen mit den Simulationsklienten gemachten Erfah-rungen. Philipp Szeteli stellt in seiner Studie ein hoch inferentes Verfahren zur Erfassung von Beratungskompetenz und darauf aufbauend erste statisti-sche Ergebnisse zu Effekten dieser Art des Beratungslernens vor. Sein Beitrag wird im Anschluss von Wolfgang Widulle kommentiert.

Deborah Blessings Text steht ebenfalls im Kontext der KES-Studie. Sie fo-kussiert in ihrer qualitativen Untersuchung auf die Selbsteinschätzung von Vorerfahrung für das Beratungslernen im Vergleich zwischen BA- und Dip-lomstudierenden. Ihrer Auswertung liegen dabei leitfadengestützte Inter-views aus einer KES-Vertiefungsstudie zugrunde, in der TeilnehmerInnen in leitfadengestützten Interviews zu zentralen Dimensionen des Beratungsler-nens befragt wurden. Ihre Ergebnisse werden anschließend von Eberhard Bo-lay kommentierend in den Blick genommen.

Marie-Theres Pooch entwickelt und evaluiert in ihrer Studie ein Inventar zur standardisierten Erfassung beraterischer Selbstwirksamkeit (TIBS), das sie einer großen Stichprobe unterschiedlich weit erfahrener Beratungsfach-