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»Natürlich hatte das Mädchen schon immer gewußt, daßetwas mit ihr nicht stimmte ... « Sie war nicht nur nichtehelich geboren — sie war auch eine »Dreivierteljüdin«.Um sie vor den Rassengesetzen der Nazis zu schützen,unternimmt ihre Mutter, die Schriftstellerin ElisabethLanggässer, den verzweifelten Versuch, eine Adoption zuarrangieren. Fast ist die vierzehnjährige Cordelia gerettet,da erpreßt die Gestapo sie unter Androhung eines Hoch-verratsprozesses gegen ihre Mutter zu einer folgenschwe-ren Unterschrift. Der Weg durch die Hölle führt vonBerlin nach Auschwitz und vor die Augen des berüchtig-ten Dr. Mengele .. .

Cordelia Edvardson, geboren am i.Januar 1 929 in Mün-chen, lebte bis 1943 mit ihrer Mutter Elisabeth Langgässerin Berlin. 1943 kam sie mit einem »Judentransport« überTheresienstadt nach Auschwitz. Nach Kriegsende arbei-tete sie als Journalistin in Schweden. Während des Jom-Kippur-Krieges 1973 übersiedelte sie nach Israel. Für>Gebranntes Kind sucht das Feuer< erhielt sie 1986 denGeschwister-Scholl-Preis.

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Cordelia Edvardson

Gebranntes Kind sucht das Feuer

Roman

Deutsch von Anna-Liese Kornitzky

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Ungekürzte AusgabeSeptember 1989

B. Auflage Mai 2008

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.de

1984 Bromberg, StockholmTitel der schwedischen Originalausgabe:

>Bränt barn söker sig till elden<© 1986 der deutschsprachigen Ausgabe:

Carl Hanser Verlag, München • WienUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagfoto: O Neil FolbergGesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423 -1 i i 15 -1

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Meinen Müttern

Elisabeth LanggässerBerlin

Stefi PedersenStockholm

Sylvia KrownJerusalem

undmeinen Kindern

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Die Vergangenheit ist unsererBarmherzigkeit ausgeliefert.

Lars Gyllensten

Teil I

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Natürlich hatte das Mädchen schon immer gewußt,daß etwas mit ihr nicht stimmte.

Sie war nicht wie die anderen. Mit ihr war ein Ge-heimnis verknüpft, ein sündiges, schändliches, dunklesGeheimnis. Nicht ihre eigene Sünde und Schande,nein, sondern etwas, wozu sie geboren und auser-wählt, weswegen sie ausgesondert, abgesondert undabseits gestellt worden war.

Und darin fand sie ihren Stolz, um nicht zu sagen:ihren Hochmut. Ausgesondert, abgesondert und ab-seits gestellt worden sein, das hieß auch auserwähltsein! Auserwählt — wozu? Gewiß nicht dazu, die gol-dene, strahlende, edelsteinbesetzte Krone einer Prin-zessin zu tragen. Prinzessinnen waren gut, zart undblond mit blauen Augen. Das Mädchen wußte, daß siedas Gegenteil von einer Prinzessin war; ein dunkles,pummeliges, boshaftes und trotziges kleines Gör, daskeineswegs in einem verzauberten Garten wohnte,sondern in einer dunklen Wohnung in Berlin-Siemens-stadt. Oh, dieses frühe Dunkel!

Aber, tröstete sich trotzig das Mädchen, immerhintrug auch sie eine Krone, die Krone des Leidens, dieDornenkrone, die dem verliehen wird, der »ins Toten-reich hinabgestiegen« ist. Denn dies war ihr Auftrag,ihre Berufung, und wie so häufig bei einer echten Be-rufung kam sie früh, sehr früh. Und das Mädchen hör-te, sah und gehorchte. Sie, die die Macht und die Herr-lichkeit besaß, hatte zu ihr gesprochen.

Als das Mädchen noch ein hilfloses kleines Kind mitnachdenklichen, traurigen braunen Augen war, einemErbteil ihres jüdischen Vaters, pflegte die Mutter denKopf auf das Strickjäckchen über der Brust des Kindeszu legen, um Trost und Hilfe zu suchen. »Strickbrüst-

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chen« hieß dieser Ritus. Die Mutter, die alleinstehen -

de, die geplagte und von ihren Gesichten vergewaltig-te, las ihrem Kind ein Gedicht vor, ein kleines Liedvon den eisigen Winden der kalten, dunklen Weltdraußen, von dem Vögelchen, das im Nest Schutz un-ter den Fittichen der Mutter sucht, und von dem Kind,das geborgen in den Armen der Mutter liegt. Und dieMutter an der Brust des Kindes, denn das schuldlose,unschuldige Kind ist die Zuflucht der Mutter, ihreRettung und ihr Opferlamm. Wer stillte wen? Wersandte Proserpina aus, Blumen zu pflücken, die ihreLebenskraft aus der Erde des Totenreichs sogen? >Pro-serpina<, so hieß der erste Roman der Mutter, dieTochter las ihn nie, es war nicht nötig. Die Botschaftwar viel, viel früher empfangen worden.

Die Mutter nährten die eigenen Mythen, und durchdie Nabelschnur, die nie durchschnittene, nährten sieauch die Tochter. Proserpina und das Jesukind. Diekleine, pausbäckige Wachspuppe der Krippe als Herrund Erlöser der Welt, dieser schwindelerregende My-thos vom vernichtenden Sieg des Schwachen undWehrlosen über das Böse, über Verrat, Schmach undSünde — war es dieser Mythos, den die Mutter desMädchens durch die Tochter wiederbeleben und be-kräftigen wollte?

Wie sehr sie sich danach sehnte, dazuzugehören!Schon damals in Berlin-Siemensstadt, in der Woh

nung mit dem langen, dunklen Korridor, dem vertrau-ten Gefängnis des Mädchens. Hier wartete sie mit ihrer

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Mutter, ihrer Großmutter und dem Onkel, dem Bru-der der Mutter. Wartete worauf? »Dem du nicht ent-gehen kannst«, hätte eine Kartenlegerin geantwortet.Wartete auf den, der kommen und sie dorthin führenwürde, »wohin du nicht willst«. Unterdessen sitzt siein dem dunklen Korridor und dreht an einer kleinenSpieldose, da ist die Musik zu Ende, sie dreht kräfti-ger, wird wütend und dreht noch kräftiger, undplötzlich gibt es einen Knacks. Starr vor Schreckenbegreift das Mädchen, daß die Spieldose kaputt ist, siehat sie kaputtgemacht. Wahrscheinlich macht sie sichin die Hosen, das tut sie öfter. Die Großmutterkommt gelaufen und schimpft. Böses Kind! Die Spiel-dose sollte ein Geschenk für ein anderes Kind sein,und jetzt hat sie sie kaputtgemacht! Hatte das Mäd-chen dies gewußt? Hatte sie sie deshalb kaputtge-macht? Aber sie hatte es ja nicht gewollt, nicht ab-sichtlich getan. Oder?

Dies wird zu ihrer ersten bewußten Erinnerung.Täglich findet zwischen der Mutter und der Groß-

mutter das Tauziehen um das Mädchen statt, um dierichtige Methode, sie zu erziehen und zu behandeln.Der Onkel mischt sich in diesem Zwist der beidenwillensstarken Frauen klugerweise nicht ein. Bereitsals Kind hatte er gelernt, daß es für ihn so am bestenwar. Früh vaterlos, fügte er sich in die Frauenwelt derMutter, der Schwester und der verschiedenen Haus-töchter und paßte sich ihr ohne Proteste an.

»Haustöchter« waren junge Mädchen, die offenbareigens zu Nutz und Frommen feiner, jedoch minder-bemittelter Familien erfunden worden waren. Für einkleines Taschengeld gingen sie der Hausfrau zurHand und lernten angeblich etwas über die Führungeines besseren Haushalts. Warum man die angeknack-ste Familie des Mädchens für »fein« halten konnte,war allerdings schwer zu begreifen. Gewiß war der

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Großvater Baurat gewesen, aber davon gab es be-stimmt viele, und außerdem war er schon lange tot.Vorher hatte der Großvater aber noch seine wesentli-che Aufgabe zufriedenstellend zu erfüllen: die verlore-ne Ehre (oder Unschuld?) der Großmutter wiederher-zustellen. Als junges Mädchen aus gutbürgerlicher, ka-tholischer Familie war die Großmutter schwanger ge-worden. Die Familienchronik weiß zu berichten, daßder junge Kindesvater sie heiraten wollte, aber als nichthinreichend standesgemäß betrachtet worden war.Man zwang die Großmutter, ihren erstgeborenen Sohnheimlich zur Welt zu bringen und ihn adoptieren zulassen. Der Herr Baurat dürfte später allen als einHimmelsgeschenk erschienen sein und war mehr, alsman zu hoffen gewagt hatte. Unter den obwaltendenUmständen sah man, gezwungenermaßen, von derTatsache ab, daß er Jude war, und selbstverständlichkonvertierte er vor der Heirat. Als der Großvater ver-hältnismäßig früh aus dem Leben schied, hatte er derGroßmutter nicht nur zwei Kinder, einen Sohn undeine Tochter, geschenkt, sondern auch einen Platz imGehege der bürgerlichen Wohlanständigkeit.

Die Freude währte leider nicht lange. Die Tochtertrat in die Fußspuren der Mutter und wurde als neun-undzwanzigjährige, unverheiratete Lehrerin schwan-ger, obendrein durch einen verheirateten Mann undVater von drei Kindern. In dieser Familie scheint keineFrau eine Begabung zum fröhlichen Leichtsinn gehabtzu haben.

Diesmal wurde das Kind, ein Mädchen, weder weg-gegeben noch weggemacht, obwohl es dafür natürlichMöglichkeiten gegeben hätte. Die Großmutter und dieMutter beschlossen, der Welt, der Welt der Männer,zu trotzen, erkannten jedoch, daß sich dies leichter inder Großstadt Berlin bewerkstelligen ließ als in derrheinischen Kleinstadt, wo sie bis dahin gelebt hatten.

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Der Onkel, der Haupternährer der Familie, gehörtezum Umzugsgut.

Aber man entflieht oder entgeht weder dem Schand-pfahl im Fleisch (die Großmutter) noch dem Hades,wohin man durch die Töne von Pans Flöte geführt,verführt worden ist, zumindest nicht, bevor sich nichtein Orpheus offenbart hat (die Mutter). Während sichdie Großmutter in dem scharfen Gegenwind der ge-kränkten und geschändeten Bürgerlichkeit zeterndvorwärtskämpfte, wurde die Mutter zur Schöpferinund zum Opfer der Mythen. Vieler Mythen, vielerBilder, angefangen beim Gott, der seine eigenen Kin-der verschlingt, bis zum Gott am Kreuz.

Das Mädchen lebte und litt im Schnitt- und Brenn-punkt dieser Welten. Seele und Sinne des Kindes wur-den genährt durch die Visionen der Mutter, währenddie Großmutter sich des Körpers annahm, ihn über-fütterte und in häßliche Kleider und kratzende Woll-strümpfe mit Leibchen steckte — und heimlich dievollgepinkelten Höschen wusch. War das Mädchenkrank, wurde ihr Nachttisch vom Naschwerk derGroßmutter überschwemmt, das Kind war eine aus-geprägte Naschkatze, und kam die Mutter nachmit-tags heim, schalt sie die Großmutter, warf alle Süßig-keiten fort und schenkte der Tochter statt dessen eineBlume, eine einzige Rose. Die Vierjährige trauerteden Bonbons nach, wußte aber, daß die Rose das war,was sie zu lieben, zu ersehnen und zu wünschen hatte— auch wenn sie stach. So lernte das Mädchen, sichsowohl die trotzigen Siege der Großmutter über einenwiderspenstigen Alltag — »Iß noch was, mein Kind« —anzueignen und zunutze zu machen als auch die Ver-deutlichung und Gestaltung des Chaos', durch dieMutter. Die Lehren hatten ihren Preis, doch spätersollten sie dem Mädchen Rettung und Erlösung wer-den.

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Sie war ein einsames und ein, natürlich, frühreifesKind.

Für die Einsamkeit sorgte die Großmutter. Sie wolltenicht, daß das Mädchen mit den »schmutzigen undungezogenen« Kindern der Nachbarschaft spielte. Ge-wiß, der soziale Status der Gegend lag nur eine Sprossehöher als der eines gewöhnlichen Arbeiterviertels, dochder wahre Grund der Großmutter war selbstverständ-lich, daß das heimliche Gebrechen des Mädchens undder Familie durch den Kontakt mit anderen Kindernenthüllt und bloßgestellt werden könnte. Sie wollte ihrkleines Enkelkind, ihre Tochter und sich selbst vor derVerachtung und dem Hohn schützen, die sie ihrer eige-nen Überzeugung und Erfahrung nach treffen würden,sobald man ihr soziales Stigma aufdecken und demBetrachten und Begaffen preisgeben würde.

Nach dem Vater fragte das Mädchen nie, und seinName und seine Existenz wurden im Hause auch nieerwähnt. Falls sie überhaupt an ihn dachte, ihn suchte,dann in der Welt der Sagen, Märchen und Mythen,wohin er von der Mutter verbannt worden war. Ineinem Brief an eine Freundin beschrieb die Mutter denBeischlaf, bei dem sie schwanger geworden war, alsDanaes Begegnung mit Zeus im Goldregen.

Man bittet kaum darum, ein Foto von Zeus gezeigtzu bekommen.

Auch wenn das Mädchen manchmal von einem Le-ben phantasierte und träumte, in dem sie wie die ande-ren war, eine der anderen, eine, die vom Himmel zurHölle und umgekehrt hüpfte, eine, die Versteck spiel-te, wobei das Gefundenwerden Lachen und nicht Ent-setzen sein würde, so zog sie es zutiefst doch vor, aufall dies zu verzichten, um zur Stelle zu sein, als treueSchildwache oder standhafter Zinnsoldat auszuharren.

Um keinen Preis hätte sie auch nur eine der strahlen-den Gelegenheiten versäumen wollen, da die Mutter

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sich offenbarte, in ihr Leben eindrang. Im Zauberkreisder Mutter wurden die Welt und das Kind wirklichund lebendig. Das Wort wurde zu Fleisch in den Mär-chen, die die Mutter erzählte, in den Gedichten, die siebisweilen gemeinsam machten, selbst in den Abschnit-ten aus ihrem nächsten Roman, den die Mutter derVier- bis Fünfjährigen vorlas. Das Kind öffnete sich,wurde überschwemmt, erfüllt und berauscht von Ge-schmack und Duft, von Farbe und Form der Worte.Im späteren Leben des Mädchens bestätigte sich dieErfahrung, daß man von den Worten eines Gedichtsbuchstäblich leben und sich ernähren kann.

Der Boden war noch immer gefroren, und es war eisigkalt, wenn morgens die schneidenden Kommandorufein den fiebrigen Hungerschlaf des Mädchens drangen.»Los, los, raus, schneller!« Stöhnend erhob sie sichvon der Pritsche, stellte den Fuß vorsichtig auf dieKante der unteren Pritsche und spürte, wie der bren-nende Schmerz ihre erfrorenen Füße durchzuckte. Siekratzte die Läusebisse und Flohstiche unter den Lum-pen, die wegen der Kälte nie ausgezogen wurden undauch deshalb nicht, weil nichts zu zerrissen undschmutzig gewesen wäre, als daß man es nicht gestoh-len hätte. Dann zog sie das an, was von ihren Schuhenübriggeblieben war — nachts benutzte sie sie als Kopf-kissen — und taumelte halbblind zur Tür der Baracke.

Das heißt, das Mädchen glaubte all dies zu tun: siespürte den Schmerz in den Füßen, die Bisse und Stichedes Ungeziefers und hörte die Befehle. Sie sah und

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registrierte ihre eigenen Bewegungen, die langsam undverzögert waren wie in einem Zeitlupenfilm. Sie spürtedie unerhörte Schwere in jedem Glied und erfuhr dievolle Bedeutung des Ausdrucks, keinen Finger rührenzu können oder zu wollen. In Wirklichkeit blieb sie oftgenug so lange liegen, bis ein barmherziger Mithäftlingsie rausjagte, hinaus zum Appellplatz, zum Zählen. Pa-nik packte sie mit einem Würgegriff in dem eiskaltenAugenblick des schließlichen Erwachens, sie würde esnicht mehr schaffen, rechtzeitig dazusein, wo sind dieSchuhe, schnell, schnell. Das Mädchen wußte, daß dieGefangene, die sich die Mühe gemacht hatte, sie zuwecken, ihr vermutlich das Leben gerettet hatte — einLeben, auf das sie zu der Zeit zwar keinen größerenWert legte, dennoch genauso unausweichlich trug wieihre verlausten Lumpen.

Dann begann der Marsch zur Fabrik, wo die Häft-linge ein paar Wochen lang ihren Einsatz für die deut-sche Kriegsmaschinerie leisteten. Sie blieben nie länge-re Zeit am selben Ort. Da die Alliierten sich jetzt imVorfrühling 1945 von allen Seiten näherten, wurdendie Häftlinge, manchmal in Güterwagen, manchmal zuFuß, kreuz und quer durch Deutschland verfrachtet.Wo sie sich zur Zeit gerade befanden, wußte das Mäd-chen nicht genau, ebensowenig, daß die Befreiung sonahe war. Und hätte es ihr jemand gesagt, dann hättesie es kaum geglaubt oder sich gar nicht darum geküm-mert. Sie hatte ihren eigenen Traum von der Befreiung.Der Befreier, auf den sie wartete, von dem sie wußte,daß er in kurzer, kurzer Zeit zu ihr kommen werde, erschreckte vielleicht andere, doch nicht sie. Sie sehntesich danach, geborgen in seinem Schoß zu schlafen,schlafen, SCHLAFEN. Die Mutter hatte sie mit einemseltsamen Liebesmärchen von Matthias Claudius ver-traut gemacht, es hieß >Der Tod und das Mädchen<:

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Das Mädchen:Vorüber! Ach, vorüber!Geh, wilder Knochenmann!Ich bin noch jung, geh, Lieber!Und rühre mich nicht an.

Der Tod:Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!Bin Freund und komme nicht zu strafen.Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

O ja, schlafen zu dürfen, geborgen und sanft, im Schoßdes Todes, der Mutter.

Aber jetzt noch nicht. Jetzt marschierten sie zur Fa-brik, wo sie ihr tägliches Pensum, dünne Metallfädenin Glühlampen zu montieren, erfüllen mußten. Werdieses Soll nicht erfüllte oder minderwertige Arbeitleistete, wurde der Sabotage bezichtigt und auf derStelle erschossen — bestenfalls konnte man mit kahlge-schorenem Kopf davonkommen. Letzteres fand dasMädchen schlimmer, die endgültige Demütigung. Siewollte den Befreier mit ihren Haaren empfangen, auchwenn sie voller Läuse waren. »Du schön und zart Ge-bild. «

Aber sie war ja so schrecklich ungeschickt, hattezwei linke Hände, hieß es zu Hause immer, und dieGroßmutter pflegte die Handarbeiten des Mädchensheimlich fertigzumachen. Sie erinnerte sich an dieKreuzstichstickerei, die sie in der letzten Vorschul-klasse zu machen hatten, der kleine Stofflappen wurdeunter den fummeligen Bemühungen des Mädchens im-mer schmuddeliger, bis die Großmutter eine gelbe En-te mit rotem Schnabel darauf hervorzauberte. Hierkonnte ihr die Großmutter nicht helfen, aber ihrSchutzengel stand ihr bei. Sie wußte, daß er (sie?) es

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war. Niemand kam auch nur auf den Gedanken, daßdie ruinierten Glühbirnen, die sie ablieferte, den Ver-such eines heroischen Widerstandskampfes, den deut-schen Sieg zu sabotieren, darstellen sollte. Niemandbezweifelte ihre aufrichtigen Bemühungen, ihr Besteszu tun (etwas, das später auch ihrem umfangreichenSchuldenkonto zugerechnet werden sollte). Somit ge-schah ihr nichts Schlimmeres, als daß sie zum Scheu-ern der Abtritte beordert wurde. Und damit war sievollauf zufrieden und führte den Auftrag gewissen-haft aus.

Hier beim Abtrittscheuern traf sie Anna. Anna gehörtezu den deutschen Zivilarbeiterinnen der Fabrik undstammte aus Berlin, jetzt war sie in der Rüstungsindu-strie »dienstverpflichtet«. Das Mädchen wurde durchdie dunkellockige, grellgeschminkte Anna an dieDienstmädchen ihrer Familie erinnert, die immer sonett zu ihr gewesen waren, sie roch sogar nach demsel-ben aufdringlichen, stickigen Maiglöckchenparfum.Anna war sicherlich kein »feines Mädchen«, und gera-de deshalb und wegen der wilden Sehnsucht, die sie inihr wachrief, näherte sie sich ihr. (Tatsächlich war An-na während ihrer Berufsausübung auf den BerlinerStraßen von der Polizei aufgegriffen und zu dieser et-was milderen Form der Zwangsarbeit verurteilt wor-den.)

Flüsternd und sicherheitshalber im Berliner Dialektsprach das Mädchen Anna an — und Anna antwortete!Wollte wissen, wie das Mädchen hieß, wo sie in Berlin

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gewohnt hatte, wann sie ihre gemeinsame Heimatstadthatte verlassen müssen! Zum erstenmal seit langemwurde das Mädchen wahrgenommen und bei Namengenannt, wurde wieder Cordelia, Dela, aus Berlin-Eichkamp, begrenzt und vorhanden. Durch Anna.

Irgend jemand kam in den Abtritt, und die beidenverabredeten sich hastig für den nächsten Tag. Da be-kam das Mädchen von Anna ein Stück Brot und einStückchen kleinkarierten Flanell, das sie als Halstuchbenutzen konnte. Das Mädchen stand lange vor derfleckigen Spiegelscherbe des Abtritts und arrangierteden weichen Stoff, denn Anna hatte gesagt, die dunkel-blauen Schattierungen paßten gut zu den Augen desMädchens.

Natürlich stand Todesstrafe auf allen Kontaktenzwischen Häftlingen und Zivilarbeitern, doch Annahatte keine Angst, sie war vorsichtig und verschlagen,aber nicht ängstlich. »Die können mich mal. . .«‚ sagtesie und lachte übermütig. Das Mädchen hatte destogrößere Angst, und als nach ein paar Tagen ihr Trans-port weiterging, war es, trotz der Sehnsucht nach An-na, fast eine Erleichterung. Eine Zeitlang wurde dasMädchen von dem Bild der lachenden Anna begleitet,von dem Duft ihres Maiglöckchenparfums, und es gabdas weiche Tuch um ihren Hals.

Das Zählen beim Morgenappell geschah im harten, er-barmungslosen Licht der Bogenlampen, doch währenddes Marsches zur Fabrik, zu noch einer Fabrik, nocheinem Lager, umschloß die Frauen barmherziges Dun-

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kel. Der Weg führte über silberfrostgraue Wiesen undFelder, abgegrenzt und beschützt von einem dunklenWaldrand, Adalbert Stifters »schönem, deutschemWald«. Wie alle anderen hielt das Mädchen mecha-nisch den Marschtakt, LINKS, zwei, drei, vier, LINKS,

zwei, drei, vier, links, links ... Aber in ihrem Innerenwiegte sie sich im vertrauten Rhythmus der eigenenZauberformel, auch dies eine Gabe der Mutter und desDichters Matthias Claudius. Darin war das Mädchenunsichtbar und unerreichbar, darin konnte sie ausru-hen.

Der Mond ist aufgegangen,(Links, zwei, drei, vier)Die goldnen Sternlein prangenAm Himmel hell und klar;(Links, zwei, drei, vier)Der Wald steht schwarz und schweiget,Und aus den Wiesen steigetDer weiße Nebel wunderbar.

All das gab es dort, direkt vor den Augen des Mäd-chens, den dunklen Wald und den geheimnisvollenMorgennebel, man bekam es geschenkt. Sie ging undging, vergaß den nagenden Hunger und die Schmerzender Erschöpfung, sie ging geradewegs hinein in dasEwigkeitslicht des Gedichts und ließ sich davon erfül-len.

Und sie erinnerte sich an andere Bruchstücke ausdiesem Gedicht, das alles sagte, was darüber hinausnoch gesagt werden mußte, konnte.

Wollst endlich sonder GrämenAus dieser Welt uns nehmenDurch einen sanften Tod!Verschon uns, Gott! mit Strafen

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