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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg9 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 9 (2006) http://dx.doi.org/10.12946/rg09/148-166 Rg 9 2006 148 – 166 Ewald Grothe Die große Lehre der Geschichte Über neuere Editionen zur Verfassungsgeschichte Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg9

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 9 (2006)

http://dx.doi.org/10.12946/rg09/148-166

Rg92006 148 – 166

Ewald Grothe

Die große Lehre der Geschichte Über neuere Editionen zur Verfassungsgeschichte

Dieser Beitrag steht unter einer

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Abstract

In the course of the past three years no less than seven works have been added to the syntheses of European and German constitutional history which were published around the millennium. These new works include three one-volume edi-tions intended for the use of colleges, two multi-volume editions in print and in microfiche form, and two compact discs. Two larger projects docu-ment German and European constitutional texts of the »long« 19th century; one of these projects plans to expand to the point of offering a complete edition of the constitutions of the modern world. This article analyses the criteria for the inclusion of the different constitutions, their presentation, the comments and the indices. It looks at the respec-tive scholarly value of the various editions and it touches on the question of the editing format. In addition the reasons behind this significant up-surge in editions of constitutions are discussed.

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Die große Lehre der GeschichteÜber neuere Editionen zur Verfassungsgeschichte

Verfassungsgeschichte zu schreiben ist das eine, Verfassungs-geschichte zu dokumentieren das andere. Während gegen Ende desvergangenen Jahrtausends eine ganze Reihe neuer deutschspra-chiger Synthesen zur internationalen wie nationalen Verfassungs-geschichte erschienen1 und man geneigt war, von einer Hausse aufdem wissenschaftlichen Büchermarkt zu reden, blieben neue Edi-tionen von Verfassungsdokumenten zunächst Mangelware. Manmusste von und mit dem leben, was man bis dahin hatte. Daswar alles in allem zwar nicht schlecht, aber eben doch nicht jedemrecht. Reden wir von Huber, von Boldt, von Dürig / Rudolf,2 sohaben wir es mit einer mehr oder weniger umfangreichen Auswahlvon Verfassungstexten zu tun, welche die deutsche Verfassungs-geschichte in ihren Grundzügen repräsentativ widerspiegelten.3

Mal waren sie mehr enzyklopädisch angelegt wie die fünf Bändevon Huber, mal mehr als studentische Handreichung gedacht wiedie Taschenbuchausgabe von Boldt oder der Textband von Dürig /Rudolf.

Diesem keineswegs gering zu schätzenden Reservoir an Quel-leneditionen zum Trotz sind im Laufe der letzten drei Jahre gleichmehrere gedruckte bzw. elektronisch verfügbare Dokumenten-sammlungen erschienen. Zudem wurden umfangreichere Editions-projekte gestartet, um einem vermeintlichen Nachholbedarf in derVerfassungsgeschichte abzuhelfen. Bei den hier vorgestellten Ver-öffentlichungen spiegelt sich die mediale Vielfalt wider, die für denPublikationsmarkt gerade im Editionsbereich derzeit typisch ist. Eshandelt sich um zwei mehrbändige Werke (Dippel, Kotulla), die imDruck bzw. auch auf Mikrofiches erscheinen, um drei einbändigeEditionen in broschierten Ausgaben (Blanke, Sautter, Willoweit /Seif) sowie um zwei Compact Disks (CD-ROMs) (Brandt / Kirsch /Schlegelmilch bzw. Bussek u. a.). Als Herausgeber verantwortlichzeichnen drei Historiker (davon ein Team), eine Rechtshistoriker-Arbeitsgemeinschaft sowie zwei Verfassungsrechtler.4

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1 In chronologischer Folge derErstauflagen: Dietmar Willo-weit, Deutsche Verfassungsge-schichte. Vom Frankenreich biszur Wiedervereinigung Deutsch-lands (Juristische Kurz-Lehrbü-cher), München 1990, 5. Aufl.2005; Werner Frotscher, BodoPieroth, Verfassungsgeschichte(Grundrisse des Rechts), München1997, 5. Aufl. 2005; RudolfWeber-Fas, Deutschlands Ver-fassung. Vom Wiener Kongreßbis zur Gegenwart, Bonn 1997,2. Aufl. 2001; Hartwig Brandt,Der lange Weg in die demokrati-sche Moderne. Deutsche Verfas-sungsgeschichte von 1800 bis1945, Darmstadt 1998; Wolf-gang Reinhard, Geschichte derStaatsgewalt. Eine vergleichendeVerfassungsgeschichte Europasvon den Anfängen bis zur Gegen-wart, München 1999, 3. Aufl.2002; Hans Fenske, Der moderneVerfassungsstaat. Eine verglei-chende Geschichte von der Ent-stehung bis zum 20. Jahrhundert,Paderborn 2001.

2 Dokumente zur deutschen Verfas-sungsgeschichte, 3 Bde., hg. vonErnst Rudolf Huber, Stuttgartusw. 1961–1966; 5 Bde., 3. Aufl.Stuttgart usw. 1978–1997; Reichund Länder. Texte zur deutschenVerfassungsgeschichte im 19. und20. Jahrhundert, hg. von HansBoldt, München 1987; Texte zurdeutschen Verfassungsgeschichte.Vornehmlich für den Studienge-brauch (Rechtshistorische Texte),hg. von Günter Dürig, WalterRudolf, München 1967.

3 Ältere Sammlungen: DeutscheVerfassungen, hg. von RudolfSchuster, 20. Aufl. München1990; Verfassungen deutscher

Länder und Staaten. Von 1816 biszur Gegenwart, hg. von ErichFischer, Werner Künzel, Berlin[Ost] 1989; Quellen zur Verfas-sungsgeschichte. H. 1: Die deut-schen Verfassungen des 19. und20. Jahrhunderts, hg. von HorstHildebrandt, Paderborn 1950.Ein weiteres Heft erschien nicht.Der Band wurde allerdings nur mitdem Untertitel bis zur 14. Auflage1992 fortgeführt. Ferner relevant:

Staatsverfassungen. Eine Samm-lung wichtiger Verfassungen derVergangenheit und Gegenwartin Urtext und Übersetzung, hg.von Günther Franz, München1950, 2. Aufl. 1964, 3. Aufl. 1975.

4 Bei den Herausgebern HolgerBussek, Martin Damken, ThomasMüller und Martin Regenbrechthandelt es sich um einen Histori-ker, einen Germanisten und zweiEDV-Fachleute.

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1 Editorische Vielfalt

Der Bielefelder Öffentlichrechtler Michael Kotulla hat 1999ein verfassungshistorisches Großunternehmen in Angriff genom-men. Sein auf insgesamt zwölf Bände angelegtes »DeutschesVerfassungsrecht 1806–1918« zeichnet mit ausführlich eingelei-teten Dokumenten den deutschen Konstitutionalismus im langen19. Jahrhundert nach.5 Der erste Band mit einem Umfang vonstattlichen 2008 Seiten Dünndruck mit Verfassungstexten aus»Gesamtdeutschland« sowie (dem Alphabet folgend) den anhal-tischen Staaten und Baden ist Ende 2005 erschienen. Knapp260 Euro kostet der 2,5 Kilogramm schwere Wälzer – ein Preis,den vermutlich nur Bibliotheken und engste Fachkreise bereit sindzu zahlen.

Noch erheblich umfassender stellen sich die Planungen vonHorst Dippel dar. Der Kasseler Historiker möchte alle »Verfassun-gen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart«sammeln und edieren. Ein erster Teil, der die Zeit von 1776 bis1850 dokumentiert, wird mit rund 1.000 Texten aus fünfzigStaaten in ungefähr 26 Bänden gedruckt,6 der zweite Teil dann ineiner Mikrofiche-Edition mit gedruckten Interim-Registern erschei-nen.7 Von der gedruckten Ausgabe liegen derzeit (Stand: Mai2006) die ersten beiden Bände über das Vereinigte Königreichmit 15 Texten und über Österreich, Ungarn und Liechtensteinmit 39 Dokumenten vollständig vor; von Band 3 über Deutschlandgibt es bisher den ersten Teil (Nationale Verfassungen bis Baden).Jedes der bis zu eintausend Seiten starken Bücher wird mehrerehundert Euro kosten.

Erheblich umfangreicher als die gedruckten Ausgaben überdie ersten siebzig Jahre amerikanisch-europäischer Verfassungs-geschichte wird die von Dippel betreute Mikrofiche-Edition überdie restlichen rund 150 Jahre weltweiten konstitutionellen Ge-schehens sein. Allein für Europa sind für rund 5.000 Dokumente,davon allein 900 Verfassungsurkunden, etwas mehr als 1.000Mikrofiches geplant, die den stolzen Preis von fast 15.000 Euro(Ausgabe in Silber) kosten werden. Für Amerika ist mit etwa 1.400Fiches für knapp 20.000 Euro zu rechnen. Die anderen dreiKontinente werden gleichfalls abgedeckt, wobei dort vermutlichmit geringeren Umfängen zu rechnen ist. Es handelt sich – soweit istbereits jetzt deutlich – um ein riesiges und kostenträchtiges Unter-

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5 Michael Kotulla, DeutschesVerfassungsrecht 1806–1918.Eine Dokumentensammlung nebstEinführungen. Bd. 1: Gesamt-deutschland, Anhaltische Staatenund Baden, Berlin, Heidelberg:Springer 2006, LI, 2008 S.,ISBN 3-540-26013-7. Eine Artkleiner Vorläufer stellt dar: ders.,Das konstitutionelle Verfassungs-werk Preußens (1848–1918),Berlin, Heidelberg 2003. Eine

Projektbeschreibung mit Beispie-len findet sich unter http://www.jura.uni-bielefeld.de/Lehrstuehle/Kotulla/Verfassungsurkunden/hauptframeset.htm (15.5.2006).

6 Constitutions of the World fromthe late 18th Century to the Mid-dle of the 19th Century. Sourceson the Rise of Modern Constitu-tionalism. Verfassungen der Weltvom späten 18. Jahrhundert bisMitte des 19. Jahrhunderts. Quel-

len zur Herausbildung des mo-dernen Konstitutionalismus, hg.von Horst Dippel, München:Saur 2005 ff.; Europe, vol. 1:Constitutional Documents of theUnited Kingdom 1782–1835.Europa, Bd. 1: Verfassungsdoku-mente des Vereinigten Königreichs1782–1835, hg. von H. T. Dickin-son, München: Saur 2005, 355 S.,ISBN 3-598-35681-1.Europe, vol. 2: ConstitutionalDocuments of Austria, Hungaryand Liechtenstein 1791–1849.Europa, Bd. 2: Verfassungsdoku-mente Österreichs, Ungarns undLiechtensteins 1791–1849, hg.von Ilse Reiter, András Cie-ger, Paul Vogt, München:Saur 2005, 352 S.,ISBN-10 3-598-35682-X.Europe, vol. 3: German Consti-tutional Documents 1806–1849.Part 1: National Constitutions /Constitutions of the GermanStates (Anhalt-Bernburg – Baden).Europa, Bd. 3: Deutsche Verfas-sungsdokumente 1806–1849.Teil 1: Nationale Verfassungen.Verfassungen der deutschenStaaten (Anhalt-Bernburg –Baden), hg. von Werner Heun,München: Saur 2006, 230 S.,ISBN-10 3-598-35685-4;The Americas, vol. 1: NationalConstitutions. State Constitutions(Alabama – Frankland). Amerika,Bd. 1: Nationale Verfassungen.Staatsverfassungen (Alabama –Frankland), München: Saur 2006,369 S., ISBN 3-598-35751-6.

7 Constitutions of the World 1850to the Present. Verfassungen derWelt 1850 bis zur Gegenwart.Tl. 1: Europa, hg. von dems.,Mikrofiche-Edition, München:Saur 2004 ff. verschiedene ISBN.Index of European Constitutions1850 to 2003. Verzeichnis dereuropäischen Verfassungen von1850 bis 2003, hg. von HorstDippel, München: Saur 2005,XXX, 550 S.,ISBN 3-598-35222-0. Weiterhinerscheinen gedruckte Interim-register zu den einzelnen Mikro-fiche-Lieferungen. Im Internet sindfür Lizenznehmer Verfassungs-texte online abrufbar unter http://www.modern-constitutions.de/(15.5.2006).

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nehmen. Ob es sich am Ende für den Saur-Verlag rechnet, bleibtfreilich abzuwarten.

Gegenüber solchen aufwändigen Editionen nehmen sich dierestlichen vorzustellenden Textausgaben zur Verfassungsgeschichteausgesprochen überschaubar aus. Im Wortsinne am schwerge-wichtigsten ist der Band mit dem schlichten Titel »EuropäischeVerfassungsgeschichte«, den der emeritierte Würzburger Rechts-historiker Dietmar Willoweit und seine Passauer Schülerin UlrikeSeif 2003 vorgelegt haben.8 51 Verfassungstexte im weiteren Sinneaus dem 13. bis 20. Jahrhundert sind auf mehr als 900 Seitenediert. Der Band ist mit 59 Euro zwar für Bibliotheken undWissenschaftler erschwinglich, für den studentischen Geldbeutelallerdings kaum geeignet.

Auf dieses Publikum zielen von Umfang und Preis die beidenBände, die im Abstand von nur einem Jahr in verschiedenenVerlagen, aber in der gleichen Taschenbuchverlags-Arbeitsgemein-schaft (UTB) erschienen sind. Der Erfurter Öffentlichrechtler Her-mann-Josef Blanke löst mit seiner Ausgabe die 1992 zuletzt er-schienene Sammlung von Horst Hildebrandt ab.9 14 Verfassungenauf rund 450 Seiten bieten einen Querschnitt der deutschen Ver-fassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch der Tübin-ger Zeithistoriker Udo Sautter richtet sich zunächst an ein studen-tisches Publikum, das die dort versammelten 16 Verfassungstexteauf fast 400 Seiten als zweiten Teil einer dreibändigen Material-sammlung zur deutschen Geschichte seit 1815 erwerben kann.10

Wenden wir uns zuletzt den beiden elektronischen Ausgabenzu. Eine CD-ROM mit dem Titel »Deutsche Verfassungen«, wel-che Holger Bussek, Martin Damken, Thomas Müller und MartinRegenbrecht vorlegen, versammelt weit über 100 Verfassungs-texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert.11 Und die Hagener Histo-riker Peter Brandt und Arthur Schlegelmilch haben zusammen mitihrem Landauer Kollegen Martin Kirsch eine CD-ROM heraus-gegeben, die den ersten von vier Teilen einer Sammlung von»Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhun-dert« bildet.12 Fast 1.100 Dokumente veranschaulichen »Institu-tionen und Rechtspraxis« aus der Zeit um 1800 bis 1814/15.

Nachfolgend geht es darum, die signifikante Häufung derVerfassungseditionen zu erklären, ihre Auswahl und ihre Aufbe-reitung zu untersuchen, um schließlich ihren jeweiligen Nutzen fürden wissenschaftlichen Gebrauch zu beurteilen.

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8 Europäische Verfassungsgeschich-te, hg. von Dietmar Willoweit,Ulrike Seif (RechtshistorischeTexte), München: Beck 2003, LIV,937 S., ISBN 3-406-49825-6.

9 Deutsche Verfassungen. Doku-mente zu Vergangenheit undGegenwart, hg. von Hermann-Josef Blanke, Paderborn usw.:Schöningh 2003, 456 S.,ISBN 3-8252-2336-1.

10 Udo Sautter, Deutsche Ge-schichte seit 1815: Daten, Fakten,

Dokumente. Bd. 2: Verfassungen,Tübingen, Basel: A. Francke 2004,VIII, 385 S., ISBN 3-8252-2544-5.Bd. 1 enthält »Daten und Fakten«.Zu Bd. 3 (Historische Quellen)siehe unten Abs. 4.3 und Fn. 20.

11 Deutsche Verfassungen, hg. vonHolger Bussek, Martin Dam-ken, Thomas Müller, MartinRegenbrecht, CD-ROM, Berlin:heptagon 2004,ISBN 3-934616-90-9.

12 Quellen zur europäischen Verfas-sungsgeschichte im 19. Jahrhun-dert. Institutionen und Rechts-praxis im gesellschaftlichen Wan-del, hg. von Peter Brandt,Martin Kirsch, Arthur Schle-gelmilch, Teil 1: Um 1800,CD-ROM, Bonn: Dietz 2004,ISBN 3-8012-4144-0. Der letztevon vier Teilen soll 2010 erschei-nen.

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2 Ein neuer Trend zur Sammlungvon alten Verfassungstexten?

Zunächst: Was ist die Ursache für das auffällige paralleleErscheinen diverser Verfassungssammlungen in den letzten Jahren?Zunächst kann jedenfalls keine Rede davon sein, dass das Editions-wesen bei den Historikern oder Juristen derzeit eine Blüte erlebtund die Verfassungsgeschichte daran partizipiert. Editionen gabund gibt es, aber sie haben im letzten Jahrzehnt nicht erkennbar zu-oder abgenommen. Zudem führen die sinkenden Buchetats derwissenschaftlichen Bibliotheken zu einer spürbaren Zurückhaltungbei der Anschaffung teurer mehrbändiger Ausgaben. Das deuteteher auf ein wenig günstiges Klima für diese Publikationsgattunghin. Helfen aber solche äußeren Faktoren als Erklärung nichtweiter, so können inhaltliche Gründe möglicherweise eine Rollespielen.

Ein Blick in die Vorworte und Einleitungen der vorliegendenPublikationen mag einen Anhaltspunkt bieten. Michael Kotullabeklagt beispielsweise den »höchst unzureichenden Kenntnis-stand« (VII) über das bei ihm dokumentierte Verfassungsrecht,dem er abhelfen wolle. Ganz ähnlich konstatiert Horst Dippel die»klaffende Lücke« in der Verfassungsdokumentation. Hier liegeeines »der größten wissenschaftlichen wie politischen Desideratader Gegenwart« vor (Interim-Register zu Lieferung 7 von Consti-tutions [Fn. 7], 11). Keine Frage: Kotulla und Dippel greifen sehrhoch in ihrem Legitimationsbemühen; schließlich gilt es in beidenFällen langfristig angelegte, voluminöse und entsprechend kosten-intensive Unternehmungen zu rechtfertigen. Dippel betont zu-gleich, dass es sich bei seinem Vorhaben um eine »verlegerischeGroßtat« handele (11). Die Dimension ihrer Arbeiten wird weiterunten zu würdigen sein.

Viel bescheidener nimmt sich dagegen die Rechtfertigungs-rhetorik in den einbändigen Werken aus, die in den letzten Jahrenerschienen sind. Hier können sich die Herausgeber nota bene auchkürzer halten, denn Textausgaben zur Verfassungsgeschichte ha-ben immer ihre Leser und Benutzer vor allem zu Studienzweckengefunden. Es ist eher die Frage zu beantworten, warum eine Neu-auflage bewährter Ausgaben nicht genügt hat. Willoweit / Seif, dieals neuer Band in den »Rechtshistorischen Texten« der Ausgabevon Dürig / Rudolf nachfolgen, sprechen bei ihrem Werk von einem

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»Arbeitsbehelf«, einer »Studienausgabe« (V). In dem Band, dessenirreführender Titel allerdings weniger eine Edition, sondern ehereine Gesamtdarstellung vermuten lässt, spiegelt sich die ›Euro-päisierung‹ der historischen Wissenschaft wider. Es gehe um die»gemeinsamen Grundlagen« der europäischen Verfassungsent-wicklungen, erläutern die Herausgeber (V). Auch Hermann-JosefBlanke, der die Ausgabe von Hildebrandt »umfassend neu kon-zipiert« hat, möchte »ein hilfreiches Vademekum beim Studium«vorlegen (7 f.). Die CD-ROM von Bussek u. a. über »DeutscheVerfassungen« versucht, demokratische Traditionen in Deutsch-land aufzuzeigen und richtet sich damit offenbar an ein breiteresPublikum. Dagegen publizieren Brandt, Kirsch und Schlegelmilchihre Quellenedition für »forschungspraktische Zwecke« (20). Siebeabsichtigen, mit ihrer Dokumentation die Quellengrundlage füreinen Verfassungsvergleich zur Verfügung zu stellen.

Das Spektrum der Begründungen und der dargelegte Anspruchder insgesamt sieben vorliegenden Editionen ist weit gespannt: Siereichen vom eher bescheiden anmutenden Arbeitsbehelf bis zuranspruchsvollen Materialsammlung »in größtmöglicher Vollstän-digkeit« (Dippel, 12). Für an Verfassungsfragen in historischerDimension Interessierte stellen die genannten Publikationen zurVerfassungsgeschichte aus einem vergangenen Jahrtausend zwei-felsohne wichtiges und gewichtiges Material zur Verfügung.

3 Über historische Vorläufer

Verfassungstexte zu sammeln und der interessierten Öffent-lichkeit zu präsentieren, ist in der Wissenschaft ›ein alter Hut‹.13

In der Nachfolge der älteren Gesetzessammlungen auf national-staatlicher bzw. territorialer Ebene gab der enzyklopädisch arbei-tende Göttinger Historiker Friedrich Saalfeld vor knapp zweihun-dert Jahren erstmals eine Sammlung der in den letzten zwanzigJahren erschienenen französischen Verfassungstexte heraus.14 Ihmfolgte rund ein Jahrzehnt später der Leipziger StaatswissenschaftlerKarl Heinrich Ludwig Pölitz mit einer in mehreren Bänden undspäter in zweiter Auflage veröffentlichten Dokumentensamm-lung.15 Pölitz’ Werk blieb in seiner Vollständigkeit maßstabsetzendund war als Grundlagenwerk bis auf den heutigen Tag für Ver-fassungshistoriker unverzichtbar. Vor allem erkannte Pölitz bereits

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13 Einen Überblick mit überborden-dem Material gibt Horst Dippel,

Prolegomena zu einer europä-ischen Verfassungsgeschichte, in:Gesellschaft und Diplomatie imtransnationalen Kontext. Fest-schrift für Reinhard R. Doerrieszum 65. Geburtstag, hg. vonMichael Wala, Stuttgart 1999,355–384.

14 Friedrich Saalfeld, Recueilhistorique des lois constitution-nelles et des réglemens générauxd’administration, publiés en

France depuis le commencementde la révolution jusqu’à présent,2 Bde., Göttingen 1809/10.

15 Karl Heinrich Ludwig Pölitz,Die Constitutionen der europä-ischen Staaten seit den letzten25 Jahren, 4 Bde., Leipzig, Alten-burg 1817–1825; 3 Bde., 2. Aufl.Leipzig 1832–1847. Die ersteAuflage erschien – vermutlich auspolitischen Gründen – anonym.

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den Sinn vergleichender Kenntnis bereits erloschener Verfassungen.Diese »große Lehre der Geschichte [darf] nicht für die Staats- undGeschäftsmänner verloren gehen«.16 Zwar war seine Sammlungeditionstechnisch ›vorsintflutlich‹ und enthielt etliche Textfehler;aber der Abdruck von schwierig erreichbaren Verfassungen selbstunbedeutender Kleinstaaten machte ihren Wert aus. Neben diesen›handwerklichen‹ Vorbehalten wiegt freilich schwerer, dass Pölitz’Sammlung nur bis ins Jahr 1848 reicht. Für alle Verfassungs-dokumente danach lagen gleichfalls editorisch unzureichende undunvollständige Quellensammlungen vor: angefangen bei HeinrichAlbert Zachariä über Felix Stoerk bis zu Wilhelm Altmann undKarl Zeumer.17 Keine Frage: Dippel und Kotulla, aber auchBrandt, Kirsch und Schlegelmilch schicken sich nunmehr an, Pölitzund seinen Nachfolgern den Rang abzulaufen.

4 Auswahl

4.1 Textsorten

Im Hinblick auf die Vollständigkeit der Textsammlung schla-gen Brandt u. a., Dippel und Kotulla sämtliche bisherigen Projekteaus dem Feld. Das liegt u. a. daran, dass alle drei von einem weitenVerfassungsbegriff ausgehen, der nicht nur Verfassungsurkundenim engeren Sinn, sondern auch Texte mit Verfassungsrang, Ver-fassungsänderungsgesetze sowie (gelegentlich) Verfassungsentwür-fe umfasst. Diskutiert wird übrigens diese in der Verfassungsge-schichtsschreibung gängige Differenzierung zwischen einem engen,auch formalen und einem weiten, auch materiellen Verfassungsbe-griff in lediglich einem der vorliegenden Bände. Zumindest beiKotulla und Dippel wäre dies aber eigentlich zwingend gewesen.Brandt, Kirsch und Schlegelmilch weisen allerdings darauf hin,dass sie einen (weiten) Verfassungsbegriff zugrunde legen, der dementspricht, was heute unter »Öffentlichem Recht« verstanden wird.

Bei Dippel werden neben den Verfassungen im engeren Sinnauch sogenannte Amendments berücksichtigt, d. h. Verfassungs-zusätze, was für die amerikanische Verfassungsgeschichte in der Tatunverzichtbar ist. Zudem sollen sogenannte »gescheiterte Verfas-sungen« (Prospekt) bei ihm Aufnahme finden, wobei der Begriffdeutlicher zu definieren wäre. Handelt es sich dabei um Entwürfe,

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16 Ebd., VI–VII.17 Heinrich Albert Zachariä,

Die deutschen Verfassungsgesetzeder Gegenwart, einschließlich derGrundgesetze des deutschen Bun-des und der das Verfassungsrechtder Einzelstaaten direct betreffen-den Bundesgesetze, Göttingen1855–1862; Felix Stoerk,Handbuch der Deutschen Verfas-sungen, Leipzig 1884; ders.,Handbuch der Deutschen Verfas-

sungen. Die Verfassungsgesetzedes Deutschen Reiches und seinerBundesstaaten nach dem gegen-wärtigen Gesetzesstande, Mün-chen, Leipzig 2. Aufl. 1913;Ausgewählte Urkunden zur deut-schen Verfassungsgeschichte seit1806. Zum Handgebrauch fürHistoriker und Juristen, hg. vonWilh. Altmann, Berlin 1898;Ausgewählte Urkunden zur außer-deutschen Verfassungsgeschichte.

Zum Handgebrauch für Histori-ker und Juristen, hg. von dems.,Berlin 1897, 2. Aufl. 1913; Quel-lensammlung zur Geschichte derDeutschen Reichsverfassung inMittelalter und Neuzeit, hg. vonKarl Zeumer, 2 Teile (Quellen-sammlung zum Staats-, Verwal-tungs- und Völkerrecht, 2),Tübingen 1904, 2. Aufl. 1913.

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um nicht in Kraft gesetzte Ausfertigungen oder in Funktion getre-tene, aber nur kurz oder nur teilweise angewendete Verfassungen?

Alle Verfassungsentwürfe zu edieren, wie Kotulla dies vorsieht,ist nicht nur illusorisch, sondern zudem sinnlos, wenn man be-denkt, dass es z. B. allein zur Kurhessischen Verfassung von 1831mindestens ein Dutzend vollständige oder Teilentwürfe gibt – diebisher vielleicht noch nicht ermittelten nicht eingerechnet.18 Eben-so unsinnig wäre es, alle in den Verfassungstexten angekündigtenGesetze abzudrucken, die im 19. Jahrhundert »organische Geset-ze« hießen. Dagegen gibt es Verfassungen, die aus einem Bündelvon einzelnen Verfassungsedikten bestehen; hier macht es durchausSinn, die entsprechenden Stücke mitzuteilen, wie Kotulla diesbeabsichtigt.

Auch in anderer Hinsicht verfährt Kotulla vorbildlich: erbemängelt nämlich zu Recht, dass die Verfassungsänderungen invielen Editionen nicht oder unzureichend dokumentiert sind. Sodruckt er also nicht nur die Verfassungstexte vollständig ab, d. h.inklusive der manchmal weggelassenen Übergangsbestimmungen,sondern auch sämtliche verfassungsändernden Gesetze. Das führtzwar dazu, dass die Sammlung einerseits sehr umfangreich wird,andererseits aber macht dies die Edition auch wichtig und grund-legend. Nur ein Beispiel: Der erste Band enthält nicht nur dieBadische Verfassung von 1818, sondern auch alle zwölf Ände-rungsgesetze bis 1904, die im Druck zusammengenommen genausolang sind wie der ursprüngliche Verfassungstext.

Der Vergleich des ersten Bandes von Dippel mit deutschenVerfassungstexten bis 1849, der gleichfalls die deutschlandweitenTexte und einzelstaatlichen Dokumente der Länder bis zum Buch-staben ›B‹ versammelt, mit der Sammlung von Kotulla ist auf-schlussreich. Dippel verzichtet auf den Reichsdeputationshaupt-schluss oder die Dokumente zum Deutschen Zollverein. Dafürediert er den Siebzehnerentwurf vom April 1848 oder den baye-rischen Gegenentwurf einer deutschen Verfassung vom Mai 1848,die bei Kotulla nicht enthalten sind. Bei den Einzelstaaten be-schränkt sich Dippel dagegen auf die Verfassungsurkunden undderen Revisionen bis 1849, wogegen Kotulla die Verfassungsge-schichte viel breiter dokumentiert. Für eingehendere Studien istKotullas Edition ohne Zweifel geeigneter. Es bliebe aber doch derEinwand, dass der Spezialist nach wie vor die Archive konsultierenwird.

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18 Ewald Grothe, Verfassungs-gebung und Verfassungskonflikt.Das Kurfürstentum Hessen in derersten Ära Hassenpflug 1830–1837 (Schriften zur Verfassungs-geschichte, 48), Berlin 1996, 72–83.

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4.2 Geographische und chronologische Grenzen

Die vorliegenden Quellensammlungen unterscheiden sich abernicht nur nach der Frage des mit einbezogenen materiellen Ver-fassungsrechts bzw. von Verfassungsentwürfen, sondern auch inihrem geographischen Zugriff. Er ist am weitesten bei Dippel,der alle Verfassungen weltweit erfassen will. Auf europäische Ver-fassungstexte konzentrieren sich Willoweit / Seif und Brandt u. a.Dabei ist bemerkenswert, dass die beiden Rechtshistoriker auch dieamerikanische Bundesverfassung von 1787 wegen ihrer Vorbild-funktion einbeziehen. Dagegen betonen Brandt u. a. die Unter-schiede zwischen der amerikanischen und der kontinentaleuropäi-schen Verfassungsgeschichte und lassen die USA deshalb außenvor.

Die übrigen Publikationen beschränken sich auf die Grund-gesetze deutscher Territorien. Kotulla definiert Deutschland histo-risch über die Grenzen des Deutschen Bundes bzw. die Reichs-grenzen nach 1871 und bezieht demzufolge Österreich, Luxem-burg und das Elsass mit ein. Ganz unhistorisch gehen dagegenHolger Bussek und seine Mitherausgeber vor, indem sie Verfas-sungstexte aus Luxemburg weglassen, weil sie sich an den heutigendeutschen Grenzen orientieren. Dafür nehmen sie die amerika-nische und drei französische Verfassungsurkunden auf. Am wei-testen eingegrenzt, nämlich ausschließlich auf Texte zur deutschenVerfassungsgeschichte, ist die Auswahl in den beiden UTB-Bändenvon Blanke und Sautter.

Auch chronologisch sind die Grenzen der vorliegenden Bändeunterschiedlich. Eine besondere Ausnahme bildet die Edition vonWilloweit / Seif, weil sie als einzige mit ihrer Auswahl bereits im13. Jahrhundert einsetzt und dabei die »alteuropäischen Staats-grundgesetze« berücksichtigt. Alle anderen Sammlungen beginnenmit der Entstehung des modernen Verfassungsstaates und denersten geschriebenen Verfassungsurkunden um 1800. Dippel star-tet 1776, Bussek u. a. 1787, Brandt u. a. 1791, Kotulla 1806 undBlanke sowie Sautter 1815. Für Brandt u. a., Bussek u. a. sowieDippel ist entscheidend, dass sie die amerikanische, englische oderfranzösische Verfassungsgeschichte mit berücksichtigen. Kotullabezieht die rheinbündischen Verfassungen mit ein, während Blankeund Sautter zu ignorieren scheinen, dass es in Deutschland auchvor 1815 bereits Verfassungen gegeben hat. Auch hinsichtlich des

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chronologischen Endes gehen die Editionen unterschiedliche Wege.Brandt / Kirsch / Schlegelmilch und Kotulla dokumentieren »daslange 19. Jahrhundert«, Blanke, Bussek u. a., Dippel und Sauttergehen bis in die Gegenwart. Etwas undurchsichtig ist die Ent-scheidung von Willoweit / Seif. Die europäische Verfassungsge-schichte nach 1945 wird ohne weitere Begründung ausschließlichmit dem spanischen Staatsorganisationsgesetz von 1967 berück-sichtigt.

4.3 Auswahlkriterien

Innerhalb der Dokumentenauswahl der Bände sind die um-fangreicheren Editionen wie Brandt u. a., Bussek u. a., Dippel undKotulla auf Vollständigkeit bei den deutschen Verfassungsurkun-den angelegt. Bei Bussek u. a. bezieht sich dies allerdings nicht aufdie Länderverfassungen der Weimarer Zeit.19 Insbesondere Brandtu. a. und Kotulla bieten weitere Dokumente des materiellen Ver-fassungsrechts, wie Wahl- oder Staatsorganisationsgesetze. Sautterkonzentriert sich in seinem »Verfassungs«-Band ganz auf die Ver-fassungsurkunden im engeren Sinne, ediert aber andere wichtigeDokumente zur Verfassungsgeschichte im dritten Teil seiner Ma-terialsammlung.20

Willoweit / Seif präsentieren eine Auswahl europäischer Texte,wobei ein gutes Drittel aus Deutschland stammt. Sie dokumentie-ren drei französische Verfassungen zwischen 1791 und 1799, diepolnische von 1791, drei Verfassungstexte der Napoleonischen Ära(Rheinbundakte, Westphalen, Cortez-Verfassung) und fünf Bei-spiele für »monarchische Verfassungen« (Charte constitutionnelle1814, Bayern 1818, Belgien 1831, Hannover 1833 und den Parlia-mentary Act 1911). Dazu treten die »Bundesverfassungen« (Bun-desakte 1815, Wiener Schlussakte 1820, Reichsverfassungen 1849und 1871) sowie die republikanischen Verfassungen des 19. Jahr-hunderts aus der Schweiz (1848) und Frankreich (1875). Wieimmer bei ausgewählten Textsammlungen kann man über dieRepräsentativität manchen Textes streiten oder das Fehlen andererwichtiger Dokumente bedauern.

Blanke und Sautter beschränken sich für das 19. Jahrhundertauf acht bzw. sieben Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte.Deutsche Bundesakte, Wiener Schlussakte, die preußische Verfas-

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19 Diese sind nunmehr erschlossenbei: Fabian Wittreck, WeimarerLandesverfassungen. Die Verfas-sungsurkunden der deutschenFreistaaten 1918–1933. Textaus-gabe mit Sachverzeichnis und ei-ner Einführung, Tübingen 2004.

20 Udo Sautter, Deutsche Ge-schichte seit 1815: Daten, Fakten,Dokumente. Bd. 3: HistorischeQuellen, Tübingen, Basel:A. Francke 2004, X, 271 S.,

ISBN 3-8252-2545-3. Es handeltsich vorwiegend um Beschlüsse,Verordnungen, Gesetze und (völ-kerrechtliche) Verträge.

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sung von 1850 und die Reichsverfassungen von 1849 und 1871finden sich in beiden Ausgaben. Darüber hinaus bietet Blanke diebayerische, württembergische und kurhessische Verfassung, wo-hingegen Sautter die badische Verfassung und das Grundgesetz desNorddeutschen Bundes ausgewählt hat.

Nimmt man die Auswahl aller Bände in den Blick, so zeigtsich einerseits ein mehrfacher Abdruck gerade der wichtigstenTexte, wie z. B. von Deutscher Bundesakte, Wiener Schlussakteund den beiden deutschen Reichsverfassungen, die man insgesamtsechs Mal gedruckt findet. In den noch fehlenden Editionsteilenvon Brandt u. a. werden sie zweifelsohne noch folgen. Hinter-grund ist natürlich, dass jede Edition für sich nicht auf die wich-tigsten Dokumente verzichten möchte. Außerdem zeichnen sichStudienausgaben wie diejenigen von Blanke, Bussek u. a. undSautter ja gerade dadurch aus, dass sie die zentralen Texte ent-halten müssen.

Für den wissenschaftlichen Benutzer ist es freilich interessanter,wenn die Auswahl umfangreicher ist und auch diejenigen Ver-fassungen einbezieht, die weniger gut oder gar ganz selten greifbarsind. In dieser Hinsicht wird man in einigen Jahren, wenn dieVorhaben von Brandt u. a., Dippel und Kotulla vervollständigtsind, recht gut bedient sein. Die bereits jetzt vorliegenden Teilezeigen die Breite des Dargebotenen. Am weitesten geht in dieserHinsicht gewiss die Edition von Brandt, Kirsch und Schlegelmilch.Neben den Verfassungsurkunden finden sich Briefe, Verträge,Autobiographisches, Instruktionen, Gesetze und vieles anderemehr. Schließlich werden in der Rubrik »Europäisches Verfas-sungsdenken« 28 Texte von Hobbes bis Kant angeboten. Dippeldokumentiert in der europäischen ›Abteilung‹ nach 1850 aufMikrofiche u. a. Verfassungstexte aus Bosnien und dem Vatikan-staat, aus der übrigen Welt neben anderen die Konstitutionen vonBelize bis Brasilien. Kotulla bietet in Breite das Staatsorganisations-recht der anhaltischen Kleinstaaten und Badens.

Hinsichtlich des vorliegenden Materials kann man bereits jetztfeststellen, dass die Materialbasis für einen Verfassungsvergleichviel günstiger ist, als sie jemals vorher war. Denn Dichte und Breiteder Dokumentation haben sich deutlich verbessert und das sowohlin nationaler als auch in internationaler Hinsicht. Vor allem istbegrüßenswert, dass die amerikanischen, französischen und pol-nischen Verfassungstexte nun bequem erreichbar sind und bei

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Willoweit / Seif und Brandt u. a. zudem in deutscher (bei Dippelzukünftig in englischer) Übersetzung angeboten werden.

5 Präsentation

5.1 Reihenfolge

Die ausgewählten Dokumente werden in den ›über-national‹angelegten Editionen (Brandt u. a., Dippel, Kotulla) auf der obers-ten Ebene nach Staaten, darunter in zeitlicher Folge sortiert. Aus-schließlich oder vorwiegend deutsche Verfassungssammlungenfolgen der Chronologie. Kotulla staffelt allerdings sinnvollerweisealle verfassungsändernden Gesetze direkt hinter die Verfassung,ebenso verfährt er mit anderen Gesetzestexten, die sich abseits derChronologie der Sache nach auf einen edierten Text beziehen.

Anspruchsvoll, aber zugleich recht problematisch ist die inhalt-liche Gliederung bei Willoweit / Seif. In vier Teile gliedert sich ihreSammlung, die nur bedingt der Chronologie folgen. Unter demTitel »Alteuropäische Staatsgrundgesetze« firmieren so unter-schiedliche Texte wie Herrschaftsverträge, Hausgesetze, Friedens-schlüsse, Organisationsstatute und Reformedikte. Geschlossenerwirkt der zweite Teil über das konstitutionelle Zeitalter, wobei hierinnerhalb der auf Deutschland begrenzten »Bundesverfassungen«auch die Reichsverfassungen von 1849 und 1871 ediert werden.Ganz aus der Chronologie heraus fallen die »RepublikanischenVerfassungen« im dritten Teil, die von der Schweiz 1848 bis zuSpanien 1931 reichen. Schließlich folgen die »Dokumente derDiktaturen des 20. Jahrhunderts« mit den Verfassungsgesetzendes »Europäischen Faschismus« und den russisch-sowjetischenVerfassungen von 1918 und 1936. Der Überblick zeigt bereits,dass der Gedanke der Typologisierung zu Zwängen führt. Um nurzwei Probleme anzusprechen: Weder sind alle Bezeichnungenglücklich (»Europäischer Faschismus«), noch werden sie demInhalt stets gerecht (»Bundesverfassungen«). Außerdem führt dieDurchbrechung der Chronologie zugunsten der Typologie zurNachbarschaft ganz grundverschiedener Dokumente: Dies fälltvor allem bei den republikanischen Verfassungen ins Auge. ImVergleich mit einer derart sachbezogenen Gliederung erscheinenchronologische Ordnungen einfacher und angemessener.

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5.2 Einleitung

Die wissenschaftliche Qualität einer Edition hängt zum einenvon der Auswahl der Dokumente, zum anderen von ihrer Präsen-tation, insbesondere der Kommentierung ab. Zum Verständnisnotwendige Erläuterungen können u. a. in historischen Einleitun-gen erfolgen. Blicken wir auf die vorliegenden Publikationen, soergibt sich, dass die Einführungen bei Dippel und Brandt / Kirsch /Schlegelmilch sehr knapp sind. Letztere können auf das begleitenderscheinende »Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichteim 19. Jahrhundert« verweisen, dessen erster Band im Herbstdiesen Jahres vorliegen soll.21 Bei Sautter wird eine thematischeEinleitung durch kurze Erläuterungstexte vor den Dokumentenersetzt. Einleitungen mit Aufsatzcharakter bieten Blanke, Busseku. a. und Seif.

Ein eigenes Buch im Buch ist dagegen die »Historische Ein-führung« bei Kotulla. Fast 450 Seiten stark und damit über einViertel des Bandes einnehmend, geht der Bielefelder Öffentlich-rechtler der »gesamtdeutschen« Verfassungsentwicklung und derin Anhalt und Baden nach. Die Darstellung ist faktengesättigt undbindet die im zweiten Teil des Buches präsentierten Dokumentezusammen. Dass sie der Forschung »Impulse« zu geben vermag,wie der Autor hofft (9), ist indes weniger zu erwarten. Dafür sinddie Ausführungen im Allgemeinen doch mehr beschreibend alsanalytisch. Auch erstaunt, dass Kotulla mit einem äußerst be-scheidenen Anmerkungsapparat auskommt. Zwar liest man inden Vorbemerkungen, dass auf »die Zusammenstellung der ein-schlägigen Literatur verzichtet« worden sei (9), doch es irritiert,dass überhaupt nur wenige Titel erwähnt werden: Mal sind esgroße Überblicke, dann wieder spezielle Darstellungen aus der Zeitvor oder um 1900. Der Leser, der ansonsten Kotullas Gründ-lichkeit bei der Dokumentensammlung schätzen lernt, muss überdiese oberflächliche Literaturauswahl verwundert sein. Auch in-haltlich bietet sich Überraschendes. Forschungskontroversen, wiejene berühmte zwischen Ernst-Wolfgang Böckenförde und ErnstRudolf Huber über den deutschen Konstitutionalismus als eigen-ständige Staatsform, werden dem Leser nicht vorgestellt. Sehrnormen- und wenig realitätsorientiert muten zudem die Erwägun-gen über die »Handlungsoptionen des [Deutschen] Bundes« an:sie seien »quasi-legislativisch«, »quasi-exekutivisch« bzw. »quasi-

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21 Handbuch der europäischen Ver-fassungsgeschichte im 19. Jahr-hundert, hg. von Peter Brandt,Martin Kirsch, Arthur Schle-gelmilch, 4 Bde., Bonn 2006 ff.

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judikativisch« gewesen (56 f.). Schließlich ist die Darstellung nichtfrei von Fehlern: Die rheinbündischen Verfassungen seien »nichtwirklich zur Ausführung« gekommen (25), heißt es beispielsweise.Ein Wort zum Stil dürfte gleichfalls angebracht sein: Mal ist erjargonhaft (»Und dies tat er dann auch!« [71], »Doch dazu spätermehr!« [192]), dann schnoddrig (»was sollte man auch andereserwarten« [100]), bisweilen rechtstechnisch verklausuliert (»eineex post ausgesprochene konkludente Genehmigung« [105]). Be-merkenswert ist schließlich auch, wie scheinbar folgerichtig vielehistorische Entwicklungen verlaufen; selten werden Alternativenerwogen, allenfalls rechtstechnische Möglichkeiten ausgelotet.Und schließlich wird nicht nur be-, sondern auch geurteilt. VonRechtswidrigkeiten ist immer wieder die Rede, als ob Geschichtejudiziabel verliefe. Bezeichnend ist die Feststellung des Autors:»Das eigentliche Problem waren die tatsächlichen politischen Ver-hältnisse« (192).

Hermann-Josef Blanke liefert in seiner Einleitung einen solidenÜberblick über die letzten zweihundert Jahre deutscher Verfas-sungsgeschichte. Neben den kurzen Verlaufsübersichten, die denZusammenhang der edierten Verfassungstexte erläutern, spart ergelegentliche kurze Hinweise auf Forschungsdebatten nicht aus,zumeist aber fehlt der Platz, um dazu eingehend Stellung zubeziehen. Die Einleitung zum Band von Bussek u. a., eine »kurzedeutsche Verfassungsgeschichte«, ist dagegen holzschnittartig undzuweilen eigenwillig, wobei das Staatsorganisationsrecht gegen-über der Hervorhebung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeitungebührlich vernachlässigt wird. Der Text verkürzt aber nichtnur, er verfälscht leider auch. So werden die ersten deutschenVerfassungen in der Rheinbundzeit erst gar nicht erwähnt. Nach-weise fehlen überdies ganz; ebenso die möglichen Bezüge zumDokumententeil.

Ulrike Seif schließlich versucht etwas nahezu Unmögliches:800 Jahre europäische Verfassungsgeschichte auf vierzig Seitenabzuhandeln, nötigt entweder zu einem Parforceritt, zu einemPunktuelles aufgreifenden Essay oder zu einer ausschließlichenKommentierung der Dokumente. Seif hat sich vorwiegend für dieletzte Variante entschieden. Auf die Herstellung von Zusammen-hängen verzichtet sie weitgehend, obwohl die einer Typologisie-rung verpflichtete Gliederung dies nahegelegt hätte. Statt dessenerläutert sie die Dokumente fast nur aus sich heraus, oft ohne

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Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Auch bietet sie kaum einenNachweis und keinen weiterführenden Literaturhinweis. Die Kom-mentierung hängt damit verfassungshistorisch häufig in der Luft.

5.3 Anmerkungen

Alle hier behandelten Verfassungssammlungen verfahren beider Kommentierung durch Anmerkungen äußerst sparsam. Blan-ke, Sautter und Willoweit / Seif verzichten ganz auf diese Erläute-rungsmöglichkeit. Sautter rückt die Hinweise auf Streichungen,Änderungen oder ausführende Gesetze zu den Verfassungen inhervorgehobener Schrift in den laufenden Editionstext ein. Kotullanutzt die Anmerkungen für Querverweise auf solche Gesetze, die erselbst in der Regel abdruckt. Die Bandherausgeber bei Dippelverwenden Endnoten, allerdings in sehr spärlichem Umfang. Bus-sek u. a. sowie Brandt u. a. benutzen einblendbare Anmerkungen.Bussek u. a. bieten eine ungleichmäßige und unvollständige Kom-mentierung, in der Personen, aber auch Verfassungsänderungenangeführt werden. Brandt u. a. beschränken sich auf wenige edi-tionstechnische Hinweise.

Insgesamt wird mit dem weitgehenden Verzicht auf Anmer-kungen in den meisten vorliegenden Quellensammlungen zwareinerseits eine gewisse Übersichtlichkeit des Textkorpus’ gewon-nen, andererseits eine wichtige Kommentierungsmöglichkeit ver-schenkt. Denn durch Anmerkungen wären punktuelle Begriffs-erläuterungen oder inhaltliche Ergänzungen ohne großen Auf-wand möglich gewesen. Bei Blanke leistet das Glossar diesenDienst; in anderen Editionen bleibt der Leser in dieser Hinsichtohne Hilfe.

Editorische Erläuterungen und Probleme der Textkonstitution,die gleichfalls bevorzugt in Anmerkungen untergebracht werden,stellen sich bei Verfassungs- und sonstigen Gesetzestexten in derRegel kaum. Das hat damit zu tun, dass die Textvorlagen zumeistaus zeitnah gedruckten Sammlungen stammen, deren Textbestandeindeutig ist. Alle Editoren weisen in ihren Vorworten bzw. Ein-leitungen darauf hin, dass sie die Textgestalt der Vorlage zumeistwort- und buchstabengetreu und in fast allen Fällen ungekürzt(Ausnahmen sind Brandt u. a. und Willoweit / Seif) wiedergeben.Der Quellennachweis ist deshalb zumeist unproblematisch. Aller-

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dings fehlt bei Willoweit / Seif gelegentlich ein eindeutiger Hinweisauf die Textvorlage. Besonders gründlich verfahren Dippel undKotulla. Bei Dippel liegt dies an dem manchmal schwer greifbarenUrtext im Falle kleinerer europäischer oder außereuropäischerStaaten. Bei Kotulla hat dies seinen Grund darin, dass er imUnterschied zu allen anderen Autoren den Gang in die Archivenicht gescheut hat und etwa fünfzig bisher ungedruckte Doku-mente ediert. Seine stattliche Liste für den ersten Band umfasst25 Archive.

6 Bilder, Karten, Graphiken und Tabellen

Für die Benutzbarkeit von Textsammlungen ist zusätzlichesillustrierendes Material vorteilhaft. Dies können beispielsweiseBilder, Karten, Graphiken oder Tabellen sein. In dieser Hinsichtzeigen sich die meisten vorliegenden Editionen äußerst zurück-haltend. Allein Blanke bringt fünf Karten, die den Geltungsbereichverschiedener Verfassungen veranschaulichen. In der Ausgabe vonDippel gibt es Tabellen zu einzelnen Dokumenten. Die CD-ROMvon Bussek u. a. bietet zwar fast einhundert Abbildungen, aberdiese sind teils unscharf erkennbar, teils unzureichend erläutert undohne jeglichen Quellennachweis.

7 Erschließungsmittel und Recherchehilfen

7.1 Verzeichnisse und Register

Zu den Hilfsmitteln für die Erschließung gedruckter Text-ausgaben zählen Verzeichnisse und Register. Da die meisten Text-ausgaben ganz oder teilweise chronologisch aufgebaut sind, reichtmeistens ein einziges Inhaltsverzeichnis aus (Blanke, Bussek u. a.,Sautter). Kotulla hat neben einem Inhaltsverzeichnis nach Pagi-nierung zusätzlich eine »Chronologische Dokumentenübersicht«erstellt. Willoweit / Seif ergänzen ihre Texte durch eine »Liste derÜbersetzungen«. Auch im Hinblick auf beigefügte Literaturver-zeichnisse sieht die Lage recht dürr aus. Blanke, Sautter undWilloweit / Seif verzichten ganz auf einen solchen Leserservice.Kotulla weist allein seine gedruckten Quellen nach, die Heraus-

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geber der Dippel-Bände geben eine knappe Auswahlbibliographieebenso wie Bussek u. a. und Brandt u. a. Bei Blanke findet sich einvon Hans-Christof Kraus erarbeitetes, sehr verdienstvolles 18seiti-ges Glossar mit Begriffen, die in den Verfassungen des 19. Jahr-hunderts allenthalben auftreten, aber mangels Anmerkungen sonstin keiner der vorliegenden Editionen erklärt werden. Die Bände derVerfassungen vor 1850 in der Dippel-Reihe enthalten teils Glossareund teils mehrsprachige Register. Für die europäischen Konstitu-tionen von 1850 bis 2003 ist ein eigenständiger Indexband er-schienen.22 Auffällig ist somit, dass nur Blanke und Dippel überein Register bzw. einen Sachindex verfügen. Dabei wären in kon-ventionellen Druckwerken gerade Register bestens dazu geeignet,einen Verfassungsvergleich zu erleichtern. Anders sieht das beielektronischen Veröffentlichungen aus.

7.2 Elektronische Recherche

Für professionelle Recherchen bieten elektronische Veröffent-lichungen erhebliche Vorteile gegenüber den konventionell ge-druckten. Benötigt Kotulla für 390 Texte gut 1.500 Druckseiten,so bemisst sich der Umfang der Quellen auf CD-ROMs in Mega-byte (MB). Langwieriges Blättern wird durch das Aufrufen vonTexten oder Textteilen innerhalb von Sekunden ersetzt.23 Die vonBrandt, Kirsch und Schlegelmilch vorgelegte Quellensammlung mitmehr als 1.000 Dokumenten zeigt hier ihre besondere Qualität. DieNavigation ist übersichtlich und wird graphisch funktional unter-stützt. Recherchen sind möglich nach insgesamt 134 vergebenenSchlagwörtern und nach sogenannten Volltexten. Weitere elektro-nische Suchtechniken, z. B. Umfeldsuchen, wären allerdings denk-bar und wünschenswert. Unterhalb der obersten Rechercheebenekann die Abfrage mit der Eingrenzung nach ›Geographie‹ oder›Chronologie‹ weiter verfeinert werden. Gegenüber einer gedruck-ten Publikation ist hervorzuheben, dass Verfassungstexte zumeinfachen Textvergleich in Fenster neben- oder untereinander ge-stellt werden können. Die Suchergebnisse sind markier- und ex-portierbar in jedes Textverarbeitungsprogramm. Die CD-ROM istinsgesamt benutzerfreundlich und leicht verständlich.

Erheblich weniger komfortabel ist indes die Recherche imzweiten elektronischen Produkt dieses Überblicks. Die CD-ROM

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22 Index of European Constitutions(Fn. 6).

23 Die CD-ROM von Brandt u. a.umfasst 156 MB, diejenige vonBussek u. a. 203 MB.

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von Bussek, Damken, Müller und Regenbrecht ermöglicht aus-schließlich eine Volltextsuche. Das ist zwar immer noch effektiverals das Nachschlagen in einem Printprodukt, reduziert aber dieMöglichkeiten elektronisch unterstützter Suchtechnik unnötig.Einzelne Textteile sind – allerdings wenig komfortabel – markier-und kopierbar. Die Möglichkeiten einer elektronischen Veröffent-lichung werden aber im Unterschied zur Edition von Brandt u. a.insgesamt völlig ungenügend genutzt.

8 Publikationsform

Betrachtet man die Möglichkeiten der modernen Publikations-technik, so stellt sich die Frage, inwieweit das von Dippel betreuteProjekt einer Mikrofiche-Ausgabe für die Verfassungen nach 1850noch zeitgemäß und zukunftstauglich ist. Die große Zeit derMikrofiche-Editionen, als insbesondere auch viele Bibliotheks-kataloge in dieser Form erschienen, scheint seit den 1990er Jahrenabgelaufen zu sein. Auch die Zahl der Lesegeräte in den Biblio-theken nimmt in den letzten Jahren deutlich ab. Selbst das früherangeführte Kosten- und Raum-Argument ist in Anbetracht derCD-ROM-Ausgaben nicht mehr überzeugend. Es bleibt allerdingsbei der CD-ROM-Nutzung das Problem der geeigneten Hard- undSoftware. Denn noch ist fraglich, ob die derzeitige Technologieauch in zwanzig Jahren noch nutzbar ist. Als Gegenargument wäreanzuführen, dass grundsätzlich eine Datenmigration möglich ist,wobei die Frage nach dem notwendigen Aufwand im Raum steht.

Für eine langfristige Archivierung und Lesbarkeit in wissen-schaftlichen Einrichtungen sind Mikrofiches allerdings besser ge-eignet als CD-ROMs. Zum einen bieten Mikrofiches eine foto-graphische Wiedergabe der Dokumente, während die Texte aufeiner CD-ROM ein modernes Aussehen aufweisen. Damit gebenMikrofiches auch einen Eindruck vom druckgraphischen Erschei-nungsbild, was bei einem möglichem Verlust des Originals einklarer Vorteil ist. Zum anderen könnten heutige CD-ROMs nachneuesten Studien bereits in 10–15 Jahren physikalische Defekteaufweisen und dadurch eventuell nicht mehr lesbar sein. Allerdingsmüsste erwogen werden, ob statt der Lagerung auf Mikrofichesauch eine Speicherung mittels Digitalisierung denkbar wäre, wobeiman sich dann für ein auf Langzeitarchivierung ausgelegtes Spei-

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chermedium entscheiden müsste. Für den Privatbereich scheidenMikrofiches, die nur mittels eines Lesegeräts nutzbar sind, dagegenweitgehend aus. Hinsichtlich der Herstellungskosten gibt es unter-schiedliche Meinungen. Im Verkauf sind die gängigen CD-ROMsjedenfalls ungleich günstiger, wobei sie außerdem den Vorteilbieten, auch privat nutzbar zu sein. Unter Vertriebskostenaspektenund im Hinblick auf ihre Funktionalität liegt aus heutiger Sicht eindeutlicher Vorteil bei den CD-ROMs.

Ein letzter Punkt ist im Hinblick auf eine elektronische Ver-öffentlichung anzusprechen. Immer mehr historisch relevante Ma-terialien sind inzwischen auch im World Wide Web verfügbar.Allein zwei Editionen von Verfassungstexten befinden sich freizugänglich im Internet.24 Ohne Frage stellen diese Textsammlun-gen eine schnelle und kostengünstige Möglichkeit für den erstenZugriff dar. Mit den derzeit vorliegenden bzw. entstehenden wis-senschaftlichen Verfassungseditionen sind sie allerdings in Text-treue, Erschließungstiefe und Rechercheoptionen (bisher) nichtvergleichbar. Den auf dem Markt befindlichen Studienausgabenkönnten sie allerdings auf Dauer durchaus Konkurrenz machen.

9 Resümee

Generell muss man über die Zukunft der Edition von Ver-fassungstexten intensiver nachdenken. Dabei ist im Hinblick aufInformationsdichte und Erschließungstiefe zwischen Studien- undForschungsausgaben grundsätzlich zu unterscheiden. Ohne Zwei-fel wird man nach dem Gesagten die Editionen von Blanke, Busseku. a., Sautter und Willoweit / Seif dem Typus der Studienausgabezuordnen. Hier geht es primär um die Präsentation der Texte, nichtum die Feinheiten von Textexegese und komparativer Tiefenschär-fe. Doch lassen sich Textauswahl und -präsentation durchaus ver-bessern. Demgegenüber zielen die Großvorhaben von Brandt u. a.,Dippel und Kotulla auf eine andere Leserschaft. Ihr Anspruch ist es,auch und vor allem den wissenschaftlich arbeitenden Verfassungs-historiker zu erreichen und ihm ein Forschungsinstrument an dieHand zu geben. In dieser Hinsicht sind die drei sehr umfangreichangelegten Editionsvorhaben uneingeschränkt zu begrüßen, selbstwenn man im Einzelnen durchaus Kritik an der Kommentierungüben kann.

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24 http://www.verfassungen.de(15.5.2006): Verfassungen derWelt. Gegenwärtige und histori-sche nationale und internationaleVerfassungstexte in deutscherSprache; http://www.documentarchiv.de (15.5.2006): historischeDokumenten- und Quellensamm-lung zur deutschen Geschichte ab1800, die etwas mehr als 1.000Texte bereithält.

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Auffällig bleibt die signifikante Häufung von Verfassungs-editionen innerhalb der letzten Jahre. Offenbar versprechen sichdie jeweiligen Verlage, sofern die Werke nicht hauptsächlich durchDrittmittel finanziert sind,25 einen ökonomischen Nutzen. Ver-mutlich wird am Beginn eines neuen Jahrtausends darauf speku-liert, dass ein Bedürfnis danach besteht, Bilanz zu ziehen. Hinzutritt sicher die Tatsache, dass angesichts des Verfassungswandelsin Osteuropa seit 1989 und der aktuellen Verfassungsdiskussioninnerhalb der Europäischen Union die wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit für Verfassungsthemen im allge-meinen sensibilisiert ist und deshalb auch historischer Informa-tionsbedarf besteht.

Wie lautet zu Beginn des neuen Jahrtausends und nach rund230jähriger Geschichte des modernen Konstitutionalismus einevorläufige Bilanz über die neuen Editionen zur Verfassungsge-schichte? Es zeigt sich dreierlei: 1. Wie in den neueren Darstellun-gen zur Verfassungsgeschichte ist gleichfalls eine Tendenz zurEuropäisierung und Internationalisierung festzustellen; 2. Es gibtneben neueren Studienausgaben mehrere wissenschaftliche Groß-vorhaben im Sinne einer (weitgehend) vollständigen Dokumen-tation von Verfassungsurkunden; 3. Die Editionsvorhaben unter-scheiden sich neben Auswahl und Präsentation besonders markantin ihrer Erscheinungsform: Neben den traditionellen Buchausga-ben sind CD-ROMs, Online-Publikationen im Internet und eineMikrofiche-Ausgabe erhältlich bzw. verfügbar. Im Hinblick aufeine effektive Nutzung der Editionen für eine vergleichende Ver-fassungsgeschichte modernen Zuschnitts wäre insbesondere diedafür geeignete Veröffentlichungsform zu überlegen.

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25 Die Edition von Brandt, Kirschund Schlegelmilch wird von derFriedrich-Ebert-Stiftung unter-stützt; Dippel dankt der DeutschenForschungsgemeinschaft und Ko-tulla der VerwertungsgesellschaftWort.