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1 Prof. Dr. Michael Hüther Direktor Institut der deutschen Wirtschaft Köln 16.03.2017 Rede zur Freiheit „Zur Freiheit verpflichtet1. Einführung oder: Die große Enttäuschung über den Menschen (1) Seit langem, fast seit den Urzeiten der abendländischen Philosophie wird über Freiheit gesprochen und nachgedacht. Ebenso lang wird das Scheitern und das Ver- zweifeln an der Freiheit thematisiert. Bedenkt man die endlosen Bücherregale mit Titeln zum Thema Freiheit, so mag man den Eindruck gewinnen, dass eigentlich al- les schon gesagt, erörtert und gewendet wurde. Den gleichen Eindruck muss man haben, wenn man sich der bisher gehaltenen „Reden zur Freiheit“ erinnert. Eine sol- che Einschätzung beruht freilich auf der Vermutung, dass das Konzept der Freiheit in einer allgemein und jederzeit akzeptierten Weise definiert werden kann und nur noch Raum für unterschiedliche Interpretationen sowie Einordnungen bleibt. Diese Ein- schätzung ist jedoch in Zweifel zu ziehen, sie beruht auf dem verständlichen Wunsch, ein in jeder Hinsicht so wichtiges Konzept wenn schon nicht in seinen Folgen, so doch in seinem Verständnis unabhängig vom Wandel der Zeiten und der herrschenden Ideologien sehen zu können. Doch so betont der britische Historiker und exzellente Kenner der politischen Ide- engeschichte Quentin Skinner unter Bezugnahme auf Nietzsche Konzepte mit ei- ner Geschichte, die bis zur Gegenwart durch den Widerstreit von Ideologien charak- terisiert ist, entziehen sich notwendigerweise einer solchen umfassenden, allgemei- nen und zeitunabhängigen Definition. Man läuft ansonsten in die Sackgasse, ein his- torisches Konstrukt systematisch nachzubilden und diesem einen Deutungskontext zuzuweisen, der selbst nur historisch legitimiert werden kann. Das ist scheinbar eine gute, weil entlastende Nachricht für den Referenten, der in einer historischen Be- trachtung hinreichend Anknüpfungspunkte für eine andere, vielleicht ergänzende, hoffentlich überzeugende Argumentation findet. Es ist gleichwohl eine irritierende Nachricht für eine demokratische Bürgergesell- schaft, die so Hannah Arendt darauf zielt, durch alles Politische die Freiheit ihrer

Rede zur Freiheit „Zur Freiheit verpflichtet · dass politische und ökonomische Freiheit auch als gesellschaftliche Besserungsan- stalt wirken könne und die Übel auf diese Weise

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Prof. Dr. Michael Hüther Direktor Institut der deutschen Wirtschaft Köln

16.03.2017

Rede zur Freiheit „Zur Freiheit verpflichtet“

1. Einführung oder: Die große Enttäuschung über den Menschen

(1) Seit langem, fast seit den Urzeiten der abendländischen Philosophie wird über

Freiheit gesprochen und nachgedacht. Ebenso lang wird das Scheitern und das Ver-

zweifeln an der Freiheit thematisiert. Bedenkt man die endlosen Bücherregale mit

Titeln zum Thema Freiheit, so mag man den Eindruck gewinnen, dass eigentlich al-

les schon gesagt, erörtert und gewendet wurde. Den gleichen Eindruck muss man

haben, wenn man sich der bisher gehaltenen „Reden zur Freiheit“ erinnert. Eine sol-

che Einschätzung beruht freilich auf der Vermutung, dass das Konzept der Freiheit in

einer allgemein und jederzeit akzeptierten Weise definiert werden kann und nur noch

Raum für unterschiedliche Interpretationen sowie Einordnungen bleibt. Diese Ein-

schätzung ist jedoch in Zweifel zu ziehen, sie beruht auf dem verständlichen

Wunsch, ein in jeder Hinsicht so wichtiges Konzept – wenn schon nicht in seinen

Folgen, so doch in seinem Verständnis – unabhängig vom Wandel der Zeiten und

der herrschenden Ideologien sehen zu können.

Doch – so betont der britische Historiker und exzellente Kenner der politischen Ide-

engeschichte Quentin Skinner unter Bezugnahme auf Nietzsche – Konzepte mit ei-

ner Geschichte, die bis zur Gegenwart durch den Widerstreit von Ideologien charak-

terisiert ist, entziehen sich notwendigerweise einer solchen umfassenden, allgemei-

nen und zeitunabhängigen Definition. Man läuft ansonsten in die Sackgasse, ein his-

torisches Konstrukt systematisch nachzubilden und diesem einen Deutungskontext

zuzuweisen, der selbst nur historisch legitimiert werden kann. Das ist scheinbar eine

gute, weil entlastende Nachricht für den Referenten, der in einer historischen Be-

trachtung hinreichend Anknüpfungspunkte für eine andere, vielleicht ergänzende,

hoffentlich überzeugende Argumentation findet.

Es ist gleichwohl eine irritierende Nachricht für eine demokratische Bürgergesell-

schaft, die – so Hannah Arendt – darauf zielt, durch alles Politische die Freiheit ihrer

2

Bürger zu sichern. Das setzt eine Gewissheit über die Freiheit voraus, die man si-

chern will. Doch um welche Freiheit handelt es sich? Die Antwort kann – so Skinner –

in der Genealogie des Konzepts gesucht werden, indem man die Entwicklung des

Begriffsverständnisses entlang seiner akzeptierten Deutung im Lichte der kulturell-

historischen Bedingungen zu verstehen versucht. Der Wechsel der Deutungen eröff-

net dabei einen Blick auf die Kritik, die jeweils mit den Bedeutungsverschiebungen

verbunden war. Erkennbar wird aber auch, was im Kern – also nicht im umfassenden

und zeitlosen Sinn – allenfalls in seinen Zwischentönen nuancierend immer dazu ge-

hörte und gehört. Sei es als Frage, als Werturteil, als Dilemma.

(2) Die Reden zur Freiheit der Friedrich-Naumann-Stiftung eröffnen eine eigene Ge-

nealogie der Freiheitsdeutung. Die Redner und Rednerinnen, die seit 2007 für die

Freiheit angetreten sind, haben sie in unterschiedlicher Weise gedeutet und dabei

jeweils ihre professionellen Erfahrungen sowie ihre kulturelle Kontingenz mitge-

bracht. Ich erlaube mir beim Blick zurück und im Weiteren die Beschränkung auf fünf

der Reden, einerseits um die Vielfalt des Materials beherrschbar zu halten. Es sind

andererseits aber – und das ist entscheidend – vor allem jene Reden, die in ihrer Dif-

ferenziertheit den historischen Kontext besonders deutlich werden lassen.

Udo di Fabio, der vor zehn Jahren die erste „Rede zur Freiheit“ hielt, hat über die

Fähigkeit zur Freiheit des „zerbrechlichen einzelnen Menschen“ gesprochen. Er hat

als Voraussetzungen dafür das Miteinander von individueller Selbstbestimmung und

konsistenter kollektiver Regelsysteme sowie die Existenz uns einhegender, auffan-

gender, stabilisierender sozialer Gemeinschaften benannt. Der Grundsatz personaler

Freiheit fundiere die Demokratie sowie das auf die Willensfreiheit und Rechtsgleich-

heit beruhende Privatrechtsregime.

Heinrich August Winkler sprach 2008 über „Die Deutschen und ihre Freiheit“, um das

schwierige Werden einer politisch freien Gesellschaft in der realen Zerklüftung ihrer

föderalen, bundesstaatlichen Tradition zu skizzieren. Der Zusammenhalt der Bürger

in der freiheitlichen Demokratie erschien ihm als zentrale Bedingung für die Stabilität

„der freiheitlichsten Ordnung in der deutschen Geschichte“. Was er hier und heute

wohl hinzufügen würde, wäre spannend zu hören.

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Im Jahre 2009 beleuchtete Joachim Gauck insbesondere die Furcht der Deutschen

vor der Freiheit, wie sie Erich Fromm schon 1941 beschrieben und analysiert hat. Er

betonte, dass die „Fremdheit gegenüber der Freiheit“ dort besonders stark sei, wo sie

in einem der raren Momente deutschen Freiheitskampfes errungen worden sei, in

den neuen Bundesländern. Doch: „Der Gewinn der Ohnmacht heißt: ich bin nicht zu-

ständig, ich kann nichts dafür“. Das ist durchaus ein starkes, wenn auch kein für eine

Bürgergesellschaft überzeugendes Motiv.

Paul Nolte verwies 2010 darauf, wie sehr die Entpolitisierung der Freiheit und ihre

Beschränkung auf die Privatheit zur Auszehrung des öffentlichen Raumes führen,

zugleich und spannungsreich die Gewöhnung an die Zuständigkeit des Staates för-

derten. Die damit angelegten Missverständnisse würden durch die Tatsache ver-

schärft, dass sich der Freiheitsbegriff der Eliten, der auf die große Geste des Frei-

heitskampfes zielt, und der des Volkes, der von der realen Freiheit im Hier und Jetzt

lebt, auseinanderentwickelt haben.

Wir haben offenkundig – so lässt sich schließen – anhaltende und vielfältige Schwie-

rigkeiten mit der Freiheit, und zwar aus unterschiedlichen Gründen: der schwierigen

deutschen Geschichte der Freiheitsgewährung und Freiheitssicherung, dem Verlust

sozialer Gemeinschaften, der chronischen Furcht des Einzelnen vor der Freiheit und

der Entpolitisierung mit der Folge einer Diversifizierung des Freiheitsbegriffs. Dies gilt

angesichts von Populismus und Zerfall des öffentlichen Raums heute noch viel mehr.

(3) Man könnte nun einwenden, dass dies alles andere als verwunderlich ist, denn

ansonsten machten Reden zur Freiheit im Auftrag einer politischen Stiftung wenig

Sinn: Die Stiftung will auf Herausforderungen in der Statik unserer Gesellschaft, ihrer

Politik und Wirtschaft hinweisen und nicht lediglich ein anregendes sowie unterhalt-

sames Bildungsangebot für interessierte, zumeist ohnehin bereits überzeugte Bürge-

rinnen und Bürger bieten. Dennoch bleibt es ganz grundsätzlich ein erstaunlicher

Befund, dass die Freiheit uns in der Moderne trotz der Erzählung ihrer Größe und

trotz des immer wieder heroisch aufflammenden und nie verschwindenden Kampfes

um sie und für sie so viel und so beständig Schwierigkeiten macht – oder manchmal

sogar Schmerzen bereitet.

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Es gilt also: Die Freiheit lockt offenkundig nicht immer – und in unserer Zeit ganz be-

sonders nicht aus sich selbst heraus – durch ihr großes Versprechen zu sich. Die

erste Vermutung dazu lautet, mein Vorvorgänger als IW-Direktor, Burghard Freuden-

feld, formulierte sie vor fast 35 Jahren: Reife Gesellschaften mit dem Standard west-

licher Staaten gewinnen nicht, sondern verlieren an Belastbarkeit (Freudenfeld,

1983). Der Grenzertrag der Freiheit in ökonomischer Hinsicht schwindet, schlimmer

noch: die Anstrengungen für die Aufrechterhaltung oder gar für eine Steigerung des

Standards nehmen in Zeiten globaler Interdependenz und forcierten technologischen

Wandels zu. Passend dazu sprach Peter Sloterdijk in seiner Rede 2011 von „Streß

und Freiheit“.

Diese Argumentation klingt überzeugend, offenbart aber eine erschreckende Abhän-

gigkeit der individuellen Freiheit des Bürgers von der wirtschaftlichen Leistungsfähig-

keit des politischen und ökonomischen Systems. So sehr es zustimmungsfähig ist,

dass ein Freiheitsregime seine Legitimation zu verlieren droht, wenn es die materiel-

len Voraussetzungen für die eigenverantwortliche Lebensgestaltung des Einzelnen

nicht verlässlich und nicht nachhaltig bieten kann, so sehr gilt doch ebenso, dass po-

litische Freiheit und Demokratie in Schwierigkeiten geraten, wenn ihre Akzeptanz

nahezu ausschließlich und nicht durch anderes kompensierbar an der ökonomischen

Leistungsfähigkeit hängt.

Freiheit heißt gerade die Unverfügbarkeit der Zukunft zu ertragen und die damit ein-

hergehende unvermeidbare Ungewissheit auszuhalten. „Freiheit ist die Absage an

die Tyrannei des Wahrscheinlichsten“, so Peter Sloterdijk oder in den Worten von

Friedrich August von Hayek: „Freiheit ist wesentlich, um Raum für das Unvorherseh-

bare und Unvoraussagbare zu lassen. … Freiheit, die nur gewährt wird, wenn im Vo-

raus bekannt ist, dass ihre Folgen günstig sein werden, ist nicht Freiheit“. (Der Satz

steht übrigens an der Wand des wichtigsten Besprechungsraums im Institut.)

(4) Aber: Haben wir uns für die Ergebnisoffenheit der Freiheit etwa nicht gut gerüs-

tet? Oder unterliegen wir der Illusion, dass sich mit der Freiheit als höchster Reife

gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Wirklichkeit auch alles immer und

auf Dauer zum absolut Guten und nicht nur zum relativ Besseren wendet? Ein Hauch

von Paradies-Erwartung schwebt im Raum, wenn sich der deutsche Idealismus in die

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Köpfe nicht weniger unserer Zeitgenossen windet (und Wahlkampfzeiten sind dafür

besonders förderlich).

Der Aufklärung, den politischen Revolutionen des 17. und des 18. Jahrhunderts so-

wie der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts entsprang der Optimismus,

dass politische und ökonomische Freiheit auch als gesellschaftliche Besserungsan-

stalt wirken könne und die Übel auf diese Weise nachhaltig aus der Welt hinausge-

trieben werden. Und wenn das politisch nicht so einfach und jedenfalls nicht ständig

gelingt, dann sollte es doch durch wirtschaftspolitische Intervention und sozialpoliti-

sche Umsorgung möglich werden, den Einzelnen zu vervollkommnen und in den

Stand zu versetzen, sich gänzlich den höheren Werten einer transzendentalen Welt

zu öffnen und zu verschreiben, um glücklich zu werden.

Vielleicht erkennen wir im Lichte der Erfahrungen des real existierenden Sozialismus

im 20. Jahrhundert zu wenig an, dass der Marxismus mit seiner bloß getarnten idea-

listischen Herkunft und Grundierung genau hier angesetzt hat und seine Botschaft

der mit ihm und durch ihn möglichen Menschwerdung nahezu heilsgeschichtlich for-

mulierte. Bei Immanuel Kant beginnt es mit „Der Mensch kann nur Mensch werden

durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ Im Kommunis-

tischen Manifest finden wir die beruhigende Aussicht der Erfüllung: „In dem Maße,

wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird

die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben“. Indem so die Unter-

schiede der Klassen und Nationen verschwinden, verliere „die öffentliche Gewalt den

politischen Charakter“, der Staat stürbe ab. Literarisch verarbeitet finden wir die Aus-

sicht auf das große Lebensglück bei Johannes R. Becher in seinem Gedicht „Früh-

ling“: „Friede, Friede, sei auf Erden! Menschen lasst uns Menschen werden!“

Wer wollte sich dem entziehen, wer wollte dem widersprechen? Wer wollte sich einer

Politik entgegen stellen, die mit diesem Motiv den Ausbau des Sozialstaats als Tu-

gendlehre betreibt. Und da kann es nicht verwundern, dass sich dieses Versprechen

heute in allen politischen Parteien als mehr oder weniger ausgeprägte sozialpoliti-

sche Versuchung wiederfindet. So hat sich als säkularisierte Heilsgeschichte die So-

zialpolitik an die Stelle der christlichen Botschaft gesetzt, und das mit dem großen

Vorzug zeitlicher Attraktivität: im Hier und Jetzt statt im Jenseits.

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Doch die Enttäuschung ist – was Wunder – groß. Denn Geld und Umsorgung führen

zur Vollendung der Menschwerdung nicht einmal im Paradies, das ja das Verspre-

chen der Sorglosigkeit in sich trägt und die grundsätzlich attraktive Haltung der Ohn-

macht ins Positive wendet. Der Marxismus hat sich – zugespitzt formuliert – mit un-

serer Sozialleistungsquote ganz ohne Revolution und Klassenkampf zu Tode ge-

siegt. Die Besserungsanstalt ist trotz der Tatsache, dass gut 12 Prozent der weltwei-

ten Sozialleistungen in Deutschland geleistet werden, hier aber nur 1 Prozent der

Weltbevölkerung leben, in diesem Sinne wirkungslos geblieben.

Der Mensch bleibt, was er immer war: zunächst und am Ende auf sich selbst verwie-

sen, in Situationen ebenso wie in den Grenzsituationen des Lebens, von denen Karl

Jaspers in seiner Existenzphilosophie spricht. Der in die Welt geworfene Mensch

muss sich zunächst mit sich selbst befassen, wenn er über Freiheit nachdenken will.

Das Gelingen und das Scheitern eines Lebens unter den Bedingungen der Freiheit

beginnt beim Einzelnen und nicht beim Kollektiv. Wir müssen also über die Freiheits-

verpflichtung des Menschen reden.

2. Thomas Hobbes und die Freiheitsverpflichtung des Einzelnen

(5) Anders als in der Moralphilosophie, die sich seit der Antike mit der Frage der frei-

willigen und unfreiwilligen, weil andernorts determinierten Handlungen, sowie der

dafür maßgeblichen und angemessenen moralischen Urteile auseinandergesetzt hat,

war die Geschichte des politischen Denkens seit der Antike weniger vom Individuum

und mehr von den Gemeinschaften her gedacht. Die römisch-republikanische Tradi-

tion des öffentlichen Lebens, die bis weit in die Moderne vorherrschend war, verorte-

te die Freiheit als Zuspruch innerhalb der staatlichen Ordnung: die freien Bürger –

liberi homines – einerseits und die Sklaven – abhängig von dem arbiträren Willen

eines Herrn – andererseits.

Quentin Skinner hat überzeugend herausgearbeitet, wie Thomas Hobbes schließlich

im „Leviathan“ (1651) – jenem bahnbrechenden Manifest politischen Denkens im

Aufbruch zur Moderne – eine andere Verankerung der Freiheit, nämlich beim Einzel-

nen vornimmt. „Freiheit“ – so heißt es dort – „ist das Fehlen jedweder Hindernisse für

das Handeln, die nicht in der Natur und intrinsischen Qualität des Handelnden lie-

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gen“1. Die Neuerung von Hobbes besteht in der Unterscheidung von „äußeren und

intrinsischen“ Hindernissen. Das eröffnet den Blick auf die Fähigkeit des Einzelnen,

willentlich zu handeln. Damit wird die Fähigkeit, in Verfolgung einer Option aus meh-

reren zielorientiert zu handeln, zur impliziten Voraussetzung, dass überhaupt Freiheit

wirksam werden kann, wenn es keine äußeren Hindernisse gibt. Der willentliche Voll-

zug einer Handlung ist deren Vollzug in Freiheit, und der Wille manifestiert sich in der

ungehinderten Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten.

„Ein freier Mensch ist, wer nicht daran gehindert wird, Dinge nach seinem Willen zu

tun, zu denen er aufgrund seiner Kraft und seines Verstandes fähig ist“, so Hobbes.

Um die Reichweite dieser Definition aufzuzeigen, wählt er folgendes Beispiel: „Wenn

jemand seine Waren ins Meer wirft, aus Furcht, das Schiff werde sinken, tut er es

dennoch sehr willentlich und kann davon absehen, wenn er will. Es ist deshalb die

Handlung eines Menschen, der frei war: So bezahlt ein Mensch zuweilen seine

Schulden nur aus Furcht vor dem Gefängnis, was die Handlung eines Menschen

war, der die Freiheit dazu hatte, da ihn niemand daran hinderte, sie vorzuenthalten.“

Freiheit, das ruft uns Hobbes zu, hört nicht auf, kraftvoll von Bedeutung zu sein, nur

weil die Handlungsalternativen zwischen Regen und Traufe wenig attraktiv sind.

Freiheit fordert uns auch dort zu entscheiden, wo es unbequem ist und wir gerne eine

dritte Alternative hätten, eine die uns zuträglicher erscheint. Freiheit so verstanden

lässt keine einfachen Ausflüchte zu, keine Reklamation der Ohnmacht, keine selbst-

verständliche Würdigung der Opferrolle. Es gibt – so lässt sich provozierend anfügen

– auch für die Abgehängten – sei es, ob sie sich selbst so positionieren, sei es, ob

andere ihnen das Etikett anhängen – keine einfache Ausflucht aus der Freiheit. So-

lange wir also die Wahl haben und uns niemand tatsächlich daran hindert, diese wil-

lentlich vorzunehmen, solange sind wir frei. Darum geht es Hobbes, nicht um die

menschliche Vervollkommnung oder die Einlösung eines Heilsversprechens auf

Glück.

Das wird schnell ungemütlich. Denn dann sind die Fragen zentral, ob und wo denn

wirklich ein äußeres Hindernis den Einzelnen behindert hat, ob es nicht doch die eine

oder andere Wahl gab, ob nicht die Chance bestand, am Hindernis vorbei zu einer

1 Alle Originalzitate von Hobbes aus Skinner (2008a).

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besseren Wahl zu gelangen oder ob es nicht etwa seitens der Person der Fähigkeit

ermangelte, zu entscheiden und zu handeln? Haben wir etwa unser Leben verfehlt,

weil wir die Freiheit hintangestellt haben? Hobbes ist in gewisser Weise unerbittlich,

denn er manifestiert, dass man auch in Freiheit leben kann ohne in einem Freistaat

zu leben, genauer: „dass das Maß unserer Freiheit unter der absoluten Monarchie

nicht notwendig geringer sein muss als unter den Herrschaftsformen einer Volksre-

gierung oder eines demokratischen Staates“.

(6) Damit gelangen wir als geübte Republikaner und überzeugte Demokraten auf

schwieriges Terrain. Die Spannung löst sich, wenn man hier eine Asymmetrie der

Freiheitsberechtigung und der Freiheitsverpflichtung erkennt. So sehr die Demokratie

der Freiheit verpflichtet ist und der Bürger in ihr dazu berechtigt, wie es Paul Kirchhof

formuliert, so wenig ist in anderen Regierungsformen der Bürger aus seiner selbst-

bezüglichen Freiheitsverpflichtung entlassen. Wir sind zu unserer Freiheit verpflich-

tet, selbst wenn das politische System dies ignoriert und unsere Freiheitsberechti-

gung in Frage stellt. Denn es gibt natürliche Rechte, die nirgends dem Staat zu-

stehen. Dafür nennt Hobbes: „Freiheit, zu kaufen und zu verkaufen und andere Ver-

träge miteinander abzuschließen, ihre eigenen Wohnsitz, ihre eigene Ernährung, ih-

ren eigenen Beruf zu wählen und ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es für richtig

halten und dergleichen“. Darauf bezogen, so Hobbes, behalten wir unsere natürliche

Freiheit, die Gesetze zu befolgen oder nicht.

Wir behalten also unsere Freiheit zu allen Zeiten und in allen politischen Systemen,

die natürlichen Rechte in unserer Entscheidungshoheit zu behalten und dafür das

Gesetz zu brechen. Ein wenig erinnert dies an Jürgen Habermas Kategorie des „zivi-

len Ungehorsam“, der sich in der Demokratie als legitim erweist, wenn es darum

geht, die Verletzung demokratischer Grundregeln durch das Mehrheitsprinzip zu ver-

eiteln und die Verfassung zu retten. Jeder Verfassungsvertrag, so würde Hobbes

ergänzen, kann freilich nur dadurch Autorität gewinnen, dass er diese unveräußerli-

chen, weil natürlichen Rechte nicht behandelt, sondern dem Individuum in seiner Pri-

vatheit und seiner Zuständigkeit überlässt.

Für den Einzelnen wird es freilich dadurch noch ungemütlicher, wenn der zivile Un-

gehorsam als Freiheitsrecht zwar gerade nicht zur Normalität gehören darf, als Opti-

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on aber zu jeder Zeit an jedem Ort grundsätzlich besteht. Damit grenzt sich Hobbes –

so Skinner – noch einmal gegenüber jener antik-republikanischen Denktradition ab,

deren Freiheit „nicht die Freiheit einzelner Menschen, sondern die Freiheit des Ge-

meinwesens“ beschreibt. Mit dieser Argumentation verschiebt sich der primäre Anker

der Freiheit, nämlich von der Ordnung, die den Einzelnen frei sein lässt, hin zum In-

dividuum, das stets aus eigener Kraft und Würde Freiheit beansprucht und bewirkt.

So erhielt – verwurzelt in der Aufklärung – der Freiheitsdiskurs aus den englischen

Revolutionen im 17. Jahrhundert und ihrer philosophischen Spiegelung bedeutsame

Impulse. In den Mittelpunkt rückte dadurch das Individuum, seine Freiheit, seine prin-

zipielle Gleichheit und seine Schutzwürdigkeit sowie Schutzbedürftigkeit. Ohne die

große Modernisierungsphase, die von 1750 bis 1850 in nahezu allen Lebensberei-

chen den Bruch mit vormodernen Strukturen brachte, ist diese Freiheitsvorstellung

als wirkungsmächtiges Konzept nicht denkbar, zumal nicht in der europäischen Di-

mension.

(7) Während insbesondere die Französische Revolution mit den Ideen von 1789 für

die Lösung des Staates aus der Dominanz der Kirche und die Befreiung des Einzel-

nen steht – und damit ohne die Reformation nicht vorstellbar ist –, so gilt gleicherma-

ßen, dass im Land der Reformation, im lutherischen Deutschland, diese Grundsätze

der Befreiung und der Selbstbestimmung erst spät wirksam wurden. „Eine franzö-

sisch formulierte Bewegung,“ – so Helmuth Plessner 1959 – „die zudem noch abge-

stimmt ist auf katholisches Milieu, einen national gesättigten politischen Zustand und

eine aristokratische Bildungsschicht, weckte in lutherischem Milieu von kleinstaatli-

cher Prägung keine tieferen Sympathien“.

Dabei hatte Martin Luther wesentliche Vorarbeiten für die Befreiung des Einzelnen

von äußeren Hindernissen geleistet. Wir sind dafür auf die Schrift des großen Refor-

mators aus dem Jahre 1520 verwiesen, die „von der Freiheit eines Christenmen-

schen“ kündet und mit der Luther auf die päpstliche Bannandrohungsbulle als Ver-

söhnungsangebot reagierte. Gleich zu Beginn scheint der Spannungsbogen aus

Freiheit und Bindung auf: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und

niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und

jedermann untertan.“

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Martin Luther spricht von der christlichen Freiheit als der Freiheit, die Christus dem

Menschen erworben und gegeben hat. Er fragt danach, was es bedeutet, ein freier

und rechtschaffender Mensch zu sein, wenn das sittliche Handeln nicht mehr gemäß

der kirchlichen Messopfer- und Sakramentenlehre verdienstlich ist. Die Antwort lau-

tet: „Allein der Glaube ohne alle Werke [macht] rechtschaffen, frei und selig“. Denn

wer einem anderen glaubt, der spricht diesem Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu, er

hält ihn für rechtschaffen und gerecht. Dieser Glaube an Gott wird dadurch erwidert,

dass der gläubige Mensch seinerseits durch Gott für rechtschaffen sowie wahrhaftig

gehalten und darin als frei geehrt wird. Die christliche Freiheit ist in das Heilswirken

Gottes eingebettet, indem der Mensch sola fide sich vertrauensvoll der göttlichen

Gnade öffnet und Gott sola gratia diese zuspricht.

Die Einsicht in dieses gegenseitige Zusprechen der Rechtschaffenheit und der Ge-

rechtigkeit nimmt einen Menschen in die Pflicht, der kultiviert und sittlich entwickelt

ist. Das macht deutlich, wie wenig die Reformation ohne den Humanismus und sein

Bildungsideal denkbar ist. Denn der Humanismus verabschiedet sich von der exklu-

siven Bildung der Eliten sowie den Privilegien des Adels und des Klerus. Mit dieser

Bildungsbewegung verband sich das Bewusstsein, das Mittelalter als abgeschlosse-

ne, gegenüber der Gegenwart wesensverschiedene Epoche zu deuten. Gedanklich

wurde der Blick frei auf ein anderes Menschenbild, das den Menschen aus eigenem

Recht und Anspruch als denkendes und handelndes Subjekt versteht.

(8) Das Handeln, durch das der Mensch sich entäußert, erlangt seine Qualität aus

der Sicht Martin Luthers nur durch den Glauben des Menschen. „Kein Werk macht

einen Meister so, wie das Werk ist, sondern wie der Meister ist, so ist auch sein

Werk“. Darin findet sich die lutherische Sicht auf die Freiheit des Einzelnen, indem

diese allein in seinem Glauben begründet wird. Neben den Glauben tritt die Nächs-

tenliebe, die den Menschen zur sozialen Verantwortung ruft.

In letzter Konsequenz wird der Mensch durch diese Deutung Luthers in religiösen

Dingen unabhängig und autonom von der Institution Kirche, noch grundsätzlicher: Er

wird autark gegenüber zuvor unbezweifelten Autoritäten, er verliert damit aber auch

institutionelle Bindung und Sicherheit. Unabhängig von späteren Neubewertungen

und der Tatsache, dass Martin Luther den Menschen nicht als politisches Wesen

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sah, war der große Reformator für die deutschen Aufklärer bis Lessing der Begrün-

der geistiger Freiheit. Die aufklärerische Befreiung des Einzelnen aus der christlich-

heilsgeschichtlichen Lebensbestimmung schuf die Grundlage für seine Freiheitsbe-

rechtigung gegenüber dem Staat, für die Absage an unbeschränkte, die Lebenswirk-

lichkeit vollumfassende Autoritäten.

Die deutsche Ambivalenz zur Freiheit ist bereits hier angelegt. Denn – so Helmuth

Plessner (1959) – „aus Gründen seiner politischen und religiösen Geschichte hat

Deutschland kein Verhältnis zu den Jahrhunderten, welche für die Bildung und Festi-

gung der modernen Welt entscheidend waren“. Dies wurde im 19. Jahrhundert deut-

lich, als nach dem Scheitern der 1848er Revolution und des Paulskirchen-

Parlaments sich im deutschen politischen Raum der Freiheitsbegriff spaltete: Wäh-

rend die Fürsten damit die staatliche Unabhängigkeit nach außen und die Freiheit

der Nation gegenüber den europäischen Nachbarn meinten, reflektierten Bürger und

Abgeordnete weiterhin auf die staatsbürgerlichen Freiheiten.

Kulturell dominierend wurde aber der Ruf nach nationaler Freiheit, der auch für die

deutschen Eliten alles übertönte. Schwer aber wog, dass der politische Sonderweg in

Deutschland die Überforderung des Menschen durch die politische Freiheit im Sinne

von Thomas Hobbes und die Gesinnungsfreiheit im Sinne von Martin Luther schein-

bar kompensierte, indem das Bündnis von Thron und Altar als notwendiger machtpo-

litischer Absicherung der Reformation zugleich eine Protektion des Einzelnen und

seine Orientierung durch den Landesfürsten als Bischof offerierte. Dauerhaft konnten

die Menschen nicht vor der Überforderung durch die Freiheit bewahrt werden; der

Fortschritt des individuellen Wissens und der Aufbruch zur politischen Freiheit wirk-

ten machtvoll dagegen.

3. Helmuth Plessner und die Überforderung in der Freiheit

(9) Die Gesinnungsfreiheit im Verständnis des Martin Luther und die politische Frei-

heit im Sinne von Thomas Hobbes haben im Zusammenspiel mit den späteren politi-

schen und ökonomischen Revolutionen neue Handlungsräume eröffnet und neue

Handlungsmöglichkeiten geschaffen. Die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse ver-

besserten und verbessern sich für immer mehr Menschen, die Lebenserwartung

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stieg und steigt beständig, die Wissensbestände explodierten geradezu – und tun

das auch weiterhin. Die Folge ist, das seit fast 200 Jahren die Menschen fortlaufend

über mehr finanzielle Ressourcen, mehr Bildung, bessere Gesundheit und mehr Zeit-

ressourcen verfügen als die jeweils vorangegangenen Generationen. Zeitgewinn be-

deutet einen Zugewinn an Gestaltungsfreiheit. Der zivilisatorische Gewinn durch die

kapitalistische Wirtschaftsweise ist gewaltig: Verbrachte in der Phase der frühen In-

dustrialisierung (also um 1830) ein Familienernährer rund 18 Prozent seiner Lebens-

arbeitszeit mit Berufsarbeit im arbeitsrechtlichen Sinne (d.h. ohne Ausbildungszei-

ten), so liegt dieser Anteil heute nur noch bei 8 Prozent. Hatte ein Arbeitnehmer in

den 1950er Jahren beim Beginn seiner Rente etwa 95.000 Berufsarbeitsstunden hin-

ter sich, so sind es heute rund 65.000 Stunden; zuletzt allerdings wieder leicht an-

steigend (Lübbe, 2009).

Doch trotz dieser enormen Zeitgewinne gilt – so der Philosoph Otto Böhmer: „Der

Mensch, rätselhaft wie schon immer, wird sich selber nicht los; als Subjekt hat er eine

Lawine des Wissens losgetreten, in der er, Objekt der Objekte, mit unterzugehen

droht“. Hans Blumenberg nennt dies „das große Rätsel des wachsenden Überdrus-

ses an der Wissenschaft“. Da die Wissenschaft immer weniger offensichtliche Prob-

leme bewältigt, verschwindet ihre akute Dringlichkeit und damit ihre selbstverständli-

che Legitimation. Damit verschärft sich, was im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem

wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt angelegt war. Denn

im Zuge dessen hatten die auf den Menschen bezogenen empirischen Wissenschaf-

ten – Biologie als Leitwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts, aber ebenso die

Physiologie, Psychologie, Medizin und Ethnologie – befreit aus der theologischen

Bevormundung sowie Bindung ihren Beitrag geleistet und ihren Anspruch auf die De-

finitionshoheit über das, war der Mensch war und ist, gestellt.

Diese Frage, was der Mensch war und ist, was seine Lebenssituation in dieser mo-

dernen Welt bestimmt und gestaltet, welchen Herausforderungen und Dilemmata er

im Spannungsbogen zwischen Körper und Geist gerade in Phasen fortschreitenden

Zeitgewinns ausgesetzt ist, verlangte aber philosophische Reflektionen. So entstand

in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die moderne philosophische Anthropologie,

die sich auf das neue vielschichtige Bild vom Menschen einstellte, das infolge der

neuen Wissenschaften in die Welt getreten war und einer ungeheuren Wandlungs-

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dynamik unterlag. Wie muss der Mensch sich in der Moderne selbst verstehen, wie

kann er seine Umwelt begreifen und wie ist er durch seine Geschichtlichkeit bedingt?

(10) Helmuth Plessner (1928), der neben Max Scheler und Arnold Gehlen maßgeb-

lich die neuere philosophischen Anthropologie begründete, war aufgrund seiner na-

turwissenschaftlichen Studien und seines Interesses an Philosophie in besonderer

Weise dazu prädestiniert, das empirische Material, das die Einzelwissenschaften in

Bezug auf den Menschen bereitstellten, philosophisch auszuwerten und in einer Ge-

samtschau zu deuten2. Für Plessner bleibt der Mensch als Lebewesen mit seiner

biologischen Möglichkeit im Rahmen seiner tierischen Herkunft; zugleich befähigen

ihn seine geistigen Anlagen, sich über sein kreatürliches Erbe hinwegzusetzen und

den freien Entwurf zu wagen – mit dem Risiko des Scheiterns und vor allem mit den

Möglichkeiten sein Scheitern auch zu begreifen. Die Fähigkeit im Hobbesschen Sin-

ne, willentlich zu entscheiden, ist für Plessner der Ausgangspunkt.

Die Fähigkeit zur Distanzierung, die einzig der Mensch besitzt, erlaubt es ihm, dass

er seinen Körper beherrscht und ihn zugleich als Gegenstand wahrnimmt, den er von

außen sieht: Er lebt sein Leben und geht auf Distanz zu seinem Leben. Der Mensch

stecke in seinem Körper „wie in einem Futteral“, er ist dazu verdammt, zugleich in

sich und nicht in sich zu sein. Diese „exzentrische Positionalität“ des Menschen ist

der „Anlass zur Kultur“. Der Mensch muss sich erst schaffen, um zu seinem Sein zu

gelangen, ein Sein, das niemals vollständig und rund sein kann. Er spürt ein perma-

nentes Ungenügen an sich selbst, eine permanente Unruhe: „Um sich ins Gleichge-

wicht erst zu bringen und nicht, um es zu verlassen, wird der Mensch das dauernd

nach Neuem strebende Wesen, sucht er die Überbietung, den ewigen Prozess.“

Thomas Hobbes hätte diese Einordnung mit Freude gelesen. Denn die philosophi-

sche Anthropologie von Helmuth Plessner füllt jene Lücke, um die sich der politische

Philosoph nicht kümmern musste, die Frage nach der „Natur und intrinsischen Quali-

tät des Handelnden“.

Allerdings: Aus der Kontingenz, der absoluten Zufälligkeit des menschlichen Daseins,

ergibt sich das Verlangen des Menschen nach einer letzten Zuflucht. Für Plessner

gibt es indes keine letzte Gewissheit, das Bedürfnis nach ihr läuft ins Leere. Der

2 Für wertvolle Unterstützung zu dem Abschnitt über Helmuth Plessners philosophische Anthropologie

danke Dr. Ute Preuße-Hüther.

14

Mensch ist „ins Nichts“ gestellt und gerade deshalb ist er auf den gesellschaftlichen

Schutz seiner Verletzlichkeit angewiesen. Es ergibt sich die „Pflicht zum Politischen“

als Plädoyer für die Respektierung der Privatheit eines jeden Menschen. Wir Men-

schen sind aufgrund unserer leiblichen Verfassung darauf angewiesen, uns zur Welt

hin zu öffnen und sie kulturell und gesellschaftlich zu gestalten. Erst dieses Schaffen

wiederum gewährt jenen Schutz, den wir angesichts unserer Verletzlichkeit unab-

weisbar im Miteinander mit den anderen benötigen.

(11) Plessner belässt es also bei der selbstbezüglichen Freiheitsverpflichtung des

Einzelnen, die zugleich eine Überforderung begründet, der wir – als „inverser“ Frei-

heitsberechtigung – nicht entkommen. Denn es gibt keine letzten Gewissheiten. Es

gibt keine heilsgeschichtliche Aussicht auf die Vervollkommnung des Menschen im

Diesseits. Das bedeutet jedoch, von unveränderlichen Grundtatsachen des Men-

schen und seinen historisch-gesellschaftlichen Bindungen auszugehen, die einer po-

litisch-gesellschaftlichen Verbesserung des Menschen grundsätzlich im Weg stehen.

Das Ausgehen von dem Individuellen, dem Privaten und der Schutzbedürftigkeit der

menschlichen Seele wendet sich gegen die Vorstellung einer gesetzmäßigen Zu-

kunftsidee, nach der es die Organisation der Gesellschaft und damit den Menschen

zu formen gelte. Das erklärt die Kritik der marxistischen Frankfurter Schule an Pless-

ner ebenso wie die Kritik aus einer Position nationalistischer Überhöhung.

Wir entkommen unserer Freiheitsverpflichtung nicht, wir können nur, so schlussfol-

gert Plessner, durch die Annahme der Pflicht zum Politischen unseren Weg durch die

ungemütliche Freiheit auf Erden finden. Nur so kann der Schutzbedürftigkeit der

menschlichen Seele entsprochen werden. Dazu gehören gesellschaftliche Rollen,

Ordnungssysteme, Spielregeln und funktionale Beziehungen in der Öffentlichkeit

ebenso wie die Distanz aus der Privatheit.

Wir benötigen diese Distanz, diesen Abstand zu den anderen, um – so würde Hob-

bes ergänzen: in der Wahrnehmung unserer natürlichen Rechte – unsere Person zu

entwickeln und unsere Würde zu bewahren. Wir müssen dabei akzeptieren, dass die

scheinbar irrationale Einsicht, dass der am weitesten kommt, der nicht weiß, wohin er

geht, auch in Zeiten hoch entwickelter Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften

ihre freiheitliche Berechtigung hat. Doch, was als irrational erscheint, ist nur die rea-

15

listische Absage an eine „hemmungslose, restlose Rationalisierung der Weisheit des

Intellekts, dass der am weitesten kommt, der weiß, wohin er geht“ (Plessner, 1924).

In einer solchen Welt der „Absage an die Tyrannei des Wahrscheinlichsten“ (Sloter-

dijk) sind wir mit Eigenwilligkeit und Irrationalität, mit Konflikten und Dilemmata kon-

frontiert.

Je mehr wir das akzeptieren können und ebenso die Folge, dass die Welt sich ihrer

vollständigen Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit entzieht, umso weniger hat der

Radikalismus, der die Gegenwart für die utopische Heilsidee eines idealen Staates

zu vernichten droht, Entfaltungsmöglichkeiten. Genau dies aber ist heute fast wieder

so in Gefahr wie es schon einmal der Fall war. So beklagte Helmuth Plessner in den

1920er Jahren die Verkümmerung der politischen Kultur in Deutschland und eine

Geringschätzung der politischen Sphäre, die aber zugleich mit einer Vergötterung

des Staates „an sich“ einhergingen. Plessner hält dagegen an der „Würde des Men-

schen, diesem ramponierten und dennoch unverzichtbaren Desiderat unserer

Selbstbestimmung“ (Böhmer) fest: „Der homo absconditus, der unergründliche

Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht, sei-

ne Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaften

ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft“ (Plessner, 1928).

Die neuere philosophische Anthropologie, so können wir festhalten, lässt uns frei-

heitstheoretisch nicht von der Angel. So sehr die konstitutive Konfliktlage des Men-

schen in seiner existentiellen Dimension deutlich wird, so sehr die Anforderungen

des Menschen zu seiner Überforderung in der Freiheit werden, so ergibt sich daraus

doch kein Pardon für den Verzicht auf die Freiheit. Die Überforderung, die uns damit

– zumal in der Zuspitzung durch Thomas Hobbes – trifft, muss angenommen werden,

wenn wir nicht nur unserer Freiheit, sondern auch unserer Würde nicht verlustig ge-

hen wollen. Die Bewältigung dieser Überforderung hängt an der Ordnung und der

Gestaltung des öffentlichen Raums. Dort finden wir Entlastung von der Absolutheit

der Freiheit. Dafür ist noch einmal ein Schritt zurück in der Genealogie der Freiheit

geboten, um nach jenen Entlastungsangeboten zu fahnden.

4. Adam Smith und die Suche nach Entlastung

16

(12) Die mit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit eingeläutete, durch die Reforma-

tion mitbetriebene und in der politischen Philosophie reflektierte Neubestimmung des

Menschen hat die Potenziale ebenso deutlich gemacht wie die Herausforderungen.

Die Freiheit als absolute, nicht kompensierbare Anforderung an den einzelnen Men-

schen ist nur zu bewältigen, wenn es zugleich Mechanismen und Strukturen der par-

tiellen Entlastung gibt. Der Mensch sucht nach Räumen der Unbelangbarkeit, weil es

eine Befreiung von der Freiheit nicht geben kann. Er braucht diese Entlastung, um

die Fähigkeit zur Freiheit zu entwickeln. Er braucht sie umso mehr, weil mit der Auf-

klärung der Mensch selbst in die Verantwortung für die Welt geriet.

Die Säkularisierung der Politik und des Politischen, die in der frühen Neuzeit nach

den großen Konfessionskriegen zur Konfliktbewältigung unvermeidbar wurde, verla-

gerte aber zugleich die Zuständigkeit für die Übel in der Welt an den Menschen. Zur

Überforderung durch die Freiheit des Individuums kam die Überforderung durch die

Zuständigkeit für die Gestaltung der Welt. So wird „der Mensch … der absolute An-

geklagte … wegen der Übel der Welt“, er steht von nun an „vor einem Dauertribunal,

dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist“, so Odo Marquard. Die von Lu-

ther begründete christliche Freiheit war in das Heilswirken Gottes eingebettet und

dieser sola gratia dem Menschen die Gnade gewährt.

Dieser Zuspruch der göttlichen Gnade und der daraus wirkende Schutz werden – so

Marquard – in dem Augenblick aufgehoben, als zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit

der Theodizee der Mensch selber ins Visier der Verantwortung für die Zustände in

der Welt geriet. Denn die von Leibniz vorgetragene Rechtfertigung Gottes trotz der

weltlichen Missstände mit dem Verweis darauf, dass dies die beste aller möglichen

Welten sei (Theodizee), verfing nicht mehr. Da half auch göttlicher Zuspruch nichts.

Wo also die Reformation zunächst die Schneise zur geistigen Befreiung schlug, da

verlangten die Reformationskriege und ihre Folgen eine säkulare Ordnung aus Men-

schenhand. Das war ohne Entlastung nicht zu leisten. Und diese Entlastung wurde in

verschiedener Form gefunden.

(13) Dem Druck der Anklage für die Übel in der Welt versucht man durch einen Aus-

bruch in die Unbelangbarkeit zu entkommen. Das geht einmal über die Formulierung

von Schutzrechten, die als Menschenrechte seit Ende des 18. Jahrhunderts dem

17

Einzelnen einen Raum der Unbelangbarkeit sichern. Hier reift der aufklärerische Ge-

danke der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Schutzbedürftigkeit zu dem Institut

der universellen Menschenrechte, das im Schoße der Französischen Revolution am

26. August 1789 von der Nationalversammlung in Paris formal beschlossen wird und

auf einer transatlantischen philosophischen Grundlage (Immanuel Kant, Thomas

Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Thomas Jefferson) ruht. In die-

sem Sinne ist der Mensch in seinen Grundrechten – seinen natürlichen Rechten laut

Hobbes – nicht rechtfertigungsbedürftig, sondern von jeder Erklärungsnot befreit –

unbelangbar.

In gleicher Weise wirkt die in der Aufklärung bedeutsam gewordene, historisierende

wie musealisierende Hinwendung zu Relikten und deren Bewunderung. So entste-

hen nach 1750 etwa gleichzeitig mit dem Begriff Fortschritt auch die ersten Museen.

Heroische Vergangenheiten sprechen scheinbar unveränderbar zu den Menschen.

Es sind Angebote der Beständigkeit und der Unveränderbarkeit, die damit den Pro-

jektionen der Menschen Raum geben. Über Relikte werden Heroen und große Leis-

tungen der Vergangenheit präsent – beides stellt Positives unbelangbar und ausglei-

chend in die Gegenwart, zu der auch Übel und Missstände gehören. Erinnerungsorte

sind Orte der Unbelangbarkeit oder: „die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus

dem wir nicht vertrieben werden können“ (Jean Paul).

(14) Ein anderer Weg auf der Suche nach Entlastung besteht darin, das Übel nicht

aus der Welt zu verbannen und zu verteufeln, sondern aus ihm das Gute abzuleiten.

Damit wird das Übel selbst zum akzeptierten, weil produktiven Bestandteil der Welt.

Der damit angelegte Kompensationsgedanke entstammt ebenfalls der Philosophie-

geschichte des 18. Jahrhunderts, beispielsweise im Utilitarismus bei Jeremy Bent-

ham oder bei Thomas Robert Malthus. Zur Anwendung kam er mit der modernen

Nationalökonomie und ihrer Metapher der unsichtbaren Hand. Diese bietet ein Ver-

ständnismodell für den marktwirtschaftlichen Mechanismus, der nicht nur Wohlstand

verspricht, sondern vor allem die Koordinierung der einzelwirtschaftlichen Entschei-

dungen effizient auf eine Weise leistet, die nach der Absicht der Handelnden nicht

fragt und so auch aus Übeln Gutes werden lässt.

18

Angeregt durch die Philosophie der Aufklärung und der damit postulierten Kompe-

tenz des Individuums haben im 18. Jahrhundert auffällig viele schottische Denker –

Moralphilosophen, Sozialethiker, Historiker, Juristen – danach gefragt, wie das Mitei-

nander der Menschen auskömmlich, gedeihlich und mit guten Folgen für organisiert

werden könne. Zu nennen sind vor allem Adam Smith (1723-1790) und John Millar

(1735-1801), David Hume (1711-1776) und Adam Ferguson (1723-1816), die in ei-

nem mehr oder weniger engen Austausch miteinander standen.

Im Vordergrund heutiger Wahrnehmung steht, dass Adam Smith und sein Schüler

Millar die Marktkoordination bei dezentraler Entscheidungskompetenz als Motor guter

wirtschaftlicher Entwicklung thematisierten. Im Hintergrund und deshalb besonders

betonenswert steht die Tatsache, dass Smith dabei weder die moralischen Voraus-

setzungen beim Individuum vergaß noch die Rolle des Staates im System der natür-

lichen Freiheit ignorierte. Adam Ferguson hat sich ähnlich für die Bedingungen ge-

sellschaftlicher Koordination interessiert, dafür die Bewegung zur „commercial

society“ begrüßt, doch zugleich die Frage aufgeworfen, wie damit die „civil society“ –

der Raum aktiver Bürgertugenden – vereinbar sei. Eine Antwort liegt in der von Adam

Smith als notwendig betonter Verbindung von Eigennutz und Wohlwollen, Gewissen

und Selbstregulierung sowie der Fähigkeit des Menschen, die Gefühle seiner Mit-

menschen nachzuahmen und damit zu verstehen.

Die Werke von Adam Smith durchzieht der Versuch, die menschliche Natur in ihrer

Vielfältigkeit, Bindung und Orientierungssuche zu verstehen. Darin liegt das Verbin-

dende seiner beiden Hauptwerke – „Theorie der ethischen Gefühle“ und „Wohlstand

der Nationen“, die lange Zeit als widersprüchlich gedeutet wurden. Tatsächlich wei-

sen schon die Textanalyse und die Entstehung sowie Überarbeitung beider Werke

daraufhin, dass beide Schriften nicht nur in einem engen zeitlichen, sondern vor al-

lem in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. In dieser liberalen Vorstellungswelt

bedarf es keiner Beherrschung der Bürger im Alltag durch die Politik, es geht viel-

mehr darum, durch ein kluges Arrangement allgemeiner Regeln und Ordnungen die

Gesellschaft im Ganzen zu steuern. Dieses Verständnis trifft sich mit Luthers Sicht,

der in Recht und Gesetz den hinreichenden Rahmen individuellen Handelns sieht,

um der Gewissensfreiheit als Glaubensfreiheit den angemessenen Raum zu geben.

19

Die natürliche Disposition des Einzelnen zur Wahrnehmung und zum Mitempfinden

der Situation anderer konstituiert seine Menschlichkeit. Das zeige sich – so Hume

und Smith gleichermaßen – zunächst in der Familie und in der Freundschaft. Doch

die Entwicklung der modernen Lebensweise, die auf Kooperation in Politik, Gesell-

schaft und Wirtschaft beruht und dadurch Kooperationsfähigkeit einübt und ausbildet,

hat dem erst im öffentlichen Raum Wirkmacht verschafft. Der liberale Staat muss

durch kluge Gesetze das natürliche Empfinden für Gerechtigkeit und Fairness stär-

ken und die Empathie-Fähigkeit des Einzelnen sowohl stabilisieren als auch ergän-

zen.

(15) Mit dieser Perspektive bietet Adam Smith eine doppelte Entlastung: Er eröffnet

zum einen eine glaubwürdige Aussicht auf die konstruktive Nutzung der Übel für gute

wirtschaftliche Ergebnisse und er begründet zum anderen plausibel die Hoffnung,

dass die Gesellschaft in der liberalen Ordnung zusammenhält. Insofern stellt Smith

mit der politischen Ökonomie eine Verbindung her zwischen der Mechanik der Märk-

te sowie der Schaffung von Wohlstand einerseits und der moralischen Orientierung

des Menschen sowie deren Beitrag zur gesellschaftlichen Bindungskraft anderer-

seits. Freiheit beruht – so rufen uns die schottischen Moralphilosophen zu – unwei-

gerlich auf der moralischen Dignität der Einzelnen.

Hier öffnet sich die Verbindung zu den beiden entwickelten freiheitsphilosophischen

Strängen. Die politische Freiheitsposition, die Thomas Hobbes entwickelt hatte, spie-

gelt sich in der Befähigung des Einzelnen, der nicht nur zur willentlichen Handlung

grundsätzlich berufen ist, sondern dafür durch begünstigende ökonomische Bedin-

gungen unterstützt sowie von der überfordernden Zuständigkeitsanklage für die welt-

lichen Ergebnisse entlastet wird. Mit Blick auf die Freiheit eines Christenmenschen,

wie sie Martin Luther konzeptualisiert gilt: „Was der Protestantismus auf spirituellem

Gebiet zur Befreiung des Menschen begann, hat der Kapitalismus auf geistig-

seelischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet fortgeführt. … Die individuelle

Beziehung zu Gott war die psychologische Vorbereitung für den individuellen Cha-

rakter der weltlichen Betätigung des Menschen“ (Fromm 2008: 82, 84). Im Ergebnis

ist der Einzelne dennoch einsamer und isolierter geworden. Die negative Freiheit von

Zwang und Fremdbestimmung hat nicht in gleicher Weise die positive Freiheit zur

Reife und Würde gebracht.

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5. Sinnlosigkeit der unbequemen Freiheit

(16) Der Gang durch die philosophischen Reflexionen war konzeptionell der Genea-

logie verpflichtete und musste doch in verschiedene Zeitschichten abtauchen. Er of-

feriert Einsichten, die zumindest auf den ersten Blick kaum jene Kräfte stärken, die

zur Freiheit rufen und dabei Begeisterung auslösen. Dies gilt zumindest dann, wenn

die Erwartung lautet: Wo finde ich die Freiheit als Chance ohne Belastung? Wo er-

öffnen sich Möglichkeiten aus wohltemperierten Alternativen? Wo werde ich vor den

Unsicherheiten und den Zufällen der Freiheit geschützt? Wer den modernen Frei-

heitsdiskurs in seinen frühen aufklärerischen Befunden zum Ausgangspunkt nimmt,

der wird auf diese Fragen zunächst und sehr lange keine zumindest befriedigenden

Antworten finden. Halten wir fest, was aus den Argumentationslinien nachwirkt:

1. Freiheit ist das Fehlen externer Hindernisse für die willentliche Entscheidung

und Handlung des Einzelnen, ruft uns Thomas Hobbes zu. Solange wir die

Wahl haben, sind wir frei. Daraus lässt sich eine selbstbezügliche Freiheits-

verpflichtung für die natürlichen Rechte ableiten. Martin Luther hat uns dazu

den Weg zur Gesinnungsfreiheit geöffnet.

2. Der Umgang mit der Freiheit wird im Lichte der anthropologischen Beschrän-

kungen und Dilemmata zu einer Herausforderung, obgleich der verletzliche

Mensch aufgrund seiner „exzentrischen Positionalität“ sich politisch Schutz

und Distanz schaffen muss. Nur so kann seine Privatheit gesichert und jener

Raum der Selbstreflexion sowie Findung entstehen. Da kommt der am weites-

ten, der nicht weiß, wohin er geht – so Helmuth Plessner.

3. Die Pflicht zum Politischen kann jedoch die Überforderung des Menschen

nicht allein bewältigen, die sich seit der Aufklärung aus der Zuständigkeit für

alle Übel in der Welt unausweichlich für ihn ergibt. Die Erklärung universeller

Menschenrechte, die Schaffung von Erinnerungsorten konstituieren Reservate

der Unbelangbarkeit. Wirksame Entlastung im täglichen Miteinander verschafft

Adam Smiths „unsichtbare Hand“ marktwirtschaftlicher Steuerung.

(17) Der mitunter verzweifelnde Ton, der zeitgenössischen Reden zur großen Ge-

schichte der Freiheit angesichts abnehmender Überzeugungs- und Strahlkraft eben

dieser Geschichte eigen ist, reflektiert – so wird gerne behauptet – jene Spaltung der

Gesellschaft, die der neoliberale Reformgeist verursacht habe. Doch hier scheint ein

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doppeltes Missverständnis durch: Einerseits öffnen Reformen, die objektiv mehr Be-

teiligungschancen im ökonomischen System begründen, Raum für mehr Kooperati-

on. Allerdings scheint es so, dass gute Ergebnisse nur als gut akzeptiert werden,

wenn sie mit ideologisch satisfaktionsfähigen Instrumenten der Wohlfahrtstechnolo-

gie erzielt wurden. Ansonsten kann nicht sein, was nicht sein darf. Andererseits wie-

derholt dieses Argument implizit die These, dass Freiheit nur wirkungsmächtig sein

kann, wenn die ökonomischen Verhältnisse günstig sind. Diese Verengung des Frei-

heitsbegriffs ist bedenklich und gefährlich.

So verbirgt sich hinter der Enttäuschung der Freiheitskämpfer wohl etwas anderes.

Vielleicht müssen wir ganz schlicht zunächst akzeptieren, dass andere die Freiheit

anders nutzen als die großen Traditionen europäischer Geistesgeschichte und die

prägenden Erfahrungen der politischen Geschichte nahelegen. Doch kann aus der

Akzeptanz auch Verständnis werden, das wiederum kommunikativ Brücken zu bauen

vermag? Das ist leichter gesagt als getan, und zwar sowohl mit Blick auf jene, für die

zur Freiheit auch die Ablehnung und Gefährdung der Freiheit selbst gehört, als auch

mit Blick auf jene, für die die eigene Freiheit um so viel bedeutsamer und legitimierter

ist als die aller anderen, dass sie daraus den Anspruch absoluter Macht ableiten.

Fassen wir es kleinteiliger und fragen: Was machen wir mit jenen, die ihr Leben ver-

fehlen, weil sie öffentlich wie privat die Freiheit zugunsten von anderen Interessen,

von Affekten, von Vorteilen hintanstellen und es vielleicht noch nicht einmal bemer-

ken? Wie begegnen wir Unternehmern, die sich über die schnellen Verwaltungsakte

in nicht-demokratischen Systemen freuen und daraus einen Nachteil für unsere,

scheinbar langsame freiheitliche und demokratische Verfassungsordnung machen?

Wie begegnen wir Menschen, die sich in ihrer schwachen, abgehängten Einkom-

mensposition entgegen den Möglichkeiten als Opfer sehen? Was antworten wir je-

nen, die das Reden von der Freiheit als Luxus der Eliten fern der Menschen bewer-

ten?

Die Antworten sind theoretisch scheinbar simpel: Wir brauchen eine konsequente

Sanktionierung der eigenen Verantwortung und der daraus folgenden Haftung. Wir

brauchen ein Bildungssystem, das mögliche Nachteile der sozialen Herkunft neutrali-

siert. Wir brauchen eine aktivierende statt eine alimentierende soziale Sicherung. Wir

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brauchen die allgemein akzeptierte Bereitschaft, Fakten zur Grundlage unserer Ent-

scheidungen zu machen und diese in den bewährten Verfahren unserer Verfas-

sungs- und Rechtsordnung umzusetzen.

(18) Doch etwas anderes ist ebenso wichtig: Die Einsicht, dass Freiheit per se nicht

vor Sinnlosigkeit bewahrt und Sinnverlust vermeidet. Es schwingt zu oft, wenn wir

über die Freiheit des Einzelnen sprechen, die idealistische Zusage mit, dass es dann

auch eine Art innere Erfüllung und einen Sinn für das eigene Tun gebe sowie ein Zu-

gang zum Lebensglück sich quasi automatisch öffne. Meist folgt dem die Deutung

auf dem Fuße, dass Freiheit die Zukunft der Unverfügbarkeit, der Kontingenz entzie-

he und die prinzipielle Offenheit sowie Ungewissheit menschlicher Lebenserwartung

im qualitativen Sinne – idealistisch überhöht – durch Sinngewinn einschränke. Die

Realität belehrt uns täglich eines anderen oder – so noch einmal Peter Sloterdijk:

„Freiheit ist die Absage an die Tyrannei des Wahrscheinlichsten“ oder mit den Wor-

ten von Hans Blumenberg, Freiheit „ist die Pflege des Unselbstverständlichen“.

Wir tun der Freiheit einen Tort an, wenn wir sie inhaltlich mit einer Sinnerwartung und

einem Glücksversprechen aufladen, derer sie zu ihrer Legitimation nicht bedarf und

die durch Mangelerscheinung Enttäuschung produzieren muss. Allein die emphati-

sche Sinnerwartung unserer Zeit und zugleich die offene Debatte über das, was un-

ter Sinn zu verstehen ist, machen deutlich, auf welch schwankendem Grund wir uns

damit bewegen – oder in den Worten von Odo Marquard: „Der Sinn ist stets der Un-

sinn, den man lässt“. Stattdessen müssen wir dafür werben, die Offenheit der Zu-

kunft, die Würde des Zufalls und sinnfreier Vorgänge, die Kontingenz unserer Erwar-

tung zu akzeptieren, anzunehmen und uns anzueignen. Das ist wahrlich eine große

Aufgabe: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Möglichen und Unmöglichen,

zwischen dem Verfügbaren und Unverfügbaren, zwischen dem Gestaltbaren und

dem Hinzunehmenden, zwischen der Situation und der „Grenzsituation des Lebens“,

die uns – so Karl Jaspers – vollständig existentiell erfasst und fordert.

Entlasten wir die Rede zur Freiheit von der Hoffnung auf Sinngewinn durch Freiheit.

Es ist weder realistisch noch hilfreich, wenn wir vom Einzelnen – jeder in der Heraus-

forderung seiner „exzentrischen Positionalität“ gefangen, nicht nur zu leben, sondern

diesem eigenen Leben gegenüber Distanz einzunehmen – auch noch verlangten, die

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gewährte Freiheit durch Sinnproduktion zu rechtfertigen. Helmuth Plessner hat uns

auf die Belastung und Überforderung aufmerksam gemacht, die auf dem Menschen

lastet, weil er sich erst schaffen muss und dennoch permanentes Ungenügen dabei

verspürt. Die elementare Freiheit, die Thomas Hobbes meint, wird dann zur Bürde.

Anders gewendet: Wenn wir die Freiheit von der Bedingung der Sinnproduktion be-

freien, wenn uns Unsinn und Sinnverlust des Einzelnen kollektiv nicht kümmern,

dann verliert die Freiheit als „Fehlen jedweder Hindernisse für das Handeln, die nicht

in der Natur und intrinsischen Qualität des Handelnden liegen“ zumindest teilweise

ihren Schrecken. Dann können wir gar mit Leichtigkeit die Freiheit wieder darauf be-

ziehen, wo sie ihren Ausgang nimmt und ihre Würde gewinnt: auf den Einzelnen.

Und wir können und sollten Freiheit deshalb so verstehen: Freiheit ist der Verzicht

auf die Anstrengung, ohnmächtig zu bleiben. Nur so können wir selbst jene Sicher-

heit finden, die in den Institutionen unserer Verfassungsordnung angelegt ist, aber

der lebenspraktischen Wendung bedarf. Dies gilt besonders in digitalen Transforma-

tion, in der wir nur souverän und selbstbestimmt zurechtkommen. Dies gilt ebenso in

Zeiten, in denen die demokratische Ordnung sich unter vielfältigen inneren wie äuße-

ren Druck befindet: Wir alle sind und jeder einzelne ist zur Freiheit verpflichtet.

(19) Dies hat freilich zwei Konsequenzen: Erstens ist das Prinzip der Selbstverant-

wortung, der Vertragseinhaltung und der Haftung umso wichtiger. Wer willentlich

handelt, der muss willentlich verantworten. Wer stattdessen zuerst und stets nach

dem Staat fragt und danach, was dieser für ihn tun könne, der muss mit dem Vorwurf

leben, die Idee der Freiheit fahrlässig aufzugeben. Zweitens hilft uns die Wirtschafts-

ordnung der unsichtbaren Hand, weil sie unabhängig von der Motivlage des Einzel-

nen durch den funktionsfähigen Preismechanismus zu wohlfahrtsförderlichen Ergeb-

nissen führt. Darüber hinaus benötigen wir mehr Klarheit in der öffentlichen Anspra-

che, wo ganz offenbar nicht auf die Anstrengung verzichtet wurde, ohnmächtig zu

bleiben. Die Ernsthaftigkeit des Freiheitsdiskurses muss sich in dieser Klarheit erwei-

sen und auch im Streit. Wer sollte ernst genommen werden im Ringen um die Frei-

heit, der nicht dafür zu streiten bereit ist. Wer nur für die Freiheit zu werben bereit ist,

wo ihm Zuspruch und wärmendes Lob entgegen schlägt, der ist kein Streiter für die

Freiheit. Wir müssen der Versuchung zur Unfreiheit aus Bequemlichkeit entgegen

treten. Denn: Freiheit ist der Verzicht auf die Anstrengung, ohnmächtig zu bleiben.

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Literatur:

Hans Blumenberg: Sinnlosigkeitsverdacht. In: ders., Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

Otto A. Böhmer: Sternstunden der Philosophie. Von Platon bis Heidegger. 2. Auflage, Mün-chen: C.H. Beck 2004.

Udo Di Fabio: Die Kultur der Freiheit. Berlin 2007.

Burkhard Freudenfeld: Die Zukunft der Industriegesellschaft. In: Institut der deutschen Wirt-schaft (Hrsg.), Wirtschaftliche Entwicklungslinien und gesellschaftlicher Wandel. Köln: Deutscher Instituts-Verlag 1983.

Joachim Gauck: Zwischen Furcht und Neigung – die Deutschen und die Freiheit. Berlin 2009.

Jürgen Habermas. Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.

Friedrich August von Hayek: Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen 1991.

Michael Hüther: Liberalismus, (hrsg. von Stiftung Sozialer Protestantismus). Hannover 2015.

Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803.

Hermann Lübbe: Wertewandel und Krankheit. Über Ungleichheitsfolgen moralischer Selbst-bestimmung. In: V. Schumpelick, B. Vogel (Hrsg.): Volkskrankheiten. Gesundheitliche Herausforderungen in der Wohlstandsgesellschaft. Freiburg 2009, S. 65-78.

Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). https://www.luther2017.de/de/martin-luther/texte-quellen/lutherschrift-von-der-freiheit-eines-christenmenschen/, zuletzt besucht am 05. Februar 2017.

Odo Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahr-hunderts. In: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam 1981, S. 39-66.

Odo Marquard: Zur Diätetik der Sinnerwartung. In: ders., Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Reclam 1986, S. 33-53.

Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. 1848.

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Helmuth Plessner: Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. 1924.

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-phische Anthropologie. 1928.

Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. 1959.

Quentin Skinner: Freiheit und Pflicht. Thomas Hobbes‘ politische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008a.

Quentin Skinner: Hobbes and Republican Liberty. Cambridge: Cambridge University Press 2008b.

Peter Sloterdijk: Streß und Freiheit. Berlin: Suhrkamp 2011.

Heinrich August Winkler: Die Deutschen und ihre Freiheit. Berlin 2008.