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René Dausner Christologie in messianischer Perspektive

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René Dausner

Christologie in messianischer Perspektive

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Studien zu Judentum und Christentum

HERAUSGEGEBEN VON JOSEF WOHLMUTH

BAND 31

2016

Ferdinand Schöningh

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René Dausner

Christologie

in messianischer Perspektive

Zur Bedeutung Jesu im Diskurs

mit Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben

2016

Ferdinand Schöningh

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Gedruckt mit Mitteln

der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung:

Janet Brooks Gerloff, Unterwegs nach Emmaus

© VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Original: Benediktinerabtei Kornelimünster

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn

(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München

Printed in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-506-78423-0

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EXPOSITION

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Dtn 10,181

kale,sousin to. o;noma auvtou/ vEmmanouh,l, o[ evstin meqermhneuo,menon meq’ hmw/n o qeo,j

Mt 1,23b.c

L’un s’expose à l’autre comme une peau s’expose à ce que la blesse, comme une joue offerte à celui qui frappe.

Emmanuel Levinas2

È come se, per Paolo, tra Gesù e messia non ci fosse spazio per lo è copulativo.

Giorgio Agamben3

zw/ de. ouvke,ti evgw,, zh|/ de. evn evmoi. Cristo,j

Gal 2,20

Novo ordine: quia invisibilis in suis, visibilis est factus in nostris, incomprehensibilis voluit comprehendi; ante tempora manens esse coepit ex tempore

Leo I.4

1 „Er verschafft Waisen und Witwen ihr Recht. Er liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung

und Kleidung.“ (Einheitsübersetzung). 2 Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Paris 1974, 83. Ders., Jenseits

des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg i. Br. u.a. 21998, 119: „Der Eine setzt sich dem Anderen aus, wie eine Haut sich dem aussetzt, was sie verletzt, wie eine Wange, die dem hingehalten wird, der sie schlägt.“

3 Giorgio Agamben, Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani. Torino 22005, 118. – Ders., Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt a. M. 2006, 142: „Es ist, als ob es für Paulus zwischen Jesus und Messias keinen Raum für die Kopula ist gäbe.“

4 Leo I., Tomus Leonis, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 1. Paderborn u.a. 32002: „In neuer Ordnung, weil der in dem Seinigen Unsichtbare in dem Unsrigen sichtbar geworden ist, der Unbegreifliche begriffen werden wollte, der vor den Zeiten immer Seiende in der Zeit zu sein begann“.

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FÜR ÉLIANE

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AVANT PROPOS

Das Ziel der vorliegenden Studie besteht – dogmengeschichtlich gewendet – darin, die christologischen Vorgaben der frühchristlichen Konzilien – inbe-sondere des Nicäno-Constantinopolitanums (381 n. Chr.) sowie des Konzils von Chalkedon (451 n. Chr.) – reflexiv zu durchdringen. Zu diesen Vorgaben gehört die differenzierte und differenzierende Rede von Jesus als dem Gott-Menschen und dem Messias/Christus. Die Frage, der die Studie verpflichtet ist, lautet daher schlicht: Wer ist dieser Jesus von Nazareth, der von Christin-nen und Christen als Gott-Mensch und Messias geglaubt und bekannt wird? Die Antwort, die ich im Diskurs mit dem Zeitdenken von Emmanuel Levinas (1906-1995) und Giorgio Agamben (* 1942) zu entwickeln suche, eröffnet eine messianisch perspektivierte Christologie, die ich am Ende thesenhaft mit dem Begriff der Differenzchristologie näher zu charakterisieren suche.

Differenzchristologie ist nicht einfachhin identisch mit antiochenischer Trennungschristologie und stellt keine schlichte Opposition dar zur alexan-drinischen Einheitschristologie. Differenzchristologie bewegt sich jenseits bi-närer Denkschemata, zu denen auch die Unterscheidung gehört zwischen line-arer Chronologie und Ewigkeit, Geschichtszeit und Heilszeit. Mit der messia-nischen Zeit kommt eine dritte Dimension zur Sprache, die mit Levinas im Sinn einer originären Unendlichkeit als Einfall der Transzendenz in die Imma-nenz und mit Agamben im Sinn einer inneren Verwandlung der Zeit selbst zu verstehen ist. Differenz und messianische Zeit sind darum die entscheidenden Perspektiven, um der Frage, wer ist dieser Jesus von Nazareth?, in theologi-scher Verantwortung nachzugehen.

Entstanden ist meine Studie zur Bedeutung Jesu im Diskurs mit E. Levinas und G. Agamben, die von der Theologischen Fakultät an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im Sommersemester 2015 als Habilitations-schrift angenommen wurde, während meiner Tätigkeit als Assistent am Lehr-stuhl für Fundamentaltheologie. Sehr herzlich danken möchte ich daher dem Lehrstuhlinhaber, Herrn Prof. Dr. Christoph Böttigheimer, der in allen Diskus-sionen meinen theologischen Scharfsinn und mein Interesse an der wissen-schaftlichen Arbeit gefördert und gefordert hat. Mein Dank gilt darüber hinaus ebenso herzlich den beiden anderen Fachmentoren, Herrn Prof. Dr. Erwin Dirscherl (Regensburg) und Herrn Prof. DDr. Kurt Appel (Wien), die das Ent-stehen meiner Arbeit mit größtmöglicher Sorgfalt und Sachkompetenz beglei-tet und begutachtet haben. Nicht minder herzlich danke ich Herrn Prof. Dr. DDr. h.c. Josef Wohlmuth (Bonn), der ein externes Gutachten verfasst und für die Aufnahme in seine Reihe Studien zu Judentum und Christentum votiert hat, die im Schöningh-Verlag von Herrn Dr. Hans J. Jacobs betreut wird. Ein ganz besonderer Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG),

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10 AVANT PROPOS

namentlich Herrn Dr. Achim Haag, für die finanzielle Ermöglichung der Publikation. Meiner Frau, Evelyne Klaßen, danke ich sehr herzlich für die ungezählten Gespräche, für die unermüdliche Unterstützung und – last, not least – für das zeitintensive Korrekturlesen. Gewidmet habe ich die Studie unserer Tochter, durch die wir die Transforma-tion der Zeit leibhaftig erfahren dürfen.

Eichstätt, 11. März 2016 René Dausner

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INHALTSVERZEICHNIS

Exposition ............................................................................................................... 5

Avant propos ........................................................................................................... 9

EINLEITUNG

1. Problemskizze ................................................................................................... 17

2. Methodik ........................................................................................................... 24

3. Philosophischer Referenzrahmen ...................................................................... 28 3.1 Emmanuel Levinas – Ein ‚epochaler Denker‘ des 20. Jahrhunderts ............................................ 28 3.2 Giorgio Agamben –

Ein Denker an der Schwelle des 21. Jahrhunderts ..................................... 31

I. TEIL – DIE CHRISTLICHE JESUSINTERPRETATION UND DAS PHÄNOMEN DIASTATISCHER ZEIT

1. Zugänge zum historischen Jesus als dem Christus des Glaubens ..................... 37 1.1 Wer ist Jesus Christus? –

Zur Grundfrage der Christologie ............................................................... 37 1.2 Wer war Jesus von Nazareth? –

Die historische Rückfrage .......................................................................... 41 1.3 „Wer ist denn dieser …?“ (Mk 4,41) –

Der biblische Bezugsrahmen ..................................................................... 45 1.4 Wer ist Jesus Christus heute? –

Der dogmatische Konstruktionspunkt........................................................ 58 Zwischenergebnis ............................................................................................. 71

2. Das Phänomen diastatischer Zeit ...................................................................... 75 2.1 Annäherungen an die diastatische Zeiterfahrung ....................................... 78 2.2 Responsive Phänomenologie und christologische Folgerungen ................ 85 2.3 Die soteriologische Differenz oder: Jesus als Messias .............................. 91 Ausblick ........................................................................................................... 97

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12 INHALTSVERZEICHNIS

II. TEIL – MESSIANISCHES DENKEN

1. Messianismus als Umkehrung des Seins (E. Levinas) .................................... 105 1.1 Hinführung............................................................................................... 105 1.2 E. Levinas’ Reflexion zum ‚Gott-Menschen‘

in „Un Dieu Homme?” (1968) ................................................................. 114 1.2.1 Die phänomenologische Methodik des Textes ............................. 117 1.2.2 Zum Argumentationsgang des Textes .......................................... 119

(1) Die Transdeszendenz Gottes ................................................... 121 (2) Die Transaszendenz des Subjekts ........................................... 131

1.2.3 Christologische Anschlussstellen des Textes ............................... 138 (1) Ethische und historische Theologie der Offenbarung ............. 139 (2) Verantwortung und Zeugenschaft

durch das inkarnierte Subjekt.................................................. 143 (3) Der Horos von Chalkedon in transontologischer Lesart ......... 146

Zusammenfassung ..................................................................................... 150 1.3 E. Levinas’ Interpretation der ‚Idee des Unendlichen‘

in „Dieu et la philosophie“ (1975) ........................................................... 153 1.3.1 Die cartesische ‚Idee des Unendlichen‘

in der Relektüre von E. Levinas ................................................... 155 1.3.2 Zur ‚Idee des Unendlichen‘ in ‚Dieu et la philosophie‘ ............... 164 1.3.3 Die Relevanz der ‚Idee des Unendlichen‘

für das Gottesverständnis ............................................................. 170 1.3.4 Die ‚Idee des Unendlichen in uns‘ und

das passive Zeitbewusstsein ......................................................... 178 Zusammenfassung ................................................................................... 183

1.4 E. Levinas zur Substitution (Stellvertretung) in „Autrement qu’être“ (1974) ................................................................. 186 1.4.1 Stellvertretung (substitution) bei E. Levinas ................................ 186 1.4.2 Relektüren der Stellvertretung (substitution) nach E. Levinas ..... 191

(1) Jean-Luc Marion: Stellvertretung als potenzierte Verantwortung ....................... 191

(2) Bernhard Waldenfels: Stellvertretung als originäre Stellvertretung ........................... 197

1.4.3 Stellvertretung als Reformulierung des jüdischen Messianismus ......................................................... 203

Zusammenfassung ..................................................................................... 213 Ausblick ......................................................................................................... 215

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INHALTSVERZEICHNIS 13

2. Messianismus als Umkehrung der Zeit (G. Agamben) ................................... 221 2.1 Hinführung............................................................................................... 221 2.2 G. Agambens kairologische Zeittheorie

in „Zeit und Geschichte“ (1978) .............................................................. 232 2.2.1 Der griechische Zeitbegriff ........................................................... 235 2.2.2 Der christliche Zeitbegriff ............................................................ 239 2.2.3 Der moderne Zeitbegriff ............................................................... 241

(1) G. W. F. Hegel: Dialektik und Prozess ................................... 244 (2) K. Marx: Praxis und Geschichte ............................................. 246 (3) Diskontinuität und Koinzidenz in Gnosis und Stoa ................ 248 (4) W. Benjamin und M. Heidegger: Jetzt-Zeit und Augenblick . 251

2.2.4 Der kairologisch-politische Zeitbegriff ........................................ 255 Zusammenfassung ................................................................................... 258

2.3 G. Agambens philosophische Auseinandersetzung mit dem Corpus Paulinum in „Die Zeit, die bleibt“ (2000) ..................... 260 2.3.1 Zur Methodologie ......................................................................... 261 2.3.2 Zur Struktur der messianischen Zeit ............................................. 265

(1) Die bedrängende Zeiterfahrung im Kontext politischer Theologie ........................................... 265

(2) Die messianische Zeitstruktur des Römerbriefs ...................... 267 (3) Hermeneutik der messianischen Berufung.............................. 270 (4) Hermeneutik des messianischen Restes .................................. 275

2.3.3 Die messianische Zeit als zusammengedrängte Zeit der Erlösung ........................................ 281

(1) Die ‚Jetztzeit‘ und der Restgedanke........................................ 281 (2) Synthese der Zeitdiastasen ...................................................... 283 (3) Messianische Rettung ............................................................. 288

2.3.4 Subjektivierung und Entsubjektivierung in der Zeit ..................... 291 Zusammenfassung ................................................................................... 292

2.4 G. Agambens hermeneutische Fortführung der messianischen Zeitstruktur ................................................................ 294 2.4.1 Bruch der Zeit ............................................................................... 295 2.4.2 Die „Dunkelheit des Zeitgenössischen“ ....................................... 296 2.4.3 Philosophische Archäologie ......................................................... 299 2.4.4 Die Unpünktlichkeit der Gegenwart ............................................. 302 2.4.5 Die Diskontinuität der Zeit ........................................................... 305 Zusammenfassung ................................................................................... 307

2.5 G. Agambens Deutung der Messiasfigur ................................................. 308 2.5.1 Hinführung ................................................................................... 308 2.5.2 Zur Problematik des Gesetzes und des Messianismus .................. 309 2.5.3 Literarische Figuren des Messianischen ....................................... 311 2.5.4 Messianische Verwandlung .......................................................... 313 2.5.5 Homo sacer – Messias – Jesus Christus ....................................... 315

Ausblick ......................................................................................................... 320

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14 INHALTSVERZEICHNIS

III. TEIL – HERAUSFORDERUNGEN DES MESSIANISCHEN DENKENS FÜR DIE CHRISTOLOGIE

Vorbemerkung .................................................................................................... 327

1. Grundzüge des messianischen Denkens von Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben ........................................................................................... 330 1.1 Leitlinien des Diskurses ........................................................................... 330 1.2 Einzelaspekte ........................................................................................... 334

1.2.1 Messianische Umkehrungen ........................................................... 334 1.2.2 Ungleichzeitigkeit des Subjekts ...................................................... 339 1.2.3 Leiblichkeit des Subjekts ................................................................ 343 1.2.4 Sprache der doppelten Negation ..................................................... 349 1.2.5 Bezug zur christlichen Theologie ................................................... 352 1.2.6 Thematisierung der Gottesfrage ...................................................... 353

2. Perspektiven des messianischen Denkens für die Christologie ...................... 357 2.1 Messianische Interpretationen Jesu ......................................................... 357

2.1.1 Gott-Mensch ................................................................................... 357 2.1.2 Messias ........................................................................................... 363

2.2 Diskursöffnungen: Thesen für eine Differenzchristologie in messianischer Perspektive ....... 367

Autrement dit oder: Die Schwelle zum Leben in der Emmaus-Perikope (LK 24,13-35) .................... 378

Abkürzungen ....................................................................................................... 381

Siglenverzeichnis ................................................................................................ 381 I. Emmanuel Levinas ................................................................................. 381 II. Giorgio Agamben ................................................................................. 381

Bibliographie ...................................................................................................... 382 I. Emmanuel Levinas ................................................................................. 382

1. Französische Originaltitel (chronologisch gereiht) ........................... 382 2. Deutsche Übersetzungen (alphabetisch gereiht) ............................... 382

II. Giorgio Agamben ................................................................................. 383 1. Italienische Originaltitel (chronologisch gereiht) ............................. 383 2. Deutsche Übersetzungen (alphabetisch gereiht) ............................... 384

III. Sonstige Literatur ................................................................................ 385

Personenregister .................................................................................................. 405

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EINLEITUNG

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1. PROBLEMSKIZZE

Die Fülle an aktuellen Darstellungen zu Jesus von Nazareth bildet einen Spie-gel für die Bedeutung, die dieser Person auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zukommt. Der Neutestamentler Jens Schröter eröffnet daher seine Monogra-phie Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt mit einer ein-drücklichen Umschreibung dieser Relevanz Jesu:

„Jesus von Nazareth hat für unseren Kulturkreis eine einzigartige Bedeutung. Keine andere Person hat eine ähnliche Wirkung hervorgerufen und die europäi-sche Geschichte in einer vergleichbaren Weise beeinflusst. Die christliche Prä-gung der griechisch-römischen Spätantike, das Gegenüber von Papst und Kaiser im Mittelalter, Kreuzzüge, Reformation, die Deklaration der Menschenrechte oder die Verfassungen zahlreicher Staaten des europäischen und nordamerikani-schen Kulturraums sind geschichtliche Wirkungen derjenigen Religion, in deren Zentrum das Bekenntnis zu Jesus Christus steht. Die Spuren der Beschäftigung mit Jesus in Musik und Dichtung, Film und Malerei, Philosophie und Ge-schichtsschreibung – bis hin zur Zeitrechnung post Christum natum[] – zeugen von der einzigartigen Faszination, die von ihm seit etwa zweitausend Jahren ausgeht.“1

Die Transformationsprozesse, die nötig waren, um die Erinnerung an diese einzigartige Person lebendig zu halten, gelten nicht nur für die unterschied-lichen Zeiten, sondern auch für verschiedene Kulturkreise. Die Vielgestaltig-keit der Bilder, die die Jesusdarstellungen evozieren, beginnen bereits im Neuen Testament. „Die einen verstehen ihn als den messianischen Heilsbrin-ger, die anderen verurteilen ihn als Gotteslästerer und falschen Propheten oder als Rebell. Herodes verspottet ihn als einen Narren (Lk 23,6-12), und seine nächsten Verwandten halten ihn für verrückt (Mk 3,21).“2 Diese Reihe an Vor-stellungen lässt sich fortführen bis zum heutigen Tag: Jesus ist je nach Deu-tung „der Sittenprediger, der Humanist, der soziale Reformer und Revolutio-när, der Schwärmer, der Superstar, der Nonkonformist, der freie Mann.“3 Wal-ter Kasper hat angesichts dieser Liste an Etiketten und Rollenzuweisungen für Jesus festgehalten, dass „Jesus in kein vorgegebenes Schema“ passe, sondern vielmehr alle vorgefertigten und verfügbaren Schablonen sprenge. Diese Be-obachtung scheint mir von eklatanter Relevanz für die Charakterisierung Jesu selbst. Die Bedeutung Jesu offenbart, wenn das Wort Walter Kaspers wörtlich genommen werden darf, einen unendlichen Bedeutungsüberschuss Jesu. Wo-

1 Jens Schröter, Jesus von Nazaret. Leipzig 52013, 14. – In den Fußnoten finden sich bibliogra-

phische Grundangaben, ausführlichere Informationen im Anhang (Bibliographie). 2 Walter Kasper, Jesus der Christus. Freiburg. i. Br. 2007, 112. 3 Ebd.

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18 EINLEITUNG

rin liegt dieser Überschuss? Wie zeigt er sich? Mit anderen Worten: „Wer war nun dieser Jesus von Nazareth?“4

Die Frage, wer Jesus war und wer er für uns heute ist, bildet die klassische Fragestellung der Christologie ab und stellt auch den roten Faden der vorlie-genden Studie dar. Ulrich Ruh hat in seinem Editorial zu dem Sonderheft Jesus von Nazareth. Annäherungen im 21. Jahrhundert, das im Kontext der Veröffentlichung des ersten von drei Bänden zu Jesus von Nazareth von Be-nedikt XVI./Joseph Ratzinger erschienen ist, die Beantwortung dieser Frage durch den christlichen Glauben als „Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als dem Sohn Gottes und Erlöser der Menschen“ und das geforderte Bekenntnis als „eine so schwierige wie unerlässliche Denkaufgabe“ bezeichnet.5 Was macht aber genau die Schwierigkeit aus, das christliche Glaubensbekenntnis denke-risch nachzuvollziehen? Klar jedenfalls ist, dass die Christologie als die sys-tematisch-theologische Auseinandersetzung mit Jesus von Nazareth zum Kernbereich nicht nur exegetischer und historischer Forschung, sondern auch dogmatischen und fundamentaltheologischen Reflektierens und Argumentie-rens gehört. Auch wenn die Forschungsperspektiven der christologischen Ent-würfe, die allein im 20. Jahrhundert auf Grund historischer, philosophischer, politischer, ökonomischer, soziologischer und nicht zuletzt theologischer Um-brüche entwickelt wurden, zu vielschichtig sind, als dass sie in einer knappen Einleitung abgebildet werden könnten6, lassen sich doch zumindest zwei For-schungsfelder ausfindig machen7, die in den verschiedenen Ansätzen auf je unterschiedliche Weise eine zentrale Rolle spielen.

Das erste Forschungsfeld betrifft den Aspekt der Geschichte, der im Rah-men der historischen Rückfrage nach Jesus von Nazareth Berücksichtigung findet. In christologischer Hinsicht sind die exegetisch-historischen Beobach-tungen, die ungefähr seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Kontext der sog. Third Quest angestellt werden, – mitunter wider Willen8 –

4 Ebd., 79. 5 Ulrich Ruh, Editorial, in: HerKorr Spezial: Jesus von Nazaret. Mai 2007, 1. 6 In aktuellen Handbüchern und Einführungen zur Christologie finden sich kritische Darstel-

lungen neuerer christologischer Entwürfe: Ulrich Kühn, Christologie. Göttingen u.a. 2003, 53-88; Karlheinz Ruhstorfer, Christologie. Paderborn u.a. 2008, 44-85; 102-132; Bernhard Nitsche, Christologie. Paderborn u.a. 2012, 153-193; Christian Danz, Grundprobleme der Christologie. Tübingen 2013, 143-192.

7 Christian Danz, Zur Christologie. Tendenzen der gegenwärtigen Debatte (Teil I), in: ThR 74 (2009) 194-218; 263-289 (Teil II): „die mit dem neuzeitlichen Problemhorizont eng verbun-dene Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Geschichte, sodann die Diskussion um die Christologie im Kontext der Religionstheologie und schließlich die Frage nach den Konse-quenzen, die sich aus der neueren religionstheoretischen Debatte für die Christologie erge-ben.“ (194) Die beiden letzten Fragen können m. E. zusammengenommen werden.

8 Jens Schröter, Die aktuelle Diskussion über den historischen Jesus und ihre Bedeutung für die Christologie, in: Christian Danz; Michael Murrmann-Kahl, Hg., Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Tübingen 2010, 67-86: „Etlichen Publikationen aus den Anfängen der ‚Third Quest‘, die in der Regel aus dem nordamerikanischen Bereich stammen und in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts verfaßt wurden, kann deshalb

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1. PROBLEMSKIZZE 19

höchst bedeutsam. Denn das Ernstnehmen außerchristlicher Texte sowie nichtliterarischer Quellen auf Grund archäologischer Erkenntnisse ermöglicht eine neue historische Sicht Jesu von Nazareth sowie überhaupt des 1. Jahr-hunderts n. Chr. Entgegen der sog. zweiten Rückfrage nach Jesus, für die eine Differenz zum Judentum als Kriterium für die Echtheit der Jesus-Überliefe-rung angesehen wurde, gelang es nun, Jesus von Nazareth innerhalb des Ju-dentums zu verorten. In historiographischer Perspektive wird somit ein Para-digmenwechsel vollzogen, der sich parallel auch in der Christologie auf Grund eines neuen Interesses am jüdisch-christlichen Dialog entwickelt hat. „Wenn wir nach Jesus fragen und seine jüdische Abstammung ernst nehmen, dann kommen wir an der Frage nach seinem Ursprung nicht an Israel und seiner Erwählung vorbei.“9 Die deutschen Bischöfe haben daher ihre Schrift Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum (1980) mit dem programmatischen Satz eröffnet: „Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum.“10 Die historisch-kritische und die christologische Fragestellung dürfen daher nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern ergänzen einander, um eine su-chende und fragende Annäherung an Jesus von Nazareth wagen zu können.

Das zweite Forschungsfeld betrifft den Aspekt einer Pluralität von religiö-sen und weltanschaulichen Überzeugungen. In einer Zeit, in der die Welt mehr und mehr zu einem „global village“ (Marshall McLuhan) zusammenrückt, steht der Austausch mit Vertretern anderer Religionen auf der täglichen Agenda der Theologie. Die Christologie kommt dabei in besonderer Weise in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses und des gemeinsamen Gesprächs, weil der christliche Glaube an Jesus als Messias und Sohn Gottes einen we-sentlichen Differenzpunkt zu den anderen Religionen markiert. Angesichts der seit der Neuzeit stetig wachsendenden Erkenntnisse über die bekannte Welt gewinnen die Kontextualität und die Kontingenz sowohl des menschlichen Lebens überhaupt als auch der persönlichen Individualität an Relevanz. Zur Diskussion steht etwa, inwiefern angesichts der kulturellen Bedingtheit religi-öser Glaubensüberzeugungen sowie angesichts der Pluralität von individuellen Erfahrungen und Lebensentwürfen von einer ‚Absolutheit des Christentums‘ (Hegel) gesprochen werden kann. Die Rede von der Absolutheit des Chris-tentums wurzelt in der Einmaligkeit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus

ein geradezu anti-christologisches Interesse attestiert werden. Die entsprechenden Arbeiten sind dezidiert nicht daran interessiert, die Verbindung zwischen Jesus und den frühchristli-chen Glaubensaussagen oder den Bekenntnissen der Alten Kirche in den Blick zu nehmen, sondern wollen stattdessen unabhängig von derartigen theologie-geschichtlichen Fragestel-lungen untersuchen, welches Bild des Wirkens und Geschicks Jesu sich auf der Grundlage der vorhandenen Quellen rekonstruieren läßt.“ (68).

9 Erwin Dirscherl, Die Frage nach Jesus Christus und die Herausforderung des jüdisch-christli-chen Dialogs in der Gottrede, in: Ders., Das menschliche Wort Gottes und seine Präsenz in der Zeit. Paderborn u.a. 2013, 15-35, hier 25.

10 Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum. Erklärung der deutschen Bischöfe vom 28. April 1980. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 1980, 4.

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20 EINLEITUNG

Christus.11 Nicht von der Hand zu weisen ist freilich die Frage, ob zu Beginn des 21. Jahrhunderts der christliche Inkarnationsgedanke als „Höchstform“ plausibilisiert werden kann, wie es noch für Karl Rahners Christologie selbst-verständlich zu sein scheint. Hilfreich erscheint mir in diesem Kontext die Beachtung der Einzigkeit Jesu Christi, wie sie innerhalb des jüdisch-christli-chen Dialogs bedacht worden ist. „Einzigartiges kann nicht verglichen wer-den, sondern muss in einer Sprache der Anderheit zur Sprache kommen, die nicht in Kategorien des mehr oder weniger denkt.“12 Das christologische Argument bedeutet, dass die Einzigkeit Jesu, die im Rekurs auf Gott formu-liert wird, die Einzigkeit jedes anderen Menschen begründet. „Die Einzigkeit Jesu Christi steht für die Einzigkeit der Gottesbeziehung jedes Menschen und macht diese nicht zunichte.“13 Das Erbe der beiden genannten Forschungsfel-der reicht bis in jüngste Überlegungen hinein, die „ein neues Denken des Menschen und der Gesellschaft“ bereitzustellen suchen.14

Das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit besteht angesichts des skizzier-ten Hintergrunds darin, die Christologie und den Messianismus in ein produk-tives Gespräch miteinander zu bringen, um der Frage, wer dieser Jesus sei, reflexiv nachgehen zu können. Gemeinhin bezeichnet dabei Christologie die Rede und Lehre von Jesus als dem Christus, der Messianismus15 die Rede und Lehre von dem Messias, der als endzeitlicher Erlöser kommen werde, um die Welt zu retten. Christologie wird diesem ersten Verständnis entsprechend der christlichen Theologie zugeschrieben, Messianismus dem jüdischen Denken; auch wenn diese Zuschreibungen nicht falsch sind, erweisen sie sich doch als undifferenziert.16 Denn Christus ist bekanntlich kein Eigenname, sondern die

11 Vgl. Michael Bongardt, Einführung in die Theologie der Offenbarung. Darmstadt 22009, 85-88.

12 Erwin Dirscherl, Die Frage nach Jesus Christus und die Herausforderung des jüdisch-christli-chen Dialogs in der Gottrede, in: Ders., Das menschliche Wort Gottes und seine Präsenz in der Zeit. Paderborn u.a. 2013, 15-35, hier 27.

13 Ebd., 29. – Vgl. ebd., 28: „In der Geschichte Jesu Christi geschieht die unmittelbare Nähe Gottes in dieser menschlichen Geschichte. Was hier für uns alle gelebt wird, passiert ganz von Gott und ganz vom Menschen Jesus her. Der Begriff der Einheit impliziert Vielheit (für alle) auf die Menschen hin und Unterschiedenheit Gotts hin, weil eine Beziehung zwischen Vater und Sohn zur Debatte steht, die selbst in Gott nicht aufgelöst wird. Das führt schließlich zur trinitarischen Rede von Gott.“

14 Kurt Appel, Perspektiven und Fragestellungen der katholischen Christologie heute, in: Chris-tian Danz; Michael Murrmann-Kahl, Hg., Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Tübingen 2010, 47-64, hier 64.

15 Vgl. Gerhard Biller; Ulrich Dierse, Art. Messianismus, messianisch, in: HWP 5 (1980) Spp. 1163-1166: Messianismus „wird heute allgemein jede religiöse und von daher auch politisch-soziale Heilserwartung genannt, die ans Ende der Geschichte das Kommen eines Retters und Erlösers setzt“ (Sp. 1163).

16 Vgl.: Schalom Ben-Chorin, Jüdischer Glaube. Strukturen einer Theologie des Judentums an-hand des Maimonidischen Credo. Tübingen 32001, 277-298: „Die Messias-Erwartungen in Judentum und Christentum, die so oft als das schlechthin Trennende angesehen wurden, sind es an sich nicht. Trennend ist nur die ausschließliche Begrenzung des Messianischen auf eine historisch Gestalt.“ (298).

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1. PROBLEMSKIZZE 21

latinisierte Fassung der griechischen Übersetzung des hebräischen Würdetitels „Messias“. Die zu Beginn der Einleitung zitierte Beobachtung Walter Kaspers, dass Jesus in kein Schema passe, wird mithin auch in Bezug auf den Messias-titel geltend zu machen sein. Wie aber kann Jesus als Messias gedacht werden, ohne zugleich einem zuvor gebildeten Begriff des Messianischen untergeord-net zu werden? Gibt es einen denkerischen Zugang zur Subjektivität diesseits oder jenseits aller Schemata?

Die Auseinandersetzung mit den beiden Philosophen Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben bedeutet einen Diskurs mit Denkern, „die das messiani-sche Erbe der deutsch-jüdischen Autoren aus dem ersten Drittel des 20. Jahr-hunderts bis zur Schwelle des 21. Jahrhunderts getragen haben“17. Der Messia-nismus, der auf höchst intensive und je unterschiedliche Weise von beiden Philosophen entwickelt wird, stellt keine religiöse Abhandlung dar, wenngleich die Quelle des Judentums, aus der sich der Messianismus jeweils speist, nicht in Abrede gestellt wird. Zentral ist für sie, die Inhalte des Messia-nischen zu denken. Daher scheuen weder Levinas noch Agamben die Ausei-nandersetzung mit der christlichen Theologie, auch wenn beide Denker dezi-diert weder Christologie noch Theologie betreiben. Ihr Metier ist die Philoso-phie. Für meine eigene Fragestellung ergibt sich aus diesem messianischen Denken die Möglichkeit, die Denkbarkeit der Christologie aufzugreifen und für die christliche Theologie zu reflektieren. Die Spannung, die sich daher durch die Verbindung von Christologie und Messianismus ergibt, stellt eine produktive Spannung dar, die jegliche Selbstverständlichkeit aufbricht. Viel-mehr gilt es, Jesus als Christus zu denken, als den Sohn Gottes, als Gott-Mensch und Messias.

Die Schwierigkeit, die sich dadurch für die christliche Theologie ergibt, soll nicht in Abrede gestellt werden. Denn weder Levinas noch Agamben akzep-tieren den christlichen Anspruch, in Jesus den einen und einzigen Sohn Gottes und Messias zu erkennen. Beide verstehen das messianische Denken als Den-ken der Subjektivität des Subjekts. Eröffnet aber die aus der Subjektivität des Subjekts sich ergebende Ablehnung allgemeiner Begrifflichkeiten, die das Subjekt verobjektivieren würden, nicht eine Subjektivität, die alle Schemen sprengt, wie Walter Kasper in Bezug auf Jesus konstatiert? Wie kann Jesus als der Gott-Mensch, der Unendliche im Endlichen gedacht werden? Inwiefern kann Jesus als Messias gedeutet werden, der das Antlitz der Menschheit und Welt bleibend verändert hat, obwohl – vordergründig – sich Katastrophe auf Katastrophe häuft? Welche Konsequenzen zeitigen die Theologoumena der Inkarnation, der Inspiration und der Erlösung in subjekttheoretischer Hinsicht? Wie kann Jesu Tod als Stellvertretung verstanden werden, ohne die Subjekti-vität des Subjekts in Abrede zu stellen? Ist die eingangs genannte Flut an Lite-

17 Elke Dubbels, Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller 1900-

1933. Berlin u.a. 2011, 415.

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22 EINLEITUNG

ratur über Jesus notwendig für die Bedeutung Jesu als Gott-Mensch und Mes-sias?

Welche Bedeutung hat die Rede von Jesus als dem Christus, dem Messias und Gott-Menschen, für uns heute? Auf die Dreidimensionalität dieser Frage-stellung werde ich im folgenden Abschnitt unter methodologischer Perspek-tive zurückkommen. Im Kontext der Problemskizze gilt es zunächst zu ver-stehen, was die Rede von Jesus als dem Christus inhaltlich bedeutet. Wie kann Jesus als Mensch und zugleich als Gott zur Sprache kommen? Diese Frage lautet in phänomenologischer Diktion: Wie kann die Transzendenz als Trans-zendenz in der Immanenz erscheinen? Problematisch ist dabei das ‚als‘, das die Vermischung von Transzendenz und Immanenz ebenso verhindern soll wie deren Trennung. Das chalkedonische Problem, das damit skizziert ist, wird gemeinhin als Problem der Identität behandelt. Mit dem messianischen Denken von Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben verschiebt sich die Problematik von der Identitäts- zur Zeitfrage. Dazu vorab nur einige Andeu-tungen, die in den jeweiligen Teilen ausgeführt werden. Levinas kritisiert das Denken der Identität als Restriktion von Sinn; nicht, dass Identität nicht be-rechtigt oder nicht sinnvoll wäre; aber Levinas fragt, wie ein anderer Sinn ge-dacht werden könne, jenseits des mit sich Identischen. In theologischer Hin-sicht ist diese Überlegung von zentraler Bedeutung, weil die Frage nicht nur die Denkmöglichkeit von Transzendenz als Transzendenz, sondern auch die Möglichkeit eines Denkens als Metaphysik betrifft, die eine Differenz zum Wissen der Empirie bedeutet. In christologischer Hinsicht ist diese Überle-gung von zentraler Bedeutung, insofern die Frage zur Debatte steht, wie Jesus Christus als wahrer Gott und zugleich als wahrer Mensch, unvermischt und ungetrennt gedacht werden kann. Levinas fragt zeittheoretisch, ob eine Ver-gangenheit gedacht werden könne, die nie Gegenwart war. Die Passivität des Zeitbewusstseins, die Levinas als Diachronie in das Denken einbringt, sprengt das synthetisierende Zeitbewusstsein. Christologisch ist diese Überlegung re-levant, insofern zu fragen ist, inwiefern Jesus als Christus nicht von bereits bekannten Begrifflichkeiten her verstanden wird. Aber ist nicht Christus be-reits ein bekannter Begriff, der auf Jesus angewendet wird?

Giorgio Agamben trägt zu einer Verschärfung dieser Problematik bei; be-reits zu Beginn seines Römerbriefkommentars betont er das erklärte Ziel, den in der christlichen ebenso wie der jüdischen Tradition verdrängten und verges-senen Messianismus in den Briefen des Apostels Paulus „wiederherzustellen“ (ZB 11). Dem zu erwartenden Einwand, mit diesem Vorhaben Eulen nach Athen zu tragen, hält Agamben entgegen, dass es gelte, die aporetische Struk-tur der messianischen Zeit wiederzuentdecken und freizulegen. Ähnlich wie Levinas betont auch Agamben das uneinholbare Passieren der Zeit; Agamben aber fragt weiter, welche Bedeutung das nicht mehr einholbare Christusereig-nis als Geschehen der Vergangenheit hat. Die Aporie dieser messianischen Zeit ergibt sich aus der absoluten Vergangenheit sowie aus der absoluten Zu-kunft:

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1. PROBLEMSKIZZE 23

„Der Messias ist schon gekommen, das messianische Ereignis hat schon stattge-funden, aber seine Anwesenheit enthält in ihrem Innern eine andere Zeit, die de-ren parousía entfaltet, nicht um sie aufzuschieben, sondern um sie zu ergreifen.“ (ZB 85)

Es ist klar, dass diese Zeitkonzeption nicht auf eine Erinnerung zuläuft. In christologischer Hinsicht stehen damit – in Abwandlung eines Wortes von Georg Essen – systematisch-theologische Überlegungen zur Vergangenheit der Vergangenheit an.18 Die Vergangenheit als Vergangenheit und die Zukunft als Zukunft zu denken, bedeutet nicht die Preisgabe dieser Dimensionen der Zeit. Im Gegenteil: sie werfen die Frage nach der Bedeutung dessen auf, was nicht mehr oder noch nicht ist und doch ewig bleibt. In christologischer Hinsicht steht damit die Bedeutung Jesu in einer spezifischen Weise zur De-batte: Jesus als Mensch und Gott zu denken, als den Gekreuzigten und den Auferstandenen, als den ewigen Sohn beim Vater, der uns heute auf andere Weise als im Modus der Gegenwart, in dem uns andere Menschen und Dinge gegenwärtig sind, nahe ist. Die Schwierigkeit der Vermittlung des christlichen Glaubens dürfte wesentlich mit der Schwierigkeit zusammenhängen, die ich im Kontext des messianischen Denkens zu klären, nicht aufzuheben suche. Die Möglichkeit, die sich durch das messianische Denken eröffnet, bedeutet in christologischer Hinsicht die Möglichkeit, die Begegnung mit Jesus Christus als Jesus Christus im Nächsten und die Begegnung mit Jesus Christus als Je-sus Christus in der Eucharistie neu denken zu können. – Eine Reflexion der messianischen Bedeutung Jesu, die es noch nicht gab und nicht mehr geben wird, ist demnach die bleibende Herausforderung der Christologie.

18 Vgl. Georg Essen, „Kann gestern besser werden?“, in: Florian Bruckmann; René Dausner,

Hg., Im Angesicht der Anderen. Paderborn u.a. 2013, 495-516.

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2. METHODIK

Sowohl für Levinas als auch für Agamben nimmt die Sprache eine zentrale Rolle im Denken ein; daher ist es erforderlich, dass auch ich diesem Aspekt des Denkens besondere Aufmerksamkeit schenke. Nicht nur das Nachdenken über Sprache ist dabei von Bedeutung, sondern die Sprache des Denkens selbst. Aus dieser grundsätzlichen Überlegung ergeben sich zwei Konsequen-zen für meine Arbeit: Zum einen stehen weniger einzelne Termini und Be-griffe im Fokus der Untersuchung, als vielmehr die Bewegung des Sprach-denkens, das sich bei Levinas durch ein Sagen (dire) und ein Zurücknehmen (dedire) des Gesagten (dit), bei Agamben durch die paradoxe Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von Berufung (vocazione) und Widerrufung (revoca-zione) auszeichnet. Die daraus sich ergebende Schwierigkeit der Vermittlung des Gedachten liegt auf der Hand. Zum anderen habe ich folglich den Origi-naltexten, zum Großteil auch in ihrer Originalsprache, erhebliches Gewicht beigemessen. Von daher erklären sich die zahlreichen, zum Teil auch umfang-reichen Zitate, die erforderlich sind, um die Dynamik des Denkens abbilden zu können.

Neben den beiden schon ansatzweise erklärten termini technici der Chris-tologie und des Messianismus gilt es den Begriff der ‚Bedeutung‘ noch näher in den Blick zu nehmen. Dieser Begriff ist weniger eindeutig, als der erste Eindruck vermuten lässt. Während diese semantische Unschärfe im Histori-schen Wörterbuch der Philosophie als Manko bewertet und vor sprachanalyti-schem Hintergrund für eine Ersetzung des Begriffs plädiert wird1, scheint mir die Offenheit des Begriffs dessen eigentlicher Vorzug zu sein. Die Gebrüder Grimm erfassten in ihrem großen Wörterbuch den Reichtum des Wortes, in-dem sie drei Bedeutungen unterschieden haben. Das Wort ‚Bedeutung‘ be-deutet demnach „interpretatio“ (im Sinn von ‚Deutung‘, ), „significatio“ (im Sinn von ‚vis‘, ‚Gewicht‘, ‚Nachdruck‘) und „admonitio“ (als ‚conditio ad-jecta‘).2 Für ein Verständnis der Bedeutung Jesu von Nazareth scheint mir diese Bedeutungsfülle geradezu angemessen. Ist es nicht der Versuch, den Begriff mit den Mitteln der Sprache selbst zu öffnen für jene Bedeutung, die Jesus als Gott-Mensch und Messias auch für uns heute hat?

Der ‚Bedeutung Jesu‘ möchte ich demnach eine dreifache Sinndimension zuschreiben:

1) im Sinn einer Interpretation. Jede Annäherung – historischer oder systematischer Art – an Jesus von Nazareth, der im christlichen Glau-

1 Helmut Gipper, Art. Bedeutung, in: HWP 1 (1971) Spp. 757-759. 2 Art. Bedeutung, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32

Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Bd. 1, Spp. 1230-1232.

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2. METHODIK 25

ben als der Christus bekannt und geglaubt wird, interpretiert die über-lieferten Zeugnisse, Bekenntnisse und Dogmen.

2) im Sinn der Relevanz oder Bedeutsamkeit. Die Interpretation Jesu als des Christus hat die messianische Dimension Jesu zum Inhalt. Der Glaube an Jesus als den Christus, in dem Gott Mensch geworden ist, um uns Menschen zu erlösen, verändert unsere Zeit und uns in der Zeit. Tempora mutantur et nos mutamur in illis. Die Datierung ‚nach Christus‘ deutet diese Wende an, die die Geschichtszeit unter das Heilszeichen stellt. Wie kann der ewige, transzendente Gott in der Zeit erscheinen? Verändert sich die Struktur der Zeit selbst oder ver-ändert sich die Einstellung zur Zeit? Wie ist die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus, dem Wort Gottes, näherhin zu denken?

3) im Sinn des Aufrufs und der Berufung. Die Bedeutung Jesu ist kein Wissen, das den Hörenden kalt oder unbetroffen zurücklässt; viel-mehr fordert die Bedeutung Jesu im Sinn der admonitio zur Nach-folge auf bis hin zu jenem Paulinischen Wort, demzufolge nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir. Was heißt es demnach, in dieser Zeit als einer messianisch qualifizierten Zeit zu leben? Inwiefern ver-ändert der Glaube an Jesus von Nazareth als Gott-Mensch und Mes-sias das Subjektdenken und die Beziehung zur Transzendenz?

Diese drei Dimensionen der Bedeutung Jesu stehen zur Debatte und be-stimmen im Groben den Aufbau der Studie, wobei sich immer wieder Über-schneidungen ergeben.

Der erste Teil der Studie eröffnet das Feld der Christologie, indem ich der christologischen Grundfrage nachgehe, wer dieser Jesus Christus näherhin ist. Dabei zeichne ich die historisch-exegetische, die biblische und die systema-tisch-theologische Dimension der Frage nach. Grundlegend steht dabei die bereits angesprochene Problematik im Raum, wie die Bedeutung Jesu aus heutiger Sicht erschlossen werden kann. Die Diskussion, die durch die Veröf-fentlichung der Jesus-Trilogie Benedikts XVI. / Joseph Ratzingers sowohl in der Exegese als auch in der Systematik angeregt wurde, bietet daher einen wichtigen Horizont der gegenwärtigen Christologie. Bildet der historische Abstand nicht einen ‚garstig breiten Graben‘ (G.E. Lessing), den denkerisch zu überwinden uns nur durch die Erinnerung gelingen kann? Wäre dann aber nicht nur das Zeugnis, sondern auch die Wahrheit, die das Zeugnis, dass Jesus der Christus sei, von der Erinnerungsleistung des glaubenden oder forschen-den Subjekts abhängig? Die Frage leitet über zu einem grundlegenden zeit-theoretischen Problem, dem ich mich aus phänomenologischer Sicht zuwende. Wichtige Referenzpunkte meiner Überlegungen bilden die phänomenologi-schen Studien des Philosophen Bernhard Waldenfels (* 1934). Während die bestimmende Zeitdimension in den einführenden christologischen Überle-gungen die Gegenwart bildete, wobei zugleich deren Grenzen deutlich wur-den, kommt mit Waldenfels die diastatische Zeiterfahrung zur Sprache. Oder

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26 EINLEITUNG

genauer: durch seine responsive Phänomenologie werden Zeitverschiebungen beschreib- und denkbar, die Erfahrungen als Widerfahrnisse verstehen lassen. Für das Verständnis der messianischen Zeit sowie der Differenzchristologie erscheinen mir die Überlegungen von Waldenfels in ihrer sprachlichen und denkerischen Eigenständigkeit einen hilfreichen Zugang zu bieten. Ausdrück-lich möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das Potenzial seiner Phänomenologie in der Theologie noch längst nicht hinreichend aufgegriffen worden ist; auch meine eigene Studie stellt mit der Fokussierung auf den phi-losophischen Aspekt des Messianischen bei Levinas und Agamben, der für Waldenfels keine explizite Rolle spielt, kaum mehr als eine erste Annäherung dar, die der weiteren Erforschung bedarf.

Die messianische Dimension des Denkens wird im anschließenden zweiten Teil in zwei Teilschritten näherhin bedacht. In einem ersten Angang untersu-che ich das messianische Denken von Emmanuel Levinas. Zentraler Referenz-text ist dabei der Beitrag Un Dieu Homme?, den Levinas im Jahr 1968 vor katholischen Intellektuellen in Frankreich gehalten hat. Den Begriff des Mes-sianismus, der im letzten Satz dieses Beitrags zur Anwendung kommt, ver-steht Levinas als eine Umkehrung des Seins, das in seinem Sein beharrt. Diese anti-heideggersche und anti-spinozistische Wendung, die gegen die Totalität des Seinsverstehens und gegen den conatus essendi gerichtet ist, bildet in meiner Deutung den Ausgangspunkt für eine doppelte Bewegung, die Levinas in seinem Beitrag nachzeichnet. Zum einen kommt die Idee der Erniedrigung Gottes als Einbruch der Transzendenz in die Immanenz zur Sprache; zum an-deren kommt die Idee der Stellvertretung im Sinn der substitution zum Tra-gen, die nicht als moralische Norm, sondern als Beschreibung der Subjektivi-tät des Subjekts im Angesicht des Anderen zu verstehen ist. Um diese beiden Ideen näherhin in seinem Werk und in seinem Denken zu verorten und somit nachvollziehbar zu machen, schließen sich zwei weitere Analysen an: zum einen zur Idee des Unendlichen, die anhand des Textes Dieu et la philosophie untersucht wird und das synthetisierende vom passiven Zeitbewusstsein unter-scheidet; zum anderen zur Stellvertretung, die als zentraler Gedanke des zweiten Hauptwerks Autrement qu’être bekannt geworden ist. Messianisches Denken nach Levinas wird dabei verständlich als Einbruch der Transzendenz in die Immanenz, ein Einbruch, der das Subjekt affiziert und zu seiner Ver-antwortung für den Anderen beruft. Der messianische Mensch, das Subjekt in seiner äußersten, das heißt passivsten Wachsamkeit des messianischen Be-wusstseins ist somit ein ‚Dieu-Homme‘. Welche Relevanz hat diese Überle-gung für die Bedeutung Jesu?

Im zweiten Kapitel, in dem das Werk Giorgio Agambens hinsichtlich des messianischen Denkens analysiert wird, kommt der Messianismus als Struktur der Zeit zur Sprache. Das passive Zeitbewusstsein, das Levinas zufolge das Cogito vor dessen eigener Freiheit betrifft, ermöglicht ein messianisches Den-ken der äußersten Wachsamkeit. In seinem Kommentar zum Römerbrief, den Agamben unter dem Titel Il tempo che resta veröffentlicht hat, unternimmt er

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2. METHODIK 27

eine intensive Auseinandersetzung mit dem Corpus Paulinum hinsichtlich der messianischen Zeitstruktur. Zentral ist dabei die Vorstellung der zusammen-gedrängten Zeit in 1 Kor 7,29, bei der Agamben in gleichsam soteriologischer Perspektive die Rekapitulation der vergangenen, gegenwärtigen und zukünfti-gen Zeiten denkt, und zwar nicht nur die realisierten, sondern auch alle nicht realisierten Möglichkeiten. Der entscheidende sprachliche Indikator und Ka-talysator, der die lineare, chronologische Zeit in eine messianische Zeit ver-wandelt, ist das berühmte wj mh., das Agamben in seiner originellen Lesart von Walter Benjamin und Paulus interpretiert. Zur Verortung dieses Römerbrief-kommentars untersuche ich zuvor den frühen Aufsatz Zeit und Geschichte sowie im Anschluss an den Kommentar zu Paulus den neueren Text Zeitge-nossenschaft. Abschließend gehe ich vor dem Hintergrund der messianischen Zeittheorie auf die Figur des Messias im Denken von Agamben näher ein. Damit öffnet sich das Feld für die Frage nach der Relevanz des messianischen Denkens für die Christologie.

Im dritten Teil meiner Studie arbeite ich die Potenziale und Anfragen, die sich aus dem zuvor skizzierten messianischen Denken bei Levinas und Agam-ben für die Christologie ergeben, heraus. Dazu stelle ich in einem ersten Ka-pitel Grundzüge des messianischen Denkens der beiden genannten Philoso-phen dar. Neben grundlegenden Leitlinien sollen auch Einzelaspekte zur Spra-che gebracht werden, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider An-sätze fokussiert beleuchten zu können. Das zweite Kapitel dieses dritten und abschließenden Teils meiner Arbeit steht unter der Frage, welche Perspektiven sich aus dem messianischen Denken für eine christliche – und das bedeutet zugleich: eine messianische – Interpretation Jesu von Nazareth ableiten lassen. Die christologische Grundfrage, wer dieser Jesus denn sei, findet mit den bei-den termini technici, die alles andere als technisch-formal sind, Gott-Mensch und Messias eine doppelte Antwort, die ich – in aller Vorläufig- und Skizzen-haftigkeit – vor dem Hintergrund des messianischen Denkens einerseits und der christologischen Tradition zu reflektieren suche. In fünf Thesen sollen die Erkenntnisse perspektivisch gebündelt werden, um Diskursmöglichkeiten für eine kommende Christologie zu eröffnen, die eine messianische Christologie sein sollte. Im Rekurs auf die Emmaus-Perikope formuliere ich ein Schluss-wort, das eine Schwelle markiert zwischen dem – je eigenen und dem univer-salen – Ende, das in unsere Gegenwart hineindrängt, ohne jedoch restlos mit ihr zusammenzufallen.

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3. PHILOSOPHISCHER REFERENZRAHMEN

Die Wahl der Philosophen Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben für die vorliegende Studie zur Christologie bedarf der je eigenen Begründung, die im Rahmen einer Einleitung nur angedeutet werden kann und deren Relevanz sich im weiteren Verlauf zu erweisen hat. Beide Philosophen stehen jedenfalls nicht isoliert für sich, sondern repräsentieren verschiedene denkerische Zu-gänge, von denen her sich Anfragen und Anregungen ergeben, um die Chris-tologie vor dem Forum der gegenwärtigen Philosophie denken und verantwor-ten zu können.1 Dieses Anliegen bestimmt die Kompetenz und das Anliegen sowohl der Dogmatik als auch besonders der Fundamentaltheologie seit jeher. In dieser Hinsicht verstehe ich meine Studie auch als Versuch einer theolo-gischen Grundlagenarbeit zu einer Christologie, die die ‚Zeichen der Zeit‘ zu gewärtigen sucht. Die Unterschiedlichkeit beider Philosophen, die vorrangig zu Wort kommen, bezieht sich nicht nur auf thematische Aspekte, sondern ebenso auf die Methodik sowie divergierende Traditionen und Referenzen, die für den jeweiligen Ansatz fruchtbar gemacht werden. Levinas und Agamben stehen somit für verschiedene Generationen, die ihre Wurzeln im 20. Jahrhun-dert haben und – je auf ihre Weise – darüber hinaus wirksam sind.

3.1 Emmanuel Levinas – Ein ‚epochaler Denker‘ des 20. Jahrhunderts

Emmanuel Levinas (1906–1995) ist – gewiss mit einem Augenzwinkern, aber doch auch in dem Bewusstsein seiner Originalität – als „der Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts“2 apostrophiert worden. Die Eckdaten und Um-stände seines Lebens mögen bereits Anlass zu diesem Urteil geben3; in

1 Zum „Gottesgedanken in der Gegenwartsphilosophie“ vgl. Christoph Böttigheimer, Lehrbuch

der Fundamentaltheologie. Freiburg i. Br. 22012, 336-353. 2 Christian Rößner, Anders als Sein und Zeit. Nordhausen 2012, 19. 3 C. Rößner hat die Lebensdaten in einem einzigen Satz aufgeführt: Vgl. ebd., 19: „Als Sohn

jüdischer Eltern am 12. Januar 1906 in Kowno (Kaunas) geboren,[] vor dem Ersten Weltkrieg in die Ukraine geflohen, nach der Russischen Revolution in die litauische Heimat zurückge-kehrt, zum Studium nach Straßburg und Freiburg gezogen, bald französischer Staatsbürger und Doktor der Philosophie, während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland kriegsgefangen, seiner Verwandtschaft durch den nationalsozialistischen Völkermord beraubt, nach Kriegs-ende zum Direktor eines jüdischen Bildungshauses in Paris ernannt, später als Professor für

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3. PHILOSOPHISCHER REFERENZRAHMEN 29

inhaltlicher Hinsicht hat Bernhard Casper den Eindruck mit seiner These, Levinas als „einen epochalen Denker“4 zu verstehen, verstärkt, wobei epochal bedeute, dass einerseits durch ihn Epochales geleistet worden sei und anderer-seits eine Epoche mit ihm zum Abschluss komme und zugleich eine neue er-öffnet werde. Als ein Grund für die Bedeutung von Levinas für die Philoso-phie des 20. Jahrhunderts wird zumindest mit Bernhard Waldenfels gesagt werden dürfen, dass er „zu den frühen Kritikern einer Totalisierung der Ver-nunft und einer Zentrierung auf das Subjekt“ gehöre. Freilich darf aus dieser Einschätzung nicht gefolgert werden, „dass er sich von der Vernunft lossagt und sich einem Irrationalismus überlässt, es besagt ebenso wenig, dass das Subjekt zum Tode verurteilt wird, vielmehr verändern sich die Koordinaten des traditionellen Denkens.“5

Zu den veränderten Koordinaten trägt in zentraler Weise das Zeitdenken bei, das Levinas revolutioniert, um seine Kritik gegen die Totalität und zu-gunsten eines neuen Denkens des Subjekts argumentativ entfalten zu können. Die – noch näherhin darzustellende – Diachronie versteht Levinas als eine Umkehrung der Intentionalität des Bewusstseins6, womit er in kreativ-kriti-scher Weise an die Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl sowie deren Fortführung durch Martin Heidegger anknüpft und beide Ansätze ent-scheidend weiterentwickelt. Die Ergebnisse des Denkens von Emmanuel Levinas gelten inzwischen in der Phänomenologie als wichtige Grundlage für eine neue Stufe des Philosophierens, die als „Phänomenologie der Sinnereig-nisse“ bezeichnet wird.7 Zu der Rezeption von Levinas gehört – zumal in Deutschland – die nicht unkritische Aufnahme, die das Levinas’sche Denken innerhalb der christlichen Theologie gefunden hat; Thomas Freyer skizziert die Umstände dieses Prozesses:

Philosophie nach Poitiers, Nanterre und schließlich an die Sorbonne berufen, starb Emmanuel Levinas, vom Alter gezeichnet, am 25. Dezember 1995.“

4 Bernhard Casper, Angesichts des Anderen. Paderborn u.a. 2009, 15. 5 Bernhard Waldenfels, Die Andersheit des Anderen beim späten Levinas, in: Ashraf Noor,

Josef Wohlmuth, Hg., ‚Jüdische‘ und ‚christliche‘ Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert. Pa-derborn u.a. 2002, 57 – 66, hier 57.

6 Vgl. JS 114. 7 Vgl. Hans-Dieter Gondek, Tobias Nikolaus Klass, Lászlo Tengelyi, Hg., Phänomenologie der

Sinnereignisse. München 2011: „Michel Henry und Emmanuel Levinas wenden sich mit ei-ner kaum überbietbaren Radikalität gegen die Idee einer Sinngebung durch das intentionale Bewusstsein. […] Levinas geht […] so weit, die Verantwortung für den Anderen als eine ‚Umkehrung der Intentionalität‘ zu beschreiben und die Diachronie der Zeit als ‚das Gegen-teil der Intentionalität zu charakterisieren.[] Was er dabei aufweisen möchte, bezeichnet er ausdrücklich als ‚das Ereignis von Sinn‘.[]“ (10). Vgl. Marc Rölli, Hg., Ereignis auf Franzö-sisch. München 2004, zu Levinas: Pascal Delhom, Emmanuel Levinas: Das Ereignis in Frage (153–165); Manuel Alvarez-Pérez, Methexis und Entzug. Überlegungen zum Verhältnis von Ereigniszeit und Andersheit bei Husserl und Levinas (167–181); Burkhard Liebsch, Ereignis – Erfahrung – Erzählung. Spuren einer anderen Ereignis-Geschichte: Henri Bergson, Emma-nuel Levinas und Paul Ricœur (183–207).

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30 EINLEITUNG

„Wie das bisherige Gespräch christlicher Theologie mit Levinas zeigt, geht es dabei im Kern weniger um Themata und Inhalte, die innerhalb eines immer schon abgesteckten Terrains vorgegebener, nicht irritierbarer Identität christli-chen Selbst- und Einverständnisses präzisiert und ergänzt werden. Vielmehr liegt die fundamentale Herausforderung für den Logos christlicher Theologie in der Konfrontation mit der Aufgabe einer Radikalisierung und Transformation eines Typus von Phänomenologie, wie er von Husserl und Heidegger entwickelt wurde. Mit der Rezeption phänomenologischen Denkens ‚nach Auschwitz‘ kün-digt sich für die Theologie ein Desiderat gegenwärtiger und künftiger Forschung an, das das wissenschaftliche Profil vor allem dogmatischer Theologie, sofern sie sich vom Levinasschen Denken herausgefordert weiß und es als Herausforde-rung für ihren Diskurs annimt, nicht daran vorbei, sich mit dessen grundlegenden Vorbehalten gegenüber ihrer eigenen epistemischen ‚Architektur‘ und ihren Konstruktionsprinzipien selbstkritisch auseinanderzusetzen.“8

In noch einer weiteren Hinsicht ist das diachrone Zeitverständnis, das Levinas entwickelt, von heuristischer Bedeutung. In Autrement qu’être hat Levinas den Opfern des Nationalsozialismus durch die Dedikation ein philosophisches Denkmal gesetzt.9 Die Widmung zu Beginn dieses Werks aus dem Jahr 1974 zeigt, dass die Erfahrungen und Ereignisse der Schoa für Levinas traumatisch und unvergessen waren und blieben. In einer der seltenen Stellen zur Apokalyptik schreibt Levinas in diesem Werk, man könne die Dia-chronie auch „apokalyptisch Zersplittern der Zeit nennen.“ (JS 200) Der Bruch weni-ger in der Zeit als vielmehr der Zeit selbst, den Levinas bis in die leibhaftige Erfahrung des Atmens zurückverfolgt, stellt eine der wesentlichen Erkennt-nisse in seinem Denken dar. Der Begriff der Apokalyptik darf jedoch nicht als Vertagen oder als Vertröstungsstrategie verstanden werden, um nicht der ori-ginären Kraft seines Denkens entgegenzuwirken. Das ‚Zersplittern der Zeit‘ (éclatement du temps) bedeutet vielmehr die Uneinholbarkeit der Zeit in den gelebten und erlebten Begegnungen des Einen mit dem Anderen. Ein adäqua-tes Verständnis dieses Gedankens sowie seiner subjekts- und alteritätstheoreti-schen Voraussetzungen und Konsequenzen bedarf einer intensiveren Explika-tion, die an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden kann. Bereits hier aber zeigt sich, dass mit Emmanuel Levinas ein Philosoph zu Wort kommt, der durch die Erfahrungen der Schoa zutiefst geprägt ist und dessen Erfahrun-gen sich bis in die Sprache seines Denkens hinein niedergeschlagen haben. „Levinas spricht ungewohnt (und für viele unerträglich) pathetisch.“10 Die Kritik an seiner sperrigen Sprache kündigt m. E. die Originalität seines Den-kens an, das stets ohne Ablenkung und mit allerhöchster Konzentration vor-getragen wird; die Ausführungen bleiben auf das Zentrale fokussiert, mit An-

8 Thomas Freyer, Hg., Der Leib. Ostfildern 2009, 8. 9 JS 7: „Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den

Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermilionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, des-selben Antisemitismus.“

10 Werner Stegmaier, Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg 2009, 128.