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Resident Evil - Stadt Der Verdammten

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Dritter Roman zur Videospielreihe Resident Evil von S.D.Perry

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Resident EvilSTADT D E R VERDAMMTEN

S. D. PERRYIns Deutsche übertragen von Timothy Stahl

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Die Deutsche FJibliothek - CIP-EinheitsaulhahmeEin Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.Dieses Buch wurde auf chlorfreiem,umweltfreundlich hergestelltemPapier gedruckt.In neuer Rechtschreibung.German translation Copyright © 2002 by Dino entertainment AG,Rotebühlstraße 87, 70178 StuttgartAlle Rechte vorbehaltenTitel der amerikanischen Originalausgabe: „Resident Evil (3): City of theDead" by S. D. PerryOriginal English language edition © Copyright 2000 by Capcom Co., Ltd.,© 2000 by Capcom U.S.A.All rights reserved including the right of reproduetion in whole or in part inany form.This edition published by arrangement with the original publisher, PocketBooks, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutionsin this publication and those of any pre-existing person or institution is in-tended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portionof this publication may bc reproduced, by any means, without the expresswritten permission of the Copyright holder(s).Übersetzung: Timothy StahlLektorat: Manfred WeinlandRedaktion: Mathias Ulinski, Holger WiestChefredaktion: Jo LöfflerUmschlaggestaltung: tab Werbung GmbH, Stuttgart,Cover art by Gerber StudioSatz: Greiner & Reichel, KölnDruck: Panini S. R A.ISBN: 3-89748-669-5Printed in Italy3. Auflage, Juli 2004www.dinocomics.de

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Für Juli,die wächst und wächst

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Ungehindertes Übel gedeiht,geduldetes vergiftet das ganze System.

- JAWAHARLAL NEHRU

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PROLOGRaccoon Times, 26. August 1998BÜRGERMEISTER KÜNDIGT PLANZUM ERHALT DER STÄDTISCHEN SICHERHEIT ANRACCOON CITY - In einer Pressekonferenz auf den Stufendes Rathauses gab Bürgermeister Harris gestern Nachmittagbekannt, dass der Stadtrat mindestens zehn weitere Beamtezur Verstärkung der hiesigen Polizei einstellen werde. Diessei eine Reaktion auf die noch immer andauernde Suspendie-rung der Special Tactics and Rescue Squad (S. T. A. R. S.), dieseit den brutalen Morden in Kraft ist, welche sich im Früh-sommer in Raccoon ereigneten. Im Beisein von PolizeichefBrian Irons und sämtlicher Mitglieder des Stadtrats versi-cherte Harris den versammelten Bürgern und Reportern, dassRaccoon City wieder eine Gemeinde werden würde, in derman sicher leben und arbeiten könne, und dass die Untersu-chungen der elf „Kannibalen"-Morde sowie der drei tödli-chen Angriffe durch wilde Tiere längst nicht abgeschlossenseien.„Nur weil im vergangenen Monat niemand attackiert wur-de, heißt das nicht, dass sich die Verantwortlichen dieserStadt zurücklehnen können", erklärte Harris. „Die bravenBürger von Raccoon verdienen Vertrauen in ihre Polizei und

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die Gewissheit, dass ihre politischen Vertreter alles Möglichetun, um für die Sicherheit eines jeden Einwohners Sorge zutragen. Wie viele von Ihnen wissen, wird die Suspendierungvon S.T.A.R.S. voraussichtlich von Dauer sein. Die grobenVerfehlungen dieser Einheit bei der Untersuchung der Mord-fälle und ihr späteres Verschwinden aus Raccoon City legennahe, dass diesen Leuten das Wohl unserer Stadt gleichgültigist. Ich darf Ihnen jedoch versichern, dass dies auf uns nichtzutrifft, und dass ich persönlich, Chief Irons sowie die Män-ner und Frauen, die Sie heute hier sehen, nichts mehr wollen,als Raccoon zu einem Ort zu machen, an dem unsere Kinderohne Angst aufwachsen können."Harris fuhr fort mit den Einzelheiten eines Drei-Punkte-Plans, der entwickelt worden sei, um das öffentliche Vertrau-en zu stärken und die Einwohner von Raccoon vor Gewaltta-ten zu schützen. Neben der Neueinstellung von weiteren zehnbis zwölf Polizisten werde die stadtweite Ausgangssperrenoch mindestens bis Ende September in Kraft bleiben, undChief Irons selbst werde ein Sonderkommando aus mehrerenPolizei- und Kriminalbeamten leiten, um die Suche nach denMördern fortzusetzen, die von Mai bis Juli dieses Jahres elfMenschen umbrachten ...Cityside, 4. September 1998RENOVIERUNG DES UMBRELLA-KOMPLEXESGEPLANTRACCOON CITY - Das Umbrella-Chemiewerk südlich derStadt soll größeren Umbauten unterzogen werden, deren Be-ginn für kommenden Montag angesetzt ist. Das ist in diesemJahr die dritte derartige Renovierung für das florierende phar-mazeutische Unternehmen. Laut Umbrella-Sprecherin Aman-

da Whitney werden zwei der Labors im Hauptwerk mit Aus-rüstung zur Vakzin-Synthese im Wert von mehreren Millio-nen Dollar ausgestattet. Das Gebäude selbst erhält ein Sicher-heitssystem auf dem neuesten Stand der Technik. Zusätzlichwerden die Computer in allen angeschlossenen Bürogebäu-den im Laufe der nächsten Wochen aktualisiert. Werden sichdaraus Probleme für den städtischen Verkehr ergeben? Dazusagte Whitney: „Nachdem gerade eine weitere Renovierungam Polizeigebäude von Raccoon abgeschlossen wird, wissenwir, dass die örtlichen Pendler Straßenabsperrungen allmäh-lich gründlich satt haben. Wir werden unser Bestes tun, umdem städtischen Verkehr nicht in die Quere zu kommen. DerGroßteil der Bauarbeiten findet innerhalb der Gebäude statt,und den Rest erledigen wir außerhalb der Geschäftszeiten."Wie sich unsere Leser vielleicht erinnern, wurde der Hof vor

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dem RPD-Gebäude unlängst neu befestigt und gestaltet,nachdem rätselhafte Sprünge in Zement und Erdreich aufge-taucht waren. Der Verkehr hatte sechs Tage lang zwei Blocksüber die Oak Street umgeleitet werden müssen.Auf die Frage, warum in letzter Zeit so viele Renovierun-gen vorgenommen würden, antwortete Whitney: „Umbrellaist der Konkurrenz aus gutem Grund seit jeher voraus - weilwir mit der technischen Entwicklung Schritt halten. Uns ste-hen ein paar hektische Monate bevor, aber ich glaube, es wirdalle Mühe wert gewesen sein, wenn wir damit fertig sind ..."Raccoon Weekly, Leitartikel, 17. September 1998WIRD IRONS KANDIDIEREN?RACCOON CITY - Bürgermeister Harris steht im kommen-den Frühjahr womöglich ein hartes Rennen bevor. Quellen in-nerhalb des RPD lassen verlauten, dass Brian Irons, seit vier-

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einhalb Jahren Chef der hiesigen Polizei, bei der nächstenWahl vielleicht für das höchste Amt der Stadt kandidierenund sich damit dem beliebten und bislang unangefochtenenDevlin Harris stellen wird, der seit drei Wahlperioden im Amtist. Obwohl Irons seinen möglichen Eintritt in die politischeArena nicht bestätigte, wollte das ehemalige S.T.A.R.S.-Mitglied dem Gerücht auch nicht widersprechen.Da er sich seit dem Ende der barbarischen (und noch im-mer ungelösten) Morde dieses Sommers größerer Beliebtheitdenn je erfreut und aufgrund der geplanten Erweiterung desRPD, könnte Chief Irons in der Tat der Mann sein, dem esgelingt, Harris aus dem Rathaus zu vertreiben. Die Frage ist:Werden die Wähler imstande sein, Irons' angebliche Verwick-lung in den Grundstücksschwindel im Cider-Bezirk von 1994zu vergessen? Oder seinen reichlich teuren Geschmack in Sa-chen Kunst und Innenarchitektur, weswegen Teile des RPD-Gebäudes eher einem Museum ähneln als Büros, in denen ge-arbeitet wird? Für den Fall, dass er tatsächlich beabsichtigt,in den Ring zu steigen, freut sich dieser Reporter - und nichtnur er - schon jetzt, Irons' finanziellen Background gründ-lich unter die Lupe zu nehmen ...Raccoon Times, 22. September 1998TEENAGER IM STADTPARK ATTACKIERTRACCOON CITY - Gestern Abend gegen 18.30 Uhr wurdedie 14-jährige Shanna Williamson im städtischen Birch StreetPark auf dem Nachhauseweg vom Softballtraining von einemFremden angegriffen. Der Mann trat hinter einer Heckenreiheam Südende des Parks hervor und stieß Miss Williamson vonihrem Fahrrad, bevor er versuchte, sie zu ergreifen. Das Mäd-chen schaffte es, mit ein paar Kratzern davonzukommen und9sich zum nahen Anwesen von Tom und Clara Atkins zu flüch-ten. Mrs. Atkins alarmierte die Polizei, die eine sorgfältigeDurchsuchung des Parks vornahm, aber keinen Hinweis aufden Angreifer fand. Dem Mädchen zufolge (und gemäß einerStellungnahme der Polizei, die heute Morgen herausgegebenwurde), schien der Mann ein Landstreicher zu sein; seineKleidung und Haare waren schmutzig, und Shanna William-son beschrieb einen schlechten Geruch, der von ihm ausging,ein „Geruch wie von faulem Obst". Sie sagte auch, dass erbetrunken gewesen zu sein schien, da er hinter ihr her tau-melte und stürzte, als sie davonlief.Weil die Serie kannibalischer Morde, die sich von Maibis Juli ereigneten, noch ungeklärt ist, nimmt das RPD MissWilliamsons Erlebnis sehr ernst; der Angreifer zeigt auf-fallende Ähnlichkeit mit Augenzeugenbeschreibungen jener

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„Banden"-Mitglieder, die im vergangenen Juni im VictoryPark gesehen wurden. Bürgermeister Harris hat für heuteeine Pressekonferenz anberaumt, und Polizeichef Brian Ironshat bereits erklärt, dass ab nächster Woche, wenn die erstenneu eingestellten Polizeibeamten ihren Dienst antreten, dieregulären Streifen ihre Route auf die städtischen Parkbezirkeausdehnen werden ...

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Eins26. SEPTEMBER 1998Da die Jungs draußen in Barrys Truck warteten, tat Jill ihrMöglichstes, sich zu beeilen. Es war nicht leicht, denn dasHaus war seit ihrer letzten Anwesenheit gefilzt worden. Bü-cher und Papiere lagen über den Boden verstreut, und es warzu dunkel, um sicher um die Trümmer herum zu navigieren.Dass man ihr kleines Haus geschändet hatte, war erschüt-ternd, wenn auch nicht allzu überraschend. Jill glaubte, dasssie wohl dankbar sein musste, im Grunde kein sentimentalerTyp zu sein - und dass die Eindringlinge ihren Reisepassnicht gefunden hatten.In der bedrückenden Dunkelheit des Schlafzimmers tastetesie blind nach sauberen Socken und Unterwäsche, stopfte siein ihren abgetragenen Rucksack und wünschte sich, sie hättedas Licht einschalten können. Im Finstern eine Tasche zu pa-cken, war schwieriger, als es sich anhörte - das wäre es selbstdann gewesen, wenn man das Haus nicht verwüstet hätte.Aber Jill wusste, dass sie es sich nicht erlauben konnten,irgendwelche Risiken einzugehen. Es war unwahrscheinlich,dass Umbrella jedes ihrer Häuser überwachen ließ, aber fallsdoch jemand auf der Lauer lag, konnte Licht hinter einem derFenster alles verraten.

Wenigstens kommst du hier weg. Das Versteckspiel hat einEnde.Das stimmte, immerhin. Sie waren unterwegs ins Ausland,um das Hauptquartier ihres Gegners zu stürmen - undhöchstwahrscheinlich dabei umgebracht zu werden.Aber wenigstens würde sie nicht länger in Raccoon herum-hängen müssen. Und nach dem, was sie in letzter Zeit in denZeitungen gelesen hatte, war das vielleicht das Beste. ZweiAngriffe in der vergangenen Woche ... Chris und Barryschienen die Gefahr immer noch zu unterschätzen, und dasobwohl sie wussten, was das T-Virus mit einem Menschenanrichtete. Barry vertrat die Ansicht, dass Umbrella Raccoonschon aus PR-Gründen „retten" würde, ehe neue Opfer zubeklagen sein würden. Chris unterstützte diese Meinung, da-rauf bauend, dass Umbrella, sozusagen, nicht noch einmal inden eigenen „Vorgarten" scheißen würde, wie unlängst beider Katastrophe auf dem Spencer-Anwesen geschehen.Doch Jill war nicht bereit, sich solchen Spekulationen hin-zugeben - Umbrellas bisheriges Verhalten hatte gezeigt, dassdas Unternehmen nicht in der Lage war, die gefährlichen Fol-gen seiner Forschungen unter Kontrolle zu halten. Und nach

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dem, womit Rebecca und David Trapps Team es in Maine zutun bekommen hatten ...Jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken - sie muss-ten ihren Flug erwischen. Jill schnappte sich die Taschenlam-pe von der Kommode und war schon fast auf dem Weg insWohnzimmer, als ihr einfiel, dass sie nur einen BH dabei hat-te. Mürrisch wandte sie sich um, öffnete die Schubladen undbegann zu wühlen. Genug Klamotten hatte sie bereits, ausge-sucht aus den Sachen, die Brad zurückgelassen hatte, als eraus Raccoon geflohen war. Sie und die Jungs hatten sich füreinige Wochen in seinem verlassenen Haus verschanzt, nach-

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dem Umbrella Barrys Haus angegriffen hatte, und wenn auchnichts von Brads Sachen passend für Chris' hochgewachseneoder Barrys gedrungene Statur war, hatte zumindest Jill sichbedienen können. Damenunterwäsche jedoch war etwas, mitdem der S.T.A.R.S.-Pilot nichts am Hut zu haben schien.Und Jill konnte sich Besseres vorstellen, als in Österreich ausdem Flugzeug steigen zu müssen, um sich mit BHs einzude-cken.„Eitelkeit, dein Name ist Körbchengröße", murmelte sieleise und grub in dem Haufen. Sie fand das durchscheinendeStück erst beim zweiten Durchwühlen der Schublade undstopfte es in die Tasche, während sie bereits in Richtung desvorderen kleinen Zimmers des gemieteten Hauses eilte. Siewar erst zum zweiten Mal hier, seit sie untergetaucht waren,und sie hatte das Gefühl, dass sie für eine ganze Weile nichtzurückkommen würde. Auf einem der Bücherregale stand einBild ihres Vaters, das sie mitnehmen wollte.Flink huschte sie durch das im Dunkeln liegende Chaos,schirmte die Taschenlampe mit einer Hand ab und richteteden schmalen Strahl in die Ecke, in der das Regal gestandenhatte. Das Umbrella-Team hatte es umgeworfen, sich offen-bar aber nicht die Mühe gemacht, die Bücher selbst in Au-genschein zu nehmen. Gott allein mochte wissen, wonach sieüberhaupt gesucht hatten. Wahrscheinlich nach Hinweisendarauf, wo sich die abtrünnigen S. T. A. R. S.-Mitglieder ver-steckt hielten. Nach dem Angriff auf Barrys Haus und derverheerend verlaufenen Mission in Caliban Cove machte sichJill nicht länger vor, dass Umbrella sie einfach ignorierenwürde.Jill fand, wonach sie suchte, ein reißerisch aufgemachtesTaschenbuch mit dem Titel Prison Life - ihr Vater hätte ge-lacht. Sie hob es auf, blätterte darin und hielt inne, als dasLicht auf Dick Valentines schiefes Grinsen fiel. Er hatte dasFoto zusammen mit einem seiner Briefe jüngeren Datums ge-schickt, und Jill hatte es in das Buch gesteckt, damit sie esnicht verlor. Wichtige Sachen zu verstecken war eine Ange-wohnheit, der sie in jungen Jahren verfallen war - und eine,die sich gerade wieder einmal bezahlt machte.Sie ließ das Buch fallen; die Notwendigkeit, sich zu beei-len, war mit einemmal vergessen, als sie auf das Foto hinab-blickte. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. IhrVater war vermutlich der einzige Mann, den sie kannte, derim grellorangefarbenen Overall eines Hochsicherheitsge-fängnisses gut aussah. Nur für einen Augenblick fragte siesich, was er wohl von ihrem derzeitigen Dilemma haltenwürde - um ein paar Ecken herum war er schließlich dafür

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verantwortlich, jedenfalls dafür, dass sie sich S.T.A.R.S.überhaupt angeschlossen hatte. Nachdem er in den Knast ge-wandert war, hatte er sie gedrängt, aus dem Geschäft auszu-steigen, und sogar eingeräumt, dass es falsch von ihm gewe-sen sei, sie zur Diebin auszubilden ...Ich wähle also einen legalen Job, arbeite für die Gesell-schaft anstatt gegen sie - und in Raccoon beginnt das Sterben.S. T.A. R. S. deckt eine Verschwörung zur Herstellung von Bio-waffen mittels eines Virus auf das Lebewesen in Monster ver-wandelt. Klar, dass uns niemand glaubt, und die S. T.A. R. S.-Angehörigen, die Umbrella nicht kaufen kann, werdenentweder in Misskredit gebracht oder eliminiert. Also tauchenwir unter, versuchen Beweise auszugraben und tauchen mitleeren Händen wieder auf während Umbrella weiter mit die-sen gefährlichen Forschungen herumspielt und weitere an-ständige Menschen ermordet werden. Jetzt sind wir auf demWeg zu einem voraussichtlichen Selbstmordkommando in Eu-ropa, um zu sehen, ob wir das Hauptquartier eines Multi

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milliarden-Dollar-Unternehmens infiltrieren und diese Leutedavon abhalten können, den gottverdammten Planeten zuvernichten. Ich frage mich, was du davon halten würdest. Vor-ausgesetzt, du würdest so eine aberwitzige Geschichte über-haupt glauben - was würdest du denken?„Du wärst stolz auf mich, Dick", flüsterte sie, sich kaumbewusst, dass sie die Worte ausgesprochen hatte - und ganzund gar nicht sicher, ob sie der Wahrheit entsprachen. Ihr Va-ter hatte gewollt, dass sie eine weniger gefährliche Arbeit ver-richtete, und verglichen mit dem, womit sie und die anderenEx-S.T.A.R.S.-Mitglieder es momentan zu tun hatten, warEinbruch etwa so gefährlich wie Buchführung.Nach einem langen Augenblick verstaute sie das Foto sorg-sam in einer Tasche ihres Rucksacks und ließ den Blick überdie zertrümmerten Überreste ihres kleinen Zuhauses schwei-fen, wobei sie immer noch an ihren Vater dachte und daran,was er wohl über den seltsamen Lauf sagen würde, den ihrLeben genommen hatte. Wenn alles gut ging, würde sie ihn javielleicht persönlich danach fragen können. Rebecca Cham-bers und die anderen Überlebenden der Maine-Mission hiel-ten sich nach wie vor versteckt und arbeiteten sich, nachUnterstützung suchend, heimlich durch die S.T.A.R.S.-Or-ganisation. Sie warteten darauf, was Jill, Chris und Barry ih-nen über das Umbrella-Hauptquartier würden sagen können.Der offizielle Sitz befand sich in Österreich, obwohl sie alleannahmen, dass die eigentlichen Verantwortlichen für das T-Virus ihren eigenen geheimen Unterschlupf an einem ande-ren Ort hatten ...... den du aber nie finden wirst, wenn du deinen Hinternnicht endlich in die Gänge kriegst. Die Jungs werden denken,du hättest dich zu einem Nickerchen hingelegt.Jill schulterte den Rucksack und sah sich ein letztes Mal im

Zimmer um, bevor sie sich zur Küche und damit in Richtungder Hintertür in Bewegung setzte. Der Geruch von faulemObst hing in der Dunkelheit, ausgehend von einer Schale mitÄpfeln und Birnen auf dem Kühlschrank, die längst zu Breigeworden waren. Obwohl sie das wusste, jagte ihr der Gerucheinen Schauer über den Rücken. Sie eilte auf die geschlosse-ne Tür zu und versuchte die plötzlichen lebhaften Erinnerun-gen an das, was sie auf dem Spencer-Anwesen vorgefundenhatten, abzublocken.... bei lebendigem Leib verwesend, feuchte, welke Fingerausstreckend, Gesichter, die zu Eiter und Fäulnis schmolzen...„Jill?"Sie konnte den überraschten Aufschrei kaum unterdrücken,

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als draußen vor der Tür Chris' leise Stimme aufklang. DieTür öffnete sich, und in der Dunkelheit, die von einer fernenStraßenlaterne nur wenig aufgehellt wurde, erschien Chris'Silhouette.„Ja, ich bin hier", sagte Jill und trat vor. „Sorry, dass ich solange gebraucht habe. Umbrella hat hier alles mit 'nem Bull-dozer umgepflügt."Selbst im kaum vorhandenen Licht konnte sie das laxeGrinsen auf seinem jungenhaften Gesicht erkennen. „Wirdachten schon, die Zombies hätten dich erwischt", sagteChris, und obgleich sein Tonfall locker war, konnte sie echteSorge dahinter hören.Jill wusste, dass er versuchte, die Anspannung zu mildern,fand aber dennoch nicht die Kraft in sich, um zurückzulä-cheln. Zu viele Menschen waren gestorben durch das, wasUmbrella in den Wäldern direkt außerhalb der Stadt entfes-selt hatte, und wenn sich der Ausbruch noch näher bei Rac-coon-City ereignet hätte ...„Das ist nicht komisch", meinte sie leise.

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Chris' Grinsen schwand. „Ich weiß. Bist du bereit?"Jill nickte, obwohl sie sich nicht unbedingt bereit fühlte fürdas, was vor ihnen lag. Andererseits hatte sie sich auch nichtbereit gefühlt für das, was hinter ihnen lag. Binnen wenigerWochen hatte ihr Weltbild einen massiven Wandel erfahren,waren Albträume zu Alltäglichem geworden.Rücksichtslose Firmen, verrückte Wissenschaftler, Killer-viren. Und lebende Tote ...„Yeah", erwiderte sie schließlich. „Ich bin bereit."Gemeinsam traten sie aus dem Haus. Als Jill die Tür hinterihnen schloss, ereilte sie plötzlich eine ebenso seltsame wiebeunruhigende Gewissheit: Dass sie nie mehr einen Fuß indieses Haus setzen - dass keiner von ihnen je wieder nachRaccoon City zurückkehren würde!Aber nicht, weil uns etwas passiert. Es wird etwas passie-ren, aber nicht uns.Stirnrunzelnd, die Hand am Türknauf, zögerte sie einenMoment und versuchte, dem bizarren Gedanken irgendeinenSinn abzugewinnen. Wenn sie die Aufklärung überlebten,wenn sie Erfolg hatten in ihrem Kampf gegen Umbrella, wa-rum sollten sie dann nicht mehr nach Hause kommen? Siewusste es nicht, aber das Gefühl war unangenehm stark. Et-was Schlimmes würde geschehen, etwas -„Hey, bist du okay?"Jill schaute Chris an, sah auf seinem Gesicht dieselbe Be-sorgnis, die sie schon zuvor bemerkt hatte. Die vergangenenWochen hatten dazu geführt, dass sie einander ziemlich nahegekommen waren, wenn sie auch annahm, dass Chris ihr ger-ne noch ein wenig darüber hinaus näher gekommen wäre.Ach, und du nicht?Das Gefühl drohender Unannehmlichkeiten schwand be-reits, andere Verwirrungen und Unsicherheiten traten an sei-

ne Stelle. Jill schüttelte sich innerlich, nickte Chris zu und ig-norierte ihre Vorahnungen. Das Flugzeug nach New Yorkwürde nicht warten, weil sie in Selbstanalysen schwelgte -oder sich um Dinge sorgte, die sie nicht steuern konnte, obsie nur eingebildet waren oder nicht.Dennoch, dieses Gefühl ...„Machen wir, dass wir verdammt noch mal hier wegkom-men", sagte sie und meinte es auch so.Sie traten hinaus in die Nacht und ließen das dunkle Haushinter sich zurück, einsam und still wie eine Gruft.

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Zwei 3. OKTOBER 1998Die Abenddämmerung hatte sich über die Berge gelegt undtauchte den zerklüfteten Horizont in purpurnes Zwielicht.Die Asphaltstraße wand sich durch zunehmende Dunkelheit,umgeben von schattenhaften Hügel, die in den wolkenlosenHimmel aufragten und sich nach dem ersten schwachenGlimmern der Sterne reckten.Leon hätte den majestätischen Anblick vielleicht etwasmehr genossen, wenn er nicht so gottverdammt spät dran ge-wesen wäre. Er würde es rechtzeitig zu seiner Schicht schaf-fen, sicher, aber er hatte gehofft, sich erst in seiner neuenWohnung einrichten, duschen und etwas essen zu können -doch so, wie es aussah, würde er vielleicht Zeit haben, aufdem Weg zum Revier noch kurz an einem Drive-in zu halten.Dass er an der letzten Raststätte schon seine Uniform ange-zogen hatte, hatte ihm zwar ein paar Minuten gespart, aber imGrunde änderte es nichts mehr an den üblen Aussichten.Großartig, Officer Kennedy. Der erste Arbeitstag, und duwirst dir beim Anwesenheitsappell Cheeseburger aus denZähnen klauben. Sehr professionell.Seine Schicht begann um neun, und jetzt war es bereitskurz nach acht. Als sein Jeep an einem Hinweisschild vorbei-

fegte, das ihm verriet, dass er noch eine halbe Stunde vonRaccoon City entfernt war, setzte Leon seinen Stiefel tieferaufs Gaspedal. Wenigstens war die Straße frei; außer ein paarSattelschleppern hatte er seit, wie ihm vorkam, Stunden nie-manden gesehen. Eine nette Abwechslung zum Verkehrsstaugleich außerhalb von New York, der ihn den größten Teil desNachmittags gekostet hatte. Er hatte am Abend zuvor nochversucht, anzurufen und beim Desk Sergeant eine Nachrichtzu hinterlassen, dass er möglicherweise etwas später eintref-fen würde, aber mit der Verbindung hatte etwas nicht ge-stimmt. Immerzu war nur das Besetztzeichen erklungen.Die wenigen Möbel, die er besaß, befanden sich bereits ineiner Einzimmerwohnung im Trask-Bezirk von RaccoonCity, einem Viertel, in dem überwiegend die Arbeiterklassewohnte, das aber als sehr ordentlich galt. Keine zwei Blocksentfernt gab es einen hübschen Park, und bis zum Revier fuhrman nur fünf Minuten. Keine Verkehrsinfarkte mehr, keineüberfüllten Slums und wahllosen Gewalttaten. Vorausgesetzt,er würde die Peinlichkeit überleben, seine erste Schicht alsechter Gesetzeshüter anzutreten, ohne vorher seine Koffer

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ausgepackt zu haben, freute er sich bereits sehr auf das fried-volle Leben in dieser Stadt.Raccoon unterscheidet sich so sehr vom Big Apple, wie esnur möglich ist, herzlichen Dank auch - na ja, bis auf dieletzten paar Monate vielleicht. Diese Mordserie ...Wider seinen Willen verspürte Leon bei diesem Gedankenein leichtes Prickeln. Was sich in Raccoon zugetragen hatte,war natürlich entsetzlich und Ekel erregend; man hatte denoder die Täter nie erwischt, und die Ermittlungen gingen ei-gentlich gerade erst los. Und wenn Irons ihn mochte, ihn somochte, wie ihn die Direktoren der Akademie gemocht hat-ten, würde Leon vielleicht die Chance bekommen, an dem

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Fall zu arbeiten. Es hieß, Chief Irons sei ein Arschloch, aberLeon wusste, dass er eine fantastische Ausbildung hinter sichhatte - selbst ein Arschloch musste sich davon ein ganz kleinwenig beeindruckt zeigen. Immerhin hatte er als einer derzehn Besten abgeschlossen. Und es war ja nicht so, dass erein Fremder in Raccoon City gewesen wäre. Immerhin hatteer als Kind - damals waren seine Großeltern noch am Lebengewesen - fast jeden Sommer hier verbracht. Seinerzeit hattesich im RPD-Gebäude noch eine Bücherei befunden, und eshatte noch ein paar Jahre gedauert, bis sich das Städtchen un-ter Umbrellas Einfluss zur richtigen Stadt mauserte. Aber invielerlei Hinsicht war es immer noch derselbe ruhige Ort, mitdem er seine Kindheit verband. Sobald die „Killerkanniba-len" endlich hinter Schloss und Riegel saßen, würde Raccoonwieder ein Idyll sein - hübsch, sauber, eine arbeitsame Ge-meinde, die sich wie ein geheimes Paradies zwischen die um-liegenden Berge schmiegte.Ich lebe mich also ein, es vergehen ein, zwei Wochen, undIrons merkt, wie gut meine Berichte geschrieben sind oderwie gut ich auf dem Schießstand bin. Er bittet mich, einenBlick in die Akten des Falles zu werfen, nur um mich mit denEinzelheiten vertraut zu machen, damit ich etwas darübernachgrübeln kann - und ich sehe etwas, das sonst noch nie-mandem aufgefallen ist. Ein Muster vielleicht, oder ein Mo-tiv, das auf mehr als nur eines der Opfer zutrifft... Vielleichtstoße ich auf eine Zeugenaussage, an der mir etwas nichtganz koscher vorkommt. Niemand sonst hat das bemerkt, weilsie sich alle zu lange damit befasst haben, und dieser neueCop kommt daher und knackt den Fall, noch keinen Monatvon der Akademie runter und -Etwas rannte vor den Jeep.„Jesus!"

Leon stieg auf die Bremse und scherte aus, von demSchock jäh aus seinem Tagtraum gerissen und um die Kon-trolle über das Fahrzeugs ringend. Die Bremsen blockierten,begleitet von einem Quietschen, das wie ein Schrei klang.Der Jeep vollführte eine halbe Drehung, sodass er mit derHaube zu den finsteren Bäumen hinüber wies, die die Straßesäumten. Am Seitenstreifen kam er schließlich zum Stehen,und der Motor erstarb mit einem letzten Ruckein.Mit hämmerndem Herzen und verkrampftem Magen öffne-te Leon das Fenster, reckte den Hals und durchforstete dieSchatten nach dem Tier, das über den Highway gejagt war. Erhatte es nicht erwischt, aber es war knapp gewesen. IrgendeinHund, es war zu schnell gegangen, um ihn nicht deutlich zu

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sehen - ein großer Körper jedenfalls, vielleicht ein Schäfer-hund oder ein übergroßer Dobermann. Aber etwas daran hat-te irgendwie ... falsch gewirkt. Leon hatte ihn nur für einenSekundenbruchteil wahrgenommen, das Blitzen rotglühenderAugen und ein schlanker, wolfsartiger Körper. Und da warnoch etwas anderes gewesen, der Eindruck von etwas ...... Schleimigem? Nein, eine Täuschung durch das Licht,oder du hast einfach nur dermaßen die Hosen voll gehabt,dass du es nicht richtig gesehen hast. Du bist okay, du hast esnicht erwischt, und mehr gibt es dazu nicht mehr zu sagen.„Jesus", murmelte er noch einmal, leiser diesmal, und erfühlte sich erleichtert und ziemlich wütend in einem, wäh-rend das Adrenalin langsam wieder aus seinem Kreislaufwich. Leute, die ihre Hunde frei herumlaufen ließen, warenIdioten - behaupteten, sie wollten, dass ihre Haustiere sichfrei fühlten, und taten dann überrascht, wenn „Fido" von ei-nem Auto platt gemacht wurde ...Der Jeep war nahe eines Straßenschilds zum Stehen ge-kommen, auf dem RACCOON CITY stand; Leon konnte

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die Beschriftung in der zunehmenden Dunkelheit gerade nocherkennen. Er blickte auf seine Uhr. Ihm blieb immer noch fasteine halbe Stunde, um zum Revier zu gelangen, massig Zeitalso - aber aus irgendeinem Grund blieb er einfach einenMoment lang sitzen, schloss die Augen und atmete tief durch.Kühle, nach Kiefern duftende Luft fächelte über sein Ge-sicht. Das verlassene Straßenstück wirkte fast unnatürlichstill - als hielte die Landschaft wie abwartend den Atem an.Nachdem sein Herzschlag zu einem normaleren Rhythmuszurückgefunden hatte, stellte Leon zu seiner Überraschungfest, dass er sich immer noch beunruhigt fühlte - mehr noch,ängstlich sogar.Die Morde in Raccoon. Waren einige dieser Menschennicht durch Tierattacken ums Leben gekommen? Wildhundeoder so was? Vielleicht war das gerade ja niemandes Haus-tier gewesen ...Ein verstörender Gedanke - und noch verstörender war dasplötzliche Gefühl, dass sich der Hund immer noch in derNähe aufhielt und ihn vielleicht aus dem Dunkel zwischenden Bäumen heraus beobachtete.Willkommen in Raccoon City, Officer Kennedy. Geben Sieacht auf Dinge, die vielleicht ein Auge auf Sie werfen ...„Sei kein Arschloch", wies sich Leon selbst zurecht, undder keinen Unfug duldende, erwachsene Tonfall seiner Stim-me ließ ihn sich ein wenig besser fühlen. Er fragte sich oft, ober seinen kindlichen Fantasien je gänzlich entwachsen würde.Wie ein Kind davon träumen, Bösewichte zu fangen odersich dann mordende Hundemonster ausdenken, die im Waldlauern - wie war's, wenn wir uns mal unserem Alter entspre-chend verhalten würden, hm, Leon? Du bist ein Cop, Herr-gott noch mal, ein Mann ...Er startete den Motor und stieß auf die Straße zurück, ig-

norierte das seltsame Unbehagen, das es der tadelnden inne-ren Stimme zum Trotz irgendwie geschafft hatte, von ihm Be-sitz zu ergreifen. Er hatte einen neuen Job und eine nette Woh-nung in einer hübschen kleinen, aufstrebenden Stadt; er warkompetent, klug und sah nicht schlecht aus; so lange er seineEinbildungskraft im Zaume hielt, würde alles bestens sein.„Und genau das habe ich vor", knurrte er und zwang sichzu einem Grinsen, das sich unangemessen anfühlte, aberplötzlich unabdingbar schien für seinen inneren Frieden. Erwar auf dem Weg nach Raccoon City, in ein vielversprechen-des neues Leben - es gab keinen Grund, sich Sorgen zu ma-chen, nicht den geringsten ...Claire war erschöpft, sowohl körperlich als auch emotional,

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und die Tatsache, dass ihr seit ein paar Stunden auch noch derHintern wehtat, machte die Sache nicht besser. Das Wum-mern der Harley schien sich tief in ihren Knochen festgesetztzu haben, ein physisches Gegenstück zu den Schmetterlingenin ihrem Bauch - und am schlimmsten war es, natürlich, inihrem außerordentlich wund gescheuerten und heißen Arsch.Zudem wurde es dunkel und sie trug, idiotisch wie sie war,ihre Lederkluft nicht; Chris würde stocksauer sein.Er wird sich die Lunge aus dem Hals schreien, und es wirdmich nicht mal kratzen. Gott, Chris, bitte sei da, damit dumich anschreien kannst, weil ich so eine unvernünftige När-rin bin ...Die Harley brummte die dunkle Straße entlang. Die anstei-genden Hügel und schattenumhüllten Bäume warfen das Ge-räusch des Motors zu Claire zurück. Sie nahm die Kurven mitaller gebotenen Vorsicht, sich der Verlassenheit des gewunde-nen Highways nur zu bewusst - wenn sie stürzte, konnte eslange dauern, bis jemand vorbeikam.

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Als ob es darauf ankäme. Leg einen Sturz ohne deine Le-derklamotten hin, und sie kratzen dich mit 'nem Fensterwi-scher häppchenweise vom Asphalt.Es war dumm gewesen, sie wusste, dass es dumm gewesenwar, so beschissen übereilt aufzubrechen und sich nicht ein-mal die Mühe zu machen, sich vernünftig anzuziehen - aberChris war etwas zugestoßen. Zum Teufel, der ganzen Stadtmochte etwas zugestoßen sein. Im Laufe der letzten paar Wo-chen war die Vermutung, dass ihr Bruder in Schwierigkeitensteckte, zur Gewissheit geworden - und ihre Anrufe heutemorgen hatten diese Gewissheit noch untermauert.Niemand daheim. Nirgends war jemand daheim. Als seiganz Raccoon umgezogen und hätte vergessen, eine Nachsen-deadresse zu hinterlassen.Es war definitiv unheimlich, obwohl sie sich einen Scheißum Raccoon scherte. Was zählte, war, dass Chris dort war,und wenn ihm etwas Schlimmes passiert war -Sie konnte und wollte nicht weiter in diese Richtung den-ken. Chris war alles, was sie noch hatte. Ihr Vater war bei sei-ner Arbeit auf dem Bau ums Leben gekommen, als sie beidenoch Kinder gewesen waren, und nachdem ihre Mutter vordrei Jahren bei einem Autounfall gestorben war, hatte Chrissein Bestes getan, um die Elternrolle zu übernehmen. Ob-wohl er nur ein paar Jahre älter war, hatte er Claire geholfen,ein College auszusuchen und einen ordentlichen Therapeutenzu finden - er schickte ihr sogar allmonatlich etwas Geld, zu-sätzlich zu dem, was die Versicherung ausbezahlte; er nanntees „Taschengeld". Und obendrein rief er sie alle paar Wochenmit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks an.Nur hatte er in den vergangenen anderthalb Monaten über-haupt nicht angerufen, und er hatte sich auch auf keinen vonClaires Anrufe hin gemeldet. Sie hatte versucht, sich einzure-

den, dass es albern sei, sich so zu sorgen - vielleicht hatte erja endlich ein Mädchen kennen gelernt, oder es hatte irgend-etwas mit dieser Suspendierung diverser S.T.A. R. S.-Mit-glieder zu tun, worauf auch immer sie basierte. Aber nachdrei unbeantworteten Briefen und Tagen, in denen sie nur aufdas Klingeln des Telefons gewartet hatte, hatte sie an ebendiesem Nachmittag endlich das RPD angerufen und gehofft,dass doch zumindest dort jemand wissen müsse, was vorging.Doch sie hatte nur das ständige Besetztzeichen zu hören be-kommen.In ihrem Zimmer im Studentenwohnheim sitzend und jenesseelenlose mechanische Blöken im Ohr, hatte sie angefangen,sich wirklich Sorgen zu machen. Selbst eine kleine Stadt wie

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Raccoon musste doch ein Voicemail-System für Notrufe ha-ben. Der rationale Teil ihres Denkens riet ihr, nicht in Panikzu verfallen, sagte ihr, dass eine gestörte Leitung nichts war,weswegen man ausrasten müsse - doch da hatte ihr gefühls-geleitetes Ich auch schon aufbegehrt. Mit zitternden Händenhatte sie in ihrem Adressbuch geblättert und die Nummernder wenigen ihr bekannten Freunde von Chris gewählt, Leuteund Orte, die er ihr anzurufen aufgetragen hatte, sollte es jeeinen Notfall geben und er nicht zu Hause sein - Barry Bur-ton, Emmy's Diner, ein Cop namens David Ford, den sie niekennen gelernt hatte. Sie probierte sogar Billy RabbitsonsNummer, obwohl Chris ihr gesagt hatte, dass er vor ein paarMonaten verschwunden sei. Und außer eines überladenenAnrufbeantworters unter David Fords Anschluss hatte sienichts als Besetztzeichen gehört.Als Claire die Telefonierversuche aufgab, hatte sich ihreSorge in etwas verwandelt, das an Panik grenzte. Die Fahrtvon der Universität nach Raccoon City dauerte nur etwasechseinhalb Stunden. Claires Zimmergenossin hatte sich ihre

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Motorradausrüstung geborgt, um mit ihrem neuen Freund, ei-nem Biker, auszugehen, aber Claire hatte einen zusätzlichenHelm - und mit diesem Gefühl, das nicht ganz Panik war unddurch ihr furchterfülltes Denken wirbelte, hatte sie sich denHelm kurzerhand geschnappt und war losgefahren.Dumm - vielleicht. Impulsiv - definitiv. Und wenn Chris inOrdnung ist, können wir bis die Kühe eingetrieben werdendarüber lachen, wie lächerlich paranoid ich bin. Aber so lan-ge ich nicht weiß, was los ist, werde ich keinen AugenblickRuhe finden.Der letzte Rest von Tageslicht sickerte aus dem Streifenwolkenlosen Himmels über ihr, doch ein wächserner, beinahevoller Mond und der Scheinwerfer der Softail spendeten ihrgenug Licht - mehr als genug jedenfalls, um das kleineSchild auf der linken Straßenseite lesen zu können:RACCOON CITY 10.Sich einredend, dass Chris okay war, dass sich, wenn inRaccoon etwas Merkwürdiges passiert wäre, inzwischen ir-gendjemand darum gekümmert hätte, zwang Claire ihre Kon-zentration wieder auf das Lenken des schweren Motorrads.Bald würde es Nacht sein, aber sie würde Raccoon erreichen,ehe es zu dunkel war, um noch sicher zu fahren.Ob Raccoon City sicher war, würde sie früh genug heraus-finden.

DRE IAls Leon die Außenbezirke der Stadt erreichte, blieben ihmnoch zwanzig Minuten. Er entschied, dass ein warmes Abend-essen warten musste. Von seinen früheren Besuchen des Re-viers wusste er, dass es dort ein paar Automaten gab, aus de-nen er sich etwas ziehen konnte, das ihm über die Rundenhelfen würde. Der Gedanke an alte Süßwaren und Erdnüssewollte seinem knurrenden Magen nicht recht behagen, aberes war seine eigene verdammte Schuld, dass er den New Yor-ker Verkehr nicht in seine Planung einbezogen hatte.Die Einfahrt in die Stadt half, seine immer noch ange-spannten zu beruhigen. Er passierte die wenigen kleinen Far-men, die östlich der Stadt lagen, den Festplatz und die Lager-schuppen und schließlich den Truck-Stop, der die Grenzezwischen dem ländlichen und städtischen Raccoon markierte.Etwas an der Gewissheit, dass er in Kürze auf diesen StraßenStreife fahren und für ihre Sicherheit sorgen würde, erfüll-te ihn mit überraschendem Wohlgefühl und mehr als nur einwenig Stolz. Die frühherbstliche Luft, die durch das offeneFenster strömte, war angenehm frisch, und der aufgehen-

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de Mond badete alles, was Leon sah, in silbernen Glanz. Erwürde doch nicht zu spät kommen - binnen einer Stundewürde er offiziell einer von Raccoons Freunden und Helfernsein.

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Als Leon mit dem Jeep in die Bybee Street einbog und inRichtung einer der von Nord nach Süd führenden Hauptstra-ßen fuhr, die ihn zum RPD-Gebäude bringen würde, erhielter einen ersten Hinweis darauf, dass etwas im Argen lag. Beiden ersten paar Blocks war er noch gelinde überrascht - beimfünften schlitterte er einem Schock entgegen. Es war nichteinfach nur seltsam, es war ... nun, es war unmöglich.Die Bybee Street, von Osten kommend, war die erste rich-tige innerstädtische Straße, entlang derer die Zahl der Gebäu-de die der leerstehenden Grundstücke überwog. Es gab einigeEspresso-Bars und preisgünstige Restaurants sowie ein Bil-ligkino, in dem nie etwas anderes zu laufen schien als Hor-rorfilme und Sex-Komödien - und das deswegen der belieb-teste Treffpunkt der Jugend von Raccoon war. Es gab sogarein paar leidlich hippe Kneipen, die Bier aus Kleinstbraue-reien ausschenkten und heiße Rum-Drinks für die winterli-che, aus Collegestudenten bestehende Ski-Meute.An einem Samstagabend um Viertel vor neun hätte die By-bee Street eigentlich von Leben wimmeln müssen. Doch wieLeon sah, waren die meisten der ein- oder zweistöckigenBacksteinbauten mit ihren Läden und Restaurants, die dieStraße säumten, dunkel - und in den wenigen, die noch mitetwas Licht prahlten, schien sich niemand aufzuhalten. Ent-lang der schmalen Straße waren zahlreiche Autos geparkt,und doch sah er keine Menschenseele - die Bybee Street, derTreffpunkt für cruisende Teenager und Collegestudenten, warvöllig verlassen.Wo zum Teufel stecken die alle?Sein Verstand suchte nach Antworten, während der Jeep diestille Straße hinabkroch; verzweifelt suchte Leon nach einerErklärung - und nach einer Möglichkeit, die schweißtreiben-de Angst zu lindern, die sich plötzlich über ihn gesenkt hatte.

Vielleicht fand ja irgendein Event statt, eine kirchliche Veran-staltung, ein Spaghetti-Essen zum Beispiel. Oder man hattebeschlossen, in Raccoon fortan ein Oktoberfest zu feiern, undheute Abend ging die große Eröffnung vonstatten.Nun ja, aber alle Leute zur gleichen Zeit? Das müsste ja'ne echte Wahnsinnsparty sein.Erst jetzt wurde Leon bewusst, dass er seit dem Schreckenmit dem Hund zehn Meilen vor der Stadt kein Auto mehr aufder Straße hatte fahren sehen. Kein einziges. Und mit dieserzutiefst beunruhigenden Erkenntnis ging die nächste einher -weniger dramatisch zwar, aber weit unmittelbarer.Irgendetwas roch übel. Mehr noch, irgendetwas stank wieScheiße.

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O Mann, ein totes Stinktier. Und offenbar hat es sich voll-gekotzt, bevor es verreckt ist.Er hatte den Jeep bereits auf Schritttempo verlangsamt undvorgehabt, einen Block weiter links in die Powell Street abzu-biegen - doch dieser entsetzliche Gestank und die völligeAbwesenheit von Leben verursachten ihm eine mordsmäßigeGänsehaut. Vielleicht sollte er anhalten und die Lage che-cken, sich umsehen nach irgendeinem Anzeichen von -„Oh! Hey ..."Leon grinste. Erleichterung wollte seine Verwirrung ver-treiben. Dort an der Ecke standen Leute, praktisch direkt vorihm. Die Straßenbeleuchtung auf ihrer Seite brannte nicht,aber ihre Silhouetten konnte er deutlich sehen - ein Paar, eineFrau in einem Rock und ein großer Mann, der Arbeitsstie-fel trug. Im Näherkommen konnte Leon an der Art, wie siesich auf der Powell Street südwärts bewegten, erkennen, dasssie sturzbetrunken sein mussten. Die beiden wankten in denSchatten, den ein Geschäft für Bürobedarf warf, und da-mit außer Sicht, aber er fuhr ohnehin in diese Richtung - es

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konnte also nicht schaden, anzuhalten und zu fragen, was hierlos war.Müssen von O'Kelly's gekommen sein. Ein oder zwei Pintszu viel, aber so lange sie nirgendwohin fahren, soll's mirrecht sein. Werd ich mir bescheuert vorkommen, wenn sie mirsagen, dass heute Abend das große kostenlose Konzert statt-findet oder das städtische Esst-so-viel-wie-ihr-könnt-Barbe-cue ...Fast ausgelassen vor Erleichterung bog Leon um die Ecke,spähte aus zusammengekniffenen Augen in die dichtenSchatten und hielt Ausschau nach dem Paar. Er sah die bei-den nicht, aber zwischen dem Bürozubehörladen und einemJuweliergeschäft zwängte sich eine Gasse hindurch. Viel-leicht hatten sich seine beiden betrunkenen Freunde dorthinverdrückt, um mal kurz auszutreten oder auch um etwas we-niger Legales zu tun -„Scheiße!"Leon rammte den Fuß auf die Bremse, als ein halbes Dut-zend dunkler Schemen von der Straße hoch flatterte, imScheinwerferlicht des Jeeps gefangen wie riesige wirbelndeBlätter. Vor Schreck brauchte er eine Sekunde, um zu erken-nen, dass es Vögel waren. Sie schrien nicht auf, obgleich ernahe genug war, um das Fegen trockener Flügel zu hören, alssie sich in die Lüfte schwangen. Krähen, die ein spätabendli-ches Mahl genossen hatten, etwas Überfahrenes, das aussahwie -Grundgütiger...Mitten auf der Straße lag ein menschlicher Körper, sechsMeter vor dem Jeep, mit dem Gesicht nach unten; es schiensich um eine Frau zu handeln - und den feuchten, roten Fle-cken nach zu schließen, die ihre ehemals weiße Bluse be-deckten, war es keineswegs eine bierselige Collegestudentin,

die nur beschlossen hatte, am falschen Ort ihr Nickerchen ab-zuhalten.Fahrerflucht. Irgend so ein Hurensohn hat sie überfahrenund ist dann abgehauen. Herrgott, was für 'ne Sauerei!Leon würgte den Motor ab und war schon halb aus der Tür,ehe ihn seine rasenden Gedanken einholten. Er zögerte, einenFuß auf dem Asphalt, der Gestank des Todes schwer in derkühlen, stillen Luft. Sein Verstand hatte sich an einem Ge-danken festsaugt, den er nicht in Betracht ziehen wollte, aberer wusste, dass er es besser tat - das hier war schließlich kei-ne Trainingsübung, das war sein Leben.Was, wenn es kein Fall von Fahrerflucht ist? Was, wenn hierniemand ist, weil irgendein schießwütiger Psychopath be-

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schlossen hat, ein paar Zielübungen durchzuführen? DieLeute könnten alle in den Häusern sein, flach am Boden -vielleicht ist das RPD unterwegs, und vielleicht waren dieseBetrunkenen nicht betrunken - sie könnten angeschossen ge-wesen sein und versucht haben, Hilfe zu finden ...Er lehnte sich zurück in den Jeep und tastete unter demBeifahrersitz nach dem Geschenk, das er zum Abschluss derAkademie erhalten hatte: eine Desert Eagle .50AE Magnummit einem speziell gefertigten 25-Zentimeter-Lauf, israeli-scher Exportartikel. Sein Vater und sein Onkel - beide Copshatten dafür zusammengelegt. Nicht die Standardwaffe desRPD, nein, weit durchschlagskräftiger. Als Leon einen Lade-streifen aus dem Handschuhfach nahm und die Pistole ludund als er ihr solides Gewicht in seinen leicht unsicherenHänden spürte, befand er, dass sie das beste Geschenk war,das er je bekommen hatte. Er schob zwei weitere Clips ineine Gürteltasche; jeder enthielt sechs Schuss.Die geladene Magnum zu Boden gerichtet, stieg er aus demJeep und warfeinen raschen Blick in die Runde. Raccoon bei

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Nacht war ihm nicht allzu vertraut, aber er wusste, dass esnicht so dunkel sein sollte, wie es war. Etliche der Straßenla-ternen entlang der Powell waren entweder ausgeschossen wor-den oder schlicht nicht eingeschaltet, und die Schatten hinterder blutbesudelten Leiche waren dicht. Ohne die Scheinwer-fer des Jeeps hätte er nicht einmal so viel sehen können.Leon schob sich vorwärts und kam sich schrecklich unge-schützt vor, als er die relative Deckung des Jeeps verließ. Erwar sich jedoch im Klaren, dass die Frau noch leben konnte;es schien nicht sehr wahrscheinlich, aber er musste es zumin-dest überprüfen.Ein paar Schritte näher, konnte er sehen, dass es sich wirk-lich um eine junge Frau handelte. Glattes, rotes Haar verbargdas Gesicht, aber die Kleidung war bezeichnend genug: drei-viertellange Jeans und flache Schuhe. Die Wunden wurdenüberwiegend von der blutigen Bluse verdeckt, aber es schie-nen Dutzende zu sein - ausgefranste Löcher im feuchtenStoff enthüllten zerfetztes, schimmerndes Fleisch und dieblutige Röte von Muskeln darunter.Leon schluckte schwer, ließ die Waffe in die linke Handwechseln und ging neben der Frau in die Hocke. Die kühle,klamme Haut gab unter seinen Fingerspitzen leicht nach, alser ihren Hals berührte und zwei Finger auf die Schlagaderpresste. Ein paar furchtbare Sekunden verstrichen, Sekunden,in denen er sich wie ein kleiner Junge fühlte, erfüllt von kal-ter Furcht. Er versuchte sich seine Kenntnisse in Wiederbele-bung ins Gedächtnis zu rufen und betete gleichzeitig, dass ereinen Puls fühlen würde.Fünfmal pressen, zwei kurze Atemzüge Pause, die Ellbogenzusammenhalten und... Komm schon, sei bitte nicht tot...Er konnte keinen Puls finden. Ohne noch länger zu zögern,schob er die Magnum hinter seinen Gürtel und fasste die Frau

an den Schultern, um sie umzudrehen und festzustellen, ob sievielleicht doch atmete, ob ihm ihr Puls nur entgangen war ...... aber gerade als er sie anhob, sah er etwas, das ihn veran-lasste, sie wieder hinzulegen. Sein Herz schien sich in seinerBrust zusammenzuziehen.Die Bluse des Opfers war weit genug aus dem Hosenbundgerutscht, um ihm zu offenbaren, dass ihre Wirbelsäule undein Teil ihres Brustkorbs zerfetzt waren. Die fleischigen Wir-bel glänzten rot, die schmalen, gebogenen Rippen ver-schwanden im blutigen Gewebe. Es war, als habe man sie erstniedergeschlagen und dann ... dann angefressen. Informatio-nen, die Leon zunächst als unwichtig abgetan hatte, schobensich nun plötzlich in den Vordergrund, und als er sich die we-

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nigen Fakten, die er hatte, bewusst machte, spürte er, wie dieersten tiefschwarzen Ranken einer schrecklichen Angst nachseinem Verstand tasteten.Die Krähen können das nicht getan haben, sie hätten Stun-den daför gebraucht - und wer zum Teufel hat je von Krähengehört, die nach Einbruch der Dunkelheit zum Fressen aus-schwärmen? Dann dieser Scheißgestank. Er geht nicht vonihr aus, sie ist noch nicht lange tot und -Kannibalen ... Mörder!Nein, unmöglich! Damit es hätte passieren können, dassein Mensch umgebracht und dann teilweise ... aufgefressenwurde, auf offener Straße, mitten in der Stadt, und niemandeinschritt...... und dass genug Zeit verging, um Aasfresser anzulocken...... damit all dies hätte passieren können, hätten die Mörderden größten Teil, wenn nicht sogar die gesamte Bevölkerungabschlachten müssen!Unwahrscheinlich? Schön. Aber woher kommt dieser Ge-stank dann? Und wo sind all die Leute?

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Hinter Leon erklang ein tiefes, leises Stöhnen. Ein schlur-fender Schritt, ein weiteres, feuchtes Geräusch.Er brauchte keine Sekunde, um aufzustehen und sich um-zudrehen, die Hand instinktiv nach der Magnum fassend.Es war das Paar von vorhin, die Betrunkenen. Sie schwank-ten auf ihn zu, und ein Dritter hatte sich ihnen angeschlossen,ein muskulös aussehender Typ, dessen -- dessen Hemd über und über mit Blut befleckt war. Eben-so wie seine Hände. Und es tropfte auch aus seinem Mund,einem gummiartigen, roten Maul, das wie eine offene Wundein seinem teigigen, verwesenden Gesicht klaffte.Der andere Mann, der Große mit den Arbeitsstiefeln undden Hosenträgern, sah ganz ähnlich aus - und der V-Aus-schnitt der rosafarbenen Bluse der blonden Frau enthüllte ei-nen Busen, der dunkel mit, wie es schien, Schimmel gespren-kelt war!Das Trio stolperte in Leons Richtung, an seinem Jeep vor-bei. Die Gestalten hoben ihre bleichen Hände, während siestöhnende, hungrige Heul laute ausstießen. Dunkle Flüssig-keit blubberte aus der Nase des muskulösen Mannes und rannüber seine sich bewegenden Lippen, und Leon wurde von derErkenntnis überwältigt, dass der schreckliche Gestank, den erschon die ganze Zeit roch, vom verfaulten Fleisch dieser Alb-traumgestalten ausging.Und dann kam noch eine solche Erscheinung. Sie trat voneiner kleinen Veranda vor einem Haus auf der anderen Stra-ßenseite, eine junge Frau in einem fleckigen T-Shirt, das Haarzurückgebunden und ein schlaffes, geistloses Gesicht preis-gebend.Hinter ihm - ein Ächzen.Leon warf einen Blick über die Schulter und sah auf demdunklen Gehsteig einen Jugendlichen mit schwarzem Haar

und verwesenden Armen, der aus dem Schatten einer Marki-se schlurfte.Leon hob die Magnum und zielte auf die Gestalt, die ihmam nahesten war, den Mann mit den Hosenträgern. Gleich-zeitig drängte ihn sein Instinkt, wegzulaufen. Er war fas-sungslos, aber sein antrainierter Sinn für Logik beharrtedarauf, dass es eine Erklärung für all das, was er sah und er-lebte, geben musste - dass er keinen lebenden Toten gegen-überstand.Bleib cool, du bist ein Cop - du kontrollierst die Situation,nicht sie dich!„Na schön! Das reicht jetzt! Keinen Schritt weiter!"Seine Stimme klang fest, in entschiedenem Befehlston, und

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er trug seine Uniform, und ...Gott, warum blieben sie denn nicht stehen? Der Mann mitden Hosenträgern stöhnte abermals, war blind für die auf sei-ne Brust gerichtete Waffe und wurde noch immer von den an-deren flankiert, nunmehr weniger als drei Schritte entfernt.„Stehen bleiben!", wiederholte Leon seine Aufforderung,und der Klang seiner eigenen, panikgefärbten Stimme ließihn einen Schritt zurückweichen. Sein Blick wieselte vonlinks nach rechts, wo, wie er sah, immer mehr dieser wim-mernden Gestalten aus den Schatten getorkelt kamen.Etwas packte ihn am Knöchel.„Nein!", schrie er, riss die Pistole herum und sah, dass dieLeiche des Unfallopfers mit einer blutverkrusteten Hand anseinem Stiefel kratzte, bemüht, ihren verstümmelten Körpernäher an ihn heran zu ziehen. Ihr gieriges Röcheln vermeng-te sich mit den unartikulierten Lauten der anderen. Sie ver-suchte, in seinen Fuß zu beißen. Blutige Speichelschlierentroffen von ihrem aufgeschürften Kinn auf das Leder.Leon schoss ihr in den oberen Teil des Rückens, das schar-

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fe, explosionsartige Krachen der schweren Waffe lockerte denGriff der Frau - und zerriss aus dieser Nähe vermutlich ihrHerz. Krampfhaft zuckend sank sie wieder auf das Pflaster.Leon wandte sich um und sah, dass die anderen jetzt weni-ger als ein, zwei Schritte entfernt waren. Er feuerte nochzweimal. Die Kugeln ließen rote Blumen auf der Brust einerweiteren der Gestalten erblühen. Aus den Eintrittsöffnungenströmte Scharlachröte.Der Mann mit den Hosenträgern ließ sich von den zweiklaffenden Löchern in seinem Oberkörper kaum aus demKonzept bringen. Sein schwankender Vorwärtsdrang gerietnur für eine Sekunde ins Stocken. Er öffnete seinen blutigenSchlund und keuchte ein hungriges Zischen, wiederum dieHänden erhoben, wie um sich auf die Quelle, die seinen Hun-ger stillen konnte, zuzutasten.Muss auf Droge sein! Solche Treffer würden einen Elefan-ten umhauen!Nach hinten weichend, schoss Leon abermals. Und nocheinmal. Und noch einmal. Dann polterte der leere Clip aufsPflaster. Leon rammte einen neuen in die Pistole und feuerteweiter. Doch sie kamen immer noch auf ihn zu, nahmen dieKugeln, die ihr stinkendes Fleisch zerfetzten, nicht einmalwahr. Es war ein verdammter Traum, ein beschissener Film,es war nicht wirklich - gleichzeitig wusste Leon, dass er ster-ben würde, wenn er nicht bald damit anfing, es als real zu ak-zeptieren. Er würde bei lebendigem Leib aufgefressen wer-den von diesen -Nur zu, Kennedy, sprich 's endlich aus: von diesen Zombies!Der Rückweg zu seinem Jeep war ihm verstellt. Wild umsich feuernd, stolperte Leon ins Dunkel der Nacht.

VIE RSo viel also zum Nachtleben - da bin ich wohl in Totenhausengelandet...Claire hatte ein paar Leute herumlaufen sehen, während siedurch Raccoon gefahren war, aber bei weitem nicht so viele,wie es eigentlich hätten sein müssen. Der Ort schien außerge-wöhnlich menschenleer. Der Helm schränkte ihr Gesichtsfeldein, aber auf der östlichen Seite der Stadt herrschte eindeutigein Mangel ein Belebtheit. Das kam ihr komisch vor, aber imVergleich zu den Katastrophen, die sie sich den ganzen Nach-mittag über ausgemalt hatte, war dies nicht allzu beunruhi-gend. Wenigstens existierte Raccoon noch, und während siein Richtung des rund um die Uhr geöffneten Restaurants naheder Powell Street fuhr, bemerkte sie eine größere Gruppe von

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Feiernden, die mitten auf der Fahrbahn eine Seitenstraße hi-nabspazierte. Betrunkene Mitglieder einer Studentenverbin-dung, wenn sie die hiesigen Verhältnisse von ihrem letztenBesuch her noch richtig in Erinnerung hatte. Kein sehr erbau-licher Anblick, aber auch kaum die Reiter der Apokalypse.Keine zerbombten Ruinen, keine verlöschenden Feuer, kei-ne Luftangriffsirenen - so weit, so gut.Claire hatte vorgehabt, direkt zu Chris' Wohnung zu fahren,bis ihr eingefallen war, dass sie auf dem Weg dorthin beiEmmy's vorbeikommen würde. Die Kochkünste von Chris

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waren keinen Pfifferling wert, folgerichtig lebte er von Früh-stücksflocken, kalten Sandwichs und, etwa sechsmal die Wo-che, vom Abendessen im Emmy's. Selbst wenn er nicht dortwar, schien es den Halt wert sein. Sie konnte die Bedienun-gen fragen, ob sie ihn in jüngster Zeit gesehen hatten.Als Claire die Softail vor Emmy's sanft zum Stehen brach-te, bemerkte sie ein paar Ratten, die von einer Mülltonne aufdem Gehweg herabsprangen und in Deckung huschten. Siestellte das Motorrad auf den Ständer, schwang sich vom Sat-tel, nahm ihren Helm ab und legte ihn auf den warmen Sitz.Ihren Pferdeschwanz ausschüttelnd, rümpfte sie angewidertdie Nase - dem Gestank nach stand der Abfall schon eineganze Weile hier herum. Was immer man auch weggeworfenhatte, es sonderte einen ziemlich üblen Geruch ab.Bevor sie hineinging, rieb sie sich leicht über die nacktenBeine und Arme, zum einen, um sie aufzuwärmen, zum an-deren, um den gröbsten Straßenschmutz abzustreifen. Shortsund Weste hatten der Oktobernacht nichts entgegenzusetzen,und es erinnerte Claire einmal mehr daran, wie dumm es vonihr gewesen war, ohne zweckmäßige Kleidung loszufahren.Chris würde ihr gehörig die Leviten lesen ...... aber nicht hier.Die gläserne Gebäudefront erlaubte ihr einen ungehinder-ten Blick in das gut beleuchtete, gemütliche Restaurant, vonden am Boden verschraubten roten Hockern am Lunchtresenbis hin zu den gepolsterten Sitznischen entlang der Wände -und nirgends war ein Mensch zu sehen.Claire runzelte die Stirn; ihre anfängliche Enttäuschungmachte der Verwirrung Platz. Da sie Chris während der ver-gangenen Jahre ziemlich regelmäßig besucht hatte, war sieschon zu jeder Tages- und Nachtstunde in diesem Restaurantgewesen; sie waren beide Nachtschwärmer und hatten oft be-

schlössen, um drei Uhr morgens einen Cheeseburger essen zugehen - und das taten sie stets bei Emmy's. Es hielt sich im-mer jemand bei Emmy's auf, plauderte entweder mit einer derin pinkfarbenes Polyester gekleideten Kellnerinnen oder saßbei einem Kaffee und über eine Zeitung gebeugt am Tresen,ganz gleich, wie viel Uhr es gerade war.Wo sind sie also alle hin? Es ist noch nicht mal neun ...Auf dem Schild stand „Geöffnet", und sie würde es nichtherausfinden, indem sie auf der Straße stehenblieb. Mit ei-nem letzten Blick auf ihr Motorrad, öffnete Claire die Türund trat ein. Sie holte tief Luft und rief hoffnungsvoll: „Hal-lo? Ist hier jemand?"Ihre Stimme wirkte irgendwie flach in der gedämpften Stil-

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le des leeren Restaurants; bis auf das leise Summen der De-ckenventilatoren über ihrem Kopf vernahm Claire keinenLaut. In der Luft hing der vertraute Geruch ranzigen Fettes,aber auch noch eine andere Note - ein Geruch, der bitter warund doch weich, wie von welken Blumen.Das Restaurant war L-förmig angelegt, Sitznischen er-streckten sich vor und linker Hand von ihr. Claire ging lang-sam geradeaus. Am Ende des Tresens befand sich der Servi-cebereich, dahinter die Küche. Wenn Emmy's offen war,würde das Personal sich wahrscheinlich dort aufhalten, viel-leicht ebenso überrascht wie sie selbst, dass die Kundschaftheute ausblieb -- aber das würde auch nicht die Sauerei erklären, oder?Na ja, Sauerei war übertreiben - die Unordnung hielt sichin Grenzen und war Claire von draußen nicht einmal aufge-fallen. Einige Speisekarten auf dem Boden, ein umgekipptesWasserglas auf der Theke und ein paar wie zufällig verstreuteLöffel, Gabeln und Messer waren die einzigen Anzeichen da-für, dass etwas nicht stimmte - aber es genügte.

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Pfeif auf das, was in der Küche ist - hier ist 's mir zu un-heimlich. In dieser Stadt ist ganz entschieden was verdammtnicht in Ordnung - vielleicht wurde das Restaurant überfal-len, oder man bereitet eine Überraschungsparty vor. Wenjuckt's? Zeit für mich, die Fliege zu machen!Aus dem nicht einsehbaren Bereich am Ende des Tre-sens kam das leise Geräusch einer Bewegung - ein gleitendesFlüstern von Stoff, gefolgt von einem gedämpften Röcheln.Dort hielt sich jemand in geduckter Haltung auf, verstecktesich.Mit laut pochendem Herzen rief Claire noch einmal: „Hal-lo?"Einen Herzschlag lang war nichts zu hören - und dann einweiteres Röcheln, ein ersticktes Stöhnen, das ihr die Nacken-haare aufstellte.Trotz ihrer Bedenken eilte Claire in den rückwärtigen Teildes Restaurants. Plötzlich kam sie sich kindisch vor wegenihres Wunsches zu verschwinden. Vielleicht hatte es ja einenÜberfall gegeben, vielleicht waren die Gäste gefesselt undgeknebelt worden - oder, schlimmer noch, so schwer verletzt,dass sie nicht einmal mehr um Hilfe rufen konnten. Ob es ihrnun gefiel oder nicht, sie steckte längst in der Sache drin.Claire erreichte das Ende des Tresens, schwenkte nachlinks -- und erstarrte, die Augen weit aufgerissen.Sie kam sich vor, als sei sie geohrfeigt worden. Neben ei-nem mit Tabletts beladenen Wagen kauerte ein Mann mit be-ginnender Glatze. Er trug die weiße Kleidung eines Koches,kehrte ihr den Rücken zu und war über den Körper einer Be-dienung gebeugt - aber irgendetwas an diesem Bild war ganzund gar falsch, so falsch, dass Claires Verstand es zunächstnicht verarbeiten konnte. Ihr schockierter Blick erfasste diepinkfarbene Uniform, die bequemen Schuhe, selbst das Na-mensschild aus Plastik, das an der Brust der Frau befestigtwar - „Julie" oder „Julia" stand darauf...Ihr Kopf. Ihr fehlt der Kopf...!Nachdem Claire erkannt hatte, was „falsch" war, konnte siesich nicht mehr dazu zwingen, es zu ignorieren, so sehr sie esauch gewollt hätte. Wo sich der Kopf der Kellnerin hätte be-finden sollen, war nur eine Lache trocknenden Blutes - eineklebrige Pfütze, gesäumt von Schädelfragmenten und mat-schigem, dunklem Haar und blutigen Brocken. Der Koch hieltsich die Hände vors Gesicht, und während Claire entsetzt diekopflose Leiche anstarrte, entließ er ein klagendes Wimmern.Claire öffnete den Mund, nicht sicher, was herauskommenwürde. Ob sie schreien oder ihn fragen würde, was hier vor-

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gefallen war ... oder ihm anbieten würde, Hilfe zu rufen - siewusste es wirklich nicht, und als sich der Mann umwandte,zu ihr hochschaute und die Hände sinken ließ, war sie er-staunt, dass nichts über ihre Lippen kam.Er hatte sich nicht um die Kellnerin gekümmert. Claire hat-te ihn beim Fressen gestört. An seinen dicken Fingern klebteetwas Dunkles, sein seltsam fremdartiges Gesicht, das er ihrentgegenhob, war mit Blut verschmiert.Ein Zombie.Als Fan spätnächtlicher Monster-Features und Lagerfeuer-geschichten begriff ihr Verstand es binnen des Bruchteils ei-ner Sekunde, den sie brauchte, um es gedanklich in Worte zufassen. Sie war nicht blöde. Der Mann war totenbleich undverströmte jenen ekelhaft süßen Verwesungsgeruch, der un-schön früher aufgefallen war, und seine Augen waren trübund weiß.Zombies in Raccoon. Wer hätte das gedacht...Nach dieser noch fast ruhigen, logischen Erkenntnis kam

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ein wahrer Sturm des Entsetzens über sie. Claire stolpertenach hinten, und die fiebrige Panik verwandelte ihre Einge-weide in etwas Flüssiges, während der Koch sich vollendsumdrehte und aus der Hocke nach oben kam. Er war riesig,locker einen Kopf größer als Claire mit ihren gerade malEinssechzig, und breit wie ein Scheunentor.Und tot! Er ist tot, und er hat sie gefressen - lass ihn nichtnäher an dich ran!Der Koch machte einen Schritt auf sie zu, seine fleckigenHände ballten sich zu Fäusten. Claire wich schneller zurückund rutschte dabei beinahe auf einer Speisekarte aus. Untereinem ihrer Stiefel klapperte eine Gabel davon.RAUS HIER! LOS!„Ich ... ich geh dann mal", stammelte sie. „Bemühen Siesich nicht, ich finde den Weg schon allein ..."Der Koch taumelte vorwärts, seine blinden Augen leuchte-ten in tumber Gier. Ein weiterer Schritt zurück. Claire fasstehinter sich, griff ins Leere -- und dann doch noch das kühle Metall des Türknaufs. EinAdrenalinstoß durchfuhr sie, als sie herumwirbelte, nach demGriff schnappte -- und aufschrie.Es war ein kurzer, scharfer Schreckensschrei. Denn drau-ßen warteten zwei, nein, drei weitere Gestalten, die in Auflö-sung begriffenen Leiber gegen die Außenscheibe des Restau-rants gepresst. Einer von ihnen besaß nur noch ein Auge undein eiterndes Loch dort, wo sich das andere befunden hatte.Ein anderer hatte keine Oberlippe mehr, und sein Unterkieferbildete ein zerfranstes, permanentes Grinsen. Geistlos kratz-ten sie über die Fenster, ihre aschfahlen, verheerten Gesichtervoller Blut - und aus den Schatten auf der anderen Straßen-seite schlurften weitere dunkle Schemen heran.Da komm ich nicht raus, ich sitze fest... Jesus, die Hinter-tür!Am Rande ihres Blickfeldes glomm das grün schimmerndeExil-Schild wie ein Leuchtfeuer. Claire wirbelte herum, sahkaum, wie sich der Koch, nur zwei, drei Schritte entfernt,nach ihr streckte und bündelte alle Konzentration auf die ein-zige Chance, die ihr noch blieb, um zu entkommen.Sie rannte los, die Sitzecken wischten als farblose Schlie-ren an ihr vorüber, und mit rudernden Arme rang sie um Tem-po. Die Tür führte auf die Gasse hinaus. Claire würde sich invollem Lauf dagegen werfen - und falls sie fest verschlossenwar, würde dies das sichere Ende bedeuten.Claire rammte mit der Schulter gegen die Tür, und sie flogauf, krachte gegen das Ziegelgemäuer der Gasse draußen -

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- und eine Pistole richtete sich auf ihr Gesicht.Nichts anderes hätte sie in dieser Sekunde noch aufhaltenkönnen, aber ein Mann mit einer Waffe ...Sie erstarrte, hob instinktiv die Arme, wie um einen Schlagabzuwehren.„Halt! Nicht schießen!"Der Schütze bewegte sich nicht, zielte mit der tödlich aus-sehenden Waffe unbeirrbar auf ihren Kopf.... wird mich umbringen ...„Runter!", rief der Schütze, und Claire gehorchte instinktiv,ließ sich fallen. Ihre Knie gaben unter dem heiser hervorge-stoßenen Befehl ebenso nach wie unter den kalten Fingerspit-zen, die im selben Moment ihre Schultern betatschten -Bomm! Bomm!Der Mann schoss, und Claire warf den Kopf herum, sah,wie der tote Koch direkt hinter ihr nach hinten kippte, mit ei-nem riesigen Loch in der Stirn. Blut strömte träge aus derWunde, über die weißen Augen wälzte sich ein roter Film.

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Der gestürzte Leichnam zuckte einmal, zweimal - und er-starrte.Claire wandte sich wieder dem Mann zu, der ihr das Lebengerettet hatte. Erst jetzt registrierte sie seine Uniform.Ein Cop.Er war jung, hochgewachsen - und schaute beinahe so ver-ängstigt drein, wie sie selbst. Auf seiner Oberlippe perlteSchweiß, seine blauen Augen waren geweitet und blicktenstarr. Seine Stimme jedoch, immerhin, war kräftig und fest,als er Claire die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.„Hier draußen können wir nicht bleiben. Kommen Sie, aufdem Polizeirevier sind wir um einiges sicherer."Während er sprach, konnte Claire einen näher kommendenChor keuchender Stöhnlaute von der Straße her hören, einstetig lauter werdendes, gieriges Heulen. Sie ließ sich hoch-ziehen, hielt die ihr hingestreckte Hand fest und schöpfteleichten Trost daraus, dass seine Finger so feucht und zittrigwaren wie ihre eigenen.Sie rannten los, wichen Müllcontainern und Stapeln zerleg-ter Kartons aus, verfolgt von den widerhallenden, schaurigenSchreien der Zombies, die die dunkle Gasse fanden und ih-nen nachsetzten.

FünfLeon rannte neben dem Mädchen her und versuchte ange-strengt, sich den Lageplan des Stadtzentrums in Erinnerungzu rufen. Die Gasse musste auf die Ash Street hinausführen,nicht weit von der Oak Street entfernt, jener Straße also, ander das RPD lag - aber das Revier befand sich mindestensfünfzehn Blocks weiter westlich. Wenn sie kein Transportmit-tel fanden, würden sie es nicht bis dorthin schaffen. Er hattemittlerweile den letzten Clip geladen, vier Schuss waren nochübrig, und den Geräuschen nach zu schließen, die durch dieGasse hallten, befanden sich an beiden Enden Dutzende,vielleicht sogar Hunderte dieser Kreaturen.Als sie die Mündung der Gasse erreichten, hielt Leon dieHand hoch, verlangsamte sein Tempo zum Trab und suchtemit seinen Blicken die schwach beleuchtete Straße ab. Erkonnte nicht viel erkennen, aber zwischen der Stelle, an dersie standen, und der nächsten Laterne, befanden sich rechter-hand elf oder zwölf dieser Wesen, die durch die stinkendeFinsternis staksten und schwankten. Links hingegen warennur drei, nicht weit von -Halleluja!„Da!"

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Leon zeigte hinüber zu dem Streifenwagen, der auf der an-deren Straßenseite parkte, und verspürte ein Aufwallen unge-

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zügelter Hoffnung. Es waren keine Polizisten in Sicht, daswäre wohl auch zu viel verlangt gewesen, aber die Vordertü-ren standen offen, und die drei stöhnenden Dinger, die in derNähe herumstreiften, würden das Fahrzeug nicht vor ihm unddem Mädchen erreichen können. Und selbst wenn sich derWagenschlüssel nicht im Zündschloss befand, so würde esdoch das Funkgerät geben, und die Windschutzscheibe warkugelsicher. Mit solchem Hilfsmittel würden sie sich allerVoraussicht nach gegen die wandelnden Leichen behauptenkönnen, bis Hilfe eintraf.Außerdem ist es die einzige Chance, die wir haben. Losgeht 's!Leon zögerte gerade lange genug, um zu sehen, wie dieFrau nickte. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte, und dannsprinteten sie gemeinsam auf den schwarzweißen Wagen zu.Unter ihren Füßen wischte das Pflaster vorbei. Leon hielt diePistole auf die Kreaturen gerichtet, die ihnen am nächstenwaren, etwa fünfzehn Schritte entfernt. Am liebsten hätte ergeschossen, um sie davon abzuhalten, näher zu kommen,aber er konnte es sich nicht leisten, wertvolle Munition zuverschwenden.Lieber Gott, mach, dass der Schlüssel steckt...Sie langten gleichzeitig am Fahrzeug an und trennten sich.Die Frau rannte um den Wagen herum zur Beifahrerseite, undLeon wurde in einem Anflug neuen Entsetzens klar, dass sievermutlich dachte, der Wagen gehöre ihm. Er wartete, bis siedie Tür zugezogen hatte, ehe er sich hinters Lenkrad klemmte.Seine Gebete waren erhört worden - der Zündschlüsselsteckte. Leon ließ die Magnum in seinen Schoß fallen undgriff nach dem Schlüssel, verspürte einmal mehr diese stür-mische Hoffnung, dass es doch noch etwas anderes gebenkönnte, als zu sterben.

„Schnallen Sie sich an", sagte er und wartete ihre Reaktionkaum ab, drehte den Schlüssel um und registrierte, wie derLeuchtbalken auf dem Wagendach ansprang. Die Ash Streetmit ihren herum stakenden Kreaturen wurde in bleiche, rot-blaue Wirbel getaucht, Schatten veränderten ihre Form undDichte. Es war eine Höllenvision, und Leon ging aufs Gas,wollte verzweifelt und so schnell wie möglich von hier weg.Der Wagen löste sich mit einem Quietschen vom Rand-stein. Leon zog das Lenkrad nach rechts und dann nach linksund verfehlte knapp eine torkelnde Frau, deren Kopfhaut halbabgerissen war. Selbst durch die geschlossenen Fenster konn-te er ihr enttäuschtes Heulen hören, als sie davonjagten, unddie Schreie vieler anderer mischten sich darunter.

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Verstärkung - ruf Verstärkung!Leon tastete nach dem Funkgerät, ohne den Blick von derStraße zu nehmen. Die Wesen stoben auseinander, waren aberhartnäckig - dunkle, schlurfende Ungeheuer, die auf die Fahr-bahn taumelten, als würden sie von dem Geräusch des be-schleunigenden Fahrzeugs angezogen. Während der schwarz-weiße Streifenwagen über die Powell und darüber hinausschoss, musste er etlichen weiteren dieser Monster ausweichen.Die Frau redete und starrte hinaus in die trostlose Land-schaft, während Leon die Sprechtaste des Funkgeräts ge-drückt hielt und sein Gefühl der Hilflosigkeit noch anschwoll.Kein statisches Rauschen erklang aus dem Lautsprecher, reingar nichts war zu hören.„Was zum Teufel ist hier los - ich komme in Raccoon anund die ganze Stadt ist dem Wahnsinn verfallen ..."„Großartig, das Funkgerät ist tot", unterbrach Leon sie, ließdas Sprechgerät fallen und konzentrierte sich auf die Straße.Die ganze Stadt schien ihm wie Teil einer fremden Welt,die Straßen waren eigenartig düster. Das Ganze hatte etwas

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Traumartiges, doch der Geruch bewahrte ihn davor zu glau-ben, dass er schlief. Der Gestank von verdorbenem Fleischwar auch ins Innere des Streifenwagens gedrungen undmachte es schwer, sich auf das Lenken zu konzentrieren. We-nigstens herrschte kein Verkehr, und es waren auch keineMenschen unterwegs. Kein richtigen Menschen jedenfalls ...Abgesehen von mir und dem Mädchen. Ich muss meinenJob tun, muss dafür sorgen, dass ihr nichts geschieht. ArmesDing, sie kann nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein, istwahrscheinlich völlig verängstigt. Ich muss mich zusammen-reißen und sie vor weiteren Gefahren schützen, muss zum Re-vier und -„Sie sind ein Cop, oder?"Der singende und irgendwie sarkastische Ton der blutjun-gen Frau riss ihn aus seinen panischen Grübeleien. Er warfihr einen Blick zu und stellte fest, dass sie zwar blass wirkte,aber nicht so, als stünde sie am Rande eines Zusammen-bruchs. In ihren klaren grauen Augen lag sogar eine Spur vonHumor, und Leon gewann den Eindruck, dass sie einfachnicht der Typ war, der zusammenbrach. In Anbetracht derUmstände war das durchaus erfreulich.„Yeah. Erster Tag im Dienst - klasse, was? Ich heiße LeonKennedy."„Claire", erwiderte sie. „Claire Redfield. Ich bin herge-kommen, weil ich meinen Bruder suche, Chris ..."Sie verstummte und starrte wieder hinaus auf die vorbei-ziehende Straße. Zwei der Kreaturen torkelten dem Wagenvon beiden Seiten in den Weg, doch Leon drückte das Gaspe-dal tiefer und schaffte es, zwischen ihnen hindurchzufahren.Das stählerne Maschengitter, das den Fond abtrennte, war he-runtergelassen, sodass der Rückspiegel freie Sicht bot - diebeiden Zombies trotteten ihnen blöde hinterdrein.

In blinder Gier. Genau wie in den Filmen.Einen Moment lang sagte niemand etwas, die naheliegendeFrage blieb unausgesprochen. Was es auch gewesen seinmochte, das Raccoon in eine Horrorshow verwandelt hatte,es war nicht so wichtig wie die Frage, wie sie das alles über-stehen sollten. In ein paar Minuten würden sie das Revier er-reichen, vorausgesetzt, die Straßen blieben frei. Es gab eineTiefgarage, dort wollte Leon es zuerst probieren - aber wenndie Tore geschlossen waren, würden sie ein kurzes Stück zuFuß zurücklegen müssen. Vor dem Gebäude lag ein kleinerHof, ein Parkplatz ...Vier Schuss übrig - und vielleicht eine Stadt voll von die-sen Monstern. Wir brauchen unbedingt noch eine Waffe.

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„Hey, mach mal das Handschuhfach auf, sagte er, zum Duwechselnd. Falls es abgeschlossen war, befand sich einSchlüssel am Bund, der es öffnen würde.Claire drückte den Knopf und fasste hinein, wobei sie ihmden Rücken ihrer pinkfarbenen ärmellosen Weste darbot;über einem sinnlichen Engel, der eine Bombe hielt, war derSpruch „Made in Heaven" eingestickt. Das Outfit passte zuihr.„Hier ist eine Waffe", sagte sie und zog eine glänzendeHalbautomatik heraus. Sie hob sie vorsichtig an und über-prüfte, ob sie geladen war, ehe sie ein paar Clips hervor-kramte. Es war eine der alten Dienstwaffen des RPD, eineNeunmillimeter Browning HP. Seit der Mordserie war dieRaccoon-Truppe mit der H & K VP70 ausgerüstet, einer an-deren Neunmillimeter - der Unterschied war, dass die Brow-ning nur dreizehn Schuss fasste, die neueren Modelle hinge-gen achtzehn, neunzehn sogar, wenn man eine Kugel im Laufließ. An der Art und Weise, wie Claire mit der Pistole um-ging, erkannte Leon, dass sie wusste, was sie tat.

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„Nimm sie besser mit", meinte er. Das RPD verfügte überein recht ordentliches Arsenal. Vorausgesetzt, dass noch Copsdort waren, konnte er sich die ihm ohnehin zugeteilte Dienst-waffe holen und -- warum setzt du eigentlich auch nur irgendetwas voraus?Als Leon die Kurve Ash und Third Street etwas zu überhas-tet nahm, vergegenwärtigte er sich endlich, dass auch das Re-vier von Leichen wimmeln konnte. Alles geschah so schnell,dass er diese Möglichkeit bislang einfach nicht in Betrachtgezogen hatte.Er brachte den Wagen zurück in die Spur, ging etwas vomGas und versuchte sich, so ruhig und vernünftig, wie er nurkonnte, einen Alternativplan zurechtzulegen. Vielleicht hattesich auf dem Revier ja eine geordnete Verteidigung formiert- aber der Verwesungsgestank, der so schwer in der Lufthing, machte es schwer, daran zu glauben.Der Tank ist dreiviertel voll, mehr als genug, um es überdie Berge zu schaffen. Wir könnten in weniger als einer Stun-de in Latham sein.Sie konnten am Revier vorbeifahren, und wenn es ... feind-selig aussah, würden sie, verdammt noch mal, aus der Stadtverschwinden.Für ihn klang das gut. Er setzte an, Claire davon zu erzäh-len und herauszufinden, was sie davon hielt -- als grauenhafter Schlachtgeruch über ihn hinweg fegteund etwas vom Rücksitz nach vorne stürzte.Claire schrie, und das Monster, das sich die ganze Zeit übermit im Streifenwagen aufgehalten hatte, packte Leons Schul-ter mit eisigen Händen, und der mit Fliegenlarven durchsetz-te Atem des Ungetüms fauchte ihm ins Gesicht. Es grabschtenach seinem rechten Arm und zerrte ihn mit übermenschli-cher Kraft auf seine von Geifer triefenden Zähne zu.„Nein!", schrie Leon, während der Wagen nach rechts aus-brach, über den Bordstein hüpfte und auf ein Backsteinge-bäude zuschlingerte. Die Kreatur geriet aus dem Gleichge-wicht, ihr Griff lockerte sich. Leon riss am Steuer, zu spätjedoch, um der Wand vollends auszuweichen. Metall kreisch-te und ein greller Funkenschweif beleuchtete die tastendenHände und das lüsterne, schaurige Grinsen ihres Passagiers,während das Fahrzeug mit immer noch rasendem Tempo zu-rück auf die Straße sprang.Das tote Ding streckte seine gierigen Arme nach Claireaus, und ohne nachzudenken trat Leon das Gaspedal durch,zog den Wagen hart nach rechts. Das Heck brach aus undkrachte in einem neuerlichen Aufstieben feuriger Funken ge-gen einen geparkten Pick-up. Der sabbernde Leichnam stürz-

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te zurück auf den gepolsterten Rücksitz, zog sich aber sofortwieder nach vorne, knirschte mit den Zähnen und schlugnach der Frau.Der Streifenwagen raste die Third hinunter. Leon versuch-te, das Steuer unter Kontrolle zu halten, griff gleichzeitignach seiner Waffe und drehte sich halb um, die Magnum amLauf haltend. Er dachte nicht daran, den Fuß vom Gas zunehmen, konnte an nichts anderes denken als daran, dass derZombie drauf und dran war, seine Zähne in Claires Schulterzu graben.Er schlug mit der schweren Pistole zu, zog sie dem Monsterquer über das Gesicht. Der Kolben schrammte das Fleisch,das sich in einem dicken Streifen abschälte. Blut schoss ausder Wunde, dann traf der Griff die Nase des Ungeheuers, undKnorpel löste sich mit einem schmatzenden Knirschen vonKnochen. Glucksend fasste die Kreatur nach ihrem blutendenSchädel, und Leon hatte gerade genug Zeit, um für eine Se-kunde etwas wie Triumph zu empfinden -

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- bis Claire auch schon schrie: „Pass auf!"Leon schaute auf und begriff, dass es gleich fürchterlichkrachen würde ...Leon traf den Zombie mit seiner Pistole, und Claire zucktevor dem spritzenden Blut zurück, wobei sie mit entsetztemBlick bemerkte, dass die Straße, auf der sie fuhren, vor ihneneinfach aufhörte.„Pass auf."Sie erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf Leons weißeKnöchel am Lenkrad, seine zusammengepressten Kiefer,während der Wagen sich kreischend drehte, Gebäude undStraßenlampen so schnell vorbei wischten, dass Claire sie nurverschwommen sah, und dann -BAMM!- eine Explosion von Geräuschen, splitterndes Glas undsich verformendes Metall. Der Streifenwagen donnerte gegenein massives Hindernis. Claire wurde in ihren Sicherheitsgurtgeworfen. Zugleich schleuderte der Aufprall den Zombienach vorne, und Claire riss im Reflex die Arme hoch, als dastote Ding durch die Windschutzscheibe schlug.Danach war alles still. Es gab nur noch das Knacken heißenMetalls und das Geräusch ihres eigenen dröhnenden Herz-schlags. Claire senkte die Arme und sah, dass Leon sich be-reits wieder gefangen hatte, dass er schon auf das blutige,zerborstene Durcheinander blickte, das sich über die Motor-haube breitete. Der Kopf des Monsters befand sich gnädiger-weise außerhalb ihres Sichtfeldes. Die Kreatur bewegte sichnicht mehr.„Bist du okay?"Claire drehte sich um und sah Leon an. Plötzlich musste sieeinen fast hysterischen Lachanfall niederkämpfen. Raccoonwar von lebenden Toten übernommen worden, und hinter ih-nen lag ein schwerer Unfall, ausgelöst von einer Leiche, dieversucht hatte, sie zu anzuknabbern. In Anbetracht all dessenwar „okay" nicht das naheliegendste Wort, das ihr in den Sinngekommen wäre.Beim Anblick von Leons aufrichtigem und sorgenvollemAusdruck verpuffte jedoch der Drang, kurzerhand auszuras-ten. Er sah aus, als befände er sich selbst am Rande eines An-falls. Es hätte also wenig gebracht, ihren angegriffenen Ner-ven ein Ventil zu öffnen.„Noch alles dran", brachte sie hervor, und der junge Copnickte und schien erleichtert.Claire atmete tief durch - es kam ihr vor, als sei es seitStunden das erste Mal - und schaute sich um, weil sie wissenwollte, wo sie gelandet waren. Leon hatte am äußersten Ende

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der Straße eine 180-Grad-Drehung hingelegt, und jetzt wiesdie Schnauze des offenbar total beschädigten Polizeifahr-zeugs zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.In der unmittelbaren Nähe hielten sich keine Zombies auf,dennoch hatte Claire das Gefühl, dass ihnen nicht allzu vielZeit bleiben würde, um Deckung zu finden. Nach allem, wassie bislang gesehen hatte, war Raccoon zum größten Teil,wenn nicht sogar vollständig, betroffen von ... ja, von wasauch immer es letztlich sein mochte, das hier geschehen war.Sie hielt die Pistole fest in der Hand und versuchte, ihre auf-gewühltes Inneres unter Kontrolle zu bringen.„Wir -" Leon setzte an, um etwas zu sagen, und hielt danninne. Seine Augen weiteten sich, während er in den Rück-spiegel starrte. Claire schaute ebenfalls nach hinten - undkonnte für eine Sekunde nur denken, dass sie ab irgendeinemZeitpunkt, seit sie die Universität verlassen hatte, verfluchtworden sein musste.

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Verflucht, ja. Jemand will, dass ich sterbe, das ist es.Ein Sattelschlepper rollte die Straße herunter, zwar noch ei-nige Blocks entfernt, aber doch nahe genug, dass man erken-nen konnte, wie sehr er außer Kontrolle geraten war. DerTruck schlingerte hin und her, krachte gegen den blauenPick-up, der auf einer Straßenseite geparkt war, und pflügtedann einen Briefkasten auf der anderen um. Mit Entsetzen er-kannte Claire, dass es sich um einen Tanklastzug handelte -und so, wie das Gespann bei jedem wilden Schlenker gefähr-lich hin- und herpendelte, musste es voll beladen sein. In demSekundenbruchteil, den es dauerte, um diese Information zuverdauen und um zu beten, dass es sich bei der Ladung nichtum Benzin oder Öl handeln möge, hatte der Lastzug die Dis-tanz halbiert. Claire konnte die Flammen, die auf die dunkel-grüne Kabine gemalt waren, förmlich sehen, aber selbst jetztschien es ihr unwirklich - bis Leon das lähmende Schweigenbrach.„Der Irre wird uns rammen!", keuchte er, und dann hiebensie beide auf die Schlösser der Sicherheitsgurte ein. Clairebetete, dass der Unfall den Mechanismus nicht in irgendeinerWeise blockiert hatte.Das Geräusch der sich öffnenden Gurte war nicht zu hörenin dem anschwellenden monotonen Brummen des nahendenTankzugs und dem hallenden Knirschen und Splittern vonAutos, die nach links und rechts gefegt wurden. Noch einpaar Herzschläge, dann -„Renn!", schrie Leon, und da schob sie sich auch schon ausdem Streifenwagen und spürte kühle Luft auf ihrer ver-schwitzten Haut. Das Brüllen des Truckmotors blendete allesandere aus.Sie machte drei Riesensätze, und dann spürte und hörte sieden Aufprall. Unter ihren Füßen erbebte der Asphalt, noch

während hinter ihr das Krachen zerreißenden Metalls auf-dröhnte.Noch ein fliegender Satz und -WOAMMMl- Claire wurde von den Füßen gerissen, brutal nach vorngedroschen von einer unglaublichen Druckwelle aus Hitzeund Lärm. Sie schaffte es, sich vom Boden abzustoßen, alsder explodierende Tanklastzug die Nacht für einen kurzenAugenblick zum Tag machte. Eine ungeschickte Rolle überdie Schulter, und Dreck brannte auf ihrer versengten Haut,ehe sie keuchend hinter einem geparkten Auto landete.Ein Regen aus rauchenden Trümmern ging nieder, dannwar Claire auf den Füßen, stolperte wieder auf die Straße hi-

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naus, um die hochlodernden Flammen nach Leon abzusu-chen.Das Herz rutschte ihr in die Hose. Der Tanklaster, der Strei-fenwagen und das, was einmal ein Haushaltswarengeschäftgewesen war - alles war in ein Inferno chemischen Feuers ge-hüllt, die Straße total blockiert von dem Chaos aus brennen-der Zerstörung.„Claire ..."Leons Stimme, gedämpft aber hörbar durch die Wand sichkräuselnder Flammen.„Leon?"„Ich bin in Ordnung!", rief er. „Geh zum Revier, wir treffenuns dort!"Claire zögerte eine Sekunde und starrte hinab auf die Pisto-le, die sie nach wie vor fest mit der zitternden Hand umfassthielt. Sie fürchtete sich, hatte Angst davor, sich allein durcheine Stadt zu bewegen, die sich in einen lebendig gewordenenFriedhof verwandelt hatte - aber es war nun mal nicht so,dass ihr eine wirkliche Wahl geblieben wäre. Sich zu wün-

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sehen, die Umstände wären andere, war reine Zeitverschwen-dung.„Okay!"Sie drehte sich um und versuchte, sich im rauchigen, fla-ckernden Licht der brennenden Wracks zu orientieren. DasRevier lag in der Nähe, nur ein paar Blocks weit entfernt -- aber Kreaturen torkelten aus den Schatten, hinter Autoshervor und aus dunklen Gebäuden. Unbeirrbar schlurften siein das flackernde Licht der lodernden Unfallstelle und gabenim Näherkommen abgehackte gierige Laute von sich - zwei,drei, vier von ihnen.Claire sah zerfledderte Haut und verfaulende Glieder, gäh-nende Schwärze, wo sich Augen hätten befinden sollten -und doch schritten sie unbeirrbar voran, bewegten sich auf siezu, wie magnetisch angezogen von allem Lebendigen.Von jenseits den brennenden Wracks hörte Claire Schüsse- zwei, vielleicht auch nur einen Block entfernt, dann nichtsmehr - nichts außer dem Knistern der verzehrenden Flam-men und dem leisen, hilflosen Stöhnen der lebenden Toten.Leon ist jetzt auf sich allein gestellt. BEWEG DICH END-LICH!Claire holte tief Luft, machte eine Lücke in der tödlichen,näher kommenden Meute aus und rannte los.

SEC HSAda Wong schob die schimmernde Metallscheibe in denSchlitz der Statue und drückte dagegen, bis sie bündig mitdem Marmor abschloss. Kaum dass sich die Scheibe an Ortund Stelle befand, hörte Ada, wie sich ein verborgener Me-chanismus in Gang setzte. Sie trat zurück, um zu sehen, waspassieren würde. Ihre Schritte hallten durch die weite Lobbydes RP D-Gebäudes und wurden aus dem sich über drei Eta-gen erstreckenden, offenen Raum zu ihr zurückgeworfen.Ein weiterer Schlüssel? Eine der Medaillen für den Keller?Oder vielleicht die Probe selbst - hier versteckt, direkt vormeiner Nase ... Wäre das nicht eine angenehme Überra-schung?Ja, wenn Schweine fliegen könnten ... Die aus Stein gefer-tigte wassertragende Nymphe kippte in leichtem Winkel nachvorn, aus dem Krug auf ihrer Schulter fiel ein schmales Me-tallstück auf den Rand des abgeschalteten Brunnens.Der Pik-Schlüssel.Seufzend hob Ada ihn auf. Die Schlüssel hatte sie bereits.Im Grunde besaß sie alles, was sie brauchte, um das Revierzu durchsuchen, und das Meiste dessen, was nötig war, um

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ins Labor zu gelangen. Hätte niemand bei Umbrella die Bom-be hochgehen lassen, wäre die Aufgabe ein Kinderspiel ge-wesen. Leicht verdientes Geld.

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Aber was kriege ich statt dessen? Einen dreitägigen Urlaubohne Komfort und eine Nacht der Duelle gegen lebende Tote.Ich darf „Jag-die-Kugel-ins-Hirn" und gleichzeitig „Lasst-uns-den-Reporter-finden" spielen. Die Proben könnten in-zwischen sonst wo sein, je nachdem, wer überlebt hat. Vor-ausgesetzt, ich schaffe es, hier mit dem Zeug rauszukommen,werde ich einen gottverdammt hohen Zuschlag verlangen -niemand sollte unter diesen Bedingungen arbeiten müssen.Ada schob den Schlüssel in ihre Hüfttasche, schaute dannmit abwesendem Blick zur oberen Balustrade der beeindru-ckenden Halle empor und hakte im Geist die Räume ab, indenen sie bereits gewesen war sowie diejenigen, die siegründlicher in Augenschein genommen hatte. Bertolucci warnirgendwo im Ostteil des Gebäudes zu finden gewesen, we-der oben noch unten. Sie hatte, wie ihr schien, Stunden damitzugebracht, in tote Gesichter zu starren und die stinkendenLeichenhaufen nach seinem kantigen Kinn und seinem ana-chronistischen Pferdeschwanz zu durchsuchen. Natürlich wares möglich, dass er seinen Standort wechselte - aber nach al-lem, was sie über ihn wusste, war das eher unwahrscheinlich;der Reporter war wie ein Hase, ein Typ, der sich im Ange-sicht der Gefahr versteckte.Apropos Gefahr...Ada schüttelte sich und ging zurück zu der Tür, die in denunteren Ostflügel führte. Die Lobby war halbwegs sicher vorden Virusträgern - sie schienen das Konzept von Türknäufennicht zu begreifen -, aber es gab neben den Infizierten nochweitere Bedrohungen. Gott allein wusste, wen Umbrella zumAufräumen herschicken würde ... oder was im Laboratoriumfreigesetzt worden war, als das Leck auftrat. Weniger furcht-erregend, aber genauso lästig waren die überlebenden Cops,die immer noch umherschwadronieren und nach Leuten su-chen mochten, die sie retten konnten. Ada hatte Schüsse ge-hört, einige weit weg, andere nicht; es gab also zumindestnoch ein paar Nichtinfizierte in dem weitläufigen alten Ge-bäude. Im Vergleich zu dem Versuch, einen „echten" Men-schen, der bewaffnet war, davon zu überzeugen, dass sie leb-te und keine Gesellschaft haben wollte, schien es ihr fastreizvoll, den Untoten gegenüberzutreten.Auf den Fußballen laufend, um unnötigen Lärm zu vermei-den, schlüpfte Ada durch die Tür und lehnte sich dann dage-gen. Sie befand sich am Ende eines langen Korridors. Hierkonnte sie ihr weiteres Vorgehen in relativer Sicherheit undRuhe planen. Obwohl sie den Keller noch nicht überprüfthatte und nach wie vor etliche Virus-Träger in den RPD-Bü-ros herumstreiften, waren die Türen entlang des Flures alle

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geschlossen - wenn jemand oder etwas auf sie losgehen woll-te, würde sie es rechtzeitig sehen und verschwinden können.Ach ja, das aufregende Leben einer freien Agentin. Reiseum die Welt! Verdiene dein Geld mit dem Stehlen wichtigerUnterlagen und Artefakte! Halte dir lebende Tote vom Hals,nachdem du drei Tage lang weder geduscht noch etwas An-ständiges gegessen hast - lass deine Freunde vor Neid er-blassen!Sie rief sich noch einmal in Erinnerung, dass sie auf diesenZuschlag bestehen wollte. Als sie vor weniger als einer Wo-che in Raccoon eingetroffen war, hatte sie gedacht, sie seivorbereitet. Sie hatte die Karten studiert, sich die Unterlagendes Reporters eingeprägt und ihre Tarnidentität hatte festge-standen - eine junge Frau, die ihren Freund suchte, einenUmbrella-Wissenschaftler. Dieser Teil war beinahe wahr; tat-sächlich war es ihre kurze Beziehung mit John Howe vorknapp zehn Monaten gewesen, die ihr diesen Job eingebrachthatte. Eigentlich war es eher ein One-Night-Stand gewesen,

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und nicht mal ein besonders guter - aber John hatte andersdarüber gedacht, und seine Verbindung zu Umbrella, auchwenn sie ihn wahrscheinlich das Leben gekostet hatte, hattesich für Ada als Glücksfall erwiesen.Sie war also vorbereitet gewesen. Aber innerhalb von vier-undzwanzig Stunden nach ihrem selbstsicheren Eincheckenin einem der besten Hotels von Raccoon City, hatte sich dasBlatt für sie gewendet. Während sie in der mit viel Vinyl aus-gestalteten und weitenteils leeren Lounge des Arklay Inns zuAbend gegessen hatte, waren draußen die ersten Schreie auf-geklungen. Die ersten, aber keineswegs die letzten.In gewisser Hinsicht war die eingetretene Katastrophe vonVorteil für sie, denn nun würden keine Wachen um das Laborpostiert sein. Sie würde nicht zigmal versuchen müssen, sichanzuschleichen und dabei jede Deckung zu nutzen. Laut derInformation, die sie vorab über das T-Virus eingeholt hatte,war es an der Luft kurzlebig und es starb schnell ab. Die ein-zige Möglichkeit, sich jetzt noch damit anzustecken, war derKontakt mit einem Träger. In dieser Hinsicht gab es also keinProblem - und nachdem sie und ein paar Dutzend andere eszum Polizeirevier geschafft hatten, hatte Ada gesehen, dasssich Bertolucci darunter befand. Trotz der Untoten hatte esanfänglich ausgesehen, als liefen die Dinge zu ihren Gunsten.Missionsziele: Befrage den Schreiberling, finde heraus, wieviel er weiß, und bring ihn um oder vergiss ihn, je nachdem.Berge eine Probe von Dr. Birkins neuestem Wunder-Virus ...Kein Problem, oder?Vor drei Tagen - mit dem Wissen, wie das Umbrella-Labormit dem Abwasserkanalsystem verbunden war, und Bertoluc-ci direkt vor ihrer Nase - hatte es den Anschein gehabt, alssei der Job so gut wie erledigt. Aber natürlich hatte die Sachevon da an noch gehörig schief laufen müssen.Das umgemodelte Revier, in dem die Räume nach demS.T.A.R. S.-Fiasko neu aufgeteilt wurden, hat die Hälfte mei-ner Vorbereitungen hinfällig gemacht. Menschen, die ver-schwanden. Barrikaden, die fortwährend fielen. PolizeichefIrons, der wie ein billiger Diktator mit Befehlen um sich warfund immer noch versuchte, Bürgermeister Harris und seinejammernde Tochter zu beeindrucken, während sich die Totenlängst immer höher stapelten ...Ada hatte Bertolucci im Auge behalten und bemerkt, dasser sich verdrücken wollte - seinen tatsächlichen Abgang je-doch hatte sie versäumt. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt,Kontakt aufzunehmen, bevor er sich ins Labyrinth des Re-viers abgesetzt hatte und im Chaos der ersten Angriffswelleuntergetaucht war. Ada hatte beschlossen, im Alleingang vor-

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zugehen, nachdem kaum eine Stunde später drei Viertel derZivilisten durch einen einzigen Massenangriff ausgelöschtworden waren, und das nur, weil sich niemand darum geküm-mert hatte, die Garagentore zu schließen. Sie war nicht wil-lens zu sterben, nur um ihre Tarnidentität als verängstigteTouristin zu wahren, die nach ihrem Freund suchte.Und dann hatte das Warten begonnen. Fast fünfzig Stundenhatte sie, geduckt im Uhrenturm des zweiten Stockwerks, da-rauf gewartet, dass sich die Lage beruhigte. In den längerwerdenden Pausen zwischen den Feuergefechten war sie hi-nunter gehuscht, um etwas Essbares zu finden oder aufs Klozu gehen, inmitten des hallenden Ratterns von Schüssen undder Schreie ...Großartig. Jetzt bist du also hier, und was tust du? Stehstherum und hängst deinen Gedanken nach. Mach weiter - jeeher du fertig bist, desto eher kannst du deinen Lohn einsa-cken und dich irgendwo auf einer hübschen Insel zur Ruhesetzen.

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Dennoch verharrte Ada noch einen Augenblick lang, tipptemit der Mündung ihrer Beretta geistesabwesend gegen einesihrer langen, bestrumpften Beine. Drei Leichen lagen imFlur. Sie konnte nicht aufhören, diejenige anzustarren, dieverkrümmt unter einem Fensterschalter auf halbem Wege denGang hinunter lag. Eine Frau in abgeschnittenen Shorts undeinem Top, die Beine ordinär gespreizt, einen Arm über ihrenblutbesudelten Kopf gekrümmt. Die anderen beiden warenPolizisten, die Ada nicht wiedererkannte - die Frau allerdingsgehörte zu den Leuten, mit denen sie gesprochen hatte, nach-dem sie es zum Revier geschafft hatten. Ihr Name war Stacygewesen, ein nervöses, aber willensstarkes Mädchen, das ge-rade dem Teenageralter entwachsen war.Stacy Kelso, so hatte sie geheißen. Sie war in die Stadt ge-gangen, um Eiskrem zu kaufen, und dabei in die Attacke gera-ten - und doch hat sie sich mehr um ihre Eltern und ihrenkleinen Bruder zu Hause gesorgt, als um ihre eigene Notlage.Ein pßichtbewusstes Mädchen. Ein gutes Mädchen.Warum dachte sie darüber nach? Stacy war tot, hatte einausgefranstes Loch in der linken Schläfe, und sie war nichtAdas Schutzbefohlene gewesen; es war also nicht so, dassAda sich persönlich für ihr Schicksal hätte verantwortlichfühlen müssen. Sie war hergekommen, um einen Job zu erle-digen, und es war nicht ihre Schuld, dass in Raccoon die Höl-le ausgebrochen war ...Vielleicht geht es nicht um Schuldgefühle, flüsterte ein Teilvon ihr. Vielleicht tut es dir nur Leid, dass sie es nicht ge-schafft hat. Sie war schließlich ein Mensch, und jetzt ist sietot, wie es wahrscheinlich auch ihre Eltern und ihr kleinerBruder sind ...„Schluss damit!", sagte sie leise, aber leicht gereizt. Sie rissihren Blick von der Mitleid erregenden Gestalt los und rich-tete ihn stattdessen auf einen zerbrochenen Aschenbecher amEnde des Korridors. Sich schlecht zu fühlen aufgrund vonDingen, die sie nicht beeinflussen konnte, war nicht ihre Art- und angesichts dessen, wie viel Mr. Trent es sich kostenließ, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, war jetzt nicht diebeste Zeit, um ihre Gefühlswelt zu analysieren. Menschenstarben, das war der Lauf der Welt, und wenn sie in ihrem Le-ben irgendetwas gelernt hatte, dann das, dass es sinnlos war,sich über diese spezielle Wahrheit zu grämen.Missionsziele: Mit Bertolucci reden und die G-Virus-Probebesorgen. Das war alles, was sie zu kümmern hatte.Ein paar Ecken von ihrem momentanen Standort entfernt,im Pressekonferenzraum, gab es einen Mechanismus, denAda noch überprüfen musste. Trents Notizen über die jüng-

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sten architektonischen Ergänzungen des Reviers waren lü-ckenhaft gewesen, aber sie wusste, dass es mit der Verzie-rung, skulpturartigen Gaslampen und einem Ölgemälde zutun hatte. Wer immer all diese Arbeiten in Auftrag gegebenhatte, führte ein außerordentlich undurchsichtiges Leben.Oben, hinter der Wand eines einstigen Lagerraums, gab es re-gelrechte Geheimgänge. Ada hatte sie sich noch nicht ange-sehen, aber ein rascher Blick hatte ihr gezeigt, dass der Raumselbst in ein Büro umfunktioniert worden war. Der übertrie-benen und neurotisch machohaften Ausstaffierung nach zuschließen, gehörte es vermutlich Irons. Selbst in der kurzenZeit, die sie in seinem Laden zugebracht hatte, hatte sie fest-stellen können, dass er nicht der gefestigste Charakter auf Er-den war. Er stand fraglos auf der Gehaltsliste von Umbrella,aber er hatte darüber hinaus etwas an sich, das förmlich nachGestörtheit roch.Ada ging den Flur hinunter, ihre Schuhe klickten laut aufden zerkratzten blauen Fliesen. Schon jetzt befürchtete sie

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ein weiteres zeitraubendes mechanisches Puzzle. Nicht, dassdas etwas nützte - sie hatte von Anfang an angenommen,dass das Virus noch im Labor sei -, aber sie konnte es nichtriskieren, sich eine möglicherweise frühere Entdeckung durchdie Lappen gehen zu lassen. Laut Unterlagen gab es acht biszwölf Phiolen von dem Zeug, je eine Unze fassend; diese In-formation entstammte einem zwei Wochen zurückliegendenVideo-Briefing - und Birkins Labor war alles andere als un-einnehmbar. Da das Labor durch die Kanalisation mit demRevier verbunden war, musste Ada die Möglichkeit in Be-tracht ziehen, dass die Proben fortgeschafft worden waren.Außerdem konnte sich Bertolucci in der Recherchebibliothekversteckt halten oder in den S. T. A. R. S.-Büros auf der West-seite, vielleicht in der Dunkelkammer - tot oder nicht, siemusste ihn finden. Und es würde ihr auch die Chance einräu-men, im RPD-Gebäude noch ein paar Neunmillimeter-Clipseinzusammeln.Sie folgte dem Gang, der sie an einem kleinen Wartebe-reich vorbeiführte, in dem Verkaufsautomaten standen, diebereits aufgebrochen und geplündert worden waren. Genauwie der Rest des Reviers war der Korridor kalt und hätte drin-gend eines Lufterfrischers bedurft; an den Geruch hatte siesich gewöhnt, aber die Kälte war mörderisch. Zum hundert-sten Mal, seit sie ihren Tisch im Arklay verlassen hatte,wünschte sich Ada, dass sie sich zum Abendessen legerer ge-kleidet hätte. Das ärmellose rote Tunikakleid und klapperndeSchuhe hatten zwar zu ihrer Tarnung gepasst - als Einsatz-kleidung war das Outfit jedoch alles andere denn praktisch.Sie erreichte das Ende des Flures und öffnete, die Waffehalb erhoben, vorsichtig die Tür zu ihrer Linken. Wie zuvorwar der Gang sauber, wenn auch ein weiteres Zeugnis der ge-schwundenen Eleganz des Gebäudes - hier waren es dunklesandfarbene Wände und symmetrisch gemusterte Kacheln.Das Revier musste einst prachtvoll gewesen sein, doch dieJahre, in denen es als institutionelle Einrichtung gedient hat-te, hatten seine Erhabenheit aufgezehrt. Das ramponierteAussehen und die kalte, hoffnungslose Atmosphäre erzeugtenein düsteres Feeling - als könnte einem jeden Moment einekalte Hand auf die Schulter fallen und ein Hauch verfaultenAtems über den Nacken streifen ...Abermals legte Ada die Stirn in Falten - nach diesem Jobwürde sie einen sehr langen Urlaub machen. Entweder das,oder es war an der Zeit, sich einen neuen Beruf zu suchen.Ihre Konzentration - ihre Fähigkeit, alles Denken auf ein Zielzu fokussieren - war nicht mehr das, was sie einmal gewesenwar. Und in ihrer Branche konnte ein Flüchtigkeitsfehler im

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falschen Augenblick buchstäblich den Tod bedeuten.Fette Zulage. Trent stinkt vor Geld. Ich werde um einen sie-benstelligen Betrag bitten, mindestens aber um einen im hö-heren sechsstelligen Bereich.In ihrem Bemühen, ihre Gedanken auf das Wesentliche zubündeln, stellte Ada fest, dass sie das hartnäckige Bild nichtzu unterdrücken vermochte, das fortwährend durch ihrenKopf kroch. Eine Erinnerung an die junge Stacy Kelso, diesich nervös das Haar hinter die Ohren schob, während sievon ihrem kleinen Bruder erzählte ...Nach, wie ihr vorkam, sehr langer Zeit schüttelte Ada dielästige Vision endlich ab, ging weiter den Gang hinab, schworsich, dass sie sich keine weiteren Konzentrationsschwächenerlauben würde - und fragte sich, warum sie es nicht schaff-te, dies auch zu glauben.

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SIEBENLeons Stiefel scharrten durch Scherben zerbrochenen Glases,die auf dem Boden des Kendo-Waffengeschäfts lagen, undrußiger Schweiß rann ihm übers Gesicht, während er Schub-laden aufriss. Wenn er nicht sehr schnell .50er-Munition fand,gehörte er der Katz. Die wenigen Waffen, die sich noch indem verwüsteten Laden befanden, nützten ihm nichts, da siemit Stahlkabeln gesichert waren. Das Schaufenster war kom-plett zertrümmert. Die Kreaturen würden nicht lange brau-chen, bis sie ihn hier fanden - und er hatte noch eine einzigeKugel und etliche Blocks zurückzulegen.Komm schon, Kaliber fünfzig Action Express ... irgendje-mand in Raccoon muss die doch verwendet haben ...„Ja!"In der vierten Schublade unter dem Jagdgewehr-Display la-gen sie: ein halbes Dutzend leerer Clips und ebenso vieleSchachteln voll mit Munition. Leon schnappte sich eine da-von, drehte sich um und knallte sie auf den Verkaufstresen,während er gehetzt zur Front des kleinen Ladens blickte.Noch war niemand zu sehen - wenn man den Toten auf demBoden außer acht ließ. Er bewegte sich nicht, aber der Frischedes Blutes nach, das aus seinem ansehnlichen Bauch quollund sein ärmelloses T-Shirt besudelte, durfte Leon sich nichtallzu viel Zeit lassen. Er wusste nicht, wie lange es dauerte,

bis die Getöteten sich wieder erhoben - aber er wollte esauch nicht unbedingt herausfinden.Muss mich sowieso beeilen - ist ja gerade so, als sei ich sowas wie ein Leuchtturm für diese Dinger, und dieses Plätz-chen hier ist leicht zugänglich ...Leon ließ den Blick zwischen der zertrümmerten Glasfrontund seinen zitternden Händen hin- und herfliegen und fing anzu laden.Mit Glück war er auf den Waffen-Store gestoßen, den erbei seiner schwindelerregenden, albtraumhaften Flucht zu-nächst völlig vergessen hatte. Da der kürzeste Weg zumRevier durch eine Massenkarambolage blockiert war, führteder schnellste Umweg durch Kendo's. Ein Zufall, der ihmzweifellos das Leben gerettet hatte. Denn obwohl er unter-wegs zwei der Untoten niedergestreckt hatte, war er von ihrerschieren Zahl fast überrollt worden.„Uuunh ..."Eine grässliche, knochendürre Gestalt wankte aus denSchatten der Straße und visierte wie trunken die Vorderseitedes Ladens an.

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„Verdammt", murmelte Leon. Irgendwie schafften es seineFinger, sich noch schneller zu bewegen. Einen Clip hatte erfertig, einen wollte er noch aufmunitionieren, und den Restkonnte er mitnehmen. Wenn er sich jetzt zu lange damit auf-hielt, würde er tot sein, bevor er überhaupt daran denkenkonnte, sich bis zum Revier durchzuschlagen.Plötzlich stand eine weitere lepröse Gestalt vor der zerstör-ten Ladeneingangstür auf. Die Verwesung an ihren Beinenwar so weit fortgeschritten, dass Leon Maden sehen konnte,die sich zwischen den faserigen Muskeln wanden.... vier ... fünf... fertig!Er schnappte sich die Magnum, warf den Clip aus und lud

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bereits nach, als der fast leere den Boden berührte. Die ma-denzerfressene Kreatur zwängte sich zwischen den gezacktenGlasscherben hindurch, die noch im Türrahmen steckten. Et-was Flüssiges blubberte dumpf in ihrem Hals.Eine Tasche! Er brauchte eine Tasche. Leon sondierte fie-berhaft den Raum hinter dem Tresen und fand eine ölfleckigeSporttasche, die an einem Stuhl in der hintersten Ecke lehnte.Zwei rasche Schritte und sie gehörte ihm. Während er zu derAnhäufung von Clips und loser Munition auf dem Tresenzurückrannte, schüttete er den Inhalt der Tasche aus. Reini-gungsmaterial klapperte auf das Linoleum, während Leon dieClips in die Tasche fegte; die verstreut liegenden Patronen ig-norierte er zugunsten der Munitionsschublade.Das verfaulende Monster schlurfte auf ihn zu, stolperteüber die Leiche des schmerbäuchigen Toten, und Leon konn-te riechen, wie stark verwest es war. Er riss die Magnum hochund richtete sie auf das Gesicht des Wesens.Den Kopf- genau wie bei den beiden draußen!Unter ohrenbetäubendem Krachen flog der breiige Schädelauseinander. Zähe Flüssigkeit klatschte gegen die Wände undAuslagen des Ladens. Noch bevor das auf diese Weise ent-hauptete Ding zu Boden schlug, wirbelte Leon bereits herum,ging vor der Munitionsschublade in die Hocke und schaufeltedie schweren Schachteln in die Nylontasche. Angst krampfteihm den Magen zusammen und ließ ihn zittern; Angst, dasssich die Seitengasse gerade jetzt mit weiteren dieser Unge-heuer füllen könnte, die ihm den Weg zu seinem Ziel ab-schneiden würden.Fünf Clips pro Schachtel, fünf Schachteln ... Okay, jetztsieh zu, dass du hier rauskommst!Leon richtete sich auf, schulterte die Tasche und rannte zurHintertür. Aus den Augenwinkeln sah er, dass es eine weitere

Kreatur in den Laden geschafft hatte - und dem Knirschenzerbröselnden Glases nach zu schließen, folgten dieser einensogar noch weitere unmittelbar auf dem Fuße.Er öffnete die Tür, schlüpfte hindurch und spähte prüfendnach links und rechts, während die Tür hinter ihm zuglitt unddas Schloss mit einem leisen metallischen Klicken ein-schnappte. Außer Abfalltonnen und Recyclingbehältern, indenen sich schimmeliges Zeug türmte, war nichts zu sehen.Von Leons Standort aus erstreckte sich die Gasse zur Linkenund beschrieb dann eine Kurve wieder nach links. Wenn seininnerer Kompass noch funktionierte, würde ihn der enge, vorMüll überquellende Durchlass direkt hinaus auf die OakStreet führen, weniger als einen Block vom Revier entfernt.

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Bislang hatte er Glück gehabt - alles, was er tun konnte,war zu hoffen, dass ihm dieses Glück gewogen blieb und ihndas Revier lebend, dazu möglichst in einem Stück, erreichenließ - wo er dann, so Gott es wollte, ein schwer bewaffnetesKontingent von Leuten vorfinden würde, die wussten, waszum Teufel hier überhaupt vorging.Und Claire. Ich hoffe, du bist okay, Claire Redfield, und wenndu vor mir dort ankommst, schließ bitte die Tür nicht zu...Leon rückte die bleierne Last der Munition auf seinem Rü-cken zurecht und marschierte die schwach beleuchtete Gassehinab, bereit, alles in Fetzen zu schießen, was sich ihm in denWeg stellen mochte.Claire schaffte es, fast ohne einen Schuss abgeben zu müs-sen. Die Zombies, die nach und nach auf die Straßen heraus-kamen, waren unerbittlich, aber langsam, und das Adrenalin,das durch Claires Adern pumpte, erleichterte es ihr, ihnenauszuweichen. Sie nahm an, dass die Ungeheuer von den Ge-räuschen der brennenden Wracks hervorgelockt wurden und

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dann kurzerhand ihrer Nase folgten - oder eben dem, wasvon ihren Nasen noch übrig war. Von den etwa zehn Kreatu-ren, die ihr so nahe kamen, dass Claire sie in allen grausigenDetails sehen konnte, befand sich mindestens die Hälfte imStadium fortgeschrittener Verwesung. Das Fleisch fiel ihnenvon den Knochen.Sie war so damit beschäftigt, die Straße im Auge zu behal-ten und sich in Gedanken darüber klar zu werden, was allesgeschehen war, dass sie fast am Polizeirevier vorbeigeranntwäre. Bei vorherigen Besuchen war sie schon zweimal imRPD-Gebäude gewesen, um Chris abzuholen, hatte es aber niedurch den Hintereingang betreten - oder in kalter, stinkenderDunkelheit, verfolgt von untoten Kannibalen. Ein verunfalltesPolizeiauto und eine Handvoll in Zombies verwandelter Copshatten sie in die Enge und über einen kleinen Parkplatz getrie-ben, dann durch eine Art Geräteschuppen, der auf einen winzi-gen gepflasterten Hof hinausführte - ein Hof, auf dem sie undChris einmal zu Mittag gegessen hatten, auf der Treppe sit-zend, die zum Heliport des Reviers hinaufführte, der auf Höhedes ersten Stockwerks lag. So hatte sie es schließlich geschafft.Sich an den beiden uniformierten, umherstolpernden Lei-chen vorbeizudrücken, die ziellos über den L-förmigen Hofschlurften, hatte sich als einfach erwiesen. Aber Claire war soerleichtert, an einem Ort zu sein, den sie kannte und zu wis-sen, dass sie beinahe in Sicherheit war - dass sie die Fraunicht sah, bis es fast zu spät war.Eine wimmernde Tote mit einem schlaff herabhängendenArm und einem blutigen, zerfetzten Pullunder, die aus denSchatten am Fuß der Treppe nach ihr grabschte und ClairesArm mit kalten, schorfigen Fingern streifte.Claire gab einen erstickten Aufschrei von sich, wich stol-pernd vor der ausgestreckten Hand des Wesens zurück - und74lief beinahe einem anderen in die Arme, einem hünenhaftenverwesenden Mann, der unter den Metallstufen hervorge-kommen war, täppisch, aber lautlos.Sie duckte sich zur Seite weg, richtete die Neunmillimeterauf den Mann, trat einen Schritt zurück -- und spürte, wie ihr Unterschenkel das harte Geländer derrückwärtigen Treppe, die zum Dach hinauf führte, berührte.Die Frau befand sich anderthalb Meter rechts von ihr, ihr zer-rissenes, blutiges Oberteil entblößte eine hängende Brust, dieHand ihres noch intakten Armes fasste nach Claire. Noch ei-nen Schritt weiter, dann würde sich der Mann in Reichweitebefinden, und sie konnte nicht weiter zurückweichen.Claire drückte ab. Es gab einen monströsen Knall. Die

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Pistole sprang ihr fast aus der Hand. Die rechte Hälfte desschlaffen, welken Gesichts vor ihr verschwand in einer Ex-plosion dunkler Flüssigkeiten, die aus dem zerschmettertenSchädel des Hünen spritzten.Claire riss die Pistole herum und schloss ihre Finger festerum den Griff, während sie auf das bleiche Gesicht der unab-lässig stöhnenden Frau zielte. Eine weitere ohrenbetäubendeExplosion, und das anschwellende Wimmern verstummte wieabgeschnitten, die wächserne Stirn verschwand in einem Wir-bel aus Blut und Knochensplittern. Die Frau kippte nach hin-ten und krachte auf das Pflaster wie -- wie tot, was sie ja ohnehin schon waren. Davon werdensie sich nicht mehr erholen.Claire war, als hätte sie endlich alles eingeholt, als hätte esdes Abdrückens bedurft, um ihr die Realität ihrer Situationendlich in aller Konsequenz bewusst zu machen. Einen Mo-ment lang konnte sie sich nicht bewegen. Sie starrte hinab aufdie beiden verkrümmten Bündel aus verheertem Fleisch, aufdie beiden Menschen, die sie gerade erschossen hatte, und

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hatte das Gefühl, dass sie nur eine Idee davon entfernt war,auszurasten. Sie war mit Warfen aufgewachsen, war Dutzen-de Male auf Schießständen gewesen - aber dort hatte sie miteiner .22er Sportpistole auf Papierscheiben geschossen. Zie-le, die nicht bluteten oder Hirn verspritzten wie die Men-schen, die sie gerade -Nein, unterbrach eine kühle Stimme sie, die aus ihrem In-nersten zu kommen schien. Das sind keine Menschen, nichtmehr. Mach dir nichts vor und verschwende keine Zeit für fal-sche Reue. Und denk dran, wenn S.T.A.R.S. hinzugezogenwurde, könnte Chris auch hier sein.Als ob das noch nicht Motivation genug sei, waren jetztauch noch die beiden Zombie-Cops, denen Claire zuvor aufdem Hof aus dem Weg gegangen war, unterwegs zu ihr. Stie-fel schlurften und schleiften über die Pflastersteine. Es warZeit zu gehen.Claire trabte die Stufen hoch. Wegen des Brausens in ihrenOhren konnte sie das metallene Klappern ihrer Schritte kaumhören. Das zweimalige Krachen der Neunmillimeter hatte ihrGehör vorübergehend betäubt - was erklärte, warum sie aufden Hubschrauber erst aufmerksam wurde, als sie fast schonauf dem Dach angelangt war.Claire erreichte die vorletzte Stufe und blieb wie angewur-zelt stehen. Peitschender Wind hämmerte rhythmisch gegenihre nackten Schultern, als das riesenhafte schwarze Vehikelin ihr Blickfeld schwebte, halb in Schatten gehüllt. Es befandsich nahe des alten Wasserturms, der den Heliport in der süd-westlichen Ecke begrenzte, aber sie wusste nicht, ob derHubschrauber gerade abgehoben hatte oder zur Landung an-setzte. Sie wusste es nicht, und es war ihr egal.„Hey!", schrie sie und riss die linke Hand hoch. „Hey, hierdrüben!"

Ihre Worte verloren sich in dem aufgewehten Staub, derüber das Dach wirbelte, ertranken in dem steten Wummernder Rotorblätter. Claire winkte wie wild und fühlte sich, alshätte sie gerade in der Lotterie gewonnen.Jemand ist gekommen! Gott sei dank - danke!Im Mittelteil der stählernen Libelle ging ein Suchschein-werfer an, der Strahl wanderte über das Dach, aber in die fal-sche Richtung, von ihr weg! Claire winkte noch heftiger, hol-te tief Atem, um abermals zu schreien -- und sah, was der Suchscheinwerfer erfasst hatte. Sie er-kannte es im selben Moment, da sie das verzweifelte, über-wiegend unverständliche Rufen durch das Gebrüll des Heli-kopters hindurch hörte. Ein Mann, ein Polizist, stand mit dem

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Rücken gegen einen erhöhten Teil des Daches gedrängt in je-ner Ecke des Heliports, die der Treppe gegenüberlag. In Hän-den hielt er etwas, das wie ein Maschinengewehr aussah, under wirkte überaus lebendig.„... kommt hier rüber ...!"Der Polizist schrie in Richtung des Hubschraubers, Panikschwang in seiner Stimme mit - Claire erkannte, weshalb,und spürte, wie ihre Erleichterung erlosch.Zwei Zombies taumelten durch die Finsternis des Heliportsund hielten auf ein gut beleuchtetes Ziel zu: den gestikulie-renden Polizisten. Sie hob die Neunmillimeter und ließ siedann hilflos wieder sinken, weil sie fürchtete, versehentlichden in die Enge getriebenen Mann zu treffen.Der Scheinwerfer zitterte nicht, tauchte den Horror in glei-ßendes Licht. Dem Cop schien nicht klar zu sein, wie nahedie beiden Zombies waren, bis sie nach ihm griffen - einge-schlossen in die Balken aus weißem Licht ihre sehnigenArme nach ihm ausstreckten.„Zurück! Weg! Kommt nicht näher!", brüllte der Mann,

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und wegen des puren Entsetzens in seiner Stimme konnteClaire ihn perfekt verstehen. Genauso wie sie seinen heulen-den Schrei hören konnte, als die beiden verwesenden Gestal-ten ihr die Sicht nahmen und gleichzeitig nach ihm griffen.Das Geräusch seiner Automatikwaffe dröhnte über den He-liport, und selbst über das Geräusch des Helikopters hinwegkonnte Claire das jaulende Ting umherjagender Kugeln ver-nehmen. Sie ließ sich fallen. Ihre Knie schlugen gegen dieoberste Stufe. Das Rattern der Waffe wollte kein Ende neh-men.Am Geräusch des Hubschraubers änderte sich etwas - einseltsames Summen mischte sich hinein, das sich rasch zu ei-nem mechanischen Kreischen steigerte. Claire schaute aufund sah, wie das gigantische Vehikel herabsank, das Heck ineinem unkontrollierten, ruckhaften Bogen herumschwingend.Jesus, er hat den Kopter getroffen!Die Suchscheinwerfer des Hubschraubers schienen in sämt-liche Richtungen zugleich zu leuchten, blitzten über Metall-rohre und Beton und über die nachlassenden Bemühungen desPolizisten, der es irgendwie schaffte, immer noch zu schießen,obwohl die beiden Monster unerbittlich an ihm zerrten.Und dann stürzte der Helikopter mit Schieflage herunter,und die Rotorblätter droschen unter gewaltigem Getöse in dieZiegel der ansteigenden Dachkonstruktion. Bevor Claireauch nur blinzeln konnte, schlug die Schnauze des Koptersauf und pflügte in einem Schleier von Funken und umherflie-genden Glassplittern über den Heliport.Die Explosion ereignete sich erst, als die riesige Maschi-ne in der südwestlichen Ecke nach ihrem Rutsch bereitszum Halten gekommen war - direkt vor dem inzwischen zuBoden gegangenen Cop und seinen Mördern. Im Fauchen derFlammen, das dem schnaubenden Donner folgte, erstarb denn78auch endlich das Knattern des Maschinengewehrs. Über demDach lag glutrotes Leuchten. Im selben Moment gab etwasmit reißendem Knirschen nach, und die Nase des Hubschrau-bers bohrte sich in eine Ziegelmauer, wo sie außer Sicht ge-riet.Claire erhob sich auf Beinen, die sie kaum noch spürte, undstarrte ungläubig auf das tanzende Feuer, das fast die Hälftedes Heliports bedeckte. Alles war viel zu schnell vonstattengegangen, als dass sie hätte begreifen können, dass es wirk-lich passiert war, und der rauchende, brennende Beweis vorihr verstärkte dieses Gefühl von Unwirklichkeit nur noch.Beißender, widerlich süßer Geruch verbrennenden Fleischeswehte auf einer Woge heißer Luft zu ihr herüber, und in der

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plötzlichen Stille konnte sie das leise Stöhnen der Zombiesvom Hof herauf hören.Sie warf einen Blick hinunter und sah, dass sich die beidenuntoten Cops am Fuß der Treppe befanden, blind und sinnlosgegen die unterste Stufe tretend. Wenigstens konnten sienicht Treppen steigen ...... können - Nicht - Treppen - steigen.Claire wandte ihren angstvollen Blick der Tür zu, die in dasRPD-Gebäude führte, vielleicht zehn Meter von den sichkräuselnden, hochschlagenden Flammen entfernt, die lang-sam das Wrack auffraßen. Neben der Treppe war dies der ein-zige Weg zum Dach. Und wenn Zombies nicht Treppen stei-gen konnten ...... dann stecke ich echt tief in der Scheiße. Das Revier istnicht sicher!Nachdenklich starrte Claire auf den Brandherd und wogihre Möglichkeiten gegeneinander ab. In der Neunmillimetersteckten noch etliche Patronen, und sie hatte noch zwei volleClips - sie konnte zur Straße zurückkehren, nach einem Auto

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suchen, in dem der Schlüssel steckte, damit wegfahren undHilfe holen.Nur, was ist mit Leon? Und dieser Cop hat noch gelebt -was ist, wenn da noch mehr Leute drin sind und einen Aus-bruch planen?Claire fand zwar, dass sie sich bislang allein ganz gut ge-halten hatte, aber sie wusste auch, dass sie sich sicherer ge-fühlt hätte, wenn ein anderer ihr die Verantwortung hätte ab-nehmen können - ein Einsatzkommando wäre okay, aber siewürde sich auch mit irgendeinem kriegszernarbten, bis an dieZähne bewaffneten Polizeiveteranen zufrieden geben. OderChris - Claire wusste nicht, ob sie ihn im Revier antreffenwürde, aber sie glaubte fest daran, dass er noch lebte. Wennjemand das Zeug dazu hatte, in einer Situation wie dieser aufsich aufzupassen, dann ihr Bruder.Aber ob sie nun jemanden fand oder nicht, es wäre falschgewesen zu verschwinden, ohne Leon Bescheid zu sagen -wenn sie das nicht tat, stattdessen aus der Stadt floh und erauf der Suche nach ihr ums Leben käme, Himmel, dann ...Ihre Entscheidung stand fest. Den Flammen vorsichtig aus-weichend und die flackernden Schatten nach Bewegung absu-chend, lief Claire auf den Eingang zu. Als sie die Tür erreich-te, schloss sie für einen Moment die Augen, während ihreschweißnasse Hand schon den Griff berührte.„Ich kann das", sagte sie ruhig, und obwohl ihre Stimmenicht so zuversichtlich klang, wie sie es sich gewünscht hätte,zitterte oder versagte sie doch immerhin nicht. Claire öffneteerst die Augen, dann die Tür - und als ihr aus dem gedämpfterhellten Gang nichts entgegensprang, schlüpfte sie hinein.

AC HTPolizeichef Brian Irons stand in einem der Gänge seines pri-vaten Reiches und versuchte, zu Atem zu kommen, als er dieErschütterung des Gebäudes spürte. Er hörte sie auch - hörteetwas. Ein fernes Splittern, dumpf und abrupt.Das Dach, dachte er abwesend, irgendetwas passiert aufdem Dach ...Irons machte sich nicht die Mühe, dem Gedanken bis hinzu einer Schlussfolgerung nachzugehen. Was immer auchpassiert war, es konnte die Sache nicht wesentlich schlimmermachen.Brian Irons drückte sich mit seiner gutgepolsterten Hüftevon der Wand ab und hob Beverly so sanft wie er es nurkonnte hoch. Gleich würden sie am Fahrstuhl sein, dann wares nur noch ein kleines Stück bis zu seinem Büro; dort konn-

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te er sich ausruhen, und dann -„Und dann ...", murmelte er, „das ist die große Frage, nichtwahr? Und was dann?"Beverly antwortete nicht. Ihre perfekten Züge blieben reg-los und stumm, ihre Augen geschlossen - aber sie schien sichenger an ihn zu schmiegen, ihr schlanker Körper presste sichgegen seine Brust. Aber das entsprang sicher nur seiner Ein-bildung.Beverly Harris, die Tochter des Bürgermeisters. Die jun-

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ge, hinreißende Beverly, die in ihrer blonden Schönheit sooft seine schuldbeladenen Träume heimgesucht hatte. Ironsschloss sie fester in die Arme, ging weiter auf den Lift zu undversuchte, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen -für den Fall, dass sie aufwachte.Als er den Aufzug erreichte, taten ihm Arme und Rückenweh. Er hätte sie wahrscheinlich in seinem privaten Hobby-raum lassen sollen, den er in Gedanken immer als „das Sank-tuarium" bezeichnet hatte - dort war es ruhig, und vermutlichwar es einer der sichersten Bereiche des Reviers. Doch als erbeschlossen hatte, zum Büro zu gehen, um sein Tagebuchund ein paar persönliche Sachen zu holen, hatte er feststellenmüssen, dass er es einfach nicht über sich brachte, sie zu-rückzulassen. Sie sah so verletzlich aus, so unschuldig. Erhatte Harris versprochen, auf sie aufzupassen - was also,wenn sie während seiner Abwesenheit angegriffen wurde?Was, wenn er aus dem Büro zurückkam und sie einfach -weg war? Weg wie alles andere ...Die Arbeit eines Jahrzehnts. Aufbau eines Netzwerks, dasKnüpfen der Verbindungen, das sorgfältige Positionieren ...alles weg, einfach so.Irons legte das Mädchen auf dem kalten Boden ab und öff-nete die Aufzugtür, verzweifelt bemüht, nicht an all das zudenken, was er verloren hatte. Jetzt war Beverly das Wich-tigste.„Ich werde dich beschützen", murmelte er - und hob sichda nicht ein Winkel ihres perfekten Mundes um eine Nuance?Wusste sie, dass sie in Sicherheit war, dass Onkel Brian sichum sie kümmerte? Als sie ein Kind gewesen war, als er dieFamilie Harris zum Abendessen zu besuchen pflegte, da hattesie ihn stets so genannt: „Onkel Brian".Sie weiß es. Natürlich weiß sie es.Er schleifte sie in die Liftkabine und setzte sie in der Eckeab, blickte zärtlich auf ihr engelhaftes Gesicht hinab. Plötz-lich überkam ihn eine Woge fast väterlicher Liebe, und esüberraschte ihn nicht, dass ihm Tränen in die Augen stiegen,Tränen des Stolzes und der Zuneigung. Seit Tagen schon warer Opfer solcher Gefühlsausbrüche - Wut, Entsetzen undauch Freude. Er war nie ein besonders emotionaler Menschgewesen, doch er hatte gelernt, diese machtvollen Gefühle zuakzeptieren, sie sogar einigermaßen zu genießen; zumindestwaren sie nicht allzu verwirrend. Es hatte auch Momente ge-geben, in denen ihn eine Art seltsamer, schleichender Nebelüberkam, eine gestaltlose Angst, die ihn jedes Mal zutiefstbeunruhigt zurückließ ... und verwirrt wie ein verlorenesKind.

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Schluss damit. Jetzt gibt es nichts mehr, was noch schief ge-hen könnte - Beverly ist bei mir, und wenn ich erst meine Sa-chen geholt habe, können wir uns im Sanktuarium versteckenund uns etwas ausruhen. Sie braucht Zeit, um sich zu erholen,und ich kann ... kann alles auf die Reihe bringen. Ja, das istes: Die Dinge müssen auf die Reihe gebracht werden.Irons blinzelte die bereits vergessenen Tränen fort, als dermetallene Käfig in die Höhe fuhr, zog seine Waffe und warfden Clip aus, um nachzuzählen, wie viel Schuss noch übrigwaren. Seine Privaträumlichkeiten waren sicher, aber dasBüro war etwas anderes - er wollte vorbereitet sein.Der Aufzug kam zum Halten, und Irons hielt die Tür mit ei-nem Bein auf, bevor er das Mädchen vor Anstrengung äch-zend hochhob. Er trug die Ohnmächtige wie ein schlafendesKind. Ihr kühler, weicher Leib ruhte schlaff in seinen Armen,ihr Kopf rollte nach hinten und baumelte hin und her, wäh-rend er lief. Er hatte sie ungeschickt aufgehoben, ihr weißesKleid war hochgerutscht und entblößte die feste, cremige

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Haut ihrer Schenkel. Irons zwang sich wegzusehen und kon-zentrierte sich auf die Schalttafeln, mittels derer sich dieWand zu seinem Büro öffnen ließ. Was er bei anderen Gele-genheiten auch für harmlosen Fantasien nachgehangen habenmochte, jetzt war er für sie verantwortlich - er war ihr Be-schützer, ihr Ritter in glänzender Rüstung ...Den vorstehenden Knopf konnte er mit dem Knie drücken.Die Wand glitt auf und gab den Blick frei auf sein nobel aus-staffiertes und - dem Himmel sei dank - leeres Büro; nur diestumpfen, gläsernen Blicke seiner Tiertrophäen begrüßtenihn.Der massive Schreibtisch aus Walnussholz, den er aus Ita-lien importiert hatte, stand direkt vor ihm. Seine Kräfte lie-ßen nach. Beverly war eine zierliche Frau, aber er war nichtmehr so in Form wie früher. Schnell legte er sie auf denSchreibtisch, wobei er mit dem Ellbogen einen Becher mitStiften zu Boden stieß.„So!" Er atmete tief aus und lächelte auf sie hinab. Sie lä-chelte nicht zurück, aber er spürte, dass sie bald aufwachenwürde. Er fasste unter den Schreibtisch und drückte den Knopffür die Wandsteuerung. Hinter ihnen glitt das Paneel zu.Als er sie gefunden hatte, schlafend neben Officer Scott,hatte er zunächst eine tiefe Sorge in sich gefühlt: GeorgeScott war tot gewesen, über und über mit Wunden bedeckt,und angesichts des roten Fleckes auf Beverlys Bauch hatteIrons schon befürchtet, sie sei ebenfalls nicht mehr am Le-ben. Doch während er sie zum Sanktuarium geschleppt hatte,in seinen sicheren Hort, hatte sie ihm etwas zugeflüstert -dass es ihr nicht gut gehe, dass sie verletzt sei, dass sie nachHause wolle ...... wirklich? Hat sie das wirklich getan?Irons runzelte die Stirn. Etwas befreite ihn aus dieser unsi-cheren Erinnerung ... etwas, das er gefühlt hatte, als er sieauf seinem Hobbytisch abgelegt und ihr blutbeflecktes Kleidglattgezogen hatte, etwas, an das er sich nicht recht entsinnenkonnte. Es war ihm zu dem Zeitpunkt nicht wichtig erschie-nen, jetzt aber, außerhalb der behaglichen Umgebung desSanktuariums, nagte es in ihm. Erinnerte ihn daran, dass ihndiese Verwirrung überkommen hatte, als er, als er -- als ich das kalte, gummiartige Gelee von Eingeweidenunter meinen Fingern spürte -- er sie berührt hatte.„Beverly?", flüsterte er und setzte sich hinter seinenSchreibtisch, als ihm plötzlich die Beine schwach wurden.Beverly bewahrte ihr Schweigen - und eine wilde Flut vonGefühlen traf Irons wie eine Sturmwelle, schlug über ihm zu-

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sammen, überspülte sein Denken mit Bildern, Erinnerungenund Wahrheiten, die er nicht akzeptieren wollte.Das Durchtrennen der Außenleitungen nach den ersten An-griffen ... Umbrella und Birkin und die wandelnden Toten ...Das Gemetzel in der Garage, als der grelle kupferige Geruchdie Luft erfüllt hatte und Bürgermeister Harris bei lebendi-gem Leib aufgefressen worden war, schreiend bis zum Ende... Die schwindende Zahl der Lebenden in der erst langen,schrecklichen Nacht... Und die kalte, brutale Erkenntnis, dieihn wieder und wieder ereilt hatte, dass die Stadt - seineStadt - nicht mehr existierte.Danach - Verwirrung. Die eigenartige hysterische Freude,die über ihn gekommen war, als er begriffen hatte, dass seinTun keine Konsequenzen haben würde. Irons entsann sichdes Spieles, das er in der zweiten Nacht gespielt hatte, nach-dem einige von Birkins Schoßtieren den Weg zum Revier ge-funden und alle bis auf ein paar der noch verbliebenen Copsgetötet hatten. Er hatte Neil Carson gefunden, der sich in der

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Bücherei verkrochen hatte, und ihm ... nachgespürt, er hatteden Sergeant gejagt wie ein Tier.Na und? Was zählt das jetzt noch, da mein Leben in Rac-coon vorbei ist?Alles, was noch übrig war, das Einzige, woran er noch Haltfinden konnte, war das Sanktuarium - und der Teil seinerselbst, der es erschaffen hatte, jenes dunkle und ehrenwerteHerz in ihm, das er stets hatte versteckt halten müssen. Die-ser Teil war jetzt frei ...Irons betrachtete die Leiche von Beverly Harris, die aufseinem Schreibtisch hingebreitet lag wie ein zarter, zerbrech-licher Traum, und er hatte das Gefühl, die Angst und dieZweifel, die sich in ihm bekriegten, könnten ihn zerreißen.Hatte er sie umgebracht? Er konnte sich nicht erinnern.Onkel Brian. Vor zehn Jahren war ich ihr Onkel Brian. Wasist aus mir geworden?Es war zu viel. Ohne den Blick von ihrem leblosen Gesichtzu nehmen, zog er die geladene VP70 aus dem Holster undbegann, mit tauben Fingern über den Lauf zu reiben, einsanftes Streicheln, das ihn irgendwie beruhigte. Dann richteteer die Waffe gegen sich. Als die Mündung fest gegen seinenweichen Bauch drückte, hatte er das Gefühl, dass eine ArtFrieden in Reichweite läge. Sein Finger legte sich um denAbzug, und da flüsterte Beverly ihm wieder etwas zu, ihreLippen jedoch blieben reglos, ihre süße, melodische Stimmekam von nirgendwo und überallher zugleich.„... verlass mich nicht, Onkel Brian. Du hast gesagt, du be-schützt mich und dass du dich um mich kümmerst. Denk dochnur daran, was du jetzt tun könntest, wo alle weg sind undnichts dich mehr aufzuhalten vermag ..."„Du bist tot", flüsterte er, doch sie redete weiter, leise undbeharrlich.

„... nichts, was dich davon abhalten könnte, Erfüllung zufinden, wahre Erfüllung, zum ersten Mal in deinem Leben ..."Gequält und unter Schmerzen schob Irons die Neunmilli-meter ganz langsam von seinem Bauch weg. Einen Momentspäter legte er seine Stirn auf Beverlys Schulter und schlossdie müden Augen.Sie hatte Recht, er konnte sie nicht verlassen. Er hatte esversprochen - und es war etwas dran an dem, was sie gesagthatte über all das, was er tun könnte. Sein Hobbytisch wargroß genug, um allen möglichen Tieren Platz zu bieten ...Irons seufzte. Er war nicht sicher, was er als Nächstes tunsollte - und fragte sich, warum sie so auf eine Entscheidungdrängte. Sie würden sich eine Weile ausruhen, vielleicht so-

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gar ein Nickerchen machen. Und wenn sie aufwachten, wür-de alles wieder klar sein.Ja, das war es. Sie würden sich ausruhen, und dann konnteer die Dinge auf die Reihe bringen, sich der Sache anneh-men; immerhin war er der Polizeichef.Sich wieder als sein eigener Herr fühlend, glitt Brian Ironsin einen leichten, unruhigen Schlaf, Beverlys kühles Fleischwie Balsam an seiner fiebrigen Stirn.

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NeuenWegen eines Lieferwagens, der in der Gasse hinter Kendo'sgeparkt war, musste Leon Kennedy ein paar Umwege auf sei-nem Weg zum Revier in Kauf nehmen - über einen Basket-ballplatz, durch eine weitere Gasse und einen geparkten Bus,der nach den Leichen stank, die kreuz und quer darin ver-streut lagen. Es war ein Albtraum, untermalt von leisem Ge-heule, von Verwesungsgestank und einer weiteren fernenExplosion, die ihm die Glieder schwach werden ließ. Und ob-wohl er drei weitere wandelnde Tote erschießen musste undbis an die Zähne vollgepumpt war mit Adrenalin und Entset-zen, schaffte er es irgendwie, an seiner Hoffnung festzuhal-ten, dass das RPD-Gebäude ein sicherer Zufluchtsort seinwürde, dass man dort eine Art Krisenzentrum eingerichtethaben würde, besetzt mit Polizisten und Sanitätern - dassdort fähige Leute Entscheidungen trafen und Streitkräfte be-fehligten. Es war nicht einfach nur eine Hoffnung, es war einBedürfnis. Die Möglichkeit, dass niemand in Raccoon ver-blieben sein könnte, der das Heft des Handelns in die Händenahm, war undenkbar.Als Leon endlich auf die Straße vor dem Revier hinausstol-perte und die brennenden Streifenwagen sah, fühlte er sich,als habe man ihm in den Magen geschlagen. Was seine Hoff-nung vollends zunichte machte, war der Anblick der verwe-senden, stöhnenden Polizisten, die um die tanzenden Flam-men herumwankten. Die RPD-Truppe zählte nur etwa fünf-zig oder sechzig Cops, und ein gutes Drittel davon stakstekaum dreißig Meter vom Eingang des Reviers entfernt zwi-schen den Wracks herum oder lag tot und blutverschmiert aufdem Pflaster.Leon drängte die Verzweiflung beiseite und heftete seinenBlick auf das Tor, das zum Hof des RPD-Gebäudes führte.Ob nun jemand überlebt hatte oder nicht, er musste anseinem Plan festhalten, einen Hilferuf abzusetzen - und ermusste an Claire denken. Sich auf seine Angst zu fixieren,würde es ihm nur erschweren das zu tun, was getan werdenmusste.Er rannte auf das Tor zu und wich dabei flink einem fürch-terlich verbrannten uniformierten Cop aus, der anstelle seinerFinger nurmehr geschwärzte Knochen besaß. Als Leon diekalte Metallklinke umfasste und hinunterdrückte, wurde ihmbewusst, dass ein Teil von ihm wie taub wurde gegen die Tra-gödie, immun gegen das Begreifen, dass diese Dinger einmaldie Einwohner von Raccoon gewesen waren. Die Kreaturen,die durch die Straßen streiften, wurden dadurch nicht weniger

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entsetzlich, doch der Schock darüber war nicht länger vonBestand; es waren zu viele von ihnen.Hier sind nicht allzu viele, Gott sei dank ...Leon drosch das Tor hinter sich zu, wischte sich das ver-schwitzte Haar aus der Stirn und atmete in der beinahe fri-schen Luft tief durch, während er seinen Blick über den Hofwandern ließ. Der kleine, grasbewachsene Park zu seinerRechten war hinreichend beleuchtet, um zu sehen, dass sichdort nur einige wenige dieser einst menschlichen Wesen auf-hielten, und keines war ihm nahe genug, um eine Gefahr zubedeuten. Leon konnte die beiden Flaggen sehen, die die

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Front des Reviergebäudes schmückten. Schlaff hingen sie imstillen Dunkel, und der Anblick fachte die Hoffnung, die erverloren geglaubt hatte, wieder neu an. Was auch passierenmochte, er hatte es zumindest an einen Ort geschafft, den erkannte. Und es würde hier sicherer sein als auf den Straßen.Er eilte an einem blindlings umhertaumelnden Trio von To-ten vorbei und wich mit Leichtigkeit aus - zwei Männer undeine Frau; alle drei hätten als normal durchgehen können,wären da nicht ihre klagenden, gierigen Schreie und ihreunkoordinierten Bewegungen gewesen. Sie waren wohl erstkürzlich gestorben.Aber sie sind nicht tot; aus Toten fließt kein Blut, wenn manauf sie schießt. Ganz zu schweigen davon, dass sie nicht he-rumspazieren und versuchen, Menschen aufzufressen ...Tote liefen nicht herum ... und Lebende fielen für gewöhn-lich um, wenn sie von ein paar Kugeln des Kalibers .50 ge-troffen wurden, und sie nahmen es nicht einfach hin, wennihnen das Fleisch auf den Knochen verweste. Fragen, mit de-nen er sich nicht näher befassen konnte, fluteten durch seinDenken, während er die Treppe zum Revier hinauftrabte, Fra-gen, auf die er keine Antworten wusste - aber er würde siebald finden, dessen war er sich sicher.Die Tür war nicht abgesperrt, doch Leon verkniff es sich,deshalb Überraschung zu zeigen - nach allem, was er durch-gemacht hatte, seit er in der Stadt eingetroffen war, hielt er esfür das Beste, seine Erwartungen auf ein Minimum zu be-schränken. Er drückte die Tür auf und trat ein, die Magnumerhoben und den Finger am Abzug.Leer. Kein Anzeichen von Leben in der altehrwürdigenLobby des RPD-Gebäudes - und keine Spur des Desasters,das über Raccoon gekommen war. Leon gab es auf, sichselbst eine Kaltblütigkeit vorzugaukeln, die er nicht fühlte,schloss die Tür hinter sich und trat in die tiefer liegende Lob-by hinein.„Hallo?" Er sprach nur leise, doch seine Stimme trug weitund echote wispernd von den hohen Wänden und der Deckezu ihm zurück. Alles sah so aus, wie er es in Erinnerung hat-te - drei Etagen in klassischem Baustil aus Eiche und Mar-mor. Im tiefer gelegenen Bereich der Halle stand eine steiner-ne Frauenstatue, die einen Wasserkrug trug; zu beiden Seitenführten Rampen zum Empfangstresen hinauf. Das RPD-Wappen, das vor der Statue in den Boden eingelassen war,schimmerte matt im diffusen Licht der Wandlampen, als seies erst kürzlich poliert worden.Keine Leichen, kein Blut ... nicht mal eine Patronenhülse.Wenn hier ein Angriff stattgefunden hat, wo zum Teufel sind

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dann die Indizien, die dafür sprechen?Voller Unbehagen ob der tiefen Stille des riesigen Raumes,ging Leon die linke Rampe hoch, blieb am Empfangstresenstehen und beugte sich darüber - davon abgesehen, dass ernicht besetzt war, schien alles in Ordnung. Auf dem Schreib-tisch unterhalb des Tresens stand ein Telefon. Leon nahm denHörer ab, klemmte ihn sich zwischen Kopf und Schulter undwählte mit kalten Fingern, die ihm vorkamen, als gehörtensie ihm gar nicht. Nicht einmal ein Freizeichen ertönte; alles,was er hörte, war das Geräusch seines eigenen heftig klop-fenden Herzens.Er legte den Hörer auf, wandte sich dem leeren Raum zuund überlegte, wo er zuerst hingehen sollte. So sehr er Claireauch finden wollte, verspürte er doch auch das verzweifelteBedürfnis, sich mit ein paar anderen Cops zusammenzutun.Vor ein paar Wochen hatte er eine Kopie eines RPD-Memoserhalten, in dem stand, dass etliche Abteilungen verlegt wor-den waren, aber das machte im Grunde nichts aus - wenn

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sich im Gebäude noch Cops versteckt hielten, bestand ihreSorge vermutlich nicht darin, in der Nähe ihrer Schreibtischezu bleiben.Drei Türen führten aus der Lobby in verschiedene Bereichedes verzweigten Reviers, zwei auf der westlichen Seite, eineauf der östlichen. Von den beiden auf der Westseite führteeine durch eine Reihe von Gängen in Richtung des rückwär-tigen Gebäudeteiles, vorbei an ein paar Archiven und einemKonferenzraum. Die zweite öffnete sich in den Mannschafts-und Umkleideraum der Uniformträger, durch den man auchin einen der Korridore in der Nähe der Treppe zum erstenStock gelangte. Die Osttür, genaugenommen die ganze Ost-seite des Erdgeschosses, war in erster Linie der Kripo vorbe-halten - Büros, Verhörräume und ein Presseraum; außerdemgab es einen Zugang zum Keller und eine weitere Treppe au-ßerhalb des Gebäudes.Claire ist wahrscheinlich durch die Garage hereingekom-men. Oder durch den Hinterhof über das Dach ...Sie konnte das Gebäude aber auch umrundet haben unddurch dieselbe Tür getreten sein wie er - vorausgesetzt, siehatte es überhaupt zum Revier geschafft, konnte sie überallsein. Und in Anbetracht der Tatsache, dass das Gebäude fasteinen kompletten Block vereinnahmte, war das eine riesigeFläche, die es abzusuchen galt.Weil er ja schließlich irgendwo anfangen musste, gingLeon auf den Mannschaftsraum für die Jungs vom Streifen-dienst zu, wo sich auch sein eigener Spind befinden würde.Ein eher zufälliger Entschluss, aber dort hatte er mehr Zeitverbracht als sonst wo auf dem Revier, mit Gesprächen unddem Durchackern von Dienstplänen. Außerdem lag dieserRaum am nahesten, und die gruftartige Stille der übergroßenLobby verursachte ihm eine Gänsehaut.Die Tür war nicht abgesperrt. Leon drückte sie langsamauf, hielt die Luft an und hoffte, der Raum möge so unberührtund ordentlich sein wie die Lobby. Was er statt dessen fand,war die Bestätigung seiner vorherigen Befürchtungen: DieKreaturen waren hier gewesen - und wie!Der lange Raum war verwüstet, wo Leon auch hinsah -umgekippte, zertrümmerte Tische, Schmierstreifen getrock-neten Blutes, die die Wände verunzierten, und über den Bo-den zogen sich klebrige Pfützen in Richtung -„O Mann ..."Der Cop lehnte links von Leon an den Spinden, die ge-spreizten Beine halb unter einem zerbrochenen Tisch verbor-gen. Als er die Stimme hörte, hob er schwach einen zittern-den Arm, richtete eine Waffe vage in Leons Richtung - und

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senkte sie wieder, scheinbar erschöpft von der Anstrengung.Sein Bauchbereich schwamm in Blut, seine dunklen Zügewaren vor Schmerz verzerrt.Zwei Schritte brachten Leon bis neben den Mann. Er knie-te nieder und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Zwarkonnte er die eigentliche Wunde nicht sehen, aber das vieleBlut ließ keinen Zweifel, dass es den Mann schlimm erwischthatte.„Wer ... bist du?", flüsterte der Cop.Der leise, fast verträumte Ton seiner Stimme erschütterteLeon fast ebenso wie das immer noch strömende Blut oderder gläserne Blick der dunklen Augen - es ging bergab mitdem Mann, und zwar rapide. Sie waren einander nie offiziellvorgestellt worden, doch Leon hatte ihn schon einmal gese-hen. Der junge afro-amerikanische Streifenpolizist war ihmals scharfsinnig beschrieben worden, er war auf der Schnell-spur zum Rang eines Detectives gewesen - Marvin, MarvinBranagh ...

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„Ich bin Kennedy. Was ist hier passiert?", fragte Leon, sei-ne Hand immer noch auf Branaghs Schulter. Fiebrige Hitzestrahlte durch das zerrissene Hemd des Officers.„Vor etwa zwei Monaten", krächzte Branagh, „die Kanni-balenmorde ... die S. T. A. R. S.-Leute fanden Zombies drau-ßen in der Villa im Wald ..."Er hustete schwach, und Leon sah, wie sich im Mundwin-kel des Mannes eine Blutblase bildete. Leon setzte an, ihm zusagen, dass er ruhig sein und sich ausruhen solle, doch Bra-naghs entrückter Blick schien nach dem von Leon zu greifen,daran Halt zu finden. Der Cop wirkte fest entschlossen, dieGeschichte zu erzählen, was es ihn auch kosten mochte.„Chris und die anderen bekamen heraus, dass Umbrellahinter der ganzen Sache steckte ... riskierten ihr Leben, aberniemand glaubte ihnen ... dann das."Chris ... Chris Redßeld. Claires Bruder.Leon hatte die Verbindung zuvor nicht geknüpft, obwohl erschon von dem Ärger mit den S.T.A.R.S.-Mitgliedern ge-wusst hatte. Er hatte nur Bruchstücke der Story gehört - dieSuspendierung der Leute vom Special Tactics and RescueSquad nach ihrem angeblich falschen Vorgehen in den Mord-fällen war der Grund, weshalb das RPD neue Cops eingestellthatte. In irgendeiner Lokalzeitung hatte er sogar die Namender betreffenden S.T.A.R.S.-Angehörigen gelesen, aufgelis-tet neben einer Reihe recht beeindruckender Karrieredaten -- und Umbrella hat in dieser Stadt das Sagen, schon im-mer gehabt. Irgendein Leck im Chemiewerk muss passiertsein, etwas, das man vertuschen wollte, indem man sich dasS. T.A.R.S. vom Hals schaffte ...All das ging Leon im Bruchteil einer Sekunde durch denSinn, dann hustete Branagh abermals, und diesmal war derLaut noch schwächer als zuvor.

„Halt durch", sagte Leon und sah sich hastig nach etwasum, womit er die Blutung stoppen konnte, während er sichinnerlich in den Hintern trat, weil er es nicht längst schon ge-tan hatte. Einer der Spinde neben Branagh stand halb offen,auf dem Boden lag ein zerknülltes T-Shirt. Leon schnappte essich, faltete es planlos zusammen und presste es gegen Bra-naghs Bauch. Der Cop legte seine eigene blutige Hand aufden provisorischen Verband und schloss die Augen, als erkeuchend fortfuhr.„Mach dir ... um mich keine Sorgen. Da sind ... Du musstversuchen, die Überlebenden zu retten ..."Die Resignation in Branaghs Stimme war entsetzlich offen-kundig. Leon schüttelte den Kopf, wollte die Wahrheit leug-

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nen, wollte etwas tun, um Branaghs Schmerzen zu lindern -doch der verletzte Cop starb, und es gab niemanden, denLeon zu Hilfe hätte rufen können.Nicht fair, das ist nicht fair!„Geh", schnaufte Branagh, die Augen weiter geschlossen.Branagh hatte Recht, es gab nichts, was Leon tun konnte -aber er rührte sich einen Moment lang nicht vom Fleck,konnte es nicht -, bis Branagh seine Waffe von neuem hobund auf Leon richtete, in einem plötzlichen Aufflackern vonEnergie, das seine Stimme zu einem rauen Rufen anschwel-len ließ.„Geh schon!", befahl Branagh. Leon stand auf und fragtesich, ob er in dieser Situation ebenso selbstlos gewesen wäre.Zugleich versuchte er sich davon zu überzeugen, dass Bra-nagh es schon irgendwie schaffen würde.„Ich komme wieder", sagte Leon knapp, doch BranaghsArm sank schon wieder herab, sein Kinn fiel ihm auf die sichhebende und senkende Brust.Rette die Überlebenden.

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Leon wich rückwärts zur Tür zurück, schluckte hart undmühte sich, die Planänderung zu akzeptieren, die ihn leichtdas Leben kosten konnte - vor der er sich aber auch nichtdrücken konnte. Offiziell oder nicht, er war ein Cop. Wenn esandere Überlebende gab, dann war es seine moralische undseine Pflicht als Bürger zu versuchen, ihnen zu helfen.Im Keller befand sich eine Waffenkammer, unweit der Tief-garage. Leon öffnete die Tür und trat wieder hinaus in dieLobby, betete, dass die Schränke gut bestückt sein würden -und dass noch jemand da war, der ihm helfen würde.

ZEH NVom brennenden Dach aus ging Claire einen mit Glasscher-ben übersäten Gang entlang - vorbei an einem toten Cop, derblutiger Beweis war für ihre Befürchtungen hinsichtlich dertatsächlichen Sicherheit des Reviers. Rasch stieg sie über dieLeiche hinweg und ging weiter. Ihre nervliche Anspannungnahm zu. Durch die zerborstenen Fenster, die den Flur säum-ten, fuhr eine kühle Brise herein und erfüllte die Finsternismit Leben. Glänzende schwarze Federn klebten in den bluti-gen Spuren, die den Dielenboden färbten, und deren weicher,wogender Tanz veranlasste Claire, die Halbautomatik ruckar-tig auf jeden Schatten zu richten.Sie kam an einer Tür vorbei, die, wie sie glaubte, nachdraußen auf eine Außentreppe führte, ging jedoch weiter undbog nach rechts zur Mitte des Gebäudes hin ab. Das Bild, wiesich der Hubschrauber ins Dach gegraben hatte, rumorte inihr und weckte Visionen, in denen das ganze alte Revier inFlammen aufging.Nach Lage der Dinge wäre das vielleicht nicht einmal dieschlechteste Idee ...Mit all den Leichen und den blutigen Handabdrücken anden Wänden sah Claire einem Rundgang durch das Reviernicht gerade froh gestimmt entgegen. Aber die Aussicht, imFeuer zu sterben, war auch nicht sonderlich reizvoll. Sie

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musste feststellen, wie schlimm die Dinge standen, bevor siesich auf die Suche nach Leon machte.Der Korridor endete vor einer Tür, die sich unter ClairesBerührung kühl anfühlte. Sich im Geiste selbst die Daumendrückend, öffnete sie die Tür - und wich zurück, als eineWoge beißenden Qualms über sie hinwegspülte. Schwer lagder Geruch von verbranntem Metall und Holz in der aufge-heizten Luft. Claire ging in die Hocke und bewegte sich indieser Haltung vorwärts, lugte den Gang hinunter, der sichrechts von ihr erstreckte. Nach etwa zehn Metern vollführteer eine weitere Biegung nach rechts, und wenn sie das Feuerauch nicht richtig sehen konnte, so wurde doch helles, lo-derndes Licht von den grau vertäfelten Wänden an der Eckereflektiert. Der enge Korridor verstärkte das knackende Pras-seln der unsichtbaren Flammen, ein Geräusch so geistlos gie-rig wie das Ächzen der Zombies unten im Hof.Tja, schöne Scheiße. Was jetzt?Schräg gegenüber von ihr befand sich eine weitere Tür, nurein paar Schritte entfernt. Claire holte tief Luft und setztesich in Bewegung, hielt sich geduckt, um unterhalb der dich-ter werdenden Decke aus Rauch zu bleiben, und hoffte, dasssie einen Feuerlöscher finden würde - und dass ein solcherausreichen würde, um das Feuer, das der abgestürzte Heli-kopter verursacht haben musste, auch zu löschen.Die Tür führte in ein leeres Wartezimmer. Es enthielt eini-ge Couchs mit grünem Vinylbezug und einen abgerundetenTresen. Eine weitere Tür lag jener genau gegenüber, durchdie Claire eingetreten war. Der kleine Raum schien unbe-rührt, so steril und spartanisch, wie es nur ging - und damitanders als so gut wie jeder andere Ort, an dem Claire heuteNacht gewesen war. Hier drohte kein Unheil in den mildenSchatten, von den Neonleuchten unter der Decke geworfen,

hier gab es keinen Gestank von Fäulnis und umherschlurfen-den Zombies.Und keinen Feuerlöscher ...Jedenfalls entdeckte Claire keinen. Sie schloss die Tür zudem raucherfüllten Korridor, trat an den Tresen und hob dieKlappe, die den Durchgang verhinderte, mit dem Pistolenlaufhoch. Auf der Theke stand eine alte mechanische Schreibma-schine, daneben ein Telefon. Claire griff danach, gab sichneuer, wilder Hoffnung hin, hörte aber doch nur Totenstilleaus dem Hörer. Seufzend ließ sie ihn fallen und bückte sich,um die Regale unter dem Tresen in Augenschein zu nehmen.Ein Telefonbuch, ein paar Papierstapel - und im unterstenFach, halb verdeckt von einer Damenhandtasche, fand sie den

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vertrauten roten Gegenstand, den sie zu finden gehofft hatte,eine dünne Staubschicht darauf.„Da bist du ja", murmelte Claire und hielt kurz inne, umdie Neunmillimeter unter ihrer Weste zu verstauen, bevor sieden schweren Zylinder hochhob. Sie hatte noch nie einenFeuerlöscher benutzt, aber es sah ganz einfach aus - ein Me-tallgriff mit einem Sicherungssplint, und an der Seite war einschwarzer Gummirüssel befestigt. Das Teil war nur ein paarFuß lang, wog aber gut vierzig oder fünfzig Pfund; Clairenahm an, es bedeutete, dass das Ding voll war.Mit dem Feuerlöscher bewaffnet kehrte Claire zur Tür zu-rück und füllte ihre Lungen mit kurzen, scharfen Atemzügen.Dadurch wurde ihr etwas schwindelig, doch die Hyperventi-lation würde ihr erlauben, die Luft länger anzuhalten. Siewollte nicht infolge einer Rauchvergiftung umkippen, nochbevor sie die Chance hatte, das Feuer zu löschen.Ein letzter tiefer Atemzug, dann öffnete sie die Tür undkehrte geduckt in den nun merklich heißeren Korridor zu-rück. Der Rauch war ebenfalls dichter geworden, reichte jetzt

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über einen Meter als dunkler, erstickender Nebel von der De-cke herab.Halte dich geduckt, atme flach und pass auf, wo du hin-läufst ...Sie bog um die Ecke und empfand bei dem Anblick desbrennenden Wracks direkt vor ihr eine bizarre Mischung ausErleichterung und Betrübnis. Sie streckte ihren Kopf vor undnahm einen kurzen Atemzug durch den Stoff ihrer Weste,während ihre Haut sich unter der Hitze rötete und spannte.Das Feuer war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte,mehr Rauch als Flammen, und nicht viel größer oder höherals sie selbst. Die Flammen, die als orangegelbe Finger dieWand hochstrichen, schienen keine Nahrung zu finden, dasschwere Holz einer halbzertrümmerten Tür hielt sie auf.Die Schnauze des Helikopters zog Claires Aufmerksamkeitauf sich, die geschwärzte Hülle des schwelenden Cockpits -und die geschwärzte Hülle des Piloten, der noch in seinemSitz festgeschnallt war, der geschmolzene Mund zu einemgähnenden, stummen Schrei gefroren. Es war unmöglichfestzustellen, ob es ein Mann oder eine Frau war; die Zügewaren ausgelöscht worden, ineinander gelaufen wie dunklerTalg.Claire riss den Metallstift aus dem Griff des Feuerlöschersund richtete den Schlauch auf die brennenden Bodenbretter,wo weißblaue Flammen tanzten. Sie drückte den Hebel, einezischende Fahne flockigen Sprays fauchte heraus und legtesich als puderige Wolke über die Trümmer. Kaum imstande,durch das sich bauschende Weiß etwas zu sehen, richteteClaire den Schlauch auf alles und besprühte das Wrack groß-zügig mit dem Sauerstoffkiller. Binnen einer Minute schiendas Feuer erstickt zu sein, doch sie hielt mit dem Löscher solange drauf, bis er leer war.

Beim letzten, sprayspuckenden Röcheln ließ Claire denGriff los, nahm ein paar flache Atemzüge und inspizierte dasWrack auf Stellen hin, die sie vielleicht übersehen hatte. Siemachte kein Flackern aus, doch aus der Holztür neben dem„verschneiten" Cockpit des Hubschraubers entstiegen nochimmer schwarze Rauchschwaden. Claire beugte sich weitervor und sah ein orangefarbenes Glühen unter der verkohltenOberfläche. Der Bereich um das brennende Holz glomm be-reits, und sie wollte kein Risiko eingehen. Claire trat zurückund versetzte der Tür einen kräftigen Tritt, wobei sie auf dieleuchtende Glut zielte.Ihr Stiefel traf genau auf den heißen Fleck. Die Tür flog miteinem splitternden Geräusch auf, das versengte Holz gab in

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einem funkensprühenden Ascheregen nach. Ein paar Splitterlandeten auf ihrer nackten Wade, doch Claire zog zuerst ihreWaffe, bevor sie sich die Zeit nahm, die Partikel wegzuwi-schen - sie fürchtete sich mehr vor dem, was hinter der zer-störten Tür warten mochte, als vor ein paar Brandblasen.Ein kurzer, leerer Gang, übersät mit gezackten Bruchstü-cken gesplitterten Holzes und rauchverhangen, am Endedann eine Tür auf der linken Seite. Claire bewegte sich daraufzu, in der Hoffnung auf etwas frischere Luft, aber auch, umzu sehen, wo sie hinführte. Da die unmittelbare Gefahr durchdas Feuer gebannt war, musste sie sich jetzt auf die Suchenach Leon machen - und sich überlegen, was sie benötigten,um zu überleben. Wenn sie unterwegs ein paar der angren-zenden Zimmer in Augenschein nehmen konnte, würde sievielleicht ein paar brauchbare Dinge finden.Ein funktionierendes Telefon, Autoschlüssel ... verdammt,ein paar Maschinengewehre oder ein Flammenwerfer wärennett, aber ich werde nehmen, was ich kriegen kann.Die schmucklose Tür am Gangende war unverriegelt. Clai-

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re drückte sie auf, bereit, auf alles zu schießen, was sich be-wegte -- und blieb stehen, gelinde schockiert ob der bizarren At-mosphäre des üppigen Raumes. Er kam ihr vor wie die Paro-die eines Herrenclubs aus den Fünfzigern, ein großes Büro,ausstaffiert mit einer Extravaganz, die ans Lächerliche grenz-te. An den Wänden reihten sich schwere Mahagonibücherre-gale und dazu passende Tische, in der Mitte befand sich eineArt Sitzbereich mit gepolsterten Lederstühlen und einemniedrigen Marmortisch, und all das stand auf einem offen-sichtlich teuren Orientteppich. Von der Decke hing ein kunst-voll gearbeiteter Kronleuchter, der kräftiges, weiches Lichtüber das Szenario legte. Überall waren gerahmte Bilder undzierliche Vasen platziert - doch ihr klassisches Design wurdeerdrückt von den ausgestopften Tierköpfen und Vögeln, dieden Raum dominierten, die meisten davon um einen Schreib-tisch am anderen Ende gruppiert ...Ach du lieber Gott!Ausgestreckt auf dem Schreibtisch lag, wie eine Figur auseiner gothischen Schauergeschichte, eine hübsche junge Frauin einem weißen Kleid, ihre Eingeweide in blutige Fetzen ge-rissen. Die Leiche suggerierte etwas von einem makabrenTischschmuck. Die ausgestopften, staubigen Tiere starrtenaus toten Glasaugen auf sie herab - ein Falke und ein Vogel,der wie ein Adler aussah, die Schwingen in simuliertem Fluggespreizt, sowie ein paar aufgehängte Rehköpfe und der einesElches. Die Wirkung war so unheimlich und surreal, dass esClaire einen Moment lang den Atem verschlug -- und als der hochlehnige Stuhl hinter dem Schreibtischplötzlich herumschwang, entfuhr ihr ein Schrei tiefverwur-zelten Schreckens, weil sie unwillkürlich ein Zerrbild desdüsteren, grinsenden Sensenmannes zu sehen erwartete. Aber

es war einfach nur ein Mann - ein Mann jedoch mit einerSchusswaffe, die er auf sie gerichtet hielt.Zweimal in einer Nacht, das kriegt man auch selten gebo-ten ...Eine Sekunde lang bewegten sie sich beide nicht - dannsenkte der Mann seine Waffe, und die Andeutung eines wi-derlichen Grinsens spielte über sein Gesicht.„Das tut mir schrecklich Leid", sagte er, seine Stimme soschmierig und falsch wie die eines zweitklassigen Politikers.„Ich dachte, Sie seien einer von diesen Zombies."Beim Sprechen glättete er seinen borstigen Schnauzbartmit einem seiner dicken Finger, und obwohl Claire ihm niezuvor begegnet war, wusste sie plötzlich, wer er war - Chris

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hatte sich oft genug über ihn ausgelassen.Fett, schnauzbärtig und aalglatt wie ein Handelsvertreter,das ist er - Polizeichef Irons.Er sah nicht gut aus - seine Wangen waren fleckig gerötet,seine Schweinsäugelein von aufgequollenem weißem Fleischumrandet. Die Art und Weise, wie sein Blick im Zimmer um-herzuckte, war beunruhigend, als hätte ihn eine schwere Para-noia fest im Griff. Er wirkte wahrhaftig wie völlig aus demGleichgewicht geraten und der Wirklichkeit nicht mehr allzusehr verhaftet.„Sind Sie Chief Irons?", fragte Claire und versuchte dabeifreundlich und respektvoll zu klingen, während sie näher anden Schreibtisch herantrat.„Ja, der bin ich", erwiderte er leise, „und wer sind Sie?"Bevor sie etwas antworten konnte, fuhr Irons fort und be-stätigte Claires Verdacht mit seinen nächsten Worten - undmit dem bitteren, gereizten Tonfall, in dem er es sagte. „Nein,sparen Sie sich Ihre Worte. Es macht keinen Unterschied. Siewerden enden wie all die anderen ..."

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Er verstummte und starrte auf die tote Frau vor sich, miteinem Ausdruck, den Claire nicht einzuordnen wusste. Siehatte Mitleid mit ihm, trotz alldem was Chris ihr über seinemiesen Charaktereigenschaften und seine berufliche Inkom-petenz erzählt hatte. Gott allein wusste, welche Schrecken ermitangesehen hatte oder was er hatte tun müssen, um zuüberleben.Ist es denn ein Wunder, dass er Schwierigkeiten mit der Re-alität hat? Leon und ich sind erst im letzten Akt in diesenHorrorfilm eingetreten - Irons war schon zum Vorspann hier,und das heißt vermutlich, dass er mitansehen musste, wie sei-ne Freunde starben.Claire schaute hinab auf die junge Frau, die wie hingegos-sen auf dem Schreibtisch lag, und Irons sprach weiter mit ei-ner Stimme, die gleichzeitig arrogant und traurig klang.„Das ist die Tochter des Bürgermeisters. Ich sollte auf sieaufpassen, aber ich habe elendiglich versagt..."Claire suchte nach tröstenden Worten, wollte ihm sagen,dass er von Glück reden könne, noch am Leben zu sein, dasses nicht seine Schuld sei - doch als er in seinem Lamento fort-fuhr, erstarben ihr die Worte im Hals, ebenso wie ihr Mitleid.„Sehen Sie sie nur an. Sie war eine echte Schönheit, ihreHaut von absoluter Perfektion. Aber sie wird bald zerfallen... und noch in dieser Stunde wird sie zu einem dieser Dingerwerden. Genau wie all die anderen."Claire wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber daswehmütige Sehnen in seinem Tonfall und seinem glänzenden,gierigen Blick verursachten ihr eine Gänsehaut. Die Art undWeise, wie er das tote Mädchen anhimmelte ...... das bildest du dir nur ein. Er ist der Polizeichef, keinperverser Irrer. Und er ist der erste Mensch, auf den du ge-troffen bist, der vielleicht in der Lage ist, dir irgendwelche Informationen zu geben. Lass dir diese Gelegenheit nicht ent-gehen.„Es muss doch eine Möglichkeit geben, sie aufzuhal-ten sagte Claire sanft.„In gewissem Sinne, sicher. Eine Kugel ins Hirn - oder ent-haupten."Endlich löste Irons den Blick von der Toten, sah aber nichtzu Claire hin. Er wandte sich um und starrte die ausgestopf-ten Tiere an, die sich am Rand seines Schreibtischs reihten.Seine Stimme nahm einen resignierten, zugleich aber auchheiteren Ton an.„Denken Sie nur - Taxidermie war mein Hobby. Aber jetzt... nicht mehr ..."Claires innere Alarmglocken schlugen vernehmlich an. Ta-

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xidermie? Was zum Teufel hatte das mit dem toten Mädchenauf seinem Schreibtisch zu tun?Endlich sah Irons sie an, und Claire gefiel es nicht im Min-desten. Der Blick seiner dunklen Knopfaugen war auf ihr Ge-sicht gerichtet, aber er schien sie nicht wirklich wahrzuneh-men. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er ihr keine einzigeFrage darüber gestellt hatte, wie sie es hierher geschafft hatte,ebenso wenig wie er eine Bemerkung über den Rauch ge-macht hatte, der in sein Büro gedrungen war. Und die Art undWeise, wie er über die Tochter des Bürgermeisters gespro-chen hatte ... kein echtes Bedauern über ihren Tod hatte daringeschwungen, nur Selbstmitleid und so etwas wie eine ver-quere Bewunderung.O Mann. O Mann, o Mann, der hat nicht nur den Bezugzum Hier und Jetzt verloren, der befindet sich auf einem ganzanderen gottverdammten Planeten ... /„Bitte", sagte Irons leise. „Ich möchte jetzt gerne alleinsein."

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Er sackte in seinem Stuhl zusammen, schloss die Augen,und sein Kopf sank wie vor Erschöpfung nach hinten gegendie gepolsterte Lehne. So schlicht und banal durfte sich Ciai-re verabschiedet fühlen. Und obgleich sie eine Million Fra-gen hatte - von denen sie glaubte, dass er viele hätte beant-worten können -, fand sie doch, dass es vielleicht am bestensei, wenn sie aus seiner Nähe verschwand, einstweilen zumin-dest.Ein Knarren, links hinter ihr und so leise, dass sie nichteinmal sicher war, ob sie es überhaupt gehört hatte, lenkte sieab. Claire drehte sich um, legte die Stirn in Falten und sah,dass es eine zweite Tür zu diesem Büro gab. Sie war ihr zuvornicht aufgefallen - und dieser leise, verstohlene Laut war da-hinter aufgeklungen.Noch ein weiterer Zombie? Oder jemand, der sich versteckthält...?Sie schaute wieder zu Irons hin und stellte fest, dass diesersich nicht bewegt hatte. Offenbar hatte er nichts gehört, auchsie selbst schien für ihn nicht mehr zu existieren, im Momentjedenfalls nicht. Er war zurückgekehrt in seine ganz privateWelt, in der er sich schon aufgehalten haben musste, als sie insein Büro gestolpert war.Also - den Weg zurück, den ich gekommen bin, oder soll ichmal nachschauen, was sich hinter Tür Nummer zwei ver-birgt?Leon - sie musste Leon finden, und sie hatte das starke Ge-fühl, dass Irons der absolute Fiesling war, ob er nun verrücktwar oder nicht. Es bedeutete keinen großen Verlust, dass ihmnicht der Sinn danach stand, ihrer beider Kräfte zu bündeln.Aber wenn es in dem Gebäude noch andere Menschen gab,Menschen, denen sie und Leon helfen konnten oder die ihnenhelfen könnten ...Es würde nur einen Moment dauern, nachzusehen, was hin-ter der anderen Tür war. Mit einem letzten Blick auf Irons,der zusammengesunken neben der Leiche der Bürgermeister-tochter und inmitten seiner leblosen Tiere saß, ging Claire aufdie zweite Tür zu. Und hoffte inständig, dass sie damit keinenFehler machte.

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ELFSherry hatte sich lange im Polizeirevier versteckt gehalten, esmussten drei oder vier Tage gewesen sein, und in all der Zeithatte sie ihre Mutter nicht ein einziges Mal gesehen. Nichteinmal, als noch eine Menge Menschen am Leben gewesenwaren. Sie hatte Mrs. Addison - eine der Lehrerinnen derSchule - gefunden, gleich nachdem sie ins Revier gekommenwar, aber Mrs. Addison war tot gewesen. Ein Zombie hattesie gefressen. Und wenig später hatte Sherry einen Lüftungs-schacht entdeckt, der sich fast durch das gesamte Gebäudezog, und sie hatte entschieden, dass es sicherer wäre, sich zuverstecken, als bei den Erwachsenen zu bleiben - weil vonden Erwachsenen immerzu welche starben. Und weil es imRevier ein Monster gab, das schlimmer war als die Zombiesoder die Inside-Out-Wesen, und sie war ziemlich sicher, dassdieses Monster nach ihr suchte. Das war wahrscheinlichdumm, Sherry glaubte nicht, dass Monster sich einen be-stimmten Menschen herauspickten, um ihn zu jagen - aberandererseits hatte sie auch nie geglaubt, dass es echte Mons-ter überhaupt gab.Also hatte sie sich versteckt gehalten, die meiste Zeit imRitterzimmer. Dort waren keine Toten, und der einzige Weghinein - außer dem Lüftungsschacht hinter den Rüstungen -führte über einen langen Gang, der von einem riesigen Tigerbewacht wurde. Der Tiger war ausgestopft, aber er war trotz-dem angsteinflößend - und Sherry meinte, dass der Tigervielleicht das Monster verscheuchen würde. Ein Teil von ihrwusste, dass das albern war, aber sie fühlte sich durch dieseVorstellung trotzdem besser.Seit die Zombies das Revier sozusagen in ihre Gewalt ge-bracht hatten, hatte Sherry viel Zeit mit Schlafen zugebracht.Wenn sie schlief, musste sie nicht daran denken, was wohlmit ihren Eltern passiert sein mochte, und sich nicht darumsorgen, was mit ihr selbst geschehen würde. Der Luftschachtwar ziemlich warm, und aus dem Süßigkeitenautomaten imErdgeschoss hatte sie genug zu essen - aber sie hatte Angst,und schlimmer noch als Angst zu haben, war das Alleinsein.Deshalb schlief sie meistens.Sie hatte auch geschlafen, behaglich hinter den Ritterrüs-tungen zusammengekuschelt, als sie von einem gewaltigenKrachen geweckt wurde, das von draußen kam. Sherry warsicher, dass es das Monster war. Bislang hatte sie nur einenflüchtigen Blick darauf erhaschen können, auf den furchtbarbreiten Rücken des Riesen, durch ein Stahlgitter hindurch -aber sie hatte es seither viele Male im Gebäude brüllen und

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heulen hören. Sie wusste, dass es schrecklich war, schreck-lich und gewalttätig und hungrig. Manchmal verschwand esfür Stunden, ließ Sherry hoffen, es hätte aufgegeben - aber eskam immer zurück, und ganz gleich, wo Sherry sich auch be-fand, es schien stets irgendwo in der Nähe aufzutauchen.Der Lärm, der sie aus dem traumlosen Schlaf gerissen hatte,klang wie das Geräusch, das ein Monster verursachen würde,wenn es Wände einriss. Sherry kauerte sich in ihrem Versteckzusammen, bereit, schnell wieder in den Schacht zu schlüp-fen, sollte das Geräusch näherkommen. Das tat es nicht. Lan-ge Zeit bewegte sie sich nicht, wartete mit zugedrückten Au-

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gen, hielt ihren Glücksbringer fest - einen wunderschönengoldenen Anhänger, den sie erst vorige Woche von ihrer Mut-ter bekommen hatte, so groß, dass er ihre ganze Hand ausfüll-te. Wie schon zuvor funktionierte der Glücksbringer auchdiesmal - das laute, fürchterliche Geräusch wiederholte sichnicht. Oder vielleicht hatte der große Tiger das Monster darangehindert, sie zu finden. Wie auch immer, als sie leise klop-fende Laute aus dem Büro hörte, fühlte sie sich sicher genug,um aus der Kiste zu kriechen und hinaus auf den Gang zu ge-hen, um zu lauschen. Die Zombies und die Inside-Out-Wesenkonnten keine Türen benutzen, und wenn es das Monster ge-wesen wäre, dann hätte es sich längst auf sie gestürzt, dieTüren mit seinen Klauen zerfetzend und nach Blut brüllend.Es muss ein Mensch sein. Vielleicht ist es Mom ...Auf halbem Wege den Gang hinunter, wo er nach rechts ab-bog, hörte Sherry Menschen in dem Büro reden und verspür-te ein Aufwallen von Hoffnung, die sich mit Einsamkeit ver-mengte. Sie verstand nicht, was die Leute sagten, aber es wardas erste Mal seit vielleicht zwei Tagen, dass sie irgendje-manden hörte, der nicht schrie. Und wenn sich dort Men-schen unterhielten, dann hieß das ja vielleicht, dass endlichHilfe nach Raccoon gekommen war.Die Armee oder die Regierung oder die Marines, vielleichtauch alle zusammen ...Aufgeregt eilte Sherry den Flur hinab, und sie stand nebendem fauchenden Tiger, direkt an der Tür, als ihre Aufregungverflog. Die Stimmen waren verstummt. Sherry stand ganzstill, hatte plötzlich Angst. Wenn Leute nach Raccoon gekom-men wären, um zu helfen, hätte sie dann nicht die Flugzeugeund Lastwagen gehört? Wären da nicht Schießereien undBombenexplosionen gewesen und Männer mit Megafonen,die alle anwiesen, herauszukommen?

Vielleicht sind das gar nicht die Stimmen von Soldaten -vielleicht sind das die Stimmen von bösen Menschen. So ver-rückt wie dieser eine Mann ...Kurz nachdem Sherry sich versteckt gehabt hatte, hatte siedurch ein Gitter, das in die Wand eines Umkleideraums ein-gelassen war, etwas Schreckliches mitansehen müssen. Eingroßer Mann mit roten Haaren hatte in dem Raum auf einemStuhl gesessen, war darauf vor- und zurückgeschaukelt undhatte dabei mit sich selbst geredet. Erst hatte Shelly ihn umHilfe bei der Suche nach ihren Eltern bitten wollen - aberetwas an der Art und Weise, wie er mit sich sprach und dazukicherte und sich hin- und herwiegte, hatte sie argwöhnischgemacht. So hatte sie ihn zunächst nur aus der sicheren De-

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ckung des Luftschachts heraus beobachtet. Der Mann hatteein großes Messer in der Hand gehalten. Und nach einigerZeit - und immer noch lachend und murmelnd und schau-kelnd - hatte er es sich in den Bauch gestochen. Dieser Mannhatte Sherry mehr Angst eingejagt als die Zombies, weil seinTun keinen Sinn ergab. Er war verrückt gewesen und hattesich selbst umgebracht, und sie war davongekrochen und hat-te geweint, weil es einfach hoffnungslos war.Jemandem wie diesem Mann wollte sie nicht noch einmalbegegnen. Und selbst wenn die Menschen im Büro nicht bösewaren, würden sie sie vielleicht aus ihrer sicheren Zufluchtfortbringen und versuchen, sie zu beschützen - und Sherryfürchtete, dass sie dann sterben würde, weil das Monster ganzsicher keine Angst vor Erwachsenen hatte.Es war schrecklich, sich abzuwenden, aber es gab keine an-dere Wahl. Sherry ging zurück in Richtung des Raumes mitden Rüstungen -Rrrraagghh!- und erstarrte, als unter ihren Füßen eine Diele knarrte.

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Das Geräusch schien ihr unglaublich laut. Sie hielt den Ateman, umklammerte ihren Anhänger und betete, dass die Türhinter ihr nicht auffliegen würde, dass kein Irrer herausstür-men und - und sie sich schnappen würde.Sie hörte nichts, war aber sicher, dass das Hämmern ihresHerzens sie verraten würde, so laut war es. Nach vollen zehnSekunden setzte sie sich wieder in Bewegung, ging auf Ze-henspitzen den Gang hinunter, trat so leichtfüßig auf, wie siekonnte, und kam sich vor, als schleiche sie sich aus einerHöhle voller schlafender Schlangen. Der Weg zurück zumZimmer mit den Rüstungen schien eine Meile lang zu sein,und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nichtloszurennen, als sie erst einmal die Biegung erreicht hatte -aber wenn sie eines aus Kino und Fernsehen gelernt hatte,dann war es, dass das Davonlaufen vor einer Gefahr immereinen entsetzlichen Tod bedeutete.Als sie endlich am Eingang des Rüstungszimmers anlang-te, meinte Sherry, vor Erleichterung kurzerhand zusammen-brechen zu müssen. Sie war wieder in Sicherheit, sie konntesich wieder in die alte Decke kuscheln, die Mrs. Addison fürsie gefunden hatte, und einfach -Die Tür zum Büro öffnete sich, öffnete und schloss sich. Undeine Sekunde später erklangen Schritte, die sich ihr näherten.Sherry floh in den Rüstungsraum. Unter dem grellen, be-benden Ansturm von Panik, der sie durchlief, war sie außer-stande, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie rannte an dendrei Ritterrüstungen vorbei, vergaß ihren sicheren Zufluchts-ort, weil alles, woran sie jetzt noch dachte, war, dass sie wegmusste, so weit wie möglich weg. Hinter der Glasvitrine inder Mitte des Raumes gab es ein dunkles, kleines Zimmer,und Dunkelheit war das, was sie brauchte, Schatten, in denensie verschwinden konnte ...

... und sie konnte die rennenden Schritte irgendwo hintersich hören, wie sie übers Holz hämmerten, während sie inden dunklen Raum sauste und sich dort in die hinterste Eckeverkroch. Zwischen den staubigen Ziegeln des Kamins diesesZimmers und einem daneben stehenden gepolsterten Stuhlkauerte sich Sherry hin und versuchte, sich so klein wie ir-gend möglich zu machen. Sie schloss die Arme um ihre Knieund verbarg ihr Gesicht.Bitte-bitte-bitte komm nicht herein, sieh mich nicht. Ich binnicht hier -Die rennenden Schritte hatten das Rüstungszimmer er-reicht. Jetzt waren sie langsam, zögernd, umrundeten die gro-ße Glasvitrine in der Mitte des Raumes. Sherry dachte an un-

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sicheres Versteck, die Öffnung des Lüftungsschachts, durchden sie hätte entkommen können, und bemühte sich, die hei-ßen Tränen der Selbstvorwürfe zurückzuhalten. Aus dem Ka-minzimmer gab es keinen Fluchtweg. Sie saß in der Falle.Jeder hallende, pochende Schritt brachte den Fremden demdunklen Raum näher, in dem Sherry sich versteckte. Sie kau-erte sich noch enger zusammen, versprach, dass sie alles,wirklich alles tun würde, wenn der Fremde nur wegginge ...Poch. Poch. Poch.Plötzlich entflammte der Raum in blendender Helligkeit,das leise Klicken des Lichtschalters verlor sich in Sherrys er-schrockenem Schrei. Sie stemmte sich aus der Ecke undrannte, schreiend und blind, hoffte, an dem Fremden vorbeiund zum Luftschacht zu gelangen -- doch eine warme Hand packte sie hart am Arm und hin-derte sie daran, auch nur noch einen Schritt zu tun. Sie schrieabermals, zerrte so fest sie konnte, doch der Fremde war stark.„ Warte!" Es war eine Frau, ihre Stimme beinahe so dröh-nend wie das Hämmern von Sherrys Herz.

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„Lass mich los11, heulte Sherry, doch die Frau hielt sie un-beirrbar fest, zog sie sogar näher zu sich heran.„Ruhig, ganz ruhig - ich bin kein Zombie, beruhige dich,es ist okay ..."Die Stimme der Frau hatte einen beruhigenden Klang ange-nommen, ihre Worte waren ein sanftes Summen, die Hand anSherrys Arm warm und kräftig. Die süße, melodische Stimmewiederholte die besänftigenden Worte ein ums andere Mal.„... ganz ruhig, es ist okay, ich tu dir nicht weh, du bistjetzt in Sicherheit."Endlich schaute Shelly die Frau an und sah, wie hübsch siewar und dass ihr Blick weich war vor Sorge und Zuneigung.Daraufhin versuchte Sherry nicht länger, sich loszureißen,und sie spürte, wie ihr Tränen übers Gesicht rannen, Tränen,die sie zurückgehalten hatte, seit sie gesehen hatte, wie derrothaarige Mann Selbstmord beging. Instinktiv umarmte siedie junge, hübsche Fremde - und die Frau erwiderte die Ges-te, ihre schlanken Arme legten sich fest um Sherrys bebendeSchultern.Sherry weinte ein paar Minuten lang, ließ sich von der Frauübers Haar streichen und beruhigende Worte ins Ohr flüstern- und schließlich hatte sie das Gefühl, dass das Schlimmstevorbei sei. So sehr sie auch in die Umarmung der Frau krie-chen und alle ihre Ängste vergessen wollte, glauben wollte,dass sie in Sicherheit war - sie wusste es doch besser. Undaußerdem war sie kein Baby mehr; sie war vorigen Monatzwölf geworden.Sherry löste sich von der Frau, trat zurück, wischte sichüber die Augen und sah hoch in ihr hübsches Gesicht. DieFrau war gar nicht alt, höchstens zwanzig oder so, und richtigcool angezogen - Stiefel, abgeschnittene pinkfarbene Jeans-shorts und eine dazu passende ärmellose Weste. Ihr glänzen-

des braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zu-sammengebunden, und wenn sie lächelte, sah sie aus wie einFilmstar.Die Frau ging direkt vor ihr in die Hocke, immer noch sanftlächelnd. „Ich heiße Claire. Und du?"Plötzlich fühlte sich Sherry schüchtern, es war ihr peinlich,vor so einer netten Frau davon gerannt zu sein. Ihre Elternhatten ihr oft gesagt, dass sie sich wie ein Baby benahm, dasssie „mehr Fantasie" hatte als ihr gut tat, und hier war der Be-weis. Claire würde ihr nichts tun, das wusste sie.„Sherry Birkin", sagte sie und lächelte Claire an, hoffend,dass sie nicht wütend auf sie war. Sie sah nicht wütend aus.Im Gegenteil, sie wirkte erfreut über Sherrys Antwort.

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„Weißt du, wo deine Eltern sind?", fragte Claire in demsel-ben warmen Ton.„Sie arbeiten im Umbrella-Chemiewerk, gleich vor derStadt", sagte Sherry.„Chemiewerk ... Was tust du dann hier?"„Meine Mom rief an und sagte mir, ich solle zum Polizei-revier gehen. Sie sagte, zu Hause zu bleiben wäre zu gefähr-lich."Claire nickte. „So wie es aussieht, hatte sie wohl Recht.Aber hier ist es auch gefährlich ..." Sie legte nachdenklichdie Stirn in Falten, dann lächelte sie wieder. „Du kommstbesser mit mir mit."Sherry spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, schüttel-te den Kopf und fragte sich, wie sie Claire erklären sollte,dass das keine gute Idee war - dass es im Gegenteil eine sehrschlechte Idee war. Sie wollte nicht mehr allein sein, das woll-te sie mehr als alles andere, aber es war einfach nicht sicher.Wenn ich mit ihr gehe und das Monster uns findet...Claire würde getötet werden. Und obwohl Claire schlank

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war, war Sherry ziemlich sicher, dass sie nicht in den Lüf-tungsschacht passen würde.„Da draußen ist etwas", sagte Sherry schließlich. „Ich habes gesehen, es ist größer als die Zombies. Und es ist hintermir her."Claire schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um etwaszu sagen, vermutlich wollte sie versuchen, sie dazu zu über-reden, ihre Meinung zu ändern, als ein fürchterliches, wüten-des Geräusch den Raum erfüllte und irgendwo im Gebäude inbrutalen Wogen widerhallte. Irgendwo ganz in der Nähe.„Rrraaahh ...!"Sherry spürte, wie ihr Blut zu Eis wurde. Claires Augenweiteten sich, ihre Haut erbleichte.„Was - war das?"Atemlos wich Sherry zurück, und im Geiste rannte sie be-reits zu ihrem Versteck hinter den drei Ritterrüstungen.„Das, wovon ich dir erzählt habe", keuchte sie, und eheClaire sie aufhalten konnte, drehte sie sich um und rannte los.„Sherry!"Sherry ignorierte den Ruf, sprintete an der gläsernen Aus-stellungsvitrine vorbei, der Sicherheit des Luftschachts ent-gegen. Flink sprang sie über das Podest der Ritterrüstung, fielauf Hände und Knie, zog den Kopf ein und zwängte sich indas alte Steinloch am Fuße der Wand.Ihre einzige Chance, Claires einzige Chance, bestand da-rin, dass sie sich so weit wie möglich von ihr entfernte. Viel-leicht würden sie einander wiederfinden, wenn das Monsterwieder fort war ...Während Sherry rasch durch die enge, gewundene Finster-nis davon kroch, hoffte sie, dass es nicht schon zu spät war.

ZWÖLFAda Wong saß auf der Kante des mit Kram überhäuftenSchreibtischs im Büro des Polizeichefs, gönnte ihren schmer-zenden Füßen etwas Ruhe und starrte ausdruckslos auf denleeren Stahltresor in der Ecke. Ihre Geduld neigte sich demEnde entgegen. Nicht nur, dass die G-Virus-Probe nirgendwozu finden war, allmählich glaubte Ada auch, dass Bertoluccidas sinkende Schiff verlassen hatte. Sie hatte den Pausen-raum durchsucht, das S.T.A.R.S.-Büro, die Bibliothek ...Sie war ziemlich sicher, überall dort nachgesehen zu haben,wohin es dem Reporter möglich war, Zutritt zu erhalten, unddabei hatte sie zwei volle Magazine aufgebraucht. Es warnicht so, dass ihr die Munition knapp wurde, es war die Zeit-verschwendung, für die die Kugeln standen, was sie ärgerte -sechsundzwanzig Schuss und kein anderes Ergebnis, als dass

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jetzt noch ein paar virusverseuchte Leichen mehr herumla-gen. Und zwei von Umbrellas Hybrid-Freaks ...Ada erschauerte bei der Erinnerung an das entstellte roteFleisch und die trompetenhaften Schreie der bizarren Kreatu-ren, die sie im Presseraum erlegt hatte. Gier hatte sie nie son-derlich gestört, ob sie nun von einem Unternehmen ausgingoder wem auch immer, aber Umbrella hatte da ein paar ernst-haft amoralische Experimente am Laufen gehabt. Trent hattesie vor den Retriever-Tyranten gewarnt - die bislang, dankens-

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werterweise, noch nicht in Erscheinung getreten waren -, aberdie langzungigen, klauenbewehrten, blutigen Humanoidenverletzten selbst ihre Gefühle. Ganz zu schweigen davon, dasssie wesentlich schwieriger zu töten waren als die Virusträger.Wenn sie Produkte des T-Virus waren, konnte Ada nur hoffen,dass Birkin nichts mit seiner neuesten Schöpfung angefangenhatte. Laut Trent war die G-Reihe noch nicht zum Einsatz ge-kommen, aber angeblich sollte sie doppelt so wirksam sein ...Ada ließ ihren Blick durch das schmucklose, rein zweck-mäßig eingerichtete Büro schweifen. Es war nicht die heime-ligste Umgebung für eine Rast, aber zumindest war das Büroweitestgehend blutfrei, und durch die geschlossene Tür warendie Officers im Hauptteil des Raumes kaum zu riechen. Siehatten sich in einem reichlich fortgeschrittenen Stadium derVerwesung befunden, als Ada sie umgelegt hatte - in jenemknochenlosen, schwammigen Zustand, der offenbar dem tota-len Kollaps vorausging.Nicht, dass es darauf ankäme, ob ich sie riechen kann -meine Haare und Kleidung haben diesen gottverdammtenGeruch längst absorbiert. Wenn sie anfangen zu verderben,scheint das ruckzuck zu geschehen ...Sie wünschte, sie hätte sich eingehender über den wissen-schaftlichen Aspekt informiert - sie wusste zwar, wofür dasT-Virus benutzt wurde, hatte es aber nicht für nötig befunden,sich mit den Wirkungen auf die Körperchemie zu befassen.Warum hätte sie sich damit auch belasten sollen - sie hattekeinen Grund zu der Annahme gehabt, dass Umbrella vor-hatte, eine Wagenladung davon quasi vor der eigenen Haus-tür auszukippen? Jetzt bekam massenhaft Wissen aus ersterHand darüber, wie gut das Virus funktionierte, aber es wärenett gewesen zu erfahren, was genau im Körper und im Den-ken eines Infizierten vorging, was ihn von einem Menschen

in einen geistlosen Fleisch- und Aasfresser verwandelte.Stattdessen konnte Ada lediglich ihre persönlichen Beobach-tungen auswerten und versuchen, der Wahrheit so nähe wiemöglich zu kommen.Nach allem, was sie gesehen hatte, dauerte es weniger alseine Stunde, bis sich ein Infizierter in einen Zombie verwan-delte. Manchmal fiel das Opfer erst in eine Art Fieberkoma,das vermutlich Teile des Gehirns ausbrannte und den Ein-druck nur noch verstärkte, dass die Betroffenen vom Todeauferstanden, sobald sie sich dann erhoben und nach fri-schem Fleisch Ausschau hielten.Die Symptome des Virus waren bei jedem Befallenen die-selben, nicht jedoch die Verlaufsgeschwindigkeit - Ada hatte

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mindestens drei Fälle gesehen, in denen das Opfer nur Au-genblicke nach der Infektion blutsüchtig geworden war, dasStadium, das sie für sich selbst mittlerweile „Katarakt" nann-te. Eine der wenigen Konstanten war nämlich, dass ein dün-ner Film aus eiweißartigem Schleim die Augen der Infizier-ten trübte, wenn sie sich verwandelten - und obwohl derkörperliche Verfall immer sofort einsetzte, zerfielen mancheviel schneller als andere ...Und warum denkst du darüber nach? Es gehört nicht zudeinem Job, ein eventuelles Heilmittel zu finden, oder?Seufzend beugte sich Ada vornüber, um ihre Zehen zu mas-sieren. Natürlich war es nicht ihre Sache. Dennoch lohnte es,darüber nachzudenken. Sich immer nur darauf zu konzentrie-ren, am Leben zu bleiben, war ermüdend, und es bedeuteteharte Arbeit. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, die Detailsder Situation in Betracht zu ziehen, während sie in den Korri-doren aufgeräumt hatte. Jetzt aber hatte sie Pause und mussteihrem Hirn etwas Freilauf gönnen, um über einige der rätsel-hafteren Aspekte ihres Jobs nachzugrübeln.

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Und es gibt bestimmt tausend solcher Aspekte. Trent ...Was Bertolucci wissen oder nicht wissen sollte ... Und dieS.T.A.R.S. ... Was zum Teufel ist mit dem munteren Haufenpassiert?Aus den Artikeln, die Trent dem Infopaket beigefügt hatte,wusste Ada von der Suspendierung bestimmter S. T. A. R. S.-Mitglieder - und in Anbetracht dessen, was sie untersuchthatten, bedurfte es keiner genialen Eingebung, um darauf zukommen, dass sie von Umbrella abserviert worden waren,weil sie die Biowaffen-Experimente entweder teilweise oderganz aufgedeckt hatten. Inzwischen hatte Umbrella sie wahr-scheinlich beseitigt, wenn es ihnen nicht vorher gelungenwar, unterzutauchen - und Ada fragte sich, ob Trent bei die-sem kleinen Missgeschick der S.T.A.R.S.-Leute eine Rollegespielt oder ob er versucht hatte, vorher oder danach mit ih-nen in Verbindung zu treten.Nicht, dass er ihr das verraten hätte - Trent war ein wan-delndes Geheimnis, darüber gab es gar keine Diskussion. Siehatte ihn nur einmal persönlich getroffen, obwohl er sie vorihrer Abreise nach Raccoon mehrere Male kontaktierte, meis-tens per Telefon - und obwohl Ada stets stolz auf ihre Fähig-keit gewesen war, Menschen zu durchschauen, wusste siedoch absolut nichts über seine Motive, warum er das G-Viruswollte oder worum es bei seiner Fehde gegen Umbrella ging.Es war klar, dass er eine Kontaktperson im Unternehmen ha-ben musste - er wusste einfach zu viel über das Wirken derFirma -, aber wenn dies tatsächlich der Fall war, weshalbschnappte er sich dann nicht einfach selbst eine gottver-dammte Probe und damit fertig? Einen Agenten anzuheuern,war die Vorgehensweise eines Mannes, der größere Verwick-lungen vermeiden wollte - aber Verwicklungen welcher Art?Es steht uns nicht an zu fragen ...Ein gutes Lebensmotto. Sie wurde außerdem nicht dafürbezahlt, aus Trent schlau zu werden. Ada bezweifelte sogar,dass ihr das gelingen könnte, selbst wenn man sie dafür be-zahlt hätte. Sie war noch nie einem so selbstbeherrschtenMann begegnet wie Mr. Trent. Jede Interaktion mit ihm hatteihr den Eindruck vermittelt, er würde innerlich frohlocken,als wäre ihm ein ungemein erfreuliches Geheimnis bekannt,in das niemand sonst eingeweiht war - und doch hatte ernicht arrogant oder aufgeblasen gewirkt. Er war cool, seineGenialität so natürlich, dass sie davon ein wenig einge-schüchtert gewesen war. Sie war vielleicht nicht in der Lagegewesen, hinter seine Motive zu blicken, diesem ruhigenHumor jedoch war sie schon bei früheren Gelegenheiten be-gegnet - er war das wahre Gesicht echter Macht, das Marken-

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zeichen von Leuten, die einen Plan hatten und die unerschüt-terliche Absicht, ihn umzusetzen.Hat der Virusausbruch seine Pläne, wie sie auch aussehenmögen, gestört? Oder war er auf diese Möglichkeit vorbe-reitet ...? Er hatte es vielleicht nicht eingeplant, aber ich kannmir nicht vorstellen, dass „überrascht werden" zu TrentsWortschatz gehört...Ada lehnte sich zurück und ließ den Kopf müde kreisen,ehe sie sich vom Schreibtisch schob und wieder in ihre unbe-quemen Schuhe schlüpfte. Genug Auszeit, sie konnte ihreSchmerzen und Wehwehchen nicht länger als ein paar Minu-ten pflegen und erwartete nicht, dass sie viel herausfindenwürde, ehe sie nicht ein gutes Stück von Raccoon entferntwar. Sie musste noch ein paar Bereiche nach Bertolucci absu-chen, bevor sie ins Kanalnetz hinabstieg, und sie hatte festge-stellt, dass einige der Fensterbarrikaden im Erdgeschoss nichtso solide waren, wie sie es gehofft hatte. Sie wollte nicht, dassihr eine neue Trägergruppe von draußen den Weg abschnitt.

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Es gab noch die „Geheimgänge" auf der Ostseite und dieZellen unten hinter der Tiefgarage. Wenn sie Bertolucci dortnicht fand, musste sie davon ausgehen, dass er das Revierverlassen hatte, und ihre Anstrengungen darauf konzentrie-ren, die Probe in die Hände zu bekommen.Ada beschloss, es zuerst im Keller zu versuchen. Es schienunwahrscheinlich, dass Bertolucci auf die verborgenen Gängegestoßen war. Nach dem zu schließen, was sie aus seiner Fe-der gelesen hatte, war er als Reporter nicht einmal gut genug,um seinen eigenen Arsch zu finden. Und wenn er sich in oderbei den Inhaftierungszellen versteckte, brauchte sie keine Zeitmehr darauf zu verschwenden, das Revier zu durchkämmenund sich dabei der unvermeidlichen Invasion zu stellen - derZugang zum Keller lag unten, falls also keine Schwierigkei-ten auftraten, konnte sie schnurstracks zum Labor aufbrechen.Ada ging aus dem Büro und rümpfte die Nase unter demneuerlichen Ansturm von Fäulnisgeruch, den ihr die sich trä-ge drehenden Deckenventilatoren entgegentrieben. In demmit Schreibtischen angefüllten Raum mussten sich siebenoder acht Leichen befinden, allesamt Cops, und zumindestdie drei, die sie erschossen hatte, hatten ziemlich hoheDienstgrade bekleidet...Und habe ich nicht fünf Träger übriggelassen, die nochhier herumliefen, als ich vorhin durchkam?Direkt hinter dem langen, offenen Raum blieb Ada stehenund sah den schmalen Verbindungsflur hinab, der zur Hinter-treppe führte. Waren es fünf gewesen? Sie wusste, dass siebei ihrem ersten Besuch ein paar ausgeschaltet hatte - derRest war zu langsam gewesen, um sich mit ihm aufzuhalten,und sie dachte, es seien fünf gewesen. Dennoch hatte sie nurdrei umlegen müssen, als sie zurückgekommen war, um einePause einzulegen.

Es waren fünf Ich mag ja nicht mehr ganz fit sein, aberzählen kann ich noch.Es war keine Angewohnheit, ihre Fähigkeiten, den Über-blick zu bewahren, anzuzweifeln, und der Umstand, dass esihr gerade jetzt auffiel, war ein deutliches Zeichen dafür, wiemüde sie war. Vor zwei Tagen hätte sie es sofort bemerkt. Eswar unmöglich festzustellen, ob die zusätzlichen Leichen er-schossen worden oder einfach von ganz allein kollabiert wa-ren, ohne sich selbst dem Risiko eines Kontakts auszusetzen- sie waren einfach schon zu verwest. Aber es war wohl amklügsten, davon auszugehen, dass immer noch ein paar Über-lebende herumstreunten.Nicht mehr lange, so oder so ...

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Ob die Zombies es nun schafften durchzubrechen odernicht, Umbrella würde bald handeln, wenn das Unternehmenes nicht ohnehin schon getan hatte. Was in Raccoon passiertwar, war der schlimmste Albtraum eines Aktionärs, und Um-brella würde das Problem gewiss nicht ignorieren; wahr-scheinlich hatte man schon eine eigene Katastrophenversionausgearbeitet und eine Geschichte vorbereitet, mit der mandie Presse abspeisen würde. Und es war eine ausgemachteSache, dass man versuchen würde, Birkins Synthese zu ber-gen, bevor man die Pannensicherung zum Einsatz brachte -was bedeutete, dass sie, Ada, sehr vorsichtig sein musste. Bir-kin war offenbar etwas verschlossen gewesen, was seine Ar-beit anging, und Trent hatte ihr mitgeteilt, dass Umbrellaschließlich ein Rettungsteam entsenden würde ... Und daRaccoon in Schutt und Asche lag, war diese Eventualität ver-mutlich ein paar Schritte nähergerückt.Hoffentlich ein Team von Menschen. Damit kann ich klar-kommen. Ein Tyrant allerdings ... auf diese Art von Troublekann ich verzichten.

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Ada ging in Richtung der Tür, die sie zur Kellertreppe brin-gen würde. Tyrant war die Codebezeichnung für eine be-stimmte Reihe in Umbrellas organischer Waffenforschung,eine Serie, die die zerstörerischste Anwendung des T-Virusverkörperte. Trent zufolge hatten die White-Umbrella-Wis-senschaftler - diejenigen, die in den Geheimlabors arbeiteten- gerade mit Tests an einer Art humanoider Bluthunde begon-nen, die so beschaffen waren, dass sie jedem Geruch oderjeglicher Substanz nachjagten, auf die sie codiert waren - un-erbittlich und mit übermenschlichen Fähigkeiten. Ein Retrie-ver-Tyrant, ein nahezu unzerstörbares Konstrukt aus infizier-tem Körper und operativ implantierter Elektronik. Genau dieSorte von Ding, die Umbrella womöglich herschicken würde,um beispielsweise eine Probe des G-Virus aufzuspüren ...Sobald Ada Trents Probe in Händen hielt, würde die Sachefür sie erledigt sein - sie würde sich auszahlen lassen und anirgendeinem Strand Margaritas schlürfen. Und jede Empfin-dung darüber, wie viele Unschuldige gestorben waren oderwozu Trent das G-Virus wollte, würde für immer aus ihremHirn verbannt sein - das waren Dinge, mit denen sich herum-zuschlagen ihr Job nicht von ihr verlangte.Solcherart innerlich aufgeräumt, machte sich Ada auf denWeg in den Keller, um nach diesem lästigen Reporter zusuchen.Leon stand im geplünderten Waffenkeller, zog die Holsterrie-men zurecht und überlegte, wo Claire stecken könnte. DemWenigen nach, was er bislang gesehen hatte, waren die Ver-hältnisse im Revier nicht allzu schlimm. Kalt und düsterzwar, und es stank nach den Leichen, die sich in den Gängenhäuften, aber wenigstens war es nicht so akut gefährlich wieauf den Straßen draußen. Sicher war es nicht genug, um dafür

dankbar sein zu können, aber Leon nahm, was er bekommenkonnte.Er hatte auf dem Weg zum Keller zwei Officers und eineFrau in der zerfetzten Uniform der Verkehrswacht erschossen- die beiden Cops oben und die Frau dann unmittelbar vorder Pathologie, ein paar Schritte entfernt von dem kleinenRaum, der das Waffenarsenal und die Ausrüstung des RPDbeherbergte. Nur drei Zombies also, seit er das Revier er-reicht hatte, die paar, denen er im Detectives-Room hatte aus-weichen können, nicht mitgezählt - aber er hatte auf demkurzen Weg über ein Dutzend Leichen passiert, und an etwader Hälfte von ihnen hatte er Einschüsse ausmachen können,jeweils durch die Augen oder direkt in die Schläfe. Ange-sichts der „sauber erledigten" Kreaturen und der Zahl der

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Waffen, die aus den Schränken hier unten fehlten, wagteLeon die Hoffnung abzuleiten, dass Branagh wohl Recht be-hielt - es gab Überlebende!Marvin Branagh ... inzwischen vermutlich tot. Heißt das,dass er sich in einen Zombie verwandeln wird? Wenn tatsäch-lich Umbrella hinter all dem steckt, muss es wohl eine ArtSeuche oder Krankheit sein, da es sich um ein pharmazeuti-sches Unternehmen handelt - wie steckt man sich damit an?Durch Kontakt, oder kriegt man es schon, wenn man nur tiefLuft holt?Leon ließ diesen Gedankengang fahren, und zwar schnell -so kühl und feucht der Keller auch war, die Vorstellung, dass erselbst inzwischen von der Zombie-Krankheit befallen seinkönnte, ließ ihm fiebrigen Schweiß ausbrechen. Was, wenn dieAnsteckungsgefahr in ganz Raccoon gegeben war, immernoch, und er es sich schon eingefangen hatte, als er in die Stadthineingefahren war? Die vollgestopften Regale des Lager-raums schienen in einem Anflug von Entsetzen näherzurücken.

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Bevor ihn jedoch echte Panik erfassen konnte, vernahmLeon seine innere Stimme, die ihn an die Wirklichkeit erin-nerte - und damit einher ging die Akzeptanz dessen, was erals Realität anerkannte, und das ermöglichte ihm, seine Angstzu überwinden.Wenn du krank bist, dann bist du eben krank. Du kannst dirdie Kugel geben, bevor es richtig schlimm wird. Wenn dunicht krank bist, hast du vielleicht die Chance, das Ganze zuüberleben, um später mal deinen Enkeln davon zu erzählen.Wie auch immer, im Moment gibt es wahrscheinlich nichts,was du dagegen tun könntest - außer zu versuchen, ein Copzu sein.Leon nickte seufzend. Immerhin, diese Einstellung warbesser, als sich selbst zu quälen, und jetzt besaß er die nötigeAusrüstung, um die eigenen Chancen zu erhöhen. Das elek-tronische Schloss der Waffenkammer war zerschossen gewe-sen. Das hatte es ihm erspart, nach einer Schlüsselkarte zusuchen oder es selbst aufzuschießen. Die Tür war offensicht-lich aufgebrochen worden. Jemand hatte die äußeren Schlös-ser und den Griff praktisch zerfetzt.Bei seiner ersten Durchsuchung des Raumes war er ent-täuscht gewesen und mehr als nur ein bisschen ausgerastet.Es waren keine Handfeuerwaffen vorhanden, und in den ver-beulten grünen Schränken hatte sich nur sehr wenig Munitionbefunden - aber er hatte eine Schachtel mit Schrotpatronenentdeckt, und nach einer zweiten, sorgfältigeren Suche hatteer eine Kaliber zwölf gefunden, versteckt hinter einem hohenKartonstapel. Ein paar Schultergurtgeschirre für das Reming-ton-Modell hingen noch an einem Wandhaken, ebenso wieein größerer Ausrüstungsgürtel als der, den er bereits trug;der neue hatte sogar eine Seitentasche, in die all seine gelade-nen Magnum-Clips passten.126Mit einem letzten Zug am Schulterholster entschied Leon,dass es am besten sei, an den offensichtlicheren Orten zuerstzu suchen, in den Verbindungskorridoren aller möglichenEingänge. Er würde zunächst in die Lobby zurückkehren, et-was suchen, auf dem er eine Notiz hinterlassen konnte unddann -Bamml Bamml BammiSchüsse, ganz in der Nähe, und die Echos verrieten, dasssie in der Tiefgarage fielen, gleich am Ende dieses Ganges.Leon riss die Magnum hervor und rannte auf die Tür zu.Wertvolle Sekunden vergingen, während er an dem demolier-ten Griff hantierte.Der Gang war frei, abgesehen von der toten Verkehrspoli-

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zistin rechts von ihm auf dem Boden. Geradeaus befand sichder Eingang zur Tiefgarage. Leon eilte darauf zu und ge-mahnte sich, vorsichtig einzutreten, um nicht von einem inPanik geratenen Bewaffneten erschossen zu werden.Lass dir Zeit, sieh dich genau um, bevor du dich bewegst,identifiziere dich laut und deutlich ...Die Tür, die in die Wand zu seiner Rechten eingelassenwar, stand offen, und als Leon einen Blick in den weitenRaum dahinter warf, sein Körper von der Betonwand ge-schützt, sah er etwas, das ihn so erschreckte, dass er denSchützen vergaß.Der Hund... Das ist derselbe gottverdammte Hund!Unmöglich - aber das leblose Tier, das hingestreckt zwi-schen den aufgereihten Autos lag, sah genauso aus. Selbstaufgrund des flüchtigen Blickes, den er auf den schleimüber-zogenen Dämon in Hundegestalt erhascht hatte, von dem erzehn Meilen vor der Stadt so erschreckt worden war, dass erums Haar einen Unfall gebaut hätte, konnte er sagen, dassdieses Tier hier zumindest dem selben Wurf entstammte. Im

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flackernden Licht der Neonröhren, die die kalte, ölfleckigeGarage erhellten, konnte Leon erkennen, wie abnorm es wirk-lich aussah.Nichts schien sich zu bewegen, und außer dem Summender Deckenleuchten war kein Laut zu hören. Die Magnumnoch immer schussbereit haltend, trat Leon in die Garage,entschlossen, einen genaueren Blick auf die Kreatur zu wer-fen - da entdeckte er eine zweite neben einem geparktenStreifenwagen; sie war offenbar genauso tot. Beide lagen inklebrigen roten Lachen ihres eigenen Blutes und hatten ihrelangen, wie gehäutet aussehenden Glieder gebrochen vonsich gespreizt.Umbrella, die Angriffe der wilden Tiere, die Seuche - wielange läuft diese Scheiße schon? Und wie ist es ihnen gelun-gen, das Ganze zu verheimlichen, nach all den Morden?Noch verwirrender war, dass Raccoon nicht schon von Mi-litär wimmelte. Umbrella mochte ja imstande gewesen sein,seine Verwicklung in die Kannibalenmorde zu vertuschen,aber wie hatte man verhindert, dass die Einwohner von Rac-coon Hilfe von außerhalb der Stadt herbeiriefen?Und diese Hunde, sie gleichen sich wie Ebenbilder... Nochetwas, das in den Umbrella-Labors erschaffen wurde?Leon machte einen weiteren Schritt auf die toten Hundewe-sen zu und runzelte die Stirn; die düsteren Verschwörungs-theorien, die sich in seinem Kopf formten, gefielen ihmnicht, aber er vermochte sie auch nicht zu ignorieren. Wasihm noch weniger gefiel, war das Aussehen der Flecken aufdem Betonboden - sie waren rostfarben, und es waren zuviele dieser getrockneten Spritzer, als dass er sie überhaupthätte zählen können. Er beugte sich vor, um sie genauer zubetrachten, so erpicht darauf, seinen plötzlichen furchtbarenVerdacht auszuräumen, dass er den Schuss erst wahrnahm,

als die Kugel bereits mit einem hohen, singenden Heulen anihm vorbei jagte.BammlLeon drehte sich nach links, brachte die Magnum hoch,rief: „Feuer einstellen!" - und sah, wie der Schütze seineWaffe senkte. Es handelte sich um eine Frau in einem kurzenroten Kleid und schwarzen Leggings. Sie stand neben einemVan vor der Stirnwand und setzte sich nun in Bewegung, kamauf ihn zu, ihre schmalen Hüften wiegend, den Kopf hoch er-hoben und die Schultern gestrafft. Als wäre dies hier eineCocktailparty.Leon fühlte einen Anflug von Ärger, dass sie so ruhig wir-ken konnte, nachdem sie ihn beinahe umgebracht hätte -

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doch als sie näherkam, entschied er, dass er ihr verzeihenwollte. Sie war schön, und ihr Ausdruck verriet echte Erleich-terung darüber, ihn zu sehen - ein höchst willkommener An-blick nach so viel Tod.„Tut mir Leid", sagte sie. „Als ich die Uniform sah, dachteich, Sie seien ein Zombie."Sie war Halbasiatin, zartgliedrig, aber groß, ihr kurzesHaar von einem kräftigen, glänzenden Schwarz. Ihre tiefe,seidige Stimme war fast ein Schnurren, ein seltsamer Kon-trast zu der Art und Weise, wie sie ihn ansah. Das leichte Lä-cheln schien die mandelförmigen Augen, mit denen sie ihneingehend musterte, nicht zu erreichen.„Wer sind Sie?", fragte Leon.„Ada Wong." Wieder dieses kehlige Schnurren. Sie neigte,immer noch lächelnd, den Kopf zur Seite.„Ich bin Leon Kennedy", erwiderte er wie aus einem Re-flex heraus, nicht sicher, wo er mit seinen Fragen weiterma-chen sollte. „Ich ... Was tun Sie hier unten?"Ada nickte in Richtung des Vans, der sich hinter ihr befand

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- ein RPD-Transporter, der den Zellentrakt blockierte. „Ichkam nach Raccoon, um einen Mann zu suchen, einen Repor-ter namens Bertolucci. Ich habe Grund zu der Annahme, dasser sich in einer der Zellen aufhält, und ich glaube, er könntemir helfen, meinen Freund zu finden ..." Ihr Lächeln ver-blasste, ihr scharfer, fast elektrisierender Blick traf den sei-nen. „Und ich glaube, er weiß über alles Bescheid, was hierpassiert ist. Würden Sie mir bitte helfen, den Van aus demWeg zu räumen?"Wenn auf der anderen Seite der Garagenwand ein Reportereingesperrt war, der ihnen irgendetwas erzählen konnte, wollteLeon ihn unbedingt treffen. Er wusste nicht recht, was er vonAdas Geschichte halten sollte, konnte sich aber keinen Grundvorstellen, weshalb sie hätte lügen sollen. Das Revier warnicht sicher, und sie suchte nach Überlebenden, genau wie er.„Ja, okay", sagte er. Er fühlte sich etwas überrumpelt vonihrer sanften und zugleich direkten Art. Es war, als habe siedie Kontrolle über diese Begegnung übernommen, mittelssubtiler, aber bewusster Manipulation, die ihr die Führungs-rolle eingetragen hatte - und angesichts der lässigen Art, wiesie sich umdrehte und zurück zum Van ging, als gebe es nichtden leisesten Zweifel daran, dass er ihr folgen würde, glaubteLeon, dass sie sich dessen sehr wohl bewusst war.Sei nicht paranoid - es gibt starke Frauen. Und je mehrLeute wir finden können, desto mehr Unterstützung hast du,um nach Claire zu suchen.Vielleicht war es an der Zeit aufzuhören, Pläne zu schmie-den, und einfach zu versuchen, Schritt zu halten. Leon schobdie Magnum ins Holster und folgte Ada. Er hoffte, dass sichder Reporter dort befand, wo sie ihn vermutete - und dass dieDinge allmählich einen Sinn ergeben würden, je früher, destobesser.

DREIZEHNSherry Birkin war fort, und Claire vermochte sich nicht inden Lüftungsschacht zu zwängen, um ihr zu folgen. Was oderwer auch immer da geschrien und das kleine Mädchen sofürchterlich erschreckt hatte, hatte sich nicht gezeigt, undSherry kroch vielleicht immer noch verzweifelt durch einendunklen, staubigen Tunnel. Offenbar hatte sie sich eine Zeit-lang nahe dieses Rohres versteckt - es lagen leere Schokorie-gelverpackungen herum, und eine muffige alte Decke war indie Öffnung gestopft. Das armselige kleine Versteck lag ver-borgen hinter drei aufgestellten Ritterrüstungen.Als ihr klar geworden war, dass Sherry nicht wiederkom-

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men würde, hatte Claire Irons' Büro aufgesucht, in der Hoff-nung, dass er ihr sagen könnte, wohin der Schacht hin, dochIrons war weg - zusammen mit dem Leichnam der Bürger-meistertochter.Claire stand in dem Büro, beobachtet von den stummenGlasaugen der morbiden Dekoration, und fühlte sich zumersten Mal, seit sie in der Stadt angekommen war, wirklichunsicher. Sie hatte sich aufgemacht, um Chris zu suchen -doch das war nicht mehr ihr einziges Ziel. Jetzt musste sieaußerdem Zombies ausweichen, mit Leon Kontakt aufneh-men und diesen unheimlichen Chief Irons meiden - und dasalles in ziemlich genau dieser Reihenfolge. Doch in den we-

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nigen Augenblicken zwischen der Begegnung mit dem klei-nen Mädchen und jenem seltsamen, heulenden Schrei hattensich ihre Prioritäten dramatisch verlagert. Ein Kind war indiesen Albtraum verstrickt, ein süßes, kleines Mädchen, dasglaubte, dass ihm ein Monster nachstellte.Vielleicht stimmt es ja sogar. Wenn ich akzeptieren kann,dass es in Raccoon Zombies gibt, warum nicht auch Mons-ter? Verdammt, warum nicht auch Vampire oder Killer-Robo-ter?Sie wollte Sherry finden, wusste aber nicht, wie sie diesanfangen sollte. Sie wollte zu ihrem großen Bruder, hatte je-doch ebenso wenig eine Ahnung, wo er steckte - und siefragte sich allmählich, ob er etwas über die Vorgänge in Rac-coon wusste.Als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war er ih-ren Fragen, warum die S. T. A. R. S.-Angehörigen suspendiertworden waren, ausgewichen und hatte darauf beharrt, dasskein Grund zur Sorge bestehe - dass er und das Team in Tur-bulenzen politischer Natur geraten seien und sich alles wie-der einrenken würde. Claire war an sein Beschützergebarengewöhnt, aber rückblickend betrachtet fragte sie sich: Hatteer nicht über das Normalmaß hinaus um das Thema herum-geredet? Und: S.T.A.R.S. hatte die Kannibalenmorde unter-sucht - es bedurfte keiner besonderen Fantasie, um die ver-gangene Fälle, in denen mörderische Fleischfresser am Werkgewesen waren, mit den gegenwärtigen Ereignissen in Ver-bindung zu bringen ...Und das bedeutet was? Dass Chris irgendeiner üblen Ver-schwörung auf die Schliche gekommen ist und es mir ver-heimlicht hat?Sie wusste es nicht. Alles, was Claire wusste, war, dass sienicht an seinen Tod glaubte - und dass die Suche nach Chris

oder Leon momentan hinter der nach Sherry anstehen muss-te. So schlimm die Dinge auch lagen, Claire war nicht wehr-los - sie hatte eine Schusswaffe, sie verfügte über eine gewis-se emotionelle Reife, und nach fast zwei Jahren, in denen sietäglich fünf Meilen gelaufen war, war sie in ausgezeichneterForm. Sherry Birkin allerdings konnte nicht älter als elf oderzwölf sein und schien in jeder Hinsicht zerbrechlich - ange-fangen mit dem Schmutz in ihrem blonden Koboldhaar bishin zu der verzweifelten Angst in ihren großen blauen Augen,hatte sie Claires sämtliche Beschützerinstinkte geweckt -Ein schwerer, hallender Stoß rumpelte durch die Decke undbrachte den ausladenden Kronleuchter in Irons' Büro zumZittern. Reflexhaft sah Claire nach oben und umfasste ihre

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Pistole fester. Es gab nichts zu sehen außer Holz und Verputz,und das Geräusch wiederholte sich nicht.Irgendwas auf dem Dach ... aber was könnte ein Geräuschwie dieses verursacht haben? Ein Elefant, der aus einemFlugzeug abgeworfen wurde?Vielleicht war es Sherrys Monster. Der furchtbare Schrei,den sie in Irons' privatem Ausstellungsraum gehört hatten,war durch ein Rohr oder den Kamin gedrungen; es war un-möglich, den Ursprungsort des Schreies zu bestimmen - aberer könnte auf dem Dach gelegen haben. Claire war nicht son-derlich scharf darauf, dem, was immer da auch geschrien hat-te, zu begegnen, aber Sherry schien sicher gewesen zu sein,dass das Wesen sie verfolgte ...Das hieße also: Finde den Schreihals, und du findestdas Mädchen? Nicht gerade meine Vorstellung eines perfek-ten Planes, aber im Moment bleibt mir kaum etwas anderesübrig. Es könnte die einzige Möglichkeit sein, Sherry aufzu-stöbern.Vielleicht rumorte ja auch Irons dort oben herum - und ob-

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wohl das Zusammentreffen mit ihm einen widerwärtigen Ge-schmack in ihrem Mund hinterlassen hatte, bereute Claire es,nicht versucht zu haben, mehr Informationen aus ihm heraus-zubekommen. Verrückt oder nicht, dumm jedenfalls war erihr nicht vorgekommen; es mochte keine schlechte Idee sein,ihn wiederzufinden, wenigstens um ihm ein paar Fragen überdas Lüftungssystem zu stellen.Aber so lange sie nicht nachschaute, würde sie gar nichts inErfahrung bringen. Claire wandte sich um und ging zu derBürotür, die auf den äußeren Korridor hinausführte, wo siedas Hubschrauberfeuer gelöscht hatte. Der Rauch im angren-zenden Gang war dünner geworden, und trotzdem die Luftnoch warm war, deutete nichts auf die Hitze eines neuerlichaufgeflammten Brandes hin. Wenigstens in diesem Punkt warsie also erfolgreich gewesen ...Claire trat wieder hinaus auf den Hauptgang, mied denBlick auf das, was von dem Piloten übrig geblieben war und -- und kraa-ack!Sie erstarrte, als sie das gewaltige Splittern von Holz hörte,gefolgt von schweren Schritten einer Gestalt, die riesig seinmusste und sich durch den Gang um die Biegung herum be-wegte. Die dröhnenden Schritte klangen wohlüberlegt.Der Typ muss 'ne Tonne wiegen, und, Jesus, sag mir, dassdas keine Tür war, die da zertrümmert wurde ...Claire warf einen Blick den schmalen Flur hinab zu Irons'Büro. Ihr Instinkt drängte sie zur sofortigen Flucht, ihr Ver-stand erinnerte sie daran, dass sie sich in einer Sackgasse be-fand, und noch während sie hin und her gerissen war zwi-schen ihren Gefühlen -- trat der größte Mensch, den sie je gesehen hatte, in ihrBlickfeld, umflort von den dünnen Rauchschwaden, diedurch den Flur trieben. Er trug einen langen, armeegrünen

Mantel, der seine Größe noch betonte, und war so hochge-wachsen wie ein NBA-Star - größer noch sogar und von ent-sprechend proportionierter Figur. Um seine Hüften war einbreiter Einsatzgürtel geschlungen, und obwohl Claire keineWaffen sah, konnte sie die Gewalttätigkeit in unsichtbarenWellen von ihm ausgehen fühlen. Sie vermochte nur denkränklich weißen Schemen seines Gesichts ausmachen, denhaarlosen, flachen Schädel - und ganz plötzlich war sie si-cher, dass er das Monster war, ein Killer, dessen Fäuste inschwarzen Handschuhen steckten, jede so groß wie der Kopfeines Menschen ...Schieß! Erschieß ihn!Claire zielte, zögerte jedoch, aus Angst, einen schreckli-

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chen Fehler zu begehen - bis das Wesen auf seinen baum-stammdicken Beinen einen riesigen Schritt auf sie zumachteund sie das Knirschen sich unter seinen in Stiefeln stecken-den Frankenstein fußen durchbiegenden Holzes hörte, und bissie die schwarzen Augen sah, schwarz und rot umrandet. WieLava gefüllte Gruben in einem unförmigen weißen Felsen,leer, aber alles andere denn blind, fand der Blick der Kreaturden ihren - und eine der fleischigen Fäuste hob sich zu einerunmissverständlichen Drohung.... schieß-schieß-schieß!Claire drückte ab, einmal, zweimal, und sah die Einschläge- eines seiner Mantelrevers ging direkt unterhalb seinesSchlüsselbeins in Fetzen, der zweite Schuss durchschlug seit-lich seinen Hals -- und doch machte er einen weiteren Schritt. Über seinegroben Züge ging nicht einmal das Flackern eines Aus-drucks, die Faust hatte er noch immer erhoben, auf der Suchenach einem Ziel, nach etwas, das er zertrümmern konnte ...Das schwarze, rauchende Loch in seinem Hals blutete nicht.

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Ach du SCHEISSE!In einem Anflug adrenalingepeitschten Schreckens richteteClaire die Waffe auf das Herz der Kreatur und zog den Ste-cher wiederholt durch. Der Gigant tat noch einen Schritt, hi-nein in den Hagel explodierender Schüsse, auch jetzt ohne zuzucken -- und Claire verlor den Überblick über die Anzahl der Ku-geln, die sie ihm entgegenpumpte, war außerstande zu glau-ben, dass das Ungeheuer immer noch auf sie zukam, nunkaum mehr drei, vier Schritte entfernt, während die Projekti-le in seine breite Brust hämmerten.Dann klickte die Waffe nur noch, gerade als das Monsterstehenblieb, von einer Seite zur anderen schwankend wie einhohes Gebäude im Orkan. Ohne ihren entsetzten Blick vondem wankenden Riesen abzuwenden, zog Claire einen neuenClip aus ihrer Weste und lud die Waffe neu, während ihr Hirnwie verrückt versuchte, diese wandelnde Missgeburt mit ei-nem passenden Namen zu benennen.Terminator, Frankenstein-Monster, Dr. Evil, Mr. X -Was der Wahrheit auch am nächsten kommen mochte - diemehr als sieben Halbmantelgeschosse, die das Wesen in dieBrust getroffen hatten, zeigten schließlich doch noch Wir-kung. Lautlos kippte der Riese nach rechts, prallte schwer ge-gen die rauchgeschwärzte Wand und lehnte dann einfach da -klappte nicht zusammen, rührte sich aber auch nicht mehr.Komische Haltung, aber das war's offenbar, er ist tot, wirdnur noch von seiner eigenen Steifheit gehalten ...Claire ging nicht näher heran, hielt die Waffe weiter aufden reglosen Koloss gerichtet. Hatte tatsächlich er geschrien?So stark und unmenschlich er auch aussah, glaubte sie esdoch nicht - das war kein primitiver, tobender Dämon, dernach Blut brüllte. Mr. X war eher eine seelenlose Maschine,

blutloses Fleisch, das Schmerzen zu ignorieren vermochte ...oder sie sogar begrüßte.„Egal, jetzt ist er jedenfalls tot", flüsterte Claire, gleicher-maßen, um sich zu beruhigen wie auch, um den unablässigenStrom nutzloser Gedanken zu kappen. Sie musste nachden-ken, herausfinden, was dies bedeutete - dies war keine frea-kige Zombie-Mutation, also was zum Teufel war es dann?Warum fiel es nicht um? Sie hatte einen fast vollen Clip leer-geschossen ...... ob jemand die Schüsse gehört hatte? Würden Sherryoder Irons oder Leon oder wer auch immer sich noch im Re-vier befand, nach ihr suchen? Sollte sie bleiben, wo sie war?Die Kreatur, die sie in Gedanken Mr. X getauft hatte, atme-

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te nicht oder nicht mehr. Der muskulöse Körper war absolutregungslos, das Gesicht im Tod erstarrt. Claire biss sich aufdie Unterlippe, stierte die immer noch in unmöglicher Weisedastehende, an der Wand lehnende Albtraumgestalt an, ver-suchte, durch die Konfusion ihrer Angst hindurch zu denken -- und sah, wie sich die Augen des Hünen öffneten, glän-zende schwarzrote Augen!Ohne das geringste Zucken von Schmerz oder Anstren-gung, stemmte sich Mr. X wieder in den aufrechten Stand,blockierte den Gang, und seine riesigen Fäuste hoben sichvon neuem, sausten mit immenser Kraft durch die Luft. Seinelangen Arme peitschten unmittelbar an Claire vorbei, als sienach hinten taumelte. Der Schwung reichte aus, um seine ge-waltigen Pranken in die gegenüberliegende Wand krachen zulassen. Die Wucht begrub seine Fäuste, seine Unterarmesteckten bis zur Hälfte im Holz und Verputz.Ich ... das hätte ICH sein können!Wenn sie zurück in Irons' Büro lief, würde sie in der Fallesitzen ... Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte sich

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Claire in Bewegung, sprintete auf Mr. X zu. Sie flog förmlichan ihm vorbei, ihr rechter Arm streifte sogar seinen schwerenMantel, und ihr Herz übersprang einen Takt, als der Stoffüber ihre Haut strich.Sie rannte, warf sich nach links und spurtete den rauchigenGang hinunter, wobei sie sich in Erinnerung zu rufen ver-suchte, was hinter dem Wartezimmer lag - und ebenso ver-suchte sie, die unmissverständlichen Geräusche von Bewe-gung hinter sich zu ignorieren, als Mr. X seine Arme wiederbefreite.Jesus, was ist das nur für ein DING?!Claire erreichte das Wartezimmer, warf die Tür im Laufenhinter sich zu und entschied, dass sie darauf später eine Ant-wort zu finden versuchen würde. Sie rannte weiter und verbotsich, an irgendetwas anderes zu denken als daran, wie sienoch schneller um ihr Leben laufen konnte.Ben Bertolucci befand sich in der letzten Zelle des Raumes,der am weitesten von der Garage entfernt war, und er pennteleise schnarchend auf einer Metallpritsche. Mit bewusst aus-drucksloser Miene entschied Ada, es Leon zu überlassen, ihnzu wecken. Sie wollte nicht übereifrig wirken, und wenn sieeines über Männer wusste, dann war es, dass sie leichter zuhandhaben waren, wenn sie meinten, die Kontrolle innezuha-ben. Mit einer Geduld, die sie nicht wirklich empfand, sahAda zu Leon auf und wartete.Sie hatten einen leeren Zwinger und einen gewundenen Be-tongang überprüft, bevor sie auf Bertolucci gestoßen waren,und obwohl die kalte, feuchte Luft nach Blut und Virusfäulestank, waren sie auf keinerlei Leichen getroffen - was selt-sam war in Anbetracht des Massakers, von dem Ada wusste,dass es in der nasskalten Garage stattgefunden hatte. Sie

dachte kurz daran, Leon zu fragen, ob er wüsste, was passiertwar, befand dann aber, dass es besser wäre, möglichst wenigmit ihm zu reden; es brachte nichts, ihn sich an ihre Gegen-wart gewöhnen zu lassen. Sie hatte die Einstiegsluke in demZwinger gesehen, rostig und in einer dunklen Ecke in denBoden eingelassen, und befriedigt festgestellt, dass in einemoffenen Regal in der Nähe eine Brechstange lag. Und nun, daBertolucci schlafend vor ihnen lag, hatte Ada das Gefühl,dass die Dinge endlich in Gang kamen.„Lassen Sie mich raten", sagte Leon laut und streckte dieHand aus, um mit dem Griff seiner Pistole gegen das Metall-gitter zu klopfen. „Sie müssen Bertolucci sein, stimmt's? Ste-hen Sie auf, los\"Bertolucci ächzte und setzte sich langsam auf, wobei er

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sich das stoppelbärtige Kinn rieb. Ada hätte am liebsten gelä-chelt, als er müde und stirnrunzelnd in ihre Richtung blickte;er sah beschissen aus - seine Kleidung war zerknittert, seinsträhniger Pferdeschwanz zerfranst.Aber seine Krawatte trägt er immer noch. Der arme Trottelmeint wahrscheinlich, damit sieht er eher wie ein richtigerReporter aus ...„Was wollen Sie? Ich versuch hier zu schlafen." Er klangmürrisch, und Ada musste abermals ein Lächeln unterdrü-cken. Geschah ihm ganz recht, nachdem es so schwer gewe-sen war, ihn überhaupt zu finden.Leon warf Ada einen Blick zu. Er wirkte leicht verunsi-chert. „Ist das der Kerl?"Sie nickte, und ihr wurde klar, dass Leon den Reporterwahrscheinlich für einen Gefangenen hielt. Ihre Worte würdeihn von dieser Meinung sehr schnell abbringen, aber sie woll-te nicht, dass Leon mehr erfuhr, als nötig war; sie musste mitBedacht sprechen.

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„Ben", sagte sie und ließ in ihrem Ton einen Hauch vonVerzweiflung mitklingen. „Sie sagten den Verantwortlichender Stadt, dass Sie etwas darüber wüssten, was hier vorgeht,richtig? Was haben Sie ihnen erzählt?"Bertolucci stand auf und sah sie an. Seine Lippen verzogensich. „Und wer zum Teufel sind Sie?"Ada tat so, als hätte sie es nicht gehört, und steigerte ihregespielte Verzweiflung noch, aber nur um eine winzige Nuan-ce. Sie wollte die Rolle des hilflosen Weibchens nicht über-treiben, das hätte der Tatsache widersprochen, dass sie so lan-ge überlebt hatte.„Ich versuche, einen ... Freund von mir zu finden, JohnHowe. Er arbeitete in einer Zweigstelle von Umbrella in Chi-cago, aber er verschwand vor ein paar Monaten - und ichhörte gerüchteweise, dass er hier sein soll, in dieser Stadt ..."Sie verstummte, beobachtete Bertoluccis Gesicht. Er wuss-te etwas, keine Frage - aber sie glaubte nicht, dass er damitherausrücken würde.„Ich weiß gar nichts", erwiderte er schroff. „Und selbstwenn - warum sollte ich es Ihnen erzählen?"Wenn der Cop nicht hier wäre, würde ich ihn vermutlicheinfach erschießen.Nein, das hätte sie wahrscheinlich nicht getan; Ada tötetenicht einfach so zum Spaß. Außerdem glaubte sie, dass sieihm sein Wissen mittels einer ihrer überzeugenderen Metho-den hätte entlocken können - wenn ihr weiblicher Charmenicht zog, blieb immer noch ein Schuss in die Kniescheibe.Dummerweise konnte sie aber nichts unternehmen, solangeOfficer Leon dabei war. Sie hatte das Zusammentreffen mitihm nicht eingeplant gehabt, aber im Augenblick zumindesthatte sie ihn eben am Hals.Der Cop war offensichtlich nicht zufrieden mit den Ant-

worten des Reporters. „Okay, ich würde sagen, wir lassen ihnda drin", knurrte er, womit er zwar Ada ansprach, dabei je-doch Bertolucci mit unverhohlenem Ärger musterte.Bertolucci lächelte schief, griff in eine seiner Taschen undzog einen Bund silberglänzender Zellenschlüsscl hervor. Adawar nicht überrascht, Leon allerdings wirkte noch verärger-ter.„Ist mir recht", sagte Bertolucci selbstgefällig. „Ich hab so-wieso nicht vor, diese Zelle zu verlassen. Ist das sichersteFleckchen im ganzen Gebäude. Hier laufen nicht nur Zom-bies herum, das können Sie mir ruhig glauben."Der Art und Weise nach, wie er das sagte, überzeugte Ada,dass sie ihn wahrscheinlich doch würde töten müssen. Trents

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Anweisungen waren eindeutig - wenn Bertolucci irgendet-was über Birkins Arbeit am G-Virus wusste, musste er be-seitigt werden; warum genau, das wusste sie nicht, aber solautete nun einmal ihr Auftrag. Wenn sie nur ein paar Augen-blicke mit ihm allein sein könnte, würde sie herausfinden,wie viel er wirklich wusste.Die Frage war nur: Wie sollte sie das schaffen? Leon woll-te sie nicht erschießen; es gehörte zu ihren Regeln, keine Un-schuldigen zu töten - und außerdem mochte sie Cops. Siewaren nicht unbedingt der hellste Haufen, aber jeder, der ei-nen Beruf ergriff, in dem er sein Leben aufs Spiel setzenmusste, hatte ihre Hochachtung. Und Leon hatte einen aus-gezeichneten Geschmack, was Waffen anging - die DesertEagle war ein Spitzenmodell ...Warum also nach Scheinbegründungen suchen? Ich hängeihn ab und kehre dann auf einem Umweg zurück, das heißt janicht, dass ich weich werde -„ GGRRAAAAHHH!"Ein brutaler, unmenschlicher Schrei schnitt durch die angc-

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spannte Stille. Ada schnappte sich ihre Beretta, fuhr herumund zielte auf das offene Tor, das zurück in den leeren Be-reich des Zellenblocks führte. Was es auch war, das da ge-brüllt hatte, es befand sich irgendwo im Keller ...„Was war das?", keuchte Leon hinter ihr, und Ada wünsch-te, sie hätte die Antwort gewusst. Das immer noch widerhal-lende Echo des wütenden Schreies glich nichts, was sie je ge-hört hatte - und nichts, was sie je zu hören erwartet hatte,obwohl sie über die Umbrella-Forschungen Bescheid wusste.„Wie gesagt, ich verlasse diese Zelle nicht", sagte Berto-lucci mit leicht brüchiger Stimme. „Und jetzt verschwindetvon hier, bevor ihr es noch zu mir lockt!"Jämmerlicher Feigling!„Hören Sie, ich bin vielleicht der einzige Cop, der in diesemGebäude noch am Leben ist ..,**, sagte Leon, und etwas an derMischung aus Angst und Stärke in seinem Ton veranlassteAda, ihm einen Blick zuzuwerfen. Die blauen Augen des Of-ficers waren auf Bertolucci fixiert, scharf und unerbittlich.„... wenn Sie also überleben wollen, sollten Sie mit unskommen."„Vergessen Sie's", schnappte Bertolucci. „Ich bleib hier, bisdie Kavallerie aufkreuzt - und wenn ihr schlau seid, tut ihrdasselbe."Leon schüttelte den Kopf. „Es könnte Tage dauern, bisjemand kommt. Unsere beste Chance besteht darin, einenFluchtweg aus Raccoon zu finden - und Sie haben diesenSchrei gehört. Wollen Sie wirklich Besuch bekommen von ...von was auch immer ihn ausgestoßen hat?"Ada war beeindruckt: Irgendein Umbrella-Freak konnte je-den Augenblick auf sie zugetorkelt kommen, und Leon ver-suchte tatsächlich, die wertlose Haut dieses abgehalftertenReporters zu retten!

„Das Risiko geh ich ein", erwiderte Bertolucci. „VielGlück beim Fluchtversuch, ihr werdet es brauchen ..."Der zerzauste Reporter trat ans Gitter, sein Blick pendeltezwischen ihnen hin und her, dann fuhr er sich mit einer Handüber das fettige Haar.„Hört zu", sagte er mit weicherer Stimme als zuvor. „Imhinteren Teil des Gebäudes ist ein Zwinger mit einer Ein-stiegsluke drin, durch die man in die Kanalisation gelangt.Das ist wahrscheinlich der schnellste Weg aus der Stadthinaus."Ada seufzte innerlich. Großartig - das war's also mit ihremGeheimweg zum Labor. Wenn sie Leon jetzt abhängte, würdeer etwa fünf Minuten brauchen, um sie wiederzufinden.

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Du kannst ihn immer noch umbringen, wenn es so weitkommt. Oder ...du kannst dafür sorgen, dass er sich in derKanalisation verirrt, und dann zu Bertolucci zurückkehren,während er den Weg für dich frei räumt.Im Gegensatz zu Bertolucci wollte sie dem, was immer dageschrien hatte, nicht über den Weg laufen - und jetzt, da siewusste, dass er hierbleiben würde, war es nur der nächste lo-gische Schritt, den Cop fortzulocken.Was tu ich nicht alles, um unnötiges Blutvergießen zu ver-meiden ...„Na schön, ich geh und seh's mir an", sagte sie, und ohneLeons Erwiderung abzuwarten, drehte sie sich um und liefauf das Tor zu.„Ada! Ada, warte!"Sie ignorierte ihn, eilte an den leeren Zellen vorbei und zu-rück in den kühlen Gang, erleichtert, dass der Durchgang im-mer noch frei war - und sie fühlte sich ein klein wenig ent-nervt ob ihres plötzlichen Widerstrebens, die Situation zuvereinfachen. Die Sache wäre viel leichter gewesen, wenn sie

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sich der beiden entledigt hätte, eine Entscheidung, die auszu-führen sie unter anderen Umständen kaum gezögert hätte.Aber der Tod stand ihr bis obenhin - Umbrella stand ihr bisobenhin. Es widerte sie an, was diese Leute getan hatten; siewürde den Cop nicht umlegen, wenn es nicht sein musste.Und wenn es sein musste, wenn es darauf hinauslief, ent-weder einen Unschuldigen zu opfern oder ihren Auftrag ab-zuschließen?Dass sie es fertigbrachte, sich diese Frage überhaupt zustellen, verriet ihr mehr über ihren Gemütszustand, als siesich eingestehen wollte. Ada erreichte die Tür zum Zwinger,holte tief Luft, vertrieb alles quälende Gefühl aus ihrem Den-ken und trat hinein, um auf Leon Kennedy zu warten.

V i e r z e h nSo schön ... Selbst im Tod war Beverly Harris noch von um-werfender Schönheit, doch Irons konnte es nicht riskieren,dass sie aufwachte, so lange er nicht auf sie Acht gab. Vorsich-tig verstaute er sie in dem Schrank unter dem Spülbecken undverriegelte ihn. Er schwor sich, dass er sie herausholen würde,sobald er mehr Zeit hatte. Sie würde das erlesenste Tier sein,das ihm je unter die Finger gekommen war, wenn er sie ersteinmal ordentlich präpariert und in Pose gebracht hatte, fürdie Ewigkeit konserviert... ein wahr gewordener Traum.Falls ich die Zeit habe. Falls mir überhaupt noch Zeitbleibt.Irons wusste, dass er sich einmal mehr selbst bemitleidete,aber es war niemand sonst zum Bedauern da, niemand, derdas schiere Ausmaß all dessen, was er durchgemacht hatte,hätte bestaunen können. Er fühlte sich schrecklich - traurigund wütend und allein -, aber er hatte auch das Gefühl, dassdie Dinge endlich klar geworden waren. Er wusste jetzt Be-scheid, wusste, warum man ihm so zusetzte, und diese Er-kenntnis hatte ihm Klarheit verschafft - so deprimierend dieWahrheit auch sein mochte, er war zumindest nicht mehrorientierungslos.Umbrella. Eine Umbrella-Verschwörung, um mich zu ver-nichten, die ganze Zeit schon ...

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Irons saß auf dem ramponierten, fleckigen Tisch im Sank-tuarium, seinem ganz speziellen, privaten Ort, und fragtesich, wie lange es dauern würde, bis die junge Frau kam, umihn zu holen. Die mit dem sportlichen Körper, die sich gewei-gert hatte, ihm ihren Namen zu verraten. In gewisser Weisewar sie verantwortlich für seine neu gewonnene Klarheit,eine Ironie, die er nicht umhin kam zu begrüßen - es war ihrplötzliches Auftauchen gewesen, das ihm die Augen für dieWahrheit geöffnet hatte.Sie würde ihn natürlich finden; sie war eine Umbrella-Spionin, und Umbrella hatte ihn offenbar schon seit einigerZeit beobachtet. Wahrscheinlich hatten sie Listen, die seinenganzen Besitz aufführten, ganze Bände psychologischer Gut-achten, sogar Kopien seiner Steuerbescheide. Es machte allesSinn, jetzt, da er etwas Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Erwar der mächtigste Mann in Raccoon, und Umbrella hatteseinen Niedergang geplant, jeden Stich in den Rücken arran-giert, um ihn in größtmögliche Agonie zu stürzen.Irons starrte auf seine Schätze, die Werkzeuge und Tro-phäen, die auf den Regalen vor ihm standen, fühlte jedochnichts von dem Stolz, den sie normalerweise in ihm auslös-ten. Die polierten Knochen waren einfach etwas zum Be-trachten, während seine Gedanken arbeiteten, ganz versunkenin Umbrellas Verrat.Vor Jahren, als er angefangen hatte, Geld zu nehmen, umdie Augen vor den Machenschaften des Unternehmens zuverschließen, war alles anders gewesen - damals hatte es sichum eine politische Angelegenheit gehandelt. Er hatte eine Ni-sche finden müssen in dem Machtgefüge, das Raccoon insge-heim beherrschte. Und lange Zeit war alles glatt gegangen -seine Karriere war nach Plan verlaufen, er hatte sich den Re-spekt der Offiziellen und der Bürger gleichermaßen verdient,

und zum größten Teil hatten sich seine Investitionen bezahltgemacht. Das Leben war gut gewesen.Und dann kam Birkin. William Birkin mit seiner neuroti-schen Frau und dem gemeinsamen Balg ...Nach dem Ausbruch auf dem Spencer-Anwesen hatte Ironssich beinahe selbst eingeredet gehabt, dass die S.T.A.R.S.-Mitglieder, dieser gottverdammte Captain Wesker inbegrif-fen, Schuld trugen an dem ganzen Ärger, inzwischen aller-dings war ihm klar geworden, dass schon die Ankunft vonBirkin und seiner Familie fast ein Jahr zuvor die Lawine insRollen gebracht hatte; die Zerstörung des Spencer-Laborshatte die Dinge lediglich noch beschleunigt. Umbrella hattevermutlich an dem Tag begonnen, ihn ins Auge zu fassen, als

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er das Pech gehabt hatte, Birkin kennen zu lernen - zuerstmochten sie ihn nur beobachtet, Wanzen versteckt und Ka-meras installiert haben. Die Spione hatte man erst später aufihn angesetzt...Die Birkins waren nach Raccoon gekommen, damit Willi-am sich auf die Entwicklung einer höherentwickelten Syn-these des T-Virus konzentrieren konnte, basierend auf derForschung, die man im Spencer-Labor betrieben hatte. So ei-genartig und unangenehm William bisweilen sein konnte,hatte Irons ihn doch von Anfang an gemocht. Birkin war Um-brellas Wunderkind gewesen, aber wie Irons war er nicht derTyp, der mit seiner Position prahlte; William war ein beschei-dener Mann, nur daran interessiert, seinen eigenen Möglich-keiten gerecht zu werden. Sie waren beide zu beschäftigtgewesen, um wirklich Freundschaft zu schließen, aber siehatten einander respektiert. Irons hatte oft das Gefühl gehabt,dass William zu ihm aufschaute ...... und mein Fehler war es, das zuzulassen. Zuzulassen,dass mein Respekt für ihn meine Instinkte umnebelte, mich

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daran hinderte zu bemerken, dass ich die ganze Zeit über un-ter Beobachtung stand.Der Verlust des Spencer-Labors hatte hohe Wellen geschla-gen in der Umbrella-Hierarchie, und nur ein paar Tage nachder Explosion war Annette Birkin mit einer Nachricht ihresMannes an Irons herangetreten - mit einer Nachricht und derBitte um einen Gefallen. Birkin hatte sich gesorgt, dass Um-brella die neue Synthesis, das G-Virus, verlangen würde, eheer damit fertig war. Scheinbar war er mit der praktischen An-wendung seiner vorherigen Arbeit höchst unzufrieden gewe-sen; Umbrella hatte ihn den Replikationsprozess nicht per-fektionieren lassen oder so - Irons erinnerte sich nicht genau.Und da Umbrella nun versuchte, den finanziellen Schlag, dender Spencer-Verlust bedeutete, auszugleichen, hatte Birkinbefürchtet, dass sie die Integrität des ungetesteten Virus kom-promittieren könnten. Durch Annette hatte Birkin um Unter-stützung gebeten - und Irons einen zusätzlichen finanziellenAnreiz geboten, der Fairness halber. Für Hunderttausend hat-te Irons lediglich helfen müssen, das Geheimnis des G-Viruszu wahren - kurzum, nach Umbrella-Spionen Ausschau zuhalten und die überlebenden S. T. A. R. S.-Leute im Auge zubehalten und dafür zu sorgen, dass sie nicht noch mehr vonUmbrellas geheimen Forschungen „aufdeckten".Das war 's. Hunderttausend Dollar, und ich passte ja ohne-hin schon auf meine kleine Stadt auf und beobachtete diesenrebellischen kleinen Haufen von Unruhestiftern. Leicht ver-dientes Geld mit der Aussicht auf mehr, wenn alles wie ge-plant geklappt hätte. Nur war es eben eine Falle, eine Um-brella-Falle ...Irons war hineingetappt, und da hatte Umbrella angefan-gen, gegen ihn zu intrigieren - die gesammelten Informatio-nen zu benutzen, um sein Schicksal zu besiegeln. Wie sonst

hätte alles so schnell schieflaufen können? Die S. T.A. R.S.-Typen waren verschwunden, dann Birkin - und ehe Ironsauch nur die Chance gehabt hatte, die Lage zu erfassen, hat-ten die Angriffe wieder begonnen. Er hatte ja kaum Zeit ge-habt, Raccoon abzuriegeln, bevor alles den Bach hinunterge-gangen war.Und alles nur, weil ich einem Freund half- zum Wohle desUnternehmens, nicht weniger. Wie tragisch.Irons stand auf und ging langsam um den Schneidetisch he-rum. Gedankenverloren fuhr er mit den Fingerspitzen dieDellen und Kratzer im Holz nach. Hinter jedem dieser Malestand eine Geschichte, eine Erinnerung an eine Vollendung -doch erneut vermochte er daraus keinen Trost zu schöpfen.

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Die kühle, stille Atmosphäre des Sanktuariums hatte ihn frü-her stets beruhigt, hier übte er seine Passion aus, hier konnteer ganz er selbst sein - aber es gehörte ihm nicht mehr.Nichts gehörte ihm mehr. Umbrella hatte ihm alles wegge-nommen, genau wie sie seine Stadt genommen hatten. War esso weit hergeholt zu schlussfolgern, dass sie ihr Virus freiset-zen würden, um ihn zu kriegen, um ihn in die Knie zu zwin-gen - und dann dieses spärlich bekleidete, braunhaarigeMädchen zu schicken, um es ihm vor die Nase zu halten?Weshalb sonst war sie so attraktiv? Sie kannten seine Schwä-chen und nutzten sie aus, versuchten ihm selbst das letztebisschen Anstand zu verwehren ...Und bald wird sie mich holen kommen, wird sich vielleichtimmer noch unwissend stellen, immer noch versuchen, michmit ihrer gespielten Hilflosigkeit zu verfuhren. Eine Umbrel-la-Mörderin, eine Spionin und Diebin, das ist es, was sie ist,wahrscheinlich lacht sie über mich hinter ihrem hübschenGesicht!Vielleicht war der Ausbruch ein Unfall gewesen; bei ihrer

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letzten Begegnung hatte William Birkin unsicher gewirkt, pa-ranoid und erschöpft, und Unfälle ereigneten sich selbst unterden sichersten Umständen. Aber der Rest war Fakt - es gabkeine andere Erklärung dafür, wie gründlich Irons ruiniertworden war. Diese Frau würde kommen, um ihn zu holen. Siearbeitete für Umbrella und war geschickt worden, um ihn zuermorden. Und damit würde sie nicht aufhören, o nein - siewürde Beverly finden und sie ... sie irgendwie schänden, nurum sicherzustellen, dass nichts übrig bliebe, was ihm etwasbedeutete.Irons schaute sich in dem kleinen, sanft erhellten Raumum, der einmal ihm gehört hatte, blickte wehmütig auf dieabgenutzten Werkzeuge und das Mobiliar. Aus den schroffenSteinwänden drangen die süßen, vertrauten Düfte von Desin-fektionsmitteln und Formaldehyd.Mein Sanktuarium - meines!Er nahm die Pistole auf, die auf seinem Spezial-Arbeits-tisch lag, die VP70, die immer noch ihm gehörte, und spürte,wie ein bitteres Lächeln seine Lippen kräuselte. Sein Lebenwar vorbei, das wusste er jetzt. Diese ganze Angelegenheithatte mit Birkin begonnen und würde hier enden, durch seineeigene Hand. Aber noch nicht jetzt.Diese Frau würde kommen, um ihn zu holen, und er würdesie töten, bevor er sich endgültig von Beverly verabschiedete- ehe er seine Niederlage eingestand, indem er sich die Kugelgab. Doch er würde dafür sorgen, dass sie zunächst noch seinLeid begriff. Für jede Qual, die er erlitten hatte, würde dieseFrau bezahlen. Die Rechnung würde mit Blut beglichen undmit so viel Schmerzen, wie er ihr nur zufügen konnte.Er würde sterben, aber nicht allein. Und nicht ohne dieFrau vor Agonie schreien zu hören, zu hören, wie sie demTod seiner Träume eine Stimme gab - eine Stimme so klar

und wahrhaftig, dass die Echos selbst die schwarzen Herzender Umbrella-Führer erreichen würden, von denen er verra-ten worden war.Das S.T.A.R.S.-Büro war leer, ein wüstes Durcheinander,kalt und staubig, und doch sträubte sich Claire, es zu verlas-sen. Nach ihrer schrecklichen Flucht durch die leichenüber-säten Flure des ersten Stockwerks hatte ihr die Entdeckungdes Büros, in dem ihr Bruder seine Arbeitstage zubrachte, einGefühl der Erleichterung verschafft. Mr. X war ihr nicht ge-folgt, und obwohl sie immer noch bestrebt war, Sherry zuhelfen und Leon zu finden, hielt es sie weiterhin hier. Sie hat-te Angst, in die leblosen Gänge zurückzutauchen - und siezögerte, den einzigen Ort zu verlassen, der sich nach Chris

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anfühlte.Wo bist du, großer Bruder? Und was soll ich tun? Zombies,Feuer, Tod, dein komischer Chief Irons und dieses kleineMädchen ... Und gerade, als ich dachte, die Sache könntenicht mehr verrückter werden, stehe ich Dem-Ding-das-nicht-sterben-wollte gegenüber, dem Freak, vor dem alle Freaksverblassen. Wie soll ich das durchstehen?Sie saß an Chris' Schreibtisch und blickte auf den schmalenStreifen Schwarzweißfotos, den sie in der untersten Schubla-de gefunden hatte. Die vier Bilder zeigten sie beide, grinsendund Grimassen schneidend, ein Fotoautomaten-Memento andie Woche, die sie beide voriges Weihnachten in New Yorkverbracht hatten. Als sie den Streifen fand, hätte Claire zu-nächst fast geweint, all die Angst und Verwirrung, die sie bis-lang zurückgehalten hatte, drängten beim Anblick seines Lä-chelns, das sie so liebte, endlich heraus - doch je länger sieihn ansah, sie beide, wie sie lachten und Spaß hatten, destobesser fühlte sie sich. Nicht glücklich oder auch nur okay und

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um keinen Deut weniger ängstlich vor dem, was da nochkommen mochte - nur besser. Ruhiger. Stärker. Sie liebte ih-ren Bruder und wusste, dass er, wo er auch sein mochte, sieebenfalls liebte - und wenn sie es geschafft hatten, den Ver-lust ihrer Eltern zu überstehen, sich ein eigenes Leben aufzu-bauen und einen albernen Weihnachtsurlaub miteinander zuverbringen, weil sie kein richtiges Zuhause zum Feiern hat-ten, dann konnten sie alles schaffen. Sie konnte es schaffen.Ich kann und werde es schaffen. Ich werde Sherry und Leonfinden und, so Gott will, meinen Bruder - und wir werden esschaffen, aus Raccoon rauszukommen.Die Wahrheit war, dass ihr gar keine Wahl blieb - aber siemusste erst den Prozess durchmachen, ihren Mangel an Op-tionen zu akzeptieren, ehe sie handeln konnte. Sie hatte ein-mal gehört, dass wahre Tapferkeit nicht die Abwesenheit vonAngst sei, sondern vielmehr darin bestünde, die Angst zu ak-zeptieren und trotzdem zu tun, was nötig war - und nachdemClaire sich einen Moment hingesetzt und über Chris nachge-dacht hatte, glaubte sie sich genau dazu imstande.Sie holte tief Luft, schob die Fotos unter ihre Weste undstand auf. Sie wusste nicht, wohin Mr. X gegangen war, aberer war ihr nicht wie der Typ vorgekommen, der nur so herum-stand und wartete. Sie würde in Irons' Büro zurückkehren,um nachzusehen, ob Sherry zurückgekommen war - oderIrons. Falls auch besagter Mr. X sich dort aufhielt, konnte sieja immer noch abhauen.Außerdem hätte ich sein Büro durchsuchen sollen, um et-was über die S. T.A. R. S.-Leute zu finden. Hier gibt es nichts,was mir irgendeinen Hinweis geben könnte ...Im Stehen warf Claire einen letzten Blick in die Rundeund wünschte, dass ihr das S.T. A.R.S.-Büro ein bisschenmehr an Ausrüstung oder Informationen geboten hätte. Das

einzig Nützliche, das sie gefunden hatte, war eine ausrangier-te Gürteltasche in dem Schreibtisch, der hinter dem von Chrisstand; darin fand sie eine abgelaufene Büchereikarte, der zu-folge es Jill Valentines Arbeitsplatz sein musste. Claire hatteJill nie kennen gelernt, aber Chris hatte sie ein paar Mal er-wähnt und gesagt, dass sie gut mit Waffen umgehen könne ...Zu dumm, dass sie keine dagelassen hat.Das Team hatte nach der Suspendierung offenbar allesWichtige aus dem Büro geräumt. Es befand sich jedoch nocheine überraschend große Zahl persönlicher Dinge hier, ge-rahmte Fotos, Kaffeetassen und dergleichen. Barrys Schreib-tisch hatte Claire gleich anhand des halbfertigen Waffenmo-dells aus Plastik darauf erkannt. Barry Burton war einer von

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Chris' engsten Freunden, ein riesenhafter, freundlicher Bärvon einem Mann und ein regelrechter Waffennarr. Clairehoffte, dass er bei Chris war, wo dieser auch stecken mochte,und ihm den Rücken freihielt. Mit einem Raketenwerfer.Apropos ...Zusätzlich zu allem anderen musste sie eine andere Waffefinden oder mehr Munition für die Neunmillimeter. Sie hattenoch dreizehn Schuss übrig, ein volles Magazin, und wenndas aufgebraucht war, würde sie aufgeschmissen sein. Viel-leicht sollte sie auf dem Rückweg zum Ostflügel ein paar derLeichen durchsuchen. Selbst auf ihrer panischen Flucht hattesie feststellen können, dass einige von ihnen Cops waren, undihre eigene Pistole war eine der RPD-Standardwaffen. DieVorstellung, einen der Toten zu berühren, gefiel Claire zwarüberhaupt nicht, aber dass ihr die Munition ausging, warnoch deutlich weniger erstrebenswert - vor allem, da Mr. Xumherstreifte.Claire ging zur Tür, drückte sie auf und versuchte, ihre Ge-danken zu ordnen, als sie wieder hinaus in den trüben Flur

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trat. Das Büro zu verlassen versetzte ihrer Entschlossenheiteinen Dämpfer. Als sie die Tür hinter sich zudrückte, musstesie ein Schaudern unterdrücken in Anbetracht des immernoch sehr lebendigen Bildes in ihr von Mr. X. Plötzlich kamsie sich wieder verletzlich vor. Sie wandte sich nach rechtsund strebte der Bibliothek zu, beschloss, nicht an den Riesenzu denken, bis es unbedingt sein musste - nicht in der Erin-nerung an diese leeren, unmenschlichen Augen zu verweilenoder daran, wie er seine schreckliche Faust erhoben hatte, be-sessen davon, alles, was sich in seinem Weg befand, zu zer-stören ...Jetzt hör schon endlich auf damit. Denk an Sherry, denkdaran, dir Munition zu besorgen, verdammt noch mal, oderwie du mit Irons umgehen wirst, wenn du ihn findest. Denkdrüber nach, wie du am Leben bleiben kannst.Direkt voraus knickte der dunkle, holzverkleidete Gangwieder nach rechts ab, und Claire versuchte, sich für die vorihr liegende Aufgabe zu wappnen. Wenn ihre Erinnerung sienicht trog, lag gleich um die Ecke ein toter Cop -Als ob ich das nicht schon aufgrund des Gestanks wüsste!- und sie würde ihn durchsuchen müssen. Er hatte nichtallzu eklig ausgesehen, jedenfalls war ihr das nicht aufgefal-len ...Claire bog um die Ecke und gefror stieren Blickes in derBewegung. Ihr Magen verkrampfte sich, verriet ihr, dass siein Gefahr war, bevor es ihre Sinne vermochten. Der Leich-nam, über den sie auf dem Weg zum S.T.A.R.S.-Büro hin-weggesprungen war, war jetzt nurmehr eine blutige Masseaus Fleisch, gebrochenen Gliedern und zerfetzter Uniform.Der Kopf war verschwunden - es war jedoch unmöglich zusagen, ob er entfernt oder lediglich zu unkenntlichem Breizermatscht worden war. Es sah aus, als habe jemand den To-

ten mit einem Vorschlaghammer oder einer Axt bearbeitet -in der kurzen Zeit, seit Claire zuletzt hier vorbeigekommenwar, und ihn zu einer klumpigen Masse zerstampft.Aber wenn, dann wie? Ich habe nichts gehört -Etwas bewegte sich. Ein Schatten fiel über die zermalmtenÜberreste etwa sechs oder sieben Schritte vor ihr, und gleich-zeitig vernahm Claire ein seltsam kratzendes Geräusch. At-men.Sie schaute auf, noch immer nicht sicher, was sie da sahoder hörte - das krächzende Atmen und das Ticken von di-cken, gebogenen, krallenbewehrten Klauen auf Holz, dieKrallen eines Wesens, das es nicht geben konnte. Es war vonder Größe eines ausgewachsenen Menschen, aber damit en-

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dete jede Ähnlichkeit auch schon - das Ding war so unmög-lich, dass Claire es nur überaus eingeschränkt wahrnehmenkonnte; ihr Verstand weigerte sich, die Puzzleteile zusam-menzufügen: Das entzündete, ins Violette spielende Fleischder nackten, langgliedrigen Kreatur, die sich an der De-cke festklammerte. Das aufgedunsene, grauweiße Gewebedes teilweise freiliegenden Hirns. Die narbengesäumten Lö-cher, wo die Augen hätten sein sollen ...Das seh ich nicht wirklich!Der abgerundete Kopf der Kreatur kippte nach hinten, dasbreite Maul öffnete sich, ein zäher Strom dunklen Geifers er-goss sich daraus und spritzte über das, was von dem Copnoch übrig war. Das Wesen streckte seine Zunge heraus, aal-artig und rosafarben; die raue Oberfläche schimmerte feucht,als sie hervorglitt. Weiter und immer weiter entrollte sich die-se schlangenhafte Zunge, peitschte von einer Seite zur ande-ren und war schließlich so lang, dass sie tatsächlich durch dasverheerte Fleisch der Leiche schleifte.Immer noch wie gelähmt, sah Claire in entsetzter Ungläu-

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bigkeit mit an, wie diese unglaubliche Zunge zurückschnell-te. Blutströpfchen flogen durch die Luft. Der ganze Vorganghatte nur eine Sekunde gedauert, doch die Zeit kroch nurnoch dahin, und Claires Herz schlug so schnell, dass alles an-dere ihr wie Zeitlupe vorkam - auch wie sich die Kreatur aufden hölzernen Boden niederließ, wobei ihr Körper sich in derLuft drehte, so dass sie in kauernder Haltung auf dem kaumnoch kenntlichen Polizisten landete.Abermals öffnete das Wesen sein Maul und schrie -- und endlich war Claire wieder in der Lage, sich zu bewe-gen, und während das bizarre, hallende Kreischen aus demUngeheuer hervorbrach, schaffte sie es, ihre Waffe in An-schlag zu bringen und zu schießen. Das Donnern von Neun-millimeter-Schüssen überlagerte das Heulen, das durch denschmalen Flur hallte.Bamm-bamm-bamm ...!Und nach wie vor schauderhaft trompetend und kreischend,wurde die Kreatur nach hinten geworfen und ruderte mit ihrenklauenbesetzten Armen. Die krampfhaft zuckenden Beine wir-belten blutige Brocken des ausgeweideten Leichnams hoch.Claire sah ein ausgefranstes Stück Kopfhaut, an dem noch einOhr hing, durch den Flur fliegen und mit einem feuchten Klat-schen gegen die Wand prallen, wo es zu Boden rutschte.Und die Kreatur brachte ihre Beine irgendwie unter sichund plumpste wie ein knochenloser Haufen vorwärts. Spin-nenhaft kam sie auf Claire zu, rasend schnell, schlug ihre ent-setzlichen Krallen in den Holzboden und heulte auf.Claire schoss abermals. Es war ihr nicht bewusst, dass sieebenfalls zu schreien begonnen hatte, als drei weitere Kugelnin das huschende Ding schlugen und durch die graue Hirn-substanz pflügten, die aus dem offenen Schädel hervortrat.Sie würde sterben, „es" würde in weniger als einer Sekunde

bei ihr sein, und seine gewaltigen Klauen waren nur nochZentimeter von ihren Beinen entfernt ...Doch so plötzlich der Angriff erfolgt war, endete er auch.Der gesamte sehnige Körper zitterte und bebte, während flüs-siges Grau aus dem brodelnden Schädel troff. Die dickenKrallen trommelten wie wild einen hektischen Rhythmus aufden Holzboden. Mit einem letzten wispernden Jaulen starbdas Wesen. Diesmal war jeder Irrtum ausgeschlossen. Clairehatte ihm das Hirn aus dem Schädel geschossen, es würdenicht wieder aufstehen.Sie starrte auf das Monster hinab, ihr entsetzter Verstandsuchte nach irgendetwas, mit dem das Ding sich in Verbin-dung bringen ließ, irgendein Tier oder auch nur das Gerücht

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über ein Tier, das dem hier nahe gekommen wäre - dochClaire gab den Versuch nach ein paar Sekunden auf, weil ervergebens war. Das war kein natürliches Wesen, und so nahe,wie es ihr war, konnte sie es nun auch riechen - der Geruchwar nicht so beißend wie der eines Zombies, es war ein bitte-rer, öliger Geruch, irgendwie eher chemisch denn tierisch ...... und es könnte wie Butterkekse riechen, wen würde es in-teressieren? In Raccoon City gibt's Monster - es ist Zeit, dassdu aufhörst, so gottverdammt überrascht zu sein, wenn du ei-nes siehst.Der tadelnde Tonfall ihrer inneren Stimme war nicht geradeüberzeugend. So sehr Claire auch tapfer und entschlossensein, über die monströse Kreatur hinwegsteigen und wiederzur Tagesordnung übergehen wollte, stand sie doch einenMoment lang einfach nur da - und in diesem Moment dachtesie ganz ernsthaft daran, kurzerhand zum S. T. A. R. S.-Bürozurückzukehren, hineinzugehen und die Tür hinter sich abzu-schließen. Sie könnte sich verstecken, verstecken und aufHilfe warten, sie wäre in Sicherheit ...

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Dann entscheide dich. Unternimm irgendwas, aber hör aufmit dieser Wankelmütigkeit und dem Gejammer, denn es gehtnicht mehr nur um dich. Ob Sherry in Sicherheit ist? Willst duauf Kosten ihres Lebens überleben?Der Moment verging. Claire machte einen vorsichtigenSchritt über das rohe rote Fleisch des Wesens hinweg undging neben den Überresten des Cops in die Hocke. Mit derWaffenmündung schob sie einen Fetzen blutiger Uniformbeiseite. Sie schluckte Galle hinunter, als sie durch verwestesFleisch und Knochen stocherte, bemühte sich, nicht daran zudenken, wer der Cop zu Lebzeiten gewesen oder wie er ge-storben sein mochte.Sie hatte nur noch sieben Schuss übrig - doch sie weigertesich, in Panik zu geraten, ließ die Enttäuschung stattdessenihre Entschlossenheit schüren. Wenn sie eine solche blutigeSchweinerei durchwühlen konnte, dann konnte sie es auchein zweites Mal.Mit einem letzten Blick auf das tote Tierding stand Claireauf und lief rasch auf das Ende des Korridors zu. Ihr Ent-schluss stand fest: kein Verstecken und kein Davonlaufen vorder Angst mehr. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, einpaar der Monster mitzunehmen, um Sherrys Fluchtchancenzu erhöhen.Es war besser, beim Versuch zu sterben, als es gar nicht erstzu versuchen. Und davon würde sie nicht wieder abgehen.

FünfzehnLeon fand Ada im Zwinger, wo sie versuchte, den rostigen De-ckel der Einstiegsluke hochzuhebein, von der ihnen der Repor-ter erzählt hatte. Irgendwo hatte sie ein Brecheisen aufgetrie-ben, das sie unter die dicke Eisenplatte geklemmt hatte, undihr sich deutlich abzeichnender Bizeps glänzte vor Schweiß,während sie die Luke mit der Stange bearbeitete. Sie hatte esgeschafft, den Deckel zwei oder drei Zentimeter anzuheben,ließ ihn aber bei Leons Eintreten wieder zurückfallen. Das me-tallene Geräusch hallte laut durch den kalten, leeren Raum.Bevor Leon etwas sagen konnte, legte sie die Brechstangeauf den Betonboden, sah mit einem schiefen Lächeln zu ihmhoch und wischte sich die rostverschmutzten Hände ab.„Gut, dass Sie hier sind. Ich glaube, ich bin nicht stark ge-nug, um das allein zu schaffen ..."Zuvor war Leon sich nicht sicher gewesen, doch der hilflo-se Blick, den sie ihm schenkte, machte es ihm deutlich: Siespielte ihm etwas vor, oder versuchte es zumindest. Er kann-te Ada erst seit zwanzig Minuten, aber er bezweifelte stark,

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dass sie jemals in irgendeiner Hinsicht hilflos gewesen war.„Sieht aus, als kämen Sie ganz gut klar", meinte er, stecktedie Magnum ins Holster, machte jedoch keine Bewegung inRichtung des Schachtes. Er verschränkte die Arme und run-zelte leicht die Stirn, nicht wütend, nur neugierig.

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„Außerdem, was soll die Eile? Ich dachte, Sie wollten mitdem Reporter reden. Über John, Ihren Umbrella-Freund ..."Ihr hilfsbedürftiger Blick schmolz dahin, ihre feinen Zügewurden kühl und hart, aber nicht im negativen Sinne - es war,als ließe sie ihr wahres Ich zum Vorschein kommen, die star-ke und selbstbewusste Ada, die er zuerst kennen gelernt hatte.Leon wusste, dass er sie überrascht hatte, indem er ihr nichtzu Hilfe geeilt war, und es freute ihn, das zu sehen; er hattegenug Grund zur Sorge, auch ohne von einer rätselhaftenFremden manipuliert zu werden. Sie war seinen Fragen sehrsorgsam ausgewichen, aber jetzt war es Zeit für Miss Wong,ein paar Dinge zu erklären.Ada hielt seinem Blick stand und erhob sich. „Sie habendoch gehört, was er gesagt hat - er hätte uns gar nichts er-zählt. Und so gefährlich, wie es hier ist, will ich wirklichnicht herumstehen und darauf warten, dass er so was wie einGewissen entwickelt..."Sie senkte den Blick, ihre Stimme wurde leiser. „... und ichweiß ja nicht mal, ob John in Raccoon ist. Aber ich weiß, dasser nicht hier ist - und ich möchte verschwinden, bevor dasRevier völlig überrannt wird."Das klang gut, aber aus irgendeinem Grund hatte Leon dasGefühl, dass sie ihm noch etwas verheimlichte. Ein paar Se-kunden lang sann er über eine höfliche Möglichkeit nach, siedazu zu bringen, sich ihm zu offenbaren - dann aber ent-schied er: Zum Teufel damit! Unter Umständen wie diesenmusste man auf den guten Ton zur Not auch mal pfeifen.„Was ist los, Ada? Wissen Sie etwas, das Sie mir nicht sa-gen?"Sie sah ihn abermals an, und wieder hatte er das Gefühl, sieüberrascht zu haben - doch ihr kühler, dunkler Blick war soundeutbar wie eh und je.

„Ich will nur hier raus", erwiderte sie, und die Aufrichtig-keit in ihrer Stimme war unmöglich zu leugnen. Wenn erauch sonst nichts von dem glaubte, was sie gesagt hatte, dasimmerhin schien zu stimmen.Ich wünschte, es wäre damit abgetan, ihr zu glauben - aberda sind noch Claire und auch Ben, unser Freund, das Arsch-loch, und Gott weiß wie viele andere ...Leon schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht abhauen. Wiegesagt, ich bin vielleicht der einzige Cop, der hier noch übrigist. Wenn noch Menschen in diesem Gebäude sind, muss ichwenigstens versuchen, ihnen zu helfen. Und ich denke, eswäre am besten, wenn Sie mit mir kämen."Ada schenkte ihm ein weiteres schiefes Lächeln. „Ich weiß

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Ihre Sorge zu schätzen, Leon, aber ich kann auf mich selbstaufpassen."Das bezweifelte er nicht - er wollte aber auch ihre Fähig-keiten nicht auf die Probe gestellt sehen. Zugegeben, er warselber ziemlich unerfahren, aber er war darin ausgebildet,Krisensituationen zu handhaben, das war sein Job.Und sei doch ehrlich - du hast Claire verloren, du konntestBranagh nicht helfen, und Ben Bertolucci gibt einen Scheiß-dreck auf deine Beschützertalente. Du willst nicht auch nochbei Ada versagen. Und du willst nicht allein sein.Ada schien zu wissen, was er dachte. Bevor ihm ein über-zeugendes Argument einfallen konnte, trat sie vor und legteihm ihre schlanke Hand auf den Arm. Der Humor schwandaus ihren strahlenden Augen.„Ich weiß, dass Sie hier Ihren Job tun wollen, aber Sie ha-ben es selber gesagt - wir müssen einen Weg aus Raccoonfinden und versuchen, Hilfe von draußen zu bekommen. Unddie Kanalisation ist wahrscheinlich unsere beste Chance ..."Ihre sanfte Berührung überraschte ihn - und sandte ein elek-

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trisiertes Kribbeln durch seinen Bauch, ein unerwartes Aufwal-len von Wärme, das ihn verwirrte und verunsicherte. Er schaff-te es, seine Reaktion zu verheimlichen, aber nur mit Mühe.Ada fuhr fort, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. „Wiewär's damit - helfen Sie mir mit diesem Deckel und lassenSie uns nachsehen, was da unten ist. Wenn es gefährlich aus-sieht, komme ich mit Ihnen ... aber wenn's nicht schlimm ist- na ja, dann können wir uns darüber unterhalten, was wir alsNächstes tun."Leon wollte widersprechen, doch die Wahrheit war, dass ersie nicht zu etwas zwingen konnte, das sie nicht wollte - under wollte vor allem, dass sie keinen herrischen Macho in ihmsah, sie sollte wissen, dass er kompromissbereit war ...... und sagt dir der Name „John " etwas? Das ist hier keinDate, um Himmels willen, hör auf, mit deinen Hormonen zudenken.Ihn überkam ein fast peinliches Gefühl von Scham, wäh-rend ihre Hand noch auf seinem Arm lag. Leon trat beiseiteund nickte knapp. Gemeinsam gingen sie neben der Ein-stiegsluke in die Hocke. Leon hob die Brechstange auf undrammte ein Ende unter den Deckel. Als er zurückwich,drückte Ada auf die Stange, und mit einem schweren Knir-schen kam die dicke Metallplatte hoch. Leon stemmte sichmit dem Rücken dagegen und wuchtete den Deckel zur Seite,machte die Öffnung frei -- und beide zuckten sie vor dem Geruch zurück, der ihnenaus dem finsteren Loch entgegenschlug, ein erstickender,dumpfer Gestank nach Blut, Pisse und Kotze.„Bah, was ist das denn?", hustete Leon.Ada ließ sich auf den Fersen nieder und hielt eine Hand vorden Mund gepresst. „Die Leichen aus der Garage, man hatsie wohl hier reingeworfen ..."

Ehe Leon fragen konnte, wovon sie sprach, hallte ein Schreischieren Entsetzens durch die Kellergänge, von der geschlos-senen Tür nur schwach gefiltert. Der Schrei nahm kein Ende,eine Männerstimme - doch dann wandelte sich das panischeGekreische plötzlich zu einem gurgelnden Schmerzensschrei.Der Reporter!Leons Blick kreuzte den von Ada, und er bemerkte, wiedieselbe erstaunte Erkenntnis über ihr Gesicht huschte - dannsprangen sie beide auf und rannten los, zogen ihre Waffenund sprinteten zur Tür hinaus, noch bevor die Echos erstar-ben.Ich hab ihn zurückgelassen, das hätte ich nicht tun dür-fen ...!

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Sie rannten den Korridor hinunter in Richtung des Zellen-trakts. Sein Schuldgefühl ließ Leon so schnell wie nie zuvorin seinem Leben laufen. Jemand oder etwas war zu Bertoluc-ci vorgedrungen - und hatte sich, um das zu schaffen, hinterseinem Rücken vorbeigestohlen.Sherry stand in Mr. Irons' Büro, rieb ihren Glücksbringer undwünschte sich, dass Claire zurückkäme. Sie war durch einDutzend staubiger Tunnel gekrochen, um von dem Monsterfortzukommen und um es von Claire wegzulocken, und siewar ziemlich sicher, dass es geklappt hatte - sie hatte es nichtwieder gehört und war zurückgekehrt, nur um feststellen zumüssen, dass Claire verschwunden war. Wenn das MonsterClaire gefunden hätte, dann wäre sie jetzt tot und zerfetzt.Aber sie ist nicht hier. Niemand ist hier ...Sherry saß auf der Kante eines niedrigen Tisches in derMitte des Zimmers und fragte sich, was sie tun sollte. Sie hat-te sich daran gewöhnt, allein zu sein, und nicht einmal be-merkt, wie einsam sie gewesen war - doch das Zusammen-

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treffen mit Claire hatte das geändert. Sherry wollte sie wie-dersehen, sie wollte mit anderen Menschen Zusammensein.Sie sehnte sich dermaßen nach ihren Eltern, dass es wehtat.Selbst Mr. Irons wäre ihr recht gewesen, obwohl Sherry ihnnicht mochte. Sie hatte ihn nur ein paar Mal getroffen, aber erwar komisch, aufgeblasen und falsch - und sein Büro warobendrein noch unheimlich. Dennoch hätte sie auch mit ihmvorlieb genommen, wenn es nur bedeutet hätte, dass sie nichtmehr allein gewesen wäre ...Schritte. Auf dem Gang draußen vor dem Büro.Sherry stand auf und rannte zu der offenen Tür, die zurückin den Raum mit den Rüstungen führte. Sie hoffte, dass essich um Claire handelte, und war bereit, loszurennen und inDeckung zu gehen, falls dem nicht so wäre. Sie duckte sichhinter dem Türrahmen, hielt den Atem an, starrte den ausge-stopften Tiger auf dem Gang an und betete im stillen.Die äußere Tür wurde geöffnet und geschlossen. GedämpfteSchritte auf dem Teppich, die sich langsam voranbewegten.Sherry spannte sich, um loszulaufen, und bemühte sich gleich-zeitig, genug Mut aufzubringen, um einen Blick zu wagen -„Sherry?"Claire!„Ich bin hier!"Sie rannte zurück in das Büro, und da war Claire, ihr gan-zes Gesicht hellte sich in einem strahlenden Lächeln auf.Sherry flog in ihre ausgebreiteten Arme, war so glücklich, siezu sehen, dass sie weinen wollte.„Ich hab dich gesucht", sagte Claire und hielt sie ganz fest.„Lauf mir nicht noch mal so davon, okay?"Claire kniete vor ihr, immer noch lächelnd - doch Sherryerkannte die Sorge hinter dem Lächeln und in ihren ruhigengrauen Augen.

„Tut mir Leid", sagte Sherry. „Ich musste, sonst wäre dasMonster gekommen."„Wie sieht es denn aus?", fragte Claire mit schwindendemLächeln. „Sieht es - irgendwie rot aus, mit Krallen?"Sherry schluckte hart. „Die Inside-Out-Wesen! Du hast ei-nes gesehen, stimmt's?"Unfassbar - Claire grinste und schüttelte den Kopf. „Ja,das ist genau das, was ich gesehen habe, ein Inside-Out-We-sen ... das ist eine gute Bezeichnung."Sie schaute Sherry ernster an und runzelte die Stirn.,„Eines'? Es gibt noch mehr davon?"Sherry nickte. „Ja, aber sie sind nichts im Vergleich zu demMonster. Ich hab es nur einmal gesehen, von hinten, aber es

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ist ein Mann, ein Riese -"Claire wirkte alarmiert. „Glatzköpfig? Und trägt er einenlangen Mantel?"„Nein, er hatte Haare, braune Haare. Und einer seinerArme war ganz ... na, vermurkst irgendwie, viel länger alsder andere."Claire seufzte. „Toll. Klingt so, als hätte Raccoon für jedenetwas zu bieten ..."Sie streckte die Hand aus, nahm die von Sherry und drück-te sie. „Ein Grund mehr, dass du bei mir bleiben solltest. Duhast bisher sehr gut auf dich selbst aufgepasst, und du warstsehr tapfer - aber bis wir deine Eltern finden, hab ich das Ge-fühl, dass es einstweilen meine Aufgabe ist, auf dich aufzu-passen. Und wenn das Monster kommt, dann - dann tret ichihm in den Arsch, okay?"Sherry lachte, ganz überrascht. Es gefiel ihr, dass Clairenicht von oben herab mit ihr redete. Sie nickte, und Clairedrückte ihre Hand noch ein einmal.„Gut. Wir haben also Zombies, Inside-Out-Wesen und ein

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Monster. Und einen großen glatzköpfigen Kerl ... Sherry,weißt du, was in Raccoon passiert ist? Wie das alles angefan-gen hat? Gibt's irgendwas, das du mir sagen könntest, ganzgleich was? Es könnte wichtig sein."Sherry dachte nach, die Stirn in Falten gelegt. „Na ja, dagab's ein paar Morde im vergangenen Mai oder Juni, glaubich - zehn Menschen oder so wurden umgebracht. Und dannhörte es auf, aber vor etwa einer Woche wurde wieder jemandangegriffen."Claire nickte aufmunternd. „Okay. Wurden noch weitereMenschen angegriffen, oder ... was hat die Polizei unternom-men?"Sherry schüttelte den Kopf. Sie wünschte, sie wäre einegrößere Hilfe gewesen. „Ich weiß nicht. Direkt bevor diesesMädchen angegriffen wurde, rief meine Mutter ganz aufge-regt von der Arbeit aus an und sagte mir, dass ich das Hausnicht verlassen könne. Mrs. Willis - das ist unsere Nachbarin- kam rüber und kochte mir Abendessen, und so hörte ichvon diesem Mädchen. Mom rief am nächsten Tag wieder anund sagte mir, dass sie und Dad in der Firma festsäßen undeine Zeitlang nicht heim kommen würden - und dann, vordrei Tagen oder so, rief sie wieder an und sagte mir, dass ichhierher kommen solle. Ich ging, um zu fragen, ob Mrs. Willismit mir kommen wollte, aber ihr Haus war dunkel und leer.Ich schätze, da war die Sache schon ziemlich schlimm."Claire sah sie aufmerksam an. „Du warst die ganze Zeitüber allein? Schon bevor du aufs Revier gekommen bist?"Sherry nickte. „Ja, aber ich bin oft allein. Meine Elternsind beide Wissenschaftler. Ihre Arbeit ist wichtig, undmanchmal können sie nicht mittendrin aufhören. Und meineMutter sagt immer, dass ich sehr selbständig bin, wenn ich esnur will."

„Weißt du, was für einer Arbeit deine Eltern nachgehen?Bei Umbrella?" Claire behielt das Mädchen immer noch ge-nau im Auge.„Sie entwickeln Heilmittel für Krankheiten", erklärte Sher-ry stolz. „Und machen Arzneien und Seren, wie sie in Kran-kenhäusern verwendet werden ..."Sie verstummte, als sie merkte, dass Claire plötzlich abge-lenkt schien, ihr Blick weit entrückt. Es war ein Ausdruck,wie sie ihn schon viele Male in den Gesichtern ihrer Elterngesehen hatte - und er bedeutete, dass jemand gar nicht mehrrichtig zuhörte. Doch sobald sie aufgehört hatte zu reden,richtete sich Claires Aufmerksamkeit wieder auf sie, und siestreckte die Hand aus, um Sherrys Schulter zu tätscheln -

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und aus irgendeinem albernen Grund brachte das Sherry bei-nahe wieder zum Heulen.Weil sie mir eben doch zuhört. Weil sie auf mich aufpassenwill.„Deine Mutter hat Recht", sagte Claire sanft, „du bist sehrselbständig, und dass du es bis hierher geschafft hast, heißt,dass du auch sehr stark bist. Das ist gut, weil wir beide sehrstark sein müssen, um hier rauszukommen."Sherry spürte, wie ihre Augen groß wurden. „Was meinstdu damit? Das Revier verlassen? Aber da sind überall Zom-bies, und ich weiß nicht, wo meine Eltern sind. Was ist, wennsie Hilfe brauchen oder nach mir suchen ...?"„Schätzchen, ich bin sicher, dass es deinen Eltern gutgeht", sagte Claire rasch. „Wahrscheinlich sind sie noch inder Firma, wo sie sich verstecken - genau, wie du es getanhast -, um auf Leute zu warten, die von außerhalb der Stadtkommen und alles wieder gutmachen ..."„Du meinst, um alle zu töten", sagte Sherry. „Ich bin zwölf,weißt du, ich bin kein Baby mehr."

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Claire lächelte. „Entschuldige. Ja, um alle zu töten. Aberbis die Guten kommen, sind wir auf uns gestellt. Und dasBeste, was wir tun können, das Klügste, ist, ihnen aus demWeg zu gehen - diesen Zombies und Ungeheuern so weitwie nur möglich aus dem Weg zu gehen. Du hast Recht, dieStraßen sind nicht sicher, aber vielleicht finden wir ein Autound ..."Jetzt war es an Claire zu verstummen. Sie erhob sich undging zu dem großen Schreibtisch auf der anderen Seite desBüros. Im Gehen sah sie sich um.„Vielleicht hat Chief Irons seine Autoschlüssel hier gelas-sen oder eine Waffe, etwas, das uns nützlich sein könnte -"Claire entdeckte etwas auf dem Boden hinter dem Schreib-tisch. Sie bückte sich, und Sherry eilte ihr nach, zum einen,um in ihrer Nähe zu bleiben, zum anderen, um zu sehen, wasClaire da gefunden hatte. Sie wusste jetzt schon, dass sieClaire nicht noch einmal verlieren wollte, ganz egal, wasnoch geschah.„Hier ist Blut", sagte Claire leise, so leise, dass Sherrymeinte, sie hätte es gar nicht aussprechen wollen.„Und?"Stirnrunzelnd sah Claire an der Wand empor, dann wiederauf den großen, trocknenden roten Klecks auf dem Boden.„Der Fleck ist noch feucht. Und hier sieht er aus wie abge-schnitten. Es müsste doch hier auch was an die Wand ge-spritzt sein ..."Sie klopfte gegen die dunkle Holzzierleiste, die an derWand verlief, dann gegen die Wand selbst. Es gab einen hör-baren Unterschied: ein dumpfes Pochen von der Leiste, dochdie Wand klang hohl.„Liegt dahinter ein Raum?", fragte Sherry.„Ich weiß nicht, es hat den Anschein. Und es würde erklä-

ren, wohin er sie ... wohin er sich abgesetzt hat. Chief Irons,meine ich."Während sie anfing, die Fußleisten entlang zu tasten, sahsie zu Sherry empor, strich dann mit den Händen über dieWand und drückte dagegen. „Sherry, sieh dich beim Schreib-tisch um, ob du einen Hebel oder einen Schalter findenkannst. Wenn es einen gibt, wäre er wohl irgendwo versteckt,vielleicht in einer der Schubladen ..."Sherry ging hinter den Schreibtisch - und stolperte; ihr Fußrutschte auf einer Handvoll Bleistifte aus, die sie nicht gese-hen hatte. Sie fasste nach der Schreibtischplatte, versuchte,ihr Gleichgewicht zu wahren, landete aber dennoch ziemlichhart auf den Knien.

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„Autsch!"Claire war sofort neben ihr und legte ihr einen Arm um dieSchultern. „Bist du in Ordnung?"„Ja. Ich - hey! Guck mal!"Ihre geprellten Knie vergessend, deutete Sherry auf einenSchalter unter der oberen Schreibtischschublade, der in einekleine Metallplatte eingelassen war. Er sah aus wie ein Licht-schalter, musste aber zu der Geheimtür gehören, das wusstesie einfach.Ich hab ihn gefunden!Claire streckte die Hand aus und legte den Schalter um -und hinter ihnen glitt ein Teil der Wand reibungslos nachoben, verschwand in der Decke und offenbarte einen schwachbeleuchteten Raum, dessen Wände aus großen Ziegelsteinenbestanden. Kühle, feuchte Luft wehte in das Büro. Es war eingeheimer Durchgang, genau wie in irgendwelchen Filmen.Sie standen auf und traten auf die Öffnung zu. Claire hieltSherry mit einem Arm zurück und sah zuerst hinein. Der klei-ne Raum war völlig leer - drei Ziegelwände, ein fleckiger

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Holzboden. Nur etwa halb so groß wie das Büro. Die vierteWand wurde von einer großen altmodischen Aufzugtür einge-nommen, eine von der Art, die man zur Seite schieben musste.„Fahren wir damit?", fragte Sherry. Sie war aufgeregt, aberauch ängstlich.Claire hatte ihre Pistole hervorgeholt. Sie ging neben Sher-ry in die Hocke und lächelte - aber es war kein freudiges Lä-cheln, und Sherry wusste, was kam, noch bevor Claire einWort gesagt hatte.„Schätzchen, ich glaube, es ist am sichersten, wenn ich zuerstgehe und mich etwas umsehe und du zunächst hier bleibst -"„Aber du hast gesagt, wir sollten zusammenbleiben! Duhast gesagt, wir suchen uns ein Auto und verschwinden! Wasist, wenn das Monster kommt und du nicht hier bist, oderwenn du umgebracht wirst?"Claire umarmte sie, doch Sherry war fast schlecht vor hilf-loser Wut. Claire wollte ihr sagen, dass sie sich keine Sorgenmachen solle, dass das Monster nicht kommen würde, dassnichts Schlimmes passieren könne - und dann würde sietrotzdem gehen.Blöde Erwachsenenlügen!Claire lehnte sich zurück und strich Sherry das Haar ausdem Gesicht. „Ich mach dir keine Vorwürfe, dass du Angsthast. Ich hab auch Angst. Das ist eine schlimme Situation -und ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was passieren wird. Aberich will das Richtige für dich tun, und das heißt, dass ich dichnicht in eine Lage bringen werde, wo du verletzt werdenkönntest, nicht, wenn ich es vermeiden kann."Sherry schluckte ihre Tränen hinunter und versuchte esnoch einmal. „Aber ich will mit dir gehen ... Was, wenn dunicht wiederkommst?"„Ich werde wiederkommen", sagte Claire fest. „Das ver-

spreche ich. Und wenn - wenn nicht, dann will ich, dass dudich wieder versteckst, wie vorher. Es wird jemand kommen,es wird bald Hilfe eintreffen, und man wird dich finden."Wenigstens war sie ehrlich. Es gefiel Sherry nicht, ganzund gar nicht, aber immerhin - und Claires Gesichtsausdruckverriet ihr, dass es nichts gab, was sie, Sherry, tun konnte, umihren Entschluss zu ändern. Sie konnte sich deswegen nunbenehmen wie ein Baby, oder sie konnte sich damit abfinden.„Sei vorsichtig", flüsterte sie, und Claire umarmte sie nocheinmal, ehe sie sich erhob und auf den Aufzug zuging. Siedrückte einen Knopf neben der Tür, und es ertönte ein leises,sanftes Summen. Nach ein paar Sekunden tauchte eine Liftka-bine auf, die sanft zum Halten kam. Claire zog die Tür auf, trat

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hinein und wandte sich für einen letzten Blick auf Sherry um.„Bleib hier, Schätzchen", sagte sie. „Ich bin in ein paar Mi-nuten wieder da."Sherry zwang sich zu einem Nicken - und Claire ließ dieTür los, die sich daraufhin schloss. Sie drückte einen Knopfim Aufzug, und die Kabine fuhr abwärts. Claires lächelndesGesicht verschwand aus Sherrys Blickfeld und ließ sie alleinzurück in der kalten, dunklen Passage.Sherry setzte sich auf den staubigen Boden und zog dieKnie mit ihren Armen dicht an ihren Körper, schaukelte sanftvor und zurück. Claire war mutig und klug, sie würde baldzurück sein, sie musste bald zurück sein ...„Ich will meine Mom", flüsterte Sherry, aber es war nie-mand da, der sie hörte. Sie war wieder allein, genau das, wassie am allerwenigsten sein wollte.Aber ich bin stark. Ich bin stark, und ich kann warten.Sie ließ das Kinn auf ihren Knien ruhen, berührte die Hals-kette, die ihre Mutter ihr als Glücksbringer gegeben hatte,und wartete darauf, dass Claire zurückkehrte.

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SECHZEHNAnnette Birkin saß im Überwachungsraum des Laboratori-ums und starrte erschöpft zu der Bildschirmwand über demKontrollpult empor. Es kam ihr vor, als sei sie seit Jahren hier,um darauf zu warten, dass William auftauchte, und allmäh-lich glaubte sie, dass er das nie tun würde. Sie würde noch einwenig länger warten - aber wenn sie ihn nicht bald zu Gesichtbekam, würde sie noch einmal nach ihm suchen müssen.Gottverdammte Technik ...Es war eine brandneue Anlage, noch keinen Monat alt -fünfundzwanzig Monitore mit einem Erfassungsbereich, deres ihr eigentlich erlauben sollte, jeden Teil der Einrichtung zuüberblicken. Eine absolute Verbesserung der Sicherheitsvor-kehrungen - sah man davon ab, dass nur elf der Monitoreüberhaupt funktionierten, und mehr als die Hälfte davon le-diglich Statikrauschen zeigte, einen endlosen Tanz elektroni-schen Schnees. Auf den fünf Monitoren, die Annette noch einklares Bild lieferten, war alles, was sie sehen konnte - alles,was es zu sehen gab -, verwesende Leichen und gelegentlichein Re3, entweder beim Fressen oder schlafend ...„Lecker. Du hast sie Lecker genannt, ihrer Zungen wegen..."Annette hatte gedacht, sie sei über den schlimmstenSchmerz hinweg, aber der einsame Klang ihrer eigenen Stim-me in dem kalten, höhlenartigen Raum und die Erkenntnis,

dass keine Antwort erfolgen würde - dass es nie mehr eineAntwort geben würde -, weckten eine neuerliche, stechendeWoge von Trauer in ihr. William war fort, er war tot, und siesprach zu niemandem.Annette senkte den Kopf auf die Konsole und schloss diemüden Augen. Wenigstens hatte sie keine Tränen mehr. Siehatte einen Ozean von Tränen vergossen in den Tagen seitUmbrella gekommen war, um das G-Virus zu holen, und jetztwar sie schlicht zu ausgelaugt, um noch weiter zu heulen.Jetzt gab es nur noch Schmerz, unterbrochen von Anfällenbrutalen, hilflosen Zornes darüber, was Umbrella getan hatte.Noch einen Monat, vielleicht zwei, und wir hätten es ihnengegeben. Wir hätten es ohne Widerstand übergeben, und Wil-liam wäre in den Vorstand berufen worden, und wir wärenglücklich gewesen. Alle wären glücklich gewesen -Von einem der leise gestellten Überwachungsmonitore kamein schwaches Kreischen. Annette sah auf, hoffnungsvoll undfurchterfüllt in einem - aber es war nur ein Lecker, eine Eta-ge höher im Operationsbereich. Er hatte sich von der Deckefallen lassen, um sich an einem der Techniker gütlich zu tun,

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heulte vor sich hin, während er sich in die Eingeweide derLeiche wühlte. Der Tote sah aus wie Don Weller, einer derLaufburschen, aber sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen;er sah fast so verstümmelt und unmenschlich aus wie derRe3, der ihn fraß.Annette Birkin beobachtete den Lecker beim Fressen, be-obachtete den kleinen Bildschirm, ohne wirklich etwas zu er-kennen. Ihre Gedanken schweiften ab, beschäftigten sich da-mit, was noch zu tun war. Sie hatte bereits sämtliche Datenauf den Computern gelöscht und die Codes für den Count-down eingegeben; das Labor war bereit, ihr Fluchtweg gesi-chert. Aber sie konnte die Sache erst zu Ende bringen, wenn

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sie ihn wiedersah, sah, dass er wieder in der Umbrella-Anla-ge war. Die Zerstörung des Labors würde nichts bringen,wenn er sich nicht im Explosionsbereich befand - sie würdenihn finden und das Virus aus seinem Blut extrahieren ...... aber Umbrella wird es nicht bekommen. Eher sterbe ich,bevor ich zulasse, dass sie es kriegen, so wahr mir Gott helfe.Ihr einziger Trost in dieser wahnsinnigen, entsetzlichen An-gelegenheit war, dass Umbrella es nicht geschafft hatte, Wil-liams Synthese in die gierigen Finger zu bekommen. Das hat-ten sie nicht, und das würden sie nie. Alles, was in dieErschaffung des G-Virus geflossen war, würde unter tausendTonnen brennenden Gesteins und Holzes begraben werden,inklusive William und all der Monstren, die sie für die Firmaerschaffen hatten. Sie würde eine Weile untertauchen, sichZeit nehmen, um über alles hinwegzukommen und ihre Mög-lichkeiten abwägen - und dann würde sie das G-Virus an dieKonkurrenz verkaufen. Umbrella war der größte, aber nichtder einzige Konzern, der sich mit Biowaffenforschung be-schäftigte - und wenn sie mit Umbrella fertig war, würde dieFirma nicht mehr die größte sein. Es war keine besonders be-friedigende Rache, aber es war alles, was ihr noch blieb.„Außer Sherry", flüsterte Annette, und der Gedanke an ihrekleine Tochter tat ihr im Herzen weh, eine andere Art vonSchmerz zwar, aber nichtsdestotrotz Schmerz. Seit SherrysGeburt hatte Annette vorgehabt, mehr Zeit mit ihr zu verbrin-gen, sich auf das Kind zu konzentrieren, anstatt auf ihren Anteilan Williams brillantem Wirken. Und doch waren die Jahre fastunbemerkt verstrichen, William war ein ums andere Mal beför-dert worden, die Arbeit war stetig interessanter und wichtigergeworden - und obwohl sie und William sich und einander ver-sprochen hatten, mehr Anstrengung auf ein Familienleben zuverwenden, hatten sie es doch fortwährend aufgeschoben.

Und jetzt ist es zu spät. Wir werden nie eine Familie bilden,werden nie miteinander Eltern sein. All die Zeit vergeudet,geschuftet für eine Firma, die uns am Ende verkauft hat...Es war zu spät - es hatte keinen Zweck zu betrauern, washätte sein können. Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war,dafür zu sorgen, dass Umbrella nichts weiter von der FamilieBirkin bekam. William war tot, aber es gab immer noch Sher-ry - dieser Teil von ihm würde weiterleben, und Annette hat-te die Absicht, endlich die Mutter zu werden, die sie immerschon hätte sein sollen. Natürlich würde sie warten müssen,bis die Lage sich beruhigt hatte, ehe sie Sherry zu sich holenkonnte, wenigstens ein paar Monate, aber das Mädchen wür-de in Sicherheit sein; die Polizei würde sie zu Williams

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Schwester bringen, so stand es in ihrer beider Testament ...... es sei denn, Irons lebt noch. Dieser fette, gierige Bastardkönnte einen Weg finden, auch das noch zu vermasseln, wenner nur den Hauch einer Chance dazu hat.Annette hoffte, dass er tot war. Auch wenn er nicht unmit-telbar verantwortlich dafür war, dass Umbrella Kenntnis überdas G-Virus erlangt hatte, so war Brian Irons doch ein wider-wärtiger, arroganter Mensch mit der Moral einer Seegurke.Nach Jahren der Treue zur Firma hatte er sich für mickrigehunderttausend Dollar kaufen lassen. Selbst William warüberrascht gewesen, und er hatte eine noch geringere Mei-nung über den Polizeichef gehabt als Annette ...Auf dem Bildschirm hatte der Re3 seine Mahlzeit beendet.Alles, was von dem Toten jetzt noch übrig war, waren eine lee-re Hülle, gebogene, blutige Rippen und ein gesichtsloser Schä-del. Die ohne Zweifel leuchtenden Farben wurden von der Vi-deoausrüstung nur in matten Grauschattierungen übertragen.Der Lecker krabbelte aus dem Erfassungsbereich der Ka-mera und hinterließ eine Spur aus klebriger Flüssigkeit. Dank

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des T-Virus waren sämtliche Reptilienreihen effiziente Killer,auch wenn die 3er Designmängel aufwiesen - das hervortre-tende Zerebrum war der offensichtlichste, aber sie hattenauch einen geradezu lächerlich hohen Stoffwechsel; sie sattzu bekommen war ein ständiges Problem gewesen.Nicht mehr. Jetzt gibt es jede Menge Aas - und zu ihremGlück winkt ihnen bald ein warmes Abendessen ...Annette fühlte sich aller Energie beraubt und wollte nichtwieder hinaus in die Einrichtung - aber sie konnte nicht ein-fach nur darauf hoffen, dass William an einer der funktionie-renden Kameras vorbeikommen würde. Sie hatte ihn obenauf Ebene drei gehört, vor zwei Tagen, ihn zuvor jedoch fastdoppelt so lange nicht gesehen. Sie konnte nicht mehr war-ten. Die Leute von Umbrella waren vermutlich schon dabei,sich einen Weg hier herein zu verschaffen - es noch Möglich-keiten, die Türen zu passieren ...Und William könnte auch einen Weg nach draujien gefun-den haben. Ich kann es nicht mehr leugnen, ganz gleich, wiesehr ich es möchte.Westlich des Labors gab es eine leerstehende Versandfirma,die Umbrella aufgekauft hatte, um sicherzustellen, dass die un-terirdischen Ebenen geheim blieben. So hatte Umbrella denKomplex überhaupt erst bauen können, ohne Verdacht zu erre-gen: Ausrüstung und Materialien waren in den Lagerhäuserndieser Fabrik versteckt und der schwere Maschinenlift zumTransport benutzt worden. Obwohl die Zugänge zu der Firmanach wie vor versiegelt gewesen waren, als Annette zum letz-ten Mal nachgeschaut hatte, bestand doch eine geringe Chan-ce, dass William durchgekommen war - und wenn er erst in dieFabrik gelangte, konnte er es auch in die Kanalisation schaffen.Annette zwang sich zum Aufstehen und ignorierte dieKrämpfe in Beinen und Rücken, während sie die Waffe von

der Konsole nahm. Sie kannte sich nicht sonderlich mit Waf-fen aus, hatte aber schnell herausgefunden, wie man eine be-nutzte, nachdem -- nachdem sie gekommen waren, um das G-Virus zu holen,die Männer mit den Gasmasken, die schössen und rannten -und William, der arme William, der in einer Blutlache starb,und ich sah die Spritze nicht, bis es zu spät war.Sie nahm einen tiefen, bebenden Atemzug, versuchte, dieschreckliche Erinnerung zu verdrängen, versuchte, den Zwi-schenfall zu vergessen, der ihr William genommen und Rac-coon in eine Stadt der Toten verwandelt hatte. Es kam nichtmehr darauf an. Der vor ihr liegende Weg würde kein angeneh-mer sein, und sie musste sich konzentrieren. Entflohene Re3er,

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im Erst- und Zweitstadium infizierte Menschen, die botani-schen Experimente, die Arachniden-Reihe - sie konnte jederArt von T-Virus-Trägern über den Weg laufen, ganz zu schwei-gen von den Leuten, die Umbrella geschickt haben mochte.Und William. Mein Mann, mein Geliebter - der erstemenschliche G-Virus-Träger, der nicht mehr wirklich mensch-lich ist...Sie hatte sich geirrt, als sie dachte, sie hätte keine Tränenmehr in sich. Annette stand inmitten des großen, sterilenRaumes, fünf Etagen unter der Oberfläche von Raccoon, undweinte in quälenden Schluchzern, die das Leid ihrer Einsam-keit nicht einmal annähernd zum Ausdruck bringen konnten.Umbrella würde büßen. Sobald sie wusste, dass Williamvor dem Zugriff des Konzerns sicher war, würde sie Umbrel-las ach so teure Einrichtung zerstören. Sie würde das G-Virusnehmen und fliehen, sie würde dafür sorgen, dass sie verstan-den, wie groß der Mist war, den sie gebaut hatten - und zurHölle mit jedem, der sie aufzuhalten versuchte.

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SiebzehnAda stürmte unmittelbar hinter Leon in den Zellenblock - ge-rade rechtzeitig, um den Reporter aus seinem Käfig heraustaumeln und zu Boden fallen zu sehen. „Helfen Sie ihm!",rief Leon und rannte an Bertolucci vorbei, um die Zelle zuüberprüfen. Ada blieb vor dem schwer atmenden Reporterstehen, ignorierte jedoch Leons Befehl und wartete statt des-sen ab, ob was auch immer zu Bertolucci vorgedrungen waraus der offenen Zelle springen würde.Er befand sich hinter Gittern, wie konnte es dazu nur kom-men?Ada hielt die Waffe in Leons Richtung, der vor der offenenZelle stand. Ihr Herz hämmerte, und dann sah sie die Bestür-zung und die unverhohlene Verblüffung auf Leons jungenhaf-tem Gesicht. Die Art und Weise, wie er seinen Blick durchdie Zelle schweifen ließ, verriet ihr, dass sie leer war - oderder Angreifer war unsichtbar ...Unmöglich. Fang nicht mal an, so was zu denken, lass dichnicht völlig irre machen!Ada kniete neben dem Reporter nieder und stellte sofortfest, dass er in übler Verfassung war - dem Tode geweiht. Erhatte sich in halb sitzender Position hingekauert, den Kopfgegen das Gitter der Nachbarzelle gelehnt. Er atmete noch,aber sehr mühsam. Ada hatte diesen Ausdruck schon bei an-

deren gesehen, diesen in die Ferne gerichteten Blick und dasZittern, die Blässe - bezüglich des Warum tappte sie jedochvöllig im Dunkeln, und das ängstigte sie. Es gab keine Wun-den. Es musste sich um einen Herzinfarkt handeln, vielleichtum einen Schlaganfall ...... aber dieser Schrei!„Ben? Ben, was ist passiert?"Sein flackernder Blick heftete sich an ihr Gesicht, und siesah, dass seine Mundwinkel aufgeplatzt waren, bluteten. Eröffnete den Mund, um zu sprechen, aber alles, was heraus-kam, war ein rasselndes, unverständliches Krächzen.Leon ging neben ihnen in die Hocke. Er schaute so verwirrtdrein, wie Ada sich fühlte, und beantwortete ihre unausge-sprochene Frage mit einem Kopfschütteln - Offenbar gab eskeinen Hinweis darauf, was hier geschehen war.Ada sah zu Bertolucci hinab und versuchte es noch einmal.„Was war los, Ben? Können Sie uns sagen, was passiert ist?"Die zitternde Hand des Reporters kroch an seinem Körperhoch und blieb auf seiner Brust liegen. Mit sichtlicher An-strengung schaffte er es, ein einziges Wort zu flüstern.

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„... Fenster ..."Ada war alles andere als beruhigt. Das „Fenster" der Zellemaß kaum dreißig Zentimeter in der Diagonale, etwa fünf-zehn in der Breite, und es befand sich fast zweieinhalb Meterüber dem Boden; es war nicht mehr als ein Lüftungsloch, daszur Tiefgarage hinauswies. Da konnte nichts hereingekom-men sein - jedenfalls nichts, von dem sie gehört oder gelesenhatte, und das hieß, dass es hier Gefahren gab, gegen die sienicht gewappnet war.Bertolucci versuchte immer noch zu sprechen. Sowohl Adaals auch Leon lehnten sich weiter vor, bemühten sich, seinschmerzvolles Flüstern zu verstehen.

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„... Brust. Brennt, es ... brennt ..."Ada entspannte sich ein klein wenig. Er hatte etwas gese-hen oder gehört, draußen vor der Zelle, etwas, das massiveHerzprobleme bei ihm ausgelöst hatte - das konnte sie akzep-tieren. Übel für den Journalisten, aber immerhin ersparte esihr die Mühe, ihn eigenhändig zu töten ...Plötzlich packte er ihren Unterarm und starrte mit einer In-tensität zu ihr empor, die sie überraschte. Sein Griff warschwach, doch in seinen feuchten Augen stand Verzweif-lung - Verzweiflung und etwas wie enttäuschtes Leid, einAusdruck, der mehr als nur ein wenig Schuldgefühl in ihrauslöste nach dem, was sie gerade gedacht hatte.„Ich habe nie etwas ... über Irons gesagt", keuchte er, sichregelrecht am Leben festklammernd, um noch alles formulie-ren zu können, was er wusste. „Er - arbeitet für Umbrella ...die ganze Zeit schon. Die Zombies - sind Umbrella ... For-schung ... und er vertuschte die Morde, aber ich konnte -nicht alles beweisen, und ... sollte meine ... Exklusivstorysein ..."Bertolucci schloss seine bläulichen Augenlider und atmeteflach. Seine Finger glitten von Adas Arm, und sie empfandeinen Anflug von Mitleid für ihn. Dieser arme, dumme Trot-tel - sein großes Geheimnis hatte darin bestanden, dass Um-brella sich mit Biowaffen befasste und Irons auf der Schmier-geldliste des Unternehmens stand. Das wäre durchaus einKnüller gewesen, aber offenbar hatte er es nicht geschafft, ir-gendwelche handfesten Beweise zu sammeln.Er weiß einen Scheißdreck über das G-Virus, hat nie etwasdarüber gewusst - und er wird trotzdem sterben. Wenn daskeine Ironie des Schicksals ist...„Jesus", sagte Leon leise. „Chief Irons ..."Ada hatte ganz vergessen, wie ahnungslos der junge Cop

war. Er war offenbar neu, aber ein paar Mal war er ihr soscharfsinnig erschienen, dass es sie ehrlich verblüfft hatte.Der Junge war nicht nur ein „Testosteron-Behälter", er hattedefinitiv auch etwas im Oberstübchen!Hör schon auf damit, er ist nicht viel jünger als du. Der Re-porter steht kurz davor, ins Gras zu beißen, und du musst dichauf den Weg machen, anstatt dich um Officer Freundlich zusorgen.Bertolucci verkrampfte plötzlich, seine Hände krallten sichin seine Brust, er stöhnte - ein scharfer, gequälter Schrei, ausAgonie geboren. Sein Rücken krümmte sich, seine Finger bo-gen sich wie Klauen -- und das Stöhnen verwandelte sich in etwas Flüssiges, als

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ihm Blut aus dem Mund strömte. Bertolucci würgte und zit-terte, seine Glieder zuckten wie wild, mit jedem quälendenHusten sprühten rote Tröpfchen hervor -- und Ada sah, wie etwas Rotes auf seinem zerknittertenweißen Hemd erblühte, unter seinen verkrampften Händen,sie hörte das dumpfe, feuchte Knacken brechender Knochen.Sie sprang zurück, während Leon nach den Händen des Re-porters fasste. Sie war nicht sicher, was hier passierte, aberwas sie definitiv wusste, war, dass dies hier keine Folge einesHerzinfarkts war -- Grundgütiger Himmel, was IST das?Übergangslos erschlaffte Bertolucci, seine Augen rolltennach hinten. Er starrte blicklos ins Nichts. Noch immer quollBlut über seine aufgesprungenen Lippen, und erneut gab esein Geräusch, das unvergleichliche Geräusch von Fleisch, daszerfetzt wurde - und unter dem fleckigen Stoff seines Hem-des bewegte sich etwas.„Zurück!", rief Ada, die Beretta auf den toten Reporter ge-richtet, und in dem Sekundenbruchteil, den sie zum Zielen

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brauchte, brach ein Ding aus Bertoluccis blutiger Brust her-vor. Ein Ding von der Größe einer Männerfaust, ein blutver-schmiertes Ding, in dem sich ein schwarzes Loch zum Maulöffnete, das schrill quietschte und scharfe, rote Zahnstummelentblößte. Es wand sich mit einem peitschenden Manta-schwanz aus dem Leichnam, bespritzte den kalten Beton mitFetzen weißen Gewebes und Eingeweide.Mit dem Schwanz gegen das erkaltende Fleisch des Repor-ters schlagend, schoss es in einem Schwall von Blut aus demKörper und fiel zu Boden, wo es pfeilschnell auf die offeneTür zum Gang zuraste, angetrieben von seinem schlängeln-den Schwanz und Beinen, die Ada nicht sehen konnte. Eshinterließ eine rote Schmierspur.Noch ehe sie sich der Waffe in ihrer Hand besann, war dasDing bereits zur Tür hinaus. Zum ersten Mal, seit sie nachRaccoon gekommen war, zum ersten Mal überhaupt war sieso total schockiert gewesen, dass sie nicht daran gedacht hat-te zu reagieren. Ein Parasit, der aus einer Brust platzte, wiegeradewegs einem Science-Fiction-Film entsprungen ...„War das - hast du gesehen -?", stammelte Leon atemlos.„Ich hab's gesehen", unterbrach Ada ihn leise. Sie wandtesich um und sah zu Bertolucci hinunter, in sein Gesicht, daserstarrt war in einer blutigen Grimasse des Schmerzes. Undsie dachte: O mein Gott, seine Kiefer sind aus dem Gelenkgebrochen ...! Und ihr Blick wanderte weiter zu der klaffen-den, nassen Höhlung unterhalb seines Brustbeins.Die Kreatur war ihm eingesetzt worden - von wem oderwas, wusste Ada nicht, und sie wollte es auch nicht wissen.Was sie wollte, war, diese Mission zu Ende bringen, soschnell wie möglich, und dann Raccoon so weit hinter sich zubringen, wie es nur ging. Tatsächlich glaubte sie, dass sienoch nie etwas so sehr gewollt hatte. Als ihr klar geworden

war, dass es hier einen T-Virus-Zwischenfall gegeben hatte,hatte sie damit gerechnet, dass sie es mit ein paar absonder-lichen Organismen zu tun bekommen würde. Aber der Ge-danke, dass ihr einer davon in den Rachen gestopft werdenkönnte und sich wie ein schleimiger, abnormer Fötus in ihreinnistete, bevor er sich seinen Weg wieder aus ihr heraus-fraß ... wenn das nicht das Entsetzlichste war, das sie sichüberhaupt ausmalen konnte, dann kam es doch zumindestganz dicht dahinter.Sie schaute zu Leon hin und gab jeden Vorwand auf zu ver-suchen, überlegt zu handeln. Sie würde zum Labor gehen,und dieser Entschluss stand nicht zur Diskussion!„Ich hau hier ab", sagte sie und ohne auf eine Erwiderung

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zu warten, drehte sie sich um und schritt eilends auf die Türzu, wobei sie sorgsam darauf achtete, nicht in die Spur zu tre-ten, die das winzige Monster hinterlassen hatte.„Warte! Hör mir doch zu, ich glaube - Ada? Hey ...!"Sie trat auf den Korridor hinaus, die Waffe erhoben, dochdie Kreatur war verschwunden. Die blutige Spur verlor sichnoch vor der Hälfte des Ganges - aber Ada sah, dass sie dieTür zum Zwinger offen gelassen hatten -- und der Schacht ist auch offen. Großartig.Leon holte sie schon nach ein paar Schritten ein. Er standvor ihr, verstellte ihr den Weg, und für einen Augenblickdachte Ada, er würde versuchen, sie gewaltsam aufzuhalten.Tu 's nicht. Ich will dich nicht verletzen, aber ich werde estun, wenn du mich dazu zwingst.„Ada, geh nicht", sagte Leon; es war kein Befehl, sonderneine Bitte. „Ich - als ich in Raccoon ankam, traf ich auf diesesMädchen, und ich glaube, sie ist irgendwo im Revier. Wenndu mir hilfst, sie zu finden, könnten wir alle drei zusammenverschwinden. Wir hätten eine viel bessere Chance ..."

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„Tut mir Leid, Leon, aber das ist ein gottverdammt freiesLand. Tu, was du tun musst, viel Glück dabei - aber ich blei-be nicht hier. Ich hab genug. Wenn -falls ich hinaus komme,werde ich Hilfe schicken."Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen, hoffte, dass es nichtzu einer Auseinandersetzung kommen würde, und wünschte,sie hätte ihm sagen können, dass er ihr nicht in die Querekommen solle. Und wie gefährlich es für ihn wäre, es auchnur zu versuchen. Doch da überraschte Leon sie abermals.„Dann begleite ich dich", erklärte er. Er hielt ihrem Blickstand, eisern, ohne zu blinzeln - und doch voller Angst. „Ichlass dich das nicht allein tun. Ich will nicht, dass noch je-mand ... Himmel, ich will nicht, dass dir etwas zustößt!"Ada starrte ihn an, war nicht sicher, was sie sagen sollte.Jetzt, da Bertolucci tot war, wollte sie Leon in der Kanalisa-tion nicht abhängen müssen; es würde zwar nicht schwierigsein in Anbetracht der Ausdehnung des Netzes ... aber er wareinfach so gottverdammt nett, so wild entschlossen zu helfen,dass sie es gehasst hätte, ihm etwas Schlimmes antun zu müs-sen. Die Sache wäre viel einfacher gewesen, wenn er schlichtein Arschloch mit Macho-Allüren gewesen wäre, aber so ...Okay, gib deine Tarnung auf. Erzähl ihm, dass du eine Pri-vat-Agentin bist, deren Job es ist, das G-Virus zu stehlen, unddass du keine Begleitung brauchst. Erzähl ihm, wie erleichtertdu warst, als dir klar wurde, dass der Reporter im Sterben lag,oder dass du kein Problem mit dem Töten hast, wenn es für ei-nen guten Zweck ist - wenn du dafür bezahlt wirst beispiels-weise. Mal sehen, wie nett und hilfsbereit er dann noch ist.Das kam natürlich nicht in Frage, ebenso wenig wie derVersuch, ihm auszureden, mit ihr zu kommen; es würde kei-nen Sinn haben. Und ein Teil von ihr, ein Teil, den sie sichnicht eingestehen wollte, hatte es satt, allein zu sein. Der An-

blick dieses Dings, das aus Bertolucci herausgeplatzt war,hatte sie erschüttert, hatte ihr das Gefühl vermittelt, dass sienicht so unverwundbar war, wie sie gerne glaubte.Also lass ihn mitkommen, geh zum Labor und finde dort einsicheres Plätzchen, wo du ihn zurücklassen kannst.Leon sah sie aufmerksam an, wartete auf ihre Zustimmung.„Gehen wir", sagte sie, und das Grinsen, das er ihr schenkte,ließ sie sich, obwohl es gewinnend war, noch unbehaglicherfühlen.Ohne ein weiteres Wort gingen sie in Richtung des Zwin-gers. Ada fragte sich, was zum Teufel sie hier tat - und ob sienoch imstande sein würde zu tun, was immer auch getan wer-den musste, um ihren Job zu erledigen.

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Claire stand vor der altertümlichen Tür am Ende des dunklen,verliesähnlichen Ganges, in den der Aufzug sie gebracht hat-te. Im Revier war es schon unangenehm gewesen, aber gegendie klamme Kälte dieses steinernen Ganges hatten im Reviergeradezu sommerliche Verhältnisse geherrscht. Es war, alssei sie in ein mittelalterliches Spukschloss hinabgestiegen.Sie holte tief Luft und überlegte, wie sie hineingehen sollte.Sie war ziemlich sicher, dass Irons von einem Überraschungs-besuch nicht angetan sein würde, aber der Gedanke, anzu-klopfen, erschien Claire albern - und gefährlich obendrein. InHalterungen zu beiden Seiten der schweren Holztür branntenFackeln, die Tür selbst war mit rostigen Metallbändern be-schlagen - und hätte sie zuvor noch den geringsten Zweifeldaran gehabt, dass Irons verrückt war, hätten der Anblick derbeiden flackernden Fackeln und das Gefühl kalter, lautloserAngst, das den Gang erfüllte, ihre Unsicherheit ausgeräumt.Ein Geheimgang, ein verborgener, gespenstisch beleuchte-ter Raum ... Welcher normale Mensch würde sich hier unten

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auflialten wollen? Es war nicht die Katastrophe - Irons mussschon lange vor dem Umbrella-Unfall durchgeknallt gewesensein ...Eine weitere Gewissheit, obwohl sie keinerlei Beweise dafürhatte - aber als Sherry ihr erzählt hatte, womit ihre Eltern ihrenLebensunterhalt verdienten und was vor ihrer Ankunft auf demRevier geschehen war, hatte es klick in ihr gemacht. Umbrellahantierte mit Krankheitserregern, und die Einwohnerschaftvon Raccoon war unbestreitbar an irgendetwas sehr schlimmerkrankt. Es musste einen Unfall gegeben haben, einen Aus-bruch, der diese seltsame Zombie-Pest freigesetzt hatte ...Schluss mit den Ausflüchten!Claire nagte an ihrer Lippe, nicht sicher, was sie tun sollte.Sie bezweifelte nicht, dass Irons irgendwo hier unten war,und sie wollte ihm nicht noch einmal über den Weg laufen.Vielleicht sollte sie wieder nach oben, Sherry holen und nacheinem anderen Ausweg suchen. Nur weil dieser Bereich ge-heim war, hieß das nicht, dass er eine Fluchtmöglichkeit bot.Du schindest immer noch Zeit, und Sherry ist dort obenganz allein. Und du hast eine Waffe, schon vergessen?Eine Waffe mit sehr wenig Munition. Wenn das hier Irons'Versteck war, dann bewahrte er hier vielleicht Waffen auf ...oder möglicherweise war es auch nur ein weiterer Gang, dertiefer in die Katakomben des Reviers hineinführte. Wie auchimmer, nur hier herumzustehen und sich Fragen zu stellen,würde sie nicht weiterbringen.Claire legte die Hand auf den Riegel, atmete noch einmaltief ein, und schob ihn zurück. Die schwere Tür schwanglangsam und in gut geölten Scharnieren auf. Claire trat zu-rück, hob die Waffe und -Jesus Christus!Ein leerer Raum, so nasskalt und abweisend wie der Gang

- aber mit einer Ausstattung, die Claire eine Gänsehaut ver-ursachte. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und be-leuchtete den unheimlichsten Raum, den sie je gesehen hatte.In der Mitte stand ein Tisch, fleckig und verschrammt, da-rauf lagen eine Handsäge und andere Schneidewerkzeuge;ein verbeulter Metalleimer und ein Mopp lehnten an einerfeuchtglänzenden Wand neben einer tragbaren Wanne mit ge-trockneten roten Flecken; Regale, die mit staubigen Flaschengefüllt waren - und etwas, das wie menschliche Knochenaussah, poliert und bleich, aufgereiht wie makabre Trophäen.All das und der Geruch - ein schwerer, chemischer Gestank,scharf und sauer, der nur einen noch abseitigeren Geruchüberdeckte - einen Geruch wie destillierter Wahnsinn ...

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Nur in den Raum hineinzuschauen, verursachte Claire be-reits Übelkeit. „Durchgeknallt" war womöglich die Untertrei-bung des Jahres, um den Polizeichef zu beschreiben - aber eswar niemand da, und das bedeutete, dass es irgendwo hierdrinnen einen weiteren Geheimgang geben konnte. Zumin-dest nach Waffen musste sie suchen.Claire schluckte und betrat den Raum, froh, dass sie Sherrynicht mitgenommen hatte. Der Anblick dieser privaten klei-nen Folterkammer würde schon ihr Albträume bescheren, einKind durfte man diesem Szenario tunlichst nicht aussetzen -„Keine Bewegung, kleines Mädchen, oder ich erschießedich auf der Stelle!"Claire erstarrte. Jeder Muskel in ihrem Körper erstarrte, alsIrons hinter ihr zu lachen begann - hinter der Tür, wo sie ver-gessen hatte, nachzuschauen.O mein Gott, o Gott, o Sherry, es tut mir so Leid...Irons tiefes Glucksen steigerte sich ins lautstarke hämischeGelächter eines Irren, und Claire begriff, dass sie sterbenwürde.

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AC HT ZE H NLeon versuchte, nicht zu tief Luft zu holen, als er das untereEnde der Metallleiter erreichte, sich umdrehte und mit derMagnum ins dichte Dunkel zielte. Trübes Wasser schwappteüber seine Stiefel, und als sich seine Augen an das schwacheLicht gewöhnt hatten, entdeckte er die Quelle des furchtbarenGestanks.Teile davon jedenfalls ...Der unterirdische Tunnel, der sich vor ihm erstreckte, warmit Leichenteilen übersät, menschlichen Leichen, die in Stü-cke gerissen worden waren. Glieder, Köpfe und Torsos lagenwie wahllos hingestreut in dem steinernen Gang, plätscherndumspült von den wenigen Zentimetern dunklen Wassers, dieden Boden bedeckten.„Leon? Wie sieht's aus?" Adas Stimme drang aus demLichtkreis über der Leiter herab und echote hallend um ihnher. Leon antwortete nicht, sein schockierter Blick war aufdie schreckliche Szenerie fixiert, sein Gehirn versuchte, dieeinzelnen Teile aufzuaddieren, um auf eine Gesamtzahl zukommen.Wie viele? Wie viele Menschen waren das einmal?Zu viele, um sie zu zählen. Er sah einen Kopf ohne Ge-sicht, vom langen Haar wie von einer Wolke umflort. Denenthaupteten Rumpf einer dicken Frau, eine Brust schaukelte

auf der gekräuselten Schwärze. Einen Arm, der in die Fetzeneiner Polizeiuniform gehüllt war. Ein nacktes Bein, am Fußnoch ein Turnschuh. Eine gekrümmte Hand, die Finger glit-schig und weiß.Ein Dutzend? Zwanzig?„Leon?" Adas Ton hatte sich verschärft.„Es - es scheint alles okay zu sein", rief er, um einen festenKlang seiner Stimme bemüht. „Es bewegt sich nichts."„Ich komme runter."Er trat von der Leiter weg, um ihr Platz zu machen, und er-innerte sich an etwas, das sie zuvor gesagt hatte, etwas überLeichen, die heruntergeworfen worden waren ...Ada trat von der untersten Sprosse in den finsteren Tunnel,ihre Füße platschten in das trübe Wasser. Leons Augen hattensich hinreichend auf die Lichtverhältnisse eingestellt, so dasser den angeekelten Ausdruck über ihr Gesicht huschen sehenkonnte - Ekel und etwas wie Traurigkeit.„In der Garage gab es einen Angriff", sagte sie leise. „Vier-zehn oder fünfzehn Menschen kamen dabei um ..."Sie verstummte, runzelte die Stirn und trat einen Schritt an

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ihm vorbei, um einen genaueren Blick auf die abgetrenntenund verstümmelten Überreste zu werfen. Als sie weiter-sprach, klang sie besorgt.„Ich habe den Angriff nicht gesehen, aber ich glaube nicht,dass die Opfer derart verstümmelt wurden."Sie schaute nach oben, ließ den Blick über die Tunneldeckestreifen und umfasste ihre Neunmillimeter fester. Leon folgteihrem Blick, sah aber nur algenbewachsenen Stein. Adaschüttelte den Kopf und schaute wieder hinab auf die trägeplätschernde See aus zerrissenen Leibern.„Das waren nicht die - Zombies. Etwas hat sich an diesenMenschen vergangen, nachdem sie tot waren."

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Leon spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann.Das war ungefähr das Letzte, was er hören wollte, während erin dieser feuchten, stinkenden Finsternis stand, umgeben vonLeichenteilen.„Dann ist es also nicht sicher hier unten. Wir sollten um-kehren und -"Ada ging los, watete zwischen den ineinander verheddertenGliedmaßen hindurch, und das schwappende Geräusch ihrervorsichtigen Bewegungen klang überlaut in der ansonstenherrschenden Stille.Verdammt, ignoriert sie eigentlich jeden, oder macht siedas nur mit mir so?Darauf achtend, wo er hintrat, folgte Leon ihr und strecktedie Hand aus, um sie an der Schulter zu fassen. „Lass michwenigstens voraus gehen, okay?"„Schön", sagte sie, wobei sie sich fast, aber nicht ganz ver-ärgert anhörte. „Geh voraus."Er trat vor sie, und sie gingen weiter. Leon versuchte, seineAufmerksamkeit zwischen der vor ihm liegenden Dunkelheitund den glitschigen Fleischfetzen und Knochen zu seinenFüßen aufzuteilen. Direkt vor ihm machte der Tunnel eineRechtsbiegung, und die ölige Oberfläche des Wassers reflek-tierte etwas Licht. Hier lagen auch weniger Leichenteile he-rum.Leon hielt inne, um die Remington von der Schulter zunehmen und zu überprüfen, ob sich eine Patrone in der Kam-mer befand. Was immer sich an den Toten vergangen hatte,schien sich nicht in der Nähe aufzuhalten, aber er wollte nichtunvorbereitet sein für den Fall, dass es zurückkam.Ada wartete, ohne etwas zu sagen, doch er konnte ihre Un-geduld spüren - nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob hinterihrer Geschichte mehr steckte, als sie ihm erzählt hatte. Er190fürchtete sich, außerdem fror er, er war müde, und er hatteAngst um Claire, die vielleicht immer noch im Revier umher-streifte - er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war;aber er hatte Ada nicht ruhigen Gewissens allein einer poten-tiellen Gefahr entgegenspazieren lassen können.Ada hingegen ... sie war ruhig und beherrscht wie ein alt-gedienter Soldat, ließ sich nichts anmerken außer einer Artgereiztem Eifer, weiterzumachen - und wenn sie seine Ge-genwart überhaupt begrüßte, gab sie sich alle Mühe, diesnicht zu zeigen. Es war nicht so, dass er ihre Dankbarkeitbrauchte oder wollte ...... aber wären die meisten Menschen nicht froh, einen Copdabei zu haben? Auch wenn es sich um ein Greenhorn wie

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mich handelt?Vielleicht nicht, und es war weder die Zeit noch der Ort,um Fragen zu stellen. Leon rief sich innerlich zur Räson undsetzte sich wieder in Bewegung, trat vorsichtig über ein zer-kautes Stück Fleisch hinweg, das er nicht zu identifizierenvermochte.„Halt!", flüsterte Ada scharf. „Horch!"Leon spannte sich, die Remington in der einen, die Mag-num in der anderen Hand. Er legte den Kopf schief, um zulauschen, aber er vernahm nur ein fernes, hallendes Tropfenvon Wasser -- und ein leises Pochen. Ein schnelles, aber zielloses Ge-räusch, wie gepolsterte Hämmer auf einer gepolsterten Ober-fläche. Was es auch sein mochte, es kam näher, kam auf siezu, von dort, wo der Tunnel vor ihnen nach rechts abbog.Warum platscht es nicht, warum hören wir kein Wasser -?Leon wich einen Schritt zurück, hob beide Waffen etwas an,entsann sich, wie Ada zuvor zur Decke hochgeschaut hatte -- und sah es, sah es und spürte, wie sein Herz mitten im

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Schlag aussetzte. Eine Spinne von der Größe eines Dober-manns jagte auf halber Höhe der Innenwand über das feuchteGestein, und ihre borstigen, haarigen Beine verursachtenklopfende Geräusche -Unmöglich!- und dann wurde rechts neben ihm eine Folge ohrenbetäu-bender Explosionen laut.Bamm-bamm-bamm-bamm!Das Mündungsfeuer von Adas Beretta tauchte den hölli-schen Tunnel in stroboskopartiges Licht. Die dröhnendenEchos rollten durchs Dunkel, während der riesenhafte, un-mögliche Arachnide von der Wand ins tintige Wasser fiel.Das Wesen kroch auf sie zu, war verletzt, zog zwei seiner vie-len Beine nach, dunkle Flüssigkeiten rannen aus seinemrundlichen, grotesken Leib. Es schleppte sich über einen ab-getrennten Kopf, und der verstümmelte Schädel rollte unterdem geschwollenen, pulsierenden Leib wieder hervor. Leonkonnte die glänzenden schwarzen Augen des Untiers sehen,jedes so groß wie ein Tischtennisball, und er drückte den Ab-zug der Remington, fühlte nicht einmal den Rückstoß desdonnernden Schusses, war ganz und gar auf diesen unfassba-ren Arachniden fokussiert.Die Kugel traf voll, zerriss die alienhafte Fratze in tausendfeuchte Fetzen. Die Spinne vollführte einen Rückwärtssalto,schlitterte in aufspritzendem Wasser nach hinten, die dickenBeine zitterten und krümmten sich über dem pelzigen Leib.Leons Ohren klingelten, sein Herz hämmerte. Er lud eineweitere Patrone in die Kammer. Sein Verstand wollte ihm ein-reden, dass er nicht gerade eine Spinne von dieser Größe um-geblasen hatte - es war physikalisch unmöglich, es konntenicht sein, weil so ein Wesen unter seinem eigenen Gewichtzusammenbrechen würde, aber ...

Ada drängte sich an ihm vorbei, rannte voraus, rief ihm zuihm: „Komm schon, es könnten noch mehr von der Sorte auf-kreuzen!"Leon folgte ihr. Adas verwegenes Verhalten zwang ihn, seinEntsetzen zurückzustellen. Er sprintete durch die Dunkelheitund sprang über die sanft schaukelnden Fleischbrocken hin-weg, vorbei an der toten Spinne, die es in jener Realität, dieer vor Raccoon gekannt hatte, nie gegeben hätte.„Lass deine Waffe fallen", befahl Irons, und die junge Fraugehorchte nach einer Sekunde des Zögerns. Die Browningklapperte zu Boden, und Irons musste dem Drang, abermalsaufzulachen, widerstehen. Er konnte kaum fassen, wie dummsie sich verhielt. Die Umbrella-Killerin war offenbar arrogant

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geworden, so wie sie in sein Sanktuarium spaziert war, alsgehörte es ihr - und wegen ihrer Blasiertheit und Selbstgefäl-ligkeit hatte sie das Spiel verloren.„Dreh dich um, langsam - und lass deine Hände, wo ich siesehen kann", verlangte er, immer noch grinsend. Oh, was fürein glorreich leichter Sieg! Umbrella hatte ihn zum letztenMal unterschätzt.Wiederum tat das Mädchen, was er verlangte, wandte sichlangsam um, die Hände leer und offen. Ihr Gesichtsausdruckwar unbezahlbar, ihre adlerhaften Züge zu einer Maske derAngst und des Erschreckens erstarrt. Das hatte sie nicht er-wartet, sie hatte geglaubt, es sei ein einfacher Job, Brian Ironsauszuschalten. Schließlich war er ein gebrochener Mann, einSchatten seines früheren Selbst, seiner Stadt, seines Lebensberaubt ...„Hast dich geirrt, nicht wahr?", sagte er und spürte, wie dieSituation ihren Humor verlor, spürte, wie sich der Zorn wie-der rührte. Er hielt die VP70 weiterhin auf ihr lächerlich jun-

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ges Gesicht gerichtet; es war beleidigend, dass sie ein Kindhergeschickt hatten, damit es die Dreckarbeit für sie erledig-te. Auch wenn es so ein schönes Kind war ...„Beruhigen Sie sich, Chief Irons", sagte sie, und selbst inseiner Wut gefiel es ihm, die Anstrengung in ihrer sinnli-chen Stimme zu hören, die Furcht hinter ihrem sinnlosen Fle-hen. Er würde es genießen, mehr noch als er es angenommenhatte.Aber zuerst ein paar Antworten.„Wer hat dich geschickt? War es Coleman vom Hauptquar-tier? Oder kamen deine Befehle von höherer Stelle ... ausdem Vorstand vielleicht? Es hat keinen Sinn mehr, mir etwasvorzulügen."Die mädchenhafte Frau starrte ihn an, die Augen in vorge-täuschter Verwirrung geweitet. „Ich - ich weiß nicht, wovonSie reden. Bitte, das ist ein Irrtum ..."„O ja, hier liegt sogar ganz bestimmt ein Irrtum vor",zischte Irons, „aber den hast du begangen. Wie lange hat Um-brella mich beobachtet? Wie lauten deine Befehle genau -solltest du mich auf der Stelle umbringen, oder wollte Um-brella mich erst noch ein bisschen leiden sehen?"Sie antwortete nicht gleich, überlegte offensichtlich, wieviel sie ihm erzählen sollte. Sie war gut, ihr Ausdruck immernoch sorgsam arrangiert, um lediglich verwirrte Angst zu zei-gen, aber er durchschaute sie.Sie ist gefangen, sie muss wissen, dass ich sie nicht am Le-ben lassen werde, und sie will die Wahrheit trotzdem verheim-lichen, selbst jetzt noch. Jung, aber gut gezogen.„Ich kam nach Raccoon, um meinen Bruder zu suchen",sagte sie langsam, den Blick ihrer großen grauen Augen aufdie Waffe geheftet. „Er gehörte zur S.T.A.R.S.-Organisa-tion, und ich -"„S.T.A.R.S.? Etwas Besseres fällt dir nicht ein?" Ironslachte bitter auf und schüttelte den Kopf. Die in Raccoon be-findlichen S.T. A. R. S.-Leute hatten sich verdrückt, lange be-vor alles zum Teufel gegangen war - und seinen letzten Infor-mationen zufolge hatte Umbrella die Organisation längst fürdie Zwecke der Firma eingespannt und arbeitete daran, dieje-nigen zu eliminieren, die sich nicht bekehren lassen wollten.Als eine zur Tarnung erfundene Story taugte das, was ihm dasMädchen da auftischen wollte, nicht einmal ansatzweise.Aber da ist etwas an ihr ...Aus zusammengekniffenen Augen musterte er ihr blasses,ängstliches Gesicht. „Und wer soll dein Bruder sein?"„Chris Redfield, Sie kennen ihn - ich bin Claire, seineSchwester. Ich weiß nichts über das, was Umbrella getan hat.

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und ich wurde nicht hergeschickt, um Sie umzubringen." Siesprach schnell, trug ihre Geschichte vor, ohne zu stocken.Sie sah wie Redfield aus, um die Augen herum jedenfalls ...warum sie allerdings dachte, dass ihr diese Verbindung helfenkönnte, war Irons ein Rätsel. Redfield war ein aufgeblasener,respektloser Emporkömmling, der sich ihm mehrere Maleunverhohlen widersetzt hatte; genau gesagt -„Redfield arbeitete für Umbrella, stimmt's?" Laut ausge-sprochen konnte Irons regelrecht sehen, dass es die Wahrheitwar - und sein Zorn schwoll einer roten Flut gleich an, eineätzende Hitze spülte durch seine Adern und weckte Übelkeitin ihm.Selbst meine eigenen Leute, die ganze Zeit über. Verräteri-sche Umbrella-Marionetten.„Das Spencer-Anwesen, die Anschuldigungen gegen Um-brella ... es war alles inszeniert, sie ließen ihn Staub aufwir-beln, um - um mich abzulenken, damit sie Birkins neues Vi-rus stehlen konnten ..."

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Irons machte einen Schritt auf das Mädchen zu, kaum nochimstande, sich zu beherrschen, den Abzug nicht durchzuzie-hen, entgegen seiner Absicht. Das Mädchen, Claire, wich ei-nen Schritt zurück, hielt die Hände hoch, die Handflächen nachaußen gebogen, wie um seinen gerechten Zorn abzuwehren.„Daher also wussten die S. T. A. R. S.-Typen, wie sie aus derStadt verschwinden konnten", knurrte er. „Man hat sie ge-warnt, damit sie die Stadt vor dem T-Virus-Ausbruch verlas-sen konnten!"Er tat einen weiteren Schritt nach vorne, doch Claire bliebstehen, ihre Augen weiteten sich noch mehr. „Sie meinen,Chris ist nicht hier?"Ihr kleines, hoffnungsvolles Flüstern fachte die rote, flam-mende Hitze, die ihn durchpochte, nur noch mehr an - unddas Gefühl war so mächtig, dass es über Zorn hinaus ging,es bündelte sich zu einem Wunsch auf etwas Brutales undKonkretes. Nicht genug damit, dass er von Umbrella undS.T. A. R. S. betrogen worden war, nicht genug damit, dass ermanipuliert, gequält, gejagt worden war-Nein. Nein, ich muss mich auch noch anlügen lassen vondiesem kleinen Mädchen, einer Spionin, einer Mörderin auseiner Familie von Verrätern. Ein Leben im Dienst am Nächs-ten, ein Leben voller schwer errungener Erfahrungen undAufopferung ... und das ist mein Lohn.„Ein Schlag ins Gesicht", sagte er, seine Stimme so kaltwie diese neue Grausamkeit, die ihn erfüllte und in einen Jä-ger verwandelte. „Behandelst mich wie einen gottverdamm-ten Idioten. Du hast nicht einmal genug Respekt, um anstän-dig zu lügen."Er streckte die Neunmillimeter vor und ging auf Claire zu,jeder Schritt wohl bemessen und bedacht - und diesmal warihre Angst echt, er sah es daran, wie sie nach hinten taumelte,

wie ihre Lippen bebten, wie ihr junger Busen sich auf soköstliche Weise hob und senkte. Sie war entsetzt, versuchte,sich nach einer Waffe umzuschauen und gleichzeitig ihn imAuge zu behalten und ihm zu entkommen, und doch gelangihr nichts von all dem, während er weiter auf sie zu ging.„Ich habe die Macht", sagte er, „dies ist mein Sanktuarium,meine Domäne. Du bist der Eindringling. Du bist der Lügner,du bist das Böse - und ich werde dich lebendig häuten. Ichwerde dich zum Schreien bringen, du Schlampe, du wirst dirwünschen, nie geboren worden zu sein. Was sie dir auch be-zahlt haben, es war nicht genug."Sie drängte sich mit dem Rücken gegen eines der Regale,stolperte über das Bein des Arbeitstisches, stürzte beinahe auf

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die verborgene Falltür in der Ecke. Irons folgte ihr, spürte,wie diese wunderbare, aufregende Macht in ihm kreiste, fühl-te sich erregt von ihrer Hilflosigkeit.„Bitte, Sie wollen das doch gar nicht tun, ich bin nicht die,für die Sie mich halten!"Ihr lächerliches Betteln ließ ihn innehalten und auflachen,weckte in ihm den Wunsch, ihr Entsetzen noch zu schüren,sie wissen zu lassen, dass seine Kontrolle absolut war. Siewar eingekeilt zwischen einem Trophäenregal und der ver-deckten Grube, und Irons blieb in sicherer Distanz, genossden Ausdruck in ihren glitzernden, leuchtenden Augen - diePanik eines in die Enge getriebenen Tieres, ein weiches, war-mes, machtloses Tier mit zartem, nachgiebigem Fleisch ...Irons leckte sich die Lippen, sein gieriger Blick wanderteüber ihre geschmeidige, zarte, ängstlich geduckte Gestalt.Eine weitere Trophäe, ein weiterer Körper, der sich zurUmwandlung anbot ... und es war Zeit, zur Sache zu kom-men, zu -„Kraaackhl"

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Was zum -Das Brett, das den Einstieg zum Keller verdeckte, flog indie Luft, barst mit einem gewaltigen Krachen, und eines dergezackten Trümmer traf Irons an der Hüfte. Er wankte, be-griff nicht - er stand unter Kontrolle, und doch lief etwasganz furchtbar schief...Etwas schlang sich um seinen Knöchel, etwas, das so festzudrückte, dass er hörte, wie der Knochen zermalmt wurde,er fühlte unvorstellbaren, stechenden Schmerz in seinemBein hochschießen -- und sein Blick fing den des Mädchens ein, ihre Augenglommen in neuerlichem Entsetzen, und in diesem Momentdes Kontaktes, da die Klarheit in ihn zurückkehrte, wollte erihr so vieles sagen, wollte ihr sagen, dass er ein guter Menschwar, ein Mann, der nichts verdient hatte von all dem, was ihmzugestoßen war -- doch der schraubstockartige Griff zerrte an ihm, undIrons stürzte, ließ die Waffe fallen, wurde in das Loch gezo-gen, begleitet von Schmerzen und dem Kreischen der Bestie,die dort unten auf ihn wartete.

NeuenzehnIn der einen Sekunde stand Irons noch vor ihr, starrte ihr ent-setzlich leidvoll in die Augen -- und in der nächsten war er verschwunden. In ein Loch imBoden gezerrt von einem Arm, auf den Claire nur einenflüchtigen Blick erhascht hatte, einem muskulösen, triefen-den Arm mit fußlangen Krallen. Er verschwand peitschendaus ihrem Blickfeld und nahm Irons mit sich in die dunkleTiefe.Das Wesen schrie noch einmal, ein mächtiges, kraftvollesHeulen, dessen Lautstärke Irons' entsetztes Kreischen erstgleichkam und dann noch übertraf. Völlig versteinert, konnteClaire nur lauschen. In ihr rangen Schrecken, Erleichterungund Angst um das eigene Leben miteinander, während dieschrecklichen Schreie aus dem offenen Loch heraufdrangenund gegen ihr Gehör hämmerten in diesem kalten, düsterenKerker, den sich Irons eingerichtet hatte ...... bis seine Schreie, nur ein, zwei Sekunden später, in einGurgeln übergingen - und die schlürfenden, schmatzenden,feuchten Laute anschwollen.In Claire kam Bewegung. Sie nahm die Waffe auf, die Ironsfallen lassen hatte, und rannte hinter den Tisch in der Mittedes Raumes. Sie wollte nicht so wie Irons gepackt und fort-gezerrt werden.

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Es hat ihn umgebracht, es hat ihn umgebracht, und er woll-te mich umbringen ...!Die Erkenntnis dessen, was soeben geschehen war, und washätte geschehen können, traf Claire wie ein Hammerschlagund verwandelte ihre Glieder in Gummi. Sie zwang sich,noch ein paar Schritte von der offenen Grube zurückzuwei-chen, sackte dann gegen eine nassschimmernde Steinmauerund sog die sauer riechende Luft in keuchenden Zügen ein.Irons hatte vorgehabt, sie zu töten, aber nicht sofort. Siehatte gesehen, wie sein von Irrsinn gezeichneter Blick überihren Körper gekrochen war, hatte die gierige Ungeduld inseinem Lachen gehört -Aus der Ecke kam ein tiefes, grunzendes Geräusch, ein be-stialischer Laut, das Grollen eines sattgefressenen Löwen.Claire drehte sich um, hob die schwere Pistole, erstaunt, dasssie überhaupt imstande war, noch mehr Entsetzen zu empfin-den -- und etwas jagte aus dem Loch empor, etwas mit rudern-den Armen ...Claire drückte ab. Der Schuss ging fehl. Eine Glasflaschein einem Regal zerbarst, während das Etwas zu Bodenschlug.Es war Irons - aber nur ein Stück von ihm. Er war säu-berlich halbiert worden, das Ding, von dem er geschnapptworden war, hatte ihn in zwei Teile zerlegt - alles, was sichunterhalb seiner fleischigen Hüfte befunden hatte, war ver-schwunden. Fetzen zerrissener Haut und Muskelstränge hin-gen über der triefenden Blutlache, die seine Beine ersetzthatte.Claire wich zur Tür zurück, die Waffe noch auf die Öff-nung gerichtet und hörte das Wesen, das Monster, abermalsbrüllen - ein widerhallendes Heulen, das in einer Entfernungverklang, die sie sich nicht vorzustellen vermochte. Eine Se-kunde später konnte sie es überhaupt nicht mehr hören. Eswar fort.Sherrys Monster. Das war Sherrys Monster!Langsam schob Claire sich auf den verstümmelten Leich-nam von Chief Irons zu, auf die leere, gähnende Schwärzedes Loches - aber es war nicht nur Schwärze. Sie bemerktegedämpftes Licht, das von irgendwoher heraufdrang, genug,um zu erkennen, dass darunter ein weiterer Boden lag - sowie es aussah, das Metallgitter eines Laufstegs -, zu demeine Leiter hinabführte.Ein Keller unter dem Keller ... Ein Weg nach draußen?Claire trat von der Öffnung zurück. Ihre Gedanken rastenungeordnet, versuchten, die Information aufzunehmen und

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mit dem in Einklang zu bringen, was Irons ihr erzählt hatte.Chris befand sich nicht in Raccoon, die S.T.A.R.S.-Leutewaren verschwunden - eine ebenso wunderbare wie auchfurchtbare Aussage, hieß es doch, dass Chris zwar in Sicher-heit war, aber auch, dass er nicht angelaufen kommen würde,um in die Rolle des großen Retters aus der Not zu schlüpfen.Es hatte einen Ausbruch bei Umbrella gegeben, was zumin-dest die Zombies erklärte - aber was Irons über Birkin gesagthatte, über Birkins Virus ... war dieser Birkin Sherrys Vater?Und - die Zombies mögen ja die Folge eines Laborunfallssein, aber was ist mit all den anderen Geschöpfen, Mr. X oderdie Inside-Out-Wesen ...?Irons' Gerede über Umbrella deutete darauf hin, dass derUnfall zwar unerwartet gekommen, das Pharma-Unterneh-men jedoch kein Unschuldslamm gewesen war. Wie hatte eres noch gleich genannt?„T-Virus", sagte Claire leise und schauderte. „Es gab Bir-kins neues Virus, und es gab das T-Virus ..."

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Die Zombie-Seuche hatte einen Namen. Und man gab et-was, über das man nichts wusste, keinen Namen, was bedeu-tete -- was bedeutete, dass sie nicht wusste, was es bedeutete.Sie wusste nur, dass Sherry und sie aus Raccoon verschwin-den mussten, und dieser neue Keller mochte ein Weg hinaussein. Es war zumindest keine Sackgasse - das Monster, dasIrons getötet hatte, war irgendwohin verschwunden.Und du willst ihm tatsächlich folgen, mit Sherry? Es könn-te zurückkommen - und wenn es tatsächlich nach ihr sucht...Kein sehr aufbauender Gedanke - aber das war die Vorstel-lung, hinaus auf die Straßen zu gehen, auch nicht, und dasRevier wimmelte bereits von Gott weiß was für Kreaturen.Claire überprüfte das Magazin der Waffe, mit der Irons siebedroht hatte, und zählte siebzehn Patronen. Nicht genug, umsich den Zombies im Revier zu stellen - aber vielleicht aus-reichend, um ein Monster auf Distanz zu halten ...Es war eine Chance, und sie war entschlossen, sie zu nut-zen. Claire atmete tief ein und langsam aus, sammelte sich.Sie musste sich zusammenreißen, wenn schon nicht um ihret-willen, so doch für Sherry.Sie drehte sich um und sah auf die Überreste des Polizei-chefs hinab. Es war eine schreckliche Art zu sterben, aber siekonnte sich nicht aufraffen, Mitleid für ihn zu empfinden. Erwar bereit gewesen, sie zu missbrauchen und zu foltern, erhatte gelacht, als sie um ihr Leben gebettelt hatte, und jetztwar er tot; sie freute sich nicht darüber, aber sie würde des-wegen auch keine Tränen vergießen. Ihr einziger Gedanke indiesem Zusammenhang war, dass sie ihn zudecken sollte, be-vor sie Sherry hier herunter brachte. Das Mädchen hatte ge-nug Zeugnisse von Gewalt gesehen für ein ganzes Leben.Wir beide haben das, Kleines, dachte Claire erschöpft und

sah sich nach etwas um, das sie über den toten Chief Ironsbreiten konnte.Leon holte Ada in dem kalten, industriellen Gang ein, derzum Zugang zur Kanalisation führte, ein paar Schritte vondem gefluteten Sub-Kellergeschoss entfernt. Sie war voraus-gerannt, um die Schlüssel zu hinterlegen, mittels derer sie indas Kanalnetz gelangen würden, weil sie keine Lust hatte zuerklären, wie sie daran gekommen war. Sie hatte es geradegeschafft, sie in den Kesselraum zu werfen, bevor hinter ihrLeons Schritte auf den Metallstufen erklangen.Wenigstens muss ich nicht so tun, als sei ich außer Atem ...Der Ausdruck auf seinem Gesicht verreit Ada, dass sie ih-ren neuerlichen Alleingang begründen musste. In der Sekun-

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de, da er den düsteren Korridor betrat, fing sie auch schon anzu reden.„Entschuldige, dass ich so gerannt bin", sagte sie undschenkte ihm ein nervöses Lächeln. „Ich hasse Spinnen."Leon musterte sie stirnrunzelnd - und als sie dem for-schenden Blick seiner blauen Augen begegnete, wurde Adabewusst, dass sie sich etwas mehr würde anstrengen müssen.Sie trat einen Schritt auf ihn zu, nicht so nahe, dass es zu-dringlich gewirkt hätte, aber nahe genug, um ihn die Wärmeihres Körpers spüren zu lassen. Den Blickkontakt aufrecht-erhaltend, bog sie den Kopf etwas zurück, um den Größen-unterschied zwischen ihnen zu betonen; es war nur eineKleinigkeit, aber ihrer Erfahrung nach sprachen Männer imAllgemeinen gut auf Kleinigkeiten an.„Ich schätze, ich hab's nur ziemlich eilig, hier rauszukom-men", sagte sie leise. Ihr Lächeln verlor sich. „Ich hoffe, ichhabe dir nicht schon wieder Kummer gemacht."Er senkte den Blick, aber zuvor entdeckte sie darin einen

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Schimmer von Interesse - er war verwirrt und verunsichert,aber definitiv interessiert - weshalb es sie nur um so mehrüberraschte, als er von ihr abrückte.„Hast du aber. Tu's nicht noch mal, okay? Ich bin vielleichtkein besonders guter Cop, aber ich versuch's - und Gott al-lein weiß, was uns hier unten noch alles begegnet."Sein Blick traf wieder den ihren, und leise fuhr er fort: „Ichbin mit dir gegangen, weil ich helfen will, weil ich meinenJob machen will - und das kann ich nicht, wenn du voraus-rennst. Außerdem", fügte er mit einem kleinen Lächeln hin-zu, „wenn du davonläufst, wer hilft dann m/r?"Jetzt war Ada an der Reihe wegzusehen. Leon war ehrlichzu ihr, gab seine Ängste offen zu - und seine Reaktion auf ih-ren nicht sonderlich subtilen Flirt hatte darin bestanden, dasser zurückwich und ihr erzählte, dass er ein guter Polizist seinwolle.Interessiert, aber nicht schwanzgesteuert... und Manns ge-nug, um mir zu sagen, dass er sich seiner Fähigkeiten nichtsicher ist.Sie kam nicht umhin, das Lächeln zu erwidern, aber eswurde nur ein zittriges Verziehen der Lippen daraus. „Ichwerde mein Bestes tun", sagte sie.Leon nickte, wandte sich um, inspizierte den Gang undstellte die Unterhaltung ein - sehr zu Adas Erleichterung. Siewar nicht sicher, was sie von ihm hielt, war sich aber unange-nehm bewusst, dass ihr Respekt vor ihm zunahm - und daswar, in Anbetracht der Umstände, nicht gut.In dem feuchten, schwach beleuchteten Gang gab es nichtviel zu sehen - zwei Türen und eine Sackgasse. Der Kessel-raum, in den sie die Schlüssel geworfen hatte - oder vielmehrdie Steckschlüssel -, lag direkt vor ihnen, der Zugang zurAbwasserbeseitigung in einer der hinteren Ecken; einem

Schild an der Wand zufolge führte die andere Tür in einenLagerraum.Ada folgte Leon zu der am nahesten liegenden der beidenTüren, der zum Lager, und blieb zurück, als er sie mit seinerMagnum aufdrückte und hineintrat. Kisten, ein Tisch, eineTruhe; nichts Wichtiges, aber wenigstens kein Krabbelzeug.Nach kurzer Suche kehrte Leon auf den Gang zurück, und siebewegten sich in Richtung des Kesselraums.„Wo hast du überhaupt so gut schießen gelernt?", fragteLeon, als sie vor der Tür stehenblieben. „Du bist ziemlichgut. Warst du beim Militär oder so ...?"Sein Ton klang beiläufig, aber sie blieb wachsam.Netter Versuch, Officer.

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Ada lächelte und schlüpfte in ihre sorgfältig geprobte Rol-le. „Paintball - ob du's glaubst oder nicht. Als Teenager gingich mit meinem Onkel zwar ein paar Mal auf den Schieß-stand, hab mich aber nie richtig dafür begeistern können. Vorein paar Jahren schleifte mich dann ein Arbeitskollege - wirwaren beide Kunden einer Kunstgalerie in New York - mit zueinem dieser Survival-Wochenenden, und wir hatten einenWahnsinnsspaß. Du weißt schon, wandern, klettern, all sowas - und Paintball. Es ist toll, wir machen das alle paar Mo-nate ... aber ich hätte nie gedacht, dass ich das mal im Ernst-fall anwenden müsste."Sie konnte förmlich sehen, dass er es ihr abkaufte, dass erihr glauben wollte. Wahrscheinlich beantwortete es ein paarFragen, die zu stellen er gezögert hatte.„Du bist jedenfalls besser als eine Menge von den Jungs,mit denen ich die Akademie abgeschlossen habe. Echt. Und?Bist du bereit, weiterzumachen?"Ada nickte. Leon drückte die Tür zum Kesselraum auf, ließden Blick über die altertümlichen, rostigen Maschinen in

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dem weitläufigen Raum schweifen, bevor er Ada hinein-schob. Sie schaute bewusst nicht nach unten, weil sie wollte,dass Leon das kleine eingewickelte Päckchen fand, das sieerst vor wenigen Augenblicken hineingeworfen hatte.Zuvor hatte sie nicht richtig in den Raum hineinschauenkönnen. Er hatte die Form eines auf der Seite liegenden H,war mit verrosteten Geländern und zwei großen alten Kesselnausgestattet, einer auf jeder Seite. Unter der Decke flackertenLeuchtstoffröhren, und die wenigen, die funktionierten, war-fen eigenartige Schatten auf die Metallrohre, die an den was-serfleckigen Wänden entlangliefen. Die Tür, die ins Kanal-netz führte, lag in der hinteren linken Ecke, ein massivaussehendes Schott neben einer eingelassenen Bedientafel„Hey -!" Leon ging in die Hocke und hob das BündelSteckschlüssel auf, die das Schott öffnen würden. „Sieht aus,als hätte hier jemand was verloren ..."Bevor Ada ihr Spielchen abspulen und ihn fragen konnte,was er denn da gefunden habe, hörte sie ein Geräusch. Einleises Gleiten, das aus der Ecke hinten rechts kam, wohin ei-ner der Kessel die Sicht verwehrte.Leon hörte es ebenfalls. Schnell stand er auf, ließ das Bün-del fallen und hob die Shotgun. Ada richtete ihre Berettadorthin, wo das Geräusch erklang, und entsann sich, dass dieTür halb offen gestanden hatte, als sie aus dem Sub-Kellerge-schoss heraufgekommen war.O verdammt. Das Implantat.Sie wusste es, noch bevor es in ihr Blickfeld kroch - undwar dennoch schockiert. Der kleine Bursche war gewachsen,und er war schnell gewachsen, auf gut das Zwanzigfache sei-ner vorherigen Größe in nur halb so vielen Minuten - und erwuchs immer noch, in exponentiellem Tempo. In den weni-gen Sekunden, die das Wesen brauchte, um sich zur Mitte des

Raumes hinzubewegen, wuchs es von der Größe eines klei-nen Hundes zu der eines zehnjährigen Kindes.Die Form der Kreatur hatte sich verändert und tat es nochimmer. Das Ding war jetzt nicht mehr die alienhafte Kaul-quappe, die sich ihren Weg aus Bertolucci heraus gefressenhatte. Der Schwanz war verschwunden, das Wesen, das sichüber den rostigen Boden schob, hatte Gliedmaßen entwickelt,Arme reckten sich aus seinem gummiartigen Fleisch. Klauenschössen aus der bräunlichen Haut, die seinen Leib umhüllte,begleitet von einem Geräusch wie von Knorpel, der durch-bohrt wurde. Muskulöse Beine entfalteten sich, Sehnen ent-standen und bewegten sich unter schnappenden Lauten, wäh-rend das stockende Kriechen fließender wurde, beinahe

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katzenhaft geschmeidig ...Die Shotgun und die Beretta krachten gleichzeitig, eineFolge gewaltiger Donnerschläge, durchsetzt mit dem hohenJaulen der Neunmillimeter. Die Kreatur verwandelte sich,mutierte noch immer zu humanoider Gestalt - und ihre Reak-tion auf die ohrenbetäubenden Schüsse, die Blei in ihr sichwindendes Fleisch klatschen ließen, bestand darin, ihr Maulzu öffnen - und zu kotzen. In einem grunzenden, trompeten-haften Aufschrei erbrach das Wesen faulige, grüne Galle -- die den Boden berührte und anfing, sich zu bewegen. DerStrom, der sich aus dem breiten, flachen Gesicht ergossenhatte, lebte - und das Dutzend krabbenartiger Kreaturen, dieaus dem klaffenden Maul des Ungeheuers troffen wie Flüs-sigkeit schien genau zu wissen, wo sich die Gefahr für ihrestinkende, mutierte Gebärmutter befand. Die huschenden,vielbeinigen Tiere schwärmten als lautlose Welle auf Ada undLeon zu, während das Implantat einen großen Schritt nachvorne vollführte. Pulsierende Stränge ragten ihm aus dem un-möglich langen, kräftigen Hals.

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Leons Waffe hatte die höhere Durchschlagskraft. „Ich über-nehme die Kleinen!", rief Ada, zielte bereits und schoss aufdie nächste der winzigen, gallig grünen Krabben. Sie warenschnell, aber Ada war schneller - sie zielte und drückte ab,zielte und drückte ab, und die Babymonster explodierten inkleinen Fontänen dunkler, blutig-zäher Flüssigkeit, starben soleise, wie sie zur Welt gekommen waren.Leon jagte Schuss um Schuss aus seiner Waffe, doch Adakonnte keinen Blick wagen, um zu sehen, wie er sich gegendas Muttertier schlug. Fünf der kriechenden Kleintiere warennoch übrig, noch drei Schuss, und die Beretta war leer!Sie hörte, wie die Shotgun zu Boden polterte, hörte dasdumpfere, aber weniger machtvolle Dröhnen der .50-AE-Ge-schosse in dem metallenen Raum widerhallen, während sieselbst zwei weitere der spinnenhaften Wesen erledigte, unddann klickte ihre Waffe nur noch. Leer.Ohne innezuhalten und nachzudenken, ließ Ada die Berettalos und sich zu Boden fallen. Sie packte die Shotgun amLauf, kam in einer Rolle unterhalb von Leons Schussliniewieder nach oben und ließ die Waffe hart nach unten sausen.Zwei der mutierten Tiere wurden von dem schweren Kolbenzu Brei zerdrückt, aber das dritte, das letzte, sprang unerwar-tet schnell nach vorne -- und landete auf Adas Oberschenkel, klammerte sich mitnadelspitzen Klauen fest. Ada ließ das Gewehr fallen, schrielaut auf, als das Tier ihr Bein empor flitzte. Sein warmes,feuchtes Gewicht machte sie rasend vor Ekel.Runter, schlag's RUNTER!Sie ließ sich nach hinten fallen, hieb nach dem Wesen, dasbereits ihre Schulter erreicht hatte und auf ihr Gesicht zuflitz-te, auf ihren Mund -- und dann wurde sie von Leon gepackt; grob zerrte er siemit einer Hand hoch, während er mit der anderen nach demTier schlug. Ada taumelte gegen ihn, umfasste seine Hüften,um nicht zu fallen. Der Käfer klammerte sich hartnäckig amStoff ihres Kleides fest, aber Leon hatte es gut im Griff. Erriss es ab und schleuderte das zappelnde Ding mit einem Auf-schrei quer durch den Raum.„Die Magnum!"Die Waffe hatte sich in Leons Gürtel verheddert. Ada risssie heraus, sah, wie die Kreatur nahe des riesigen, reglosenHaufens landete, der sie geboren hatte und der von Leon zer-schossen worden war -- und feuerte, schaffte es, einen sauberen Schuss anzubrin-gen, obwohl sie aus dem Gleichgewicht und absolut entsetztdarüber war, wie kurz davor sie gestanden hatte, selbst ein

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solches Wesen implantiert zu bekommen. Das schwere Ge-schoss klirrte gegen den Boden, Rostflocken wirbelten hoch- und die Kreatur wurde zu einem hässlichen Fleck an derrückwärtigen Wand. Ausgelöscht ...Nichts rührte sich mehr. Sie standen beide einen Momentlang einfach nur da, lehnten sich aneinander wie Überlebendeeines furchtbaren Unfalls - was sie ja, in gewisser Weise, auchwaren. Das ganze Feuergefecht hatte in weniger als einer Mi-nute stattgefunden, und sie waren unversehrt daraus hervorge-gangen - aber Ada machte sich nichts vor, wie knapp es gewe-sen war oder was sie gerade zu zerstören geschafft hatten.G- Virus.Sie war sich sicher; das T-Virus hätte keine derart komple-xe Kreatur erschaffen können, nicht ohne ein Team von Chi-rurgen - und sie hatten beide gesehen, wie es wuchs! Wiegroß, wie mächtig wäre dieses Wesen wohl geworden, wennsie nicht gerade jetzt hereingekommen wären? Das Dingmochte irgendein frühes G-Experiment gewesen sein, aber

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was, wenn es die Folge eines Ausbruchs war? Was, wenn esnoch mehr davon gab?Die Kanalisation, das Versandhaus, die unterirdischen Ebe-nen - dunkle, schattige Orte, verborgene Orte, wo alles Mög-liche gedeihen könnte ...Wie die Dinge auch liegen mochten, der Ausflug zu denLabors sah nicht mehr aus wie ein Spaziergang - und Adawar mit einemmal sehr froh, dass Leon beschlossen hatte,mitzukommen. Da er so gottverdammt darauf beharrte, vor-auszugehen, würde sie eine bessere Überlebenschance haben,wenn irgendetwas sie angriff.„Bist du okay? Hat es dich verletzt?"Leon stützte sie noch immer mit einem Arm und sah ihrmit tiefempfundener Sorge in die Augen. Ada stellte fest,dass sie ihn riechen konnte, ein sauberer, seifiger Geruch,und schob sich von ihm weg. Sie gab ihm die Magnum zu-rück und rückte ihr Kleid zurecht, inspizierte es aufmerksamnach Rissen, nur um ihn nicht ansehen zu müssen.„Danke, ich bin in Ordnung. Alles klar."Es kam ihr schroffer als beabsichtigt über die Lippen, abersie war aufgewühlt, und das nicht nur wegen des brutalen An-griffs des Implantats. Sie warf Leon einen Blick zu und wuss-te nicht recht, was sie empfinden sollte, als sie sah, dass ihreReaktion ihn getroffen hatte. Er blinzelte langsam, und eineArt Coolness stieg in seinem Blick auf, Zeichen einer Cha-rakterstärke, die sie ihm nicht hatte zugestehen wollen.„Paintball, ja?", sagte er leise, und ohne ein weiteres Wortwandte er sich ab, um das Päckchen aufzuheben, das sie hierhinterlegt hatte.Ada sah ihm nach und sagte sich, wie vollkommen lächer-lich es war, sich darum zu scheren, was er von ihr hielt. Siewaren im Begriff, eine Reise anzutreten, während der sie ihn

womöglich würde abhängen müssen oder zusehen musste,wie er sein Leben opferte, um ihres zu retten ...... oder ich muss ihn selber umbringen. Das wollen wirdoch nicht vergessen. Freunde und Nachbarn. Wer gibt alsoeinen Scheißdreck darauf, ob er mich för ein undankbaresMiststück hält?Genau. Sie musste ihm dankbar dafür sein, dass er sie da-ran erinnert hatte.Ada bückte sich, um die Shotgun aufzuheben. Sie hatte dasGefühl, ihre Prioritäten besser setzen zu müssen - und spürtein sich eine Leere, wie seit langer, langer Zeit nicht mehr.

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ZwanzigMr. Irons war ein sehr böser Mensch gewesen. Ein krankerMann. Sherry vermutete, dass sie das schon die ganze Zeitgewusst hatte, aber seine geheime Folterkammer zu sehen,die wie die Werkstatt eines wahnsinnigen Arztes wirkte,machte es sehr viel realer. Der Raum war schlicht eklig -Knochen, Flaschen und ein Geruch schlimmer als die Zom-bies. Vielleicht lag es daran, dass ihr der Anblick des Umris-ses auf dem Boden, die unvollständige Körperform unter derblutbefleckten Plane, nicht halb so viel ausmachte, wie Ciai-re gedacht haben mochte. Sherry starrte die Erhebung unterdem Tuch an und fragte sich, was wohl genau geschehen war.„Komm schon, Schätzchen, gehen wir", sagte Claire, unddie erzwungene Heiterkeit in ihrer Stimme verriet Sherry,dass Mr. Irons übel zugerichtet worden sein musste. Clairehatte ihr nur gesagt, dass er sie angegriffen hatte, und dannhatte etwas ihn angegriffen, und dass sie eine Chance hatten,in Sicherheit zu gelangen, wenn sie in den Keller hinabstie-gen. Sherry war so erleichtert gewesen, Claire überhaupt wie-derzusehen, dass sie gar nicht auf den Gedanken gekommenwar, Fragen zu stellen.Das da drunter ist nicht groß genug, um ein ganzer Menschzu sein ... Ist er aufgefressen worden? Oder in Stücke zer-hackt?

„Sherry? Lass uns gehen, okay?"Claire legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog sie sanftfort von dem, was von Chief Irons noch übrig geblieben war.Sherry ließ sich zu dem dunklen Loch in der Ecke führen undentschied dass es das Beste sei, ihre Fragen für sich zu behal-ten. Sie dachte daran zu sagen, dass es ihr egal war, ob Mr.Irons tot war, aber sie wollte nicht unhöflich oder respektloserscheinen. Außerdem versuchte Claire lediglich, auf sie Achtzu geben, und das machte Sherry nun gar nichts aus.Claire stieg zuerst die Leiter hinab und rief kurz darauf zuSherry hoch, dass es sicher sei, ihr zu folgen. Sherry trat vor-sichtig auf die Metallsprossen und fühlte sich zum ersten Malseit Tagen richtig glücklich. Sie taten etwas, waren dabei, ausdem RPD-Revier zu verschwinden und die Flucht anzutreten- was sonst auch noch alles passiert sein mochte, das zumin-dest war ein gutes Gefühl.Claire half ihr die letzten Sprossen hinunter, hob sie hochund setzte sie auf dem Metallboden ab. Sherry drehte sichund schaute sich um, und ihre Augen weiteten sich.„Wow", sagte sie, und das Wort entwich flüsternd in die

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düsteren Schatten und kam, reflektiert von den seltsamenWänden, ebenso flüsternd zurück.„Ja", sagte Claire. „Komm."Claire ging los. Ihre Stiefel verursachten klappernde Echos,und Sherry folgte ihr dichtauf, wobei sie sich immer nochstaunend umsah. Hier sah es aus wie im Versteck einesSchurken in einem Spionagefilm. Sie gingen durch eine ArtFabrikgang innerhalb eines Berges oder so. Sie befanden sichauf einem Laufsteg, der von Geländern gesäumt wurde, undvon irgendwo aus der Tiefe drang trübes grünes Licht durchden Gitterboden herauf. Linker Hand erstreckte sich eineraue Ziegelwand rechts hingegen eine richtige Höhlenwand.

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Sherry konnte riesige, tropfende Steinsäulen sehen, die insDunkel aufragten, natürliche Felsformationen, die das schwa-che, geisterhafte Licht grünlich färbte.Sherry rümpfte die Nase. So interessant es hier auch war,es roch doch ziemlich faulig. Und es gefiel ihr nicht, wie diekühle Luft den Schall transportierte und alles hohl klingenließ.„Was hältst du von diesem Ort?", fragte sie leise.Claire schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht. In Anbe-tracht des Geruchs und der Örtlichkeit würde ich sagen, wirsind in einem Teil eines Klärwerks."Sherry nickte, froh, das zu wissen - und noch mehr freutees sie, den Ausgang direkt vor ihnen zu sehen. Der Laufstegwar nicht allzu lang — er machte eine Kehre nach links undam Ende befand sich eine weitere Leiter, die nach oben führ-te. Als sie dort anlangten, zögerte Claire. Sie spähte hinauf zuder Öffnung über ihnen und dann wieder in die dunkle, leereHöhle, in der sie sich befanden.„Ich sollte zuerst raufgehen ... wie wär's, wenn du direkthinter mir hochkletterst, aber auf der Leiter bleibst, bis ichsage, dass alles in Ordnung ist?"Sherry nickte erleichtert. Eine Sekunde lang hatte sie be-fürchtet, dass Claire ihr sagen würde, sie solle hier untenbleiben und warten, wie schon einmal.Auf keinen Fall. Es ist finster, einsam, und es stinkt. Wennich ein Monster wäre, dann würde ich mich genau hier he-rumtreiben ...Claire stieg empor, schob sich mühelos durch das Loch,und Sherry hangelte sich direkt hinter ihr in die Höhe, daskühle Metall der Stufen fest umfassend. Ein paar Sekundenspäter streckte Claire ihre langen, schlanken Arme herunter,um ihr hinaufzuhelfen.

Sie befanden sich wieder auf festem Boden, in einem kur-zen Gang aus Zement, der nach der Höhle unglaublich hellwirkte. Sherry nahm an, dass sie sich immer noch in demKlärwerk befanden - der Geruch war zwar nicht so schlimm,aber der Gang wurde links von einem ins Stocken geratenen,schlammigen Fluss begrenzt, etwa dreißig Zentimeter tief undanderthalb oder zwei Meter breit. Das morastige Wasser flossin beide Richtungen ab, an einem Ende in einen niedrigen,abgerundeten Tunnel, am anderen wurde es von einer großenMetalltür aufgehalten. Darüber zog sich eine Art Balkon hin,doch Sherry sah keine Treppe, um dort hinaufzugelangen.Das heißt also ... pfui Teufel.„Müssen wir?", fragte sie.

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Claire seufzte. „Ich fürchte ja. Aber sieh's von der gutenSeite - kein Monster, das bei Verstand ist, würde uns dadurchfolgen."Sherry lächelte. Es war nicht sonderlich witzig, aber sie be-grüßte, was Claire zu tun versuchte - es war etwas Ähnliches,wie Mr. Irons' Leiche zuzudecken oder ihr zu sagen, dass ihreEltern wahrscheinlich in Sicherheit seien.Sie versucht, mich vor dem wirklich schlimmen Ausmaß derSache zu beschützen ...Das gefiel Sherry, so sehr, dass sie beinahe schon den Mo-ment fürchtete, da Claire sie endgültig verlassen würde. Ir-gendwann würde sie das nämlich tun - Claire hatte irgendwoanders ein ganz eigenes Leben, eigene Freunde und ihre Fa-milie, und wenn sie Raccoon erst einmal verlassen hatten,würde Claire dorthin zurückgehen, von wo sie kam, undSherry würde wieder allein sein. Selbst wenn ihre Elternokay waren, würde sie allein sein ... und wenn sie sich auchwünschte, dass sie in Sicherheit und unversehrt waren, freutesie sich doch keineswegs auf das Ende ihrer Zeit mit Claire.

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Sie war erst zwölf, aber sie wusste bereits seit einigen Jah-ren, dass ihre Familie anders als die meisten anderen war. DieKinder in der Schule hatten Eltern, die Zeit mit ihnen ver-brachten, feierten Geburtstagspartys und unternahmen Cam-pingausflüge, hatten Brüder. Schwestern und Haustiere. Siehatte nie etwas von all dem besessen. Sie wusste, dass ihreEltern es gut mit ihr meinten und sie liebten - aber manch-mal hatte sie das Gefühl, dass sie, ganz gleich, wie leise, bravund selbständig sie auch war. ihnen trotzdem noch im Wegestand ...„Bist du bereit?"Claires leise, schöne Stimme holte Sherry zurück aus ihrenGedanken und erinnerte sie daran, dass sie wachsamer seinmusste. Sic nickte, und Claire stieg hinab in das dunkle,schmutzige Wasser und fasste nach Sherry, um ihr zu helfen.Das Wasser war kalt und ölig und reichte Sherry bis zu denKnien; es war eklig, aber nicht zum Erbrechen eklig. Clairedeutete mit ihrer neuen Pistole in Richtung der großen Me-talltür zu ihrer Linken und sah dabei so angewidert drein, wieauch Sherry sich fTihlte.„Sieht aus, als ob wir -"Ein lautes Geräusch vom Balkon her schnitt ihr das Wortab. Sie schauten beide nach oben. Sherry bewegte sich in-stinktiv näher auf Claire zu. als das Geräusch sich wiederhol-te. Es klang wie Schritte, aber zu langsam und zu laut, umnormal zu sein -- und dann sah Sherry einen Mann in einem langen, dun-klen Mantel auftauchen und spürte, wie ihr Mund vor Angsttrocken wurde. Der Mann war ein Riese, vielleicht drei Metergroß, und sein kahler Kopf glänzte so weiß wie der Bauch ei-nes toten Fisches. Des Blickwinkels wegen konnte sie ihnnicht richtig sehen, aber sie sah genug - und sie konnte spü-

ren, dass er böse war,. Dass mit ihm etwas absolut nichtstimmte. Dass er etwas Dunkles an sich hatte. Es ging vonihm aus wie eine Krankheit...Claire?", quiekte sie. Ihre Stimme brach, als der hünen-hafte Mann den Balkon entlang schritt und sich ihnen zu-wandte - langsam, entsetzlich langsam, und Sherry wolltesein Gesicht gar nicht sehen, nicht das Gesicht eines Mannes,der sie so tief zu ängstigen vermochte, indem er lediglich ei-nen Balkon betrat ...„Lauf!"Claire packte ihre Hand, und sie rannten los, patschtendurch das zähflüssige Wasser auf die geschlossene Tür zu.Sherry konzentrierte sich darauf, nicht hinzufallen und zu be-

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ten, dass die Tür offen sei -Sei nicht zugesperrt, sei nicht zugesperrt!- und darauf, nicht zurückzuschauen, nicht sehen zu wol-len, was dieser riesenhafte, böse Mann tat. Die Tür war nichtweit entfernt, aber es schien ewig zu dauern, jede Sekundedehnte sich, während sie gegen den Widerstand des kalten,öligen Wassers ankämpften.Sie taumelten auf das Schott zu, und Claire fand den zuge-hörigen Mechanismus, hieb mit einer Panik auf den Knopf,die Sherrys Furcht noch steigerte. Die Tür teilte sich in derMitte, eine Hälfte glitt nach oben in die Decke, die andereverschwand unter den sich kräuselnden Wellen.Sherry schaute nicht hinter sich, aber Claire tat es. Was sieauch sah, es ließ sie die Schwelle mit einem Satz überwinden,wobei sie Sherry von den Füßen riss und mit in den langen,dunklen Tunnel dahinter zog. Kaum waren sie durch, tasteteClaire hektisch über die Wand. Die Tür glitt hinter ihnen zuund hüllte sie in Dunkelheit, durch die Tropfen fielen.„Beweg dich nicht und sei ganz still", flüsterte Claire, und

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in dem sehr schwachen Licht, das von irgendwo über ihnenkam, konnte Sherry sehen, dass sie die Waffe von sich ge-streckt hielt und versuchte, die dichten Schatten nach mögli-chen neuen Gefahren zu durchforsten.Sherry gehorchte. Ihr Herz hämmerte. Sie fragte sich, wasdieser Mann war - es war der Mann, über den Claire sie zu-vor schon befragt hatte, so viel stand fest, aber was war er?Menschen wurden nicht so groß, und Claire hatte auch Angstgezeigt -Klink.Ein metallischer Laut, leise und gedämpft; er kam von derWand hinter ihr - und Sherry spürte, wie sich das Wasser umihre Füße plötzlich bewegte, ein rascher Strömungszug, der anihren Beinen zerrte und sie aus dem Gleichgewicht brachte.Sie stolperte und stürzte mit dem Gesicht voran in das kal-te, eklige Wasser, während die Strömung stärker wurde undsie nach hinten zog. Sherry schlug um sich, versuchte. Haltzu finden, irgendwo - irgendetwas, an dem sie sich festhaltenkönnte - und fühlte, wie glitschiger Stein unter ihren tasten-den Fingern vorbeistrich, während die Wasser sie forttrugen,fort von Claire.... kann nicht atmen ...Sherry trat wild um sich, wand sich, ihre Augen branntenvon dem dreckigen Wasser - und dann schaffte sie es, Luft zuholen, als ihr Kopf die Oberfläche jäh durchbrach. Sie er-kannte, dass sie in einem Tunnel war, einem pechschwarzenSchacht, nicht größer als die Lüftungsröhren im Revier. Dasstrudelnde Wasser riss sie mit sich, und Sherry rang in derfauligen Luft keuchend nach Atem, zwang sich, nicht gegendie gnadenlose Macht des rauschenden Wassers anzukämp-fen. Irgendwo musste der Tunnel enden - und wo er auch hin-führte, sie musste dann bereit sein, loszurennen.

Claire, bitte finde mich, bitte gib mich nicht auf...Sie fühlte sich verloren, blind und taub, glitt durch dieFinsternis - und immer weiter und weiter weg von der einenPerson, die sie vor den Albtraumwesen hätte beschützen kön-nen, von denen Raccoon übernommen worden war.Annette zweifelte nicht mehr daran, dass ihr Mann aus denLaboratoriums-Ebenen entkommen war. Nicht nur, dass dieHälfte aller Zugänge der Anlage unverschlossen war, auchdie Zäune um die Fabrik waren durchbrochen worden - unddie Kanäle, die Tunnel, die größtenteils hätten leer sein sol-len, wimmelten von menschlichen Trägern, die von draußengekommen sein mussten. So weit bei vielen der Zellverfallauch schon fortgeschritten war, hatte sie doch fünf von ihnen

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niederschießen müssen, um sich den Weg von der U-Bahn zuden Operationsräumen in der Kanalisation freizumachen.Nachdem sie, wie es ihr vorkam, eine Ewigkeit durch dastintige Wasser des labyrinthhaften Kanalnetzes gestapft war,erreichte Annette die Plattform, nach der sie gesucht hatte.Sie betrat den Betontunnel und blickte misstrauisch auf diegeschlossene Tür ein paar Meter vor ihr. Verschlossen undunbeschädigt, ein gutes Zeichen - aber was, wenn er hin-durchgegangen war, bevor er alle Spuren menschlicher Intel-ligenz verloren und bevor er sich in ein gewalttätiges Tier, dasnicht mehr dachte, verwandelt hatte? Selbst jetzt mochte ernoch so etwas wie Erinnerung besitzen - die Wahrheit war,dass sie es nicht wusste. Das G-Virus war noch nicht an Men-schen erprobt worden ...Und wenn er durchgegangen ist? Wenn er es bis zum Poli-zeirevier geschafft hat?Nein. Sie konnte und wollte diese Möglichkeit nicht in Be-tracht ziehen. In Hinblick auf das, was sie über die progressi-

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ven chemophysiologischen Veränderungen wusste - wozu eralso imstande sein würde, wenn das Virus funktionierte, wiees sollte -, war die Vorstellung, dass er in Kontakt mit einernicht infizierten Population geriet ... nun, es war unvor-stellbar.Das Revier ist sicher, dachte Annette entschieden. Iransmag ja ein inkompetentes Arschloch sein, aber das gilt nichtfür seine Caps. Wo William auch sein mag, an ihnen wäre ernicht vorbei gekommen.Sie konnte es sich nicht erlauben, irgendetwas anderes zuglauben. Sherry war im Polizeirevier, wenn sie getan hatte,was sie hatte tun sollen - und abgesehen davon, dass sie ihreigen Fleisch und Blut war (was, wie sie sich in Erinnerungrief, Grund genug war), spielte Sherry eine wichtige Rolle inihren Zukunftsplänen.Annette lehnte sich gegen eine kalte, feuchte Wand und warsich bewusst, dass ihr die Zeit davonlief. Trotzdem konnte sienicht weitergehen, ohne einen Moment lang auszuruhen. Siehatte daraufgezählt, dass der kodierte Territorialinstinkt Wil-liam in der Nähe des Labors halten würde, dass ihre lebendi-ge, menschliche Witterung ihn zu ihr locken würde ... abersie befand sich fast am Ende des in sich abgeschlossenen Be-reichs, und alles, was sie gefunden hatte, war ein DutzendWege, auf denen er hätte fliehen können.Und Umbrella wird bald hier sein. Ich muss zurück, ichmuss die Pannensicherung aktivieren, ehe sie mich aufhaltenkönnen.William verdiente es, in Frieden zu ruhen - aber darüberhinaus würde die Vernichtung des Wesens, das einmal ihrMann gewesen war, all ihre Zweifel am Erfolg ihrer Sa-che ausräumen. Was, wenn sie das Labor in die Luft jagteund entkam, nur um herauszufinden, dass Umbrella ihn ge-

schnappt hatte? All ihr Bemühen - seine ganze Arbeit - wäreumsonst gewesen ...Annette schloss die Augen. Sie wünschte, es gäbe eineneinfachen Weg, die Entscheidung zu treffen, die getroffenwerden musste. Tatsache war, dass Williams Tod schlicht we-niger wichtig war als das Labor zu vernichten. Und es be-stand eine gute Chance, dass sie ihn nicht finden würden,dass sie nicht einmal von seiner Transformation wussten.Es ist ja auch nicht so, als bliebe mir eine Wahl. Er ist nichthier, er ist nirgends.Annette stemmte sich von der Wand weg und ging langsamauf die Tür zu. Sie würde die letzten paar Tunnel überprüfen,vielleicht nachsehen, ob in den Konferenzräumen Anzeichen

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von Beschädigung zu finden waren und dann würde sie zu-rückgehen. Zurückgehen und zu Ende bringen, was Umbrellabegonnen hatte.Annette drückte die Tür auf—und hörte Schritte durch den verlassenen Gang hallen,von irgendwo über ihr. Der Gang hatte die Form eines T. dieGeräusche vermengten sich, wodurch es unmöglich war fest-zustellen, aus welcher Richtung sie kamen - aber es warendie kraftvollen, sicheren Schritte eines nicht infizierten Men-schen. Vielleicht stammten sie von mehr als nur einer Person,und das konnte nur eines bedeuten.Umbrella. Sie sind also da.Wut kochte in Annette hoch, ließ ihre Hände zittern. Siefletschte die zusammengebissenen Zähne. Sie mussten essein, es musste einer ihrer mörderischen Spione sein; außerIrons und einigen Offiziellen der Stadt wusste nur Umbrella,dass diese Tunnel noch in Gebrauch waren - und dass sie zuder unterirdischen Einrichtung Führten. Die Möglichkeit, dasses sich um einen unschuldigen Überlebenden des Ausbruchs

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handeln könnte, kam ihr nicht in den Sinn, ebenso wenig wieder Gedanke, davonzulaufen - sie hob die Waffe und wartetedarauf, dass der herzlose, mörderische Bastard aufrauchte.Eine Gestalt trat in ihr Blickfeld, eine Frau in Rot, und An-nette schoss.Aber sie zitterte, schrie innerlich auf, und der Schuss gingzu hoch. Mit einem jaulenden, sirrenden Geräusch prallte dieKugel von der Betonwand ab, und die andere Frau hob selbsteine Waffe.Annette schoss abermals, doch plötzlich war da noch je-mand, eine verschwommene Gestalt, die vor die Frau sprang,sie aus dem Weg stieß. Alles geschah gleichzeitig, und Annet-te hörte den Schmerzensschrei, den Schrei eines Mannes, undverspürte einen Ausbruch brüllenden Triumphs.Hab ihn, hab ihn erwischt!Aber es konnten noch mehr kommen, sie hatte die Fraunicht getroffen - und das waren trainierte Killer.Annette drehte sich um und rannte. Ihr schmutziger Labor-kittcl flatterte, ihre nassen Schuhe klatschten auf den Beton.Sie musste zurück zum Labor, und zwar schnell.Die Frist war um.

E i n u n d z w a n zi gLeon blieb stehen, um seinen Schultergurt zu richten, undso ging Ada voran und sann darüber nach, wie verblüffendsicher die ersten paar Tunnel gewesen waren. Wenn ihre Er-innerung sie nicht trog, endete dieser Gang direkt nebendem Kontrollraum der Kläranlage; dahinter befand sich dieU-Bahn zur Fabrik, und danach kam dann der Maschinenauf-zug in die unterirdische Anlage. Es würde wahrscheinlichschlimmer werden, je näher sie den Labors kamen, aber soproblemlos der Trip bislang verlaufen war, fühlte Ada sichoptimistisch.Leon war unangenehm still gewesen, seit sie die Kanalisa-tion betreten hatten. Er sprach nur das Allernötigste - „Passauf, wo du hintrittst", „Warte mal kurz", „In welche Richtungsollten wir deiner Meinung nach gehen?" ... Sie glaubtenicht, dass er sich der Abwehr, die er zeigte, überhaupt be-wusst war, aber sie verstand es allmählich besser, in seinemVerhalten zu lesen. Officer Kennedy war mutig und im Ober-stübchen mindestens überdurchschnittlich sortiert. Er war einMeisterschütze - aber er kannte die Frauen nicht. Mit der Zu-rückweisung seines Versuchs, sie zu trösten, hatte sie ihn ver-wirrt und verletzt - und jetzt wusste er nicht, wie er mit ihrumgehen sollte. Er hatte beschlossen, sich lieber zurückzu-

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ziehen, anstatt eine neuerliche Abfuhr zu riskieren.So ist es am besten, wirklich. Es hat keinen Zweck, ihn zureizen, wenn es nicht nötig ist, und es erspart mir die Mülw,sein Ego mit Streicheleinheiten zu überhäufen ...Ada betrat die Wegkreuzung, überlegte, wo es am einfach-sten wäre, sich von ihrem Begleiter zu trennen -- und sah die Frau im selben Moment, als sie schoss.BammlAda spürte, wie Betonsplitter gegen ihre nackten Schulternprasselten, als sie auch schon die Beretta hochriss. Eine ver-schwommene Mischung aus Emotionen und Erkenntnis durch-zuckte sie in der winzigen Zeitspanne, die sie brauchte, umzu reagieren: Sie würde nicht in der Lage sein, das Feuerrechtzeitig zu erwidern, der nächste Schuss der Frau würdesie töten, sie empfand Wut auf sich selbst, weil sie so dummgewesen war ... und dann - Erkennen.Birkin!Sie hörte den zweiten Schuss und dann wurde sie getrof-fen. Sie fiel auf den kalten Boden, während Leon vor Wutund Überraschung aufschrie. Sein wanner Körper landete aufihrem.Ada holte tief Luft, war schockiert und erstaunt, als sie be-griff, was passiert war, während Leon sich von ihr herunterrollte und seinen Arm umfasst hielt. Sie vernahm hastigeSchritte und Leons raues Keuchen und setzte sich auf.O mein Gott. Ach du Scheiße ...!Leon hatte eine Kugel abgefangen. Für sie.Ada kam wacklig auf die Füße, beugte sich über ihn.„Leon!"Er sah zu ihr auf. die Kiefer vor Schmerzen zusammenge-presst. Blut sickerte zwischen den Fingern seiner Hand hin-durch, die er gegen die linke Achsel drückte.„Ich bin - okay", schnaufte er. und obwohl sein Gesicht

blass war und seine Augen trüb vor Qual, dachte sie, dass erwahrscheinlich Recht hatte. Es tat zweifellos verteufelt weh,aber es würde - sollte - ihn nicht umbringen.Es hätte mich umgebracht. Leon hat mir das Leben gerettet.Und im Gefolge dieses Gedankens: Annette Birkin. Nocham Leben ...„Diese Frau", stieß sie hervor, und das Schuldgefühl ereiltesie noch im Umdrehen und Losrennen. „Ich muss mit ihr re-den!"Ada hetzte um die Ecke und den Gang hinunter. Die Türam Ende stand offen. Leon würde es überleben, er würdewieder werden, und wenn sie es schaffte, Annette Birkin ein-

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zuholen, dann würde dieser ganze gottverdammte Albtraumvorbei sein. Sie hatte die Aktenfotos studiert und wusste, dasses Birkins Frau war - und wenn die Frau nicht zufällig eineProbe bei sich trug, dann wusste sie hundertprozentig, woeine zu finden war.Ada rannte durch die Tür und wäre um ein Haar in einemweiteren mit Wasser gefüllten Tunnel gelandet. Sie hielt inne,gerade lange genug, um zu lauschen und die Oberfläche dessich kräuselnden Morasts mit ihren Blicken abzusuchen. Kei-ne spritzenden Laute, und noch immer schwappten Wellenzur linken Seite hin, wo eine an der Wand verschraubte Leiterzu einem Ventilationsschacht hochführte.Zum Kontrollraum.Ada sprang ins Wasser und bewegte sich auf die Leiter zu.Es gab einen Gang, der weiter geradeaus führte, aber das wareine Sackgasse; Annette hatte sich bestimmt für die Fluchtnach oben entschieden.Rasch kletterte Ada die Metall sprossen empor und verbotes sich, an Leon zu denken (weil er okay war), während sie inden Schacht spähte und feststellte, dass er leer war. Frau

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Doktor rannte vermutlich immer noch, aber Ada war nichtscharf darauf, einer weiteren Kugel in die Quere zu kommen.Sie hastete durch den Schacht, warf einen kurzen Blick anden bewegungslosen, riesigen Ventilatoren am anderen Endevorbei und kletterte über eine andere Leiter wieder hinunter.Der riesige, zweistöckige Raum, der die Klärmaschineriebeherbergte, war bar allen Lebens, so kalt, industriell undvollgestopft mit Equipment, wie Ada es erwartet hatte. Einehydraulische Brücke überspannte den Raum, auf die Ebenehochgefahren, auf der Ada herausgekommen war - was be-deutete, dass Annette über die Westleiter hinuntergestiegensein musste, der einzige andere Weg, der hier heraus führte.Ada ging im Geiste die Wegepläne durch, während sie überdie Brücke lief, und erinnerte sich, dass die bewusste Leiterin eine der Abraumgruben des Klär-Zentrums hinabführte -„Fallen lassen, du Miststückl"Die Stimme erklang hinter ihr. Ada blieb stehen und spürteeinen innerlichen Schmerz - den Schmerz einer saftigen Ohr-feige für ihr Ego. Das zweite Mal binnen kürzester Zeit, dasssie verdammten Mist gebaut hatte - aber um nichts in derWelt würde sie Annettes hysterischem Befehl folgen. DieZielgenauigkeit der Frau war absolut armselig - Ada spanntesich an, machte sich bereit, sich fallen zu lassen, sich herum-zudrehen und zu -Da krachte der Schuss! Die Kugel traf den Boden nebenAdas rechtem Fuß und prallte von der rostigen Brücke ab.Annette hatte sie gestellt. Ada ließ die Beretta fallen, hobdie Hände und wandte sich langsam zu der Wissenschaftlerinum.Jesus, dafür verdiene ich es zu sterben ...Annette Birkin kam auf sie zu, in ihrer ausgestrecktenHand zitterte eine Browning Neunmillimetcr. Der Anblickder bebenden Waffe ließ Ada zusammenzucken - doch siesah eine eventuelle Chance, als Annette noch näher kam undschließlich stehenblieb, weniger als drei Schritte von ihrentfernt.Zu nahe. Zu nahe, und sie steht am Rande eines völligenZusammenbruchs, ist es nicht so?„Wer bist du? Wie heißt du?!"Ada schluckte schwer und legte ein gezieltes Stottern inihre Stimme. „Ada ... Ada Wong. Bitte, schießen Sie nicht,bitte, ich hab nichts getan -"Stirnrunzelnd trat Annette einen Schritt zurück. „AdaWong. Den Namen kenne ich - Ada, so hieß Johns FreundinAdas Mund klappte auf. „Ja, John Howe! Aber - woherwissen Sie das? Wissen Sie, wo er ist?"

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Die völlig heruntergekommen wirkende Wissenschaftlerinblickte sie an. „Ich weiß es, weil John mit meinem Mann Wil-liam zusammenarbeitete. Sie haben natürlich von ihm gehört- William Birkin, der Mann, der für die Erschaffung des T-Virus verantwortlich ist."Annette leuchtete bei diesen Worten regelrecht auf in einerMischung aus Stolz und Verzweiflung. Das gab Ada Hoff-nung - das war eine Schwäche, die sie ausnutzen konnte. Siehatte die Unterlagen über William Birkin gelesen, über sei-nen stetigen Aufstieg in der Umbrella-Hicrarchie, die Fort-schritte in Virologie und genetischer Sequenzierung ... undüber die wissenschaftlichen Ambitionen, die ihn zu einemveritablen Soziopathcn gemacht hatten. Es sah aus, als bewe-ge sich seine Frau auf einer ähnlichen Ebene - und das hieß,Mrs. Birkin würde kein Problem damit haben, abzudrücken.Stell dich dumm und gib ihr keinen Grund zum Zweifeln.„T-Virus? Was ist -" Ada blinzelte, dann ließ sie ihre Au-

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gen groß werden. „Doktor Birkin? Moment mal, der Dok-tor Birkin, der Biochemiker ...?"Sie sah, wie ein Ausdruck der Freude über Annettes Ge-sicht huschte - doch dann war er wieder verschwunden, undübrig blieb nur Verzweiflung. Verzweiflung und das Flackernbitteren Irrsinns, tief in ihren blutunterlaufenen Augen.„John Howe ist tot", sagte Annette kalt. „Er starb vor dreiMonaten in der Spencer-Villa. Mein Beileid - aber anderer-seits ... Sie sind im Begriff, ihm zu folgen, nicht wahr? Siewerden mir das G-Virus nicht wegnehmen. Sie können esnicht haben!"Ada fing an, am ganzen Leibe zu zittern. „G-Virus? Bitte,ich weiß nicht, wovon Sie reden!"„Sie wissen es", knurrte Annette. „Umbrella hat Sie ge-schickt, um es zu stehlen, Sie können mir nichts vormachen!William ist tot, Umbrella hat ihn mir weggenommen. Sie ha-ben ihn gezwungen, es anzuwenden! Sie haben ihn gezwun-gen ..."Ihre Stimme wurde schwächer, bis sie schließlich ganz ver-stummte, und ihr Blick ging mit cinemmal in weite Ferne.Ada spannte sich - doch dann war Annette wieder bei sich,ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Waffe wies auf AdasGesicht.„Vor einer Woche, da kamen sie", flüsterte sie. „Sie kamen,um es zu holen, und sie erschossen meinen William, als er ih-nen die Proben nicht geben wollte. Sie nahmen den Kasten,sie nahmen alle Endresultate, beide Reihen - bis auf das eine,das er zu behalten geschafft hatte, das G-Virus ..."Annettes Stimme wuchs sich plötzlich zu einem Schreienaus, einem lächerlichen und irgendwie flehenden Schreien.„Er lag im Sterben, verstehen Sie nicht? Er hatte keine ande-re Wahll"Ada verstand. Sie verstand alles. „Er hat es sich selbst inji-ziert, stimmt's?"Die Wissenschaftlerin nickte. Ihr schlaffes, blondes Haarfiel ihr über die Augen, ihre Stimme sank wieder zu einemFlüstern herab. „Es rcvitalisiert die Zellfunktionen. Es - esveränderte ihn. Ich sah nicht - was er tat, aber ich sah dieLeichen der Männer, die versuchten, ihn zu töten, hinterher... und ich hörte die Schreie."Ada trat einen Schritt auf sie zu, streckte die Arme aus, wieum sie zu trösten, die eigene Miene zu einer Maske des Mit-leids geformt - doch Annette stieß die Waffe wieder in ihreRichtung. Nicht einmal in ihrem Kummer ließ sie Ada näher-kommen.Aber das ist fast nah genug ...

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„Es tut mir so Leid", sagte Ada und ließ ihre Arme sinken.„Dieses G-Virus, es ist also ausgebrochen, hat ganz Raccoonbefallen ..."Annette schüttelte den Kopf. „Nein. Als die Umbrella-Mör-der - aufgehalten wurden, zerbrach der Kasten. Das T-Virusbrach aus - die Labor-Mitarbeiter, die von dem freigesetztenVirus befallen wurden, hat man eingeschlossen, aber es gabRatten, verstehen Sie? Ratten in der Kanalisation ..."Sic hielt innc, ihre Lippen bebten. „... es sei denn, William,mein guter William, hat mit der Reproduktion begonnen. Em-bryos implantiert, repliziert ... dafür sollte es noch nicht ander Zeit sein, aber ich -"Sie brach ab, kniff die Augen zusammen. Der Irrsinn kamwieder über sie, so sichtbar wie eine über ihr zusammen-schlagende Welle. Leuchtendes Rot flackerte in ihren blassenWangen auf, ihre entzündeten Augen glänzten vor Paranoia.Mach dich bereit -„Du kannst es nicht haben!", schrie Annette. Speichel

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sprühte von ihren aufgesprungenen Lippen. „Er hat sein Le-ben dafür gegeben, um es vor dir zu schützen, du bist eineSpionin, und du kannst es nicht haben]"Ada duckte sich und sprang, rammte beide Arme gegen dievon Annette, drückte die Waffe nach oben und lenkte sie wegvon ihnen beiden. Die Browning entlud sich, jagte eine Kugelzur Decke, wo sie abprallte. Sie kämpften um die Waffe. An-nette war körperlich schwächer, doch sie wurde angetriebenvon Dämonen des Hasses und der Trauer. Der Wahnsinn ver-lieh ihr zusätzliche Kräfte -- aber keinen Verstand!Ada ließ die Waffe unvermittelt los, und Annette stolperte,nicht gefasst auf die unerwartete Reaktion. Sie prallte gegendas Geländer der Brücke, und Ada schlug zu, trieb ihren Ell-bogen in Annettes Magen, traf sie hinter dem Gleichgewichts-zentrum.Annette drehte sich halb herum, ihr Mund stand offen vorÜberraschung, ein dunkles Loch. Sie ruderte mit den Armen,kämpfte um ihre Balance - und dann kippte sie über das Gelän-der, ohne jeden Laut, bis das dumpfe Wump aufklang, mit demihr Körper über sieben Meter tiefer auf dem Boden aufschlug.,JScheiße", zischte Ada, trat ans Geländer und schaute hi-nab. Da lag sie, mit dem Gesicht nach unten, reglos, die Pis-tole noch immer mit einer schmalen, weißen Hand umklam-mert.Das ist großartig. Du läufst in einen Hinterhall, nicht nureinmal, sondern gleich zweimal, verdammt, und dann bringstdu das einzige durchgedrehte Miststück um. das dir hätte sa-gen können, wo sich die Proben befinden!Ein leises Stöhnen drang aus der Tiefe empor und Annet-te Birkin bewegte sich, krümmte den Rücken, versuchte, sichauf die Seite zu rollen.

Scheiße, scheiße, scheiße!Ada wandte sich um und rannte über die Brücke, hob dabeidie Beretta auf. und eilte auf etwas neben der Lüftungs-schachtleitcr zu. das wie ein Bedienfeld aussah. Sie musstedie Brücke absenken und zu Annette gelangen, ehe diese fort-kriechen konnte -- aber die Schalttafel gehörte zum Ventilator, und als einweiteres schmerzcrfülltes Stöhnen - ein etwas lauteres Stöh-nen - durch den Raum zu ihr herauf hallte, wusste Ada, dasssie nicht mehr viel Zeit hatte.Die Müllhalde, ich kann über die Müllhalde gehen unddurch einen der Tunnel in einem Bogen wieder zurück!Noch während sie es dachte, trabte sie bereits auf die West-

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leiter zu und hoffte, dass diese erbärmliche Wissenschaftlerinschwer genug verletzt war, um noch ein, zwei Minuten amBoden zu bleiben.Am Ende der Brücke befand sich ein schmaler Balkon, vondem aus sich die Halde überblicken ließ, und die Metallleiterragte aus einer Öffnung in der äußeren rechten Ecke hinab.Ada stieg so schnell sie konnte hinunter, ließ sich das letzteStück einfach fallen und landete auf einem Betonabsatz.Die Müllhaldc war ein großer, schachtelartigcr Raum. Anden Wänden türmte sich Industriemüll - zerbrochene Kisten,rostige Rohre, drahtverkrustete Tafeln und verschimmeltePappen. Ada trat von dem Vorsprung herunter und hinab infast metertiefen schwarzen Morast. Der kalte, klebrige Breistieg ihr bis zu den Oberschenkeln hoch. Es kümmerte sienicht, sie wollte nur zu Annette Birkin, um ihrem Aufenthaltin Raccoon ein Ende zu machen -- doch etwas bewegte sich. Unter der undurchsichtigen,stinkenden Flüssigkeit bewegte sich etwas Großes. Vor sichsah Ada etwas durch den Schlamm pflügen, das sie an das

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Rückgrat eines Reptils erinnerte. Sie sah und hörte, wie imgleichen Moment ein Bretterstapel etwa drei Meter von ihrentfernt ins Wasser kippte.Das darf doch nicht wahr sein ...Was es auch sein mochte, es war groß genug, um sie ihreMeinung über die Eile, die sie eben noch an den Tag gelegthatte, überdenken zu lassen. Ada wich zu dem Absatz zu-rück und stemmte sich hoch, ohne den Blick von der un-bestimmbaren Gestalt zu nehmen, die sich durch den schmat-zenden Schlamm wand. Die sich in einem plötzlichen,wüsten Aufspritzen von dunklem Morast erhob und gerade-wegs auf sie zukam. Ada riss die Beretta hoch und fing an zuschießen.In einer Ecke des Konferenzraums gab es eine winzige Auf-zugsplanform, ein metallenes Rechteck, mit dem man offen-bar nach unten fahren konnte. Claire eilte darauf zu. Stinken-des Wasser lief ihr aus den Kleidern, sie fühlte sich entsetzlichverloren und wollte alles tun. um Sherry zu finden.Bitte, sei am Leben. Baby, bitte ...Sie hatte das Abflussloch gefunden, Sherry jedoch nicht -und nach quälend langen Momenten, da sie in das rauschen-de Wasser geschrien und versucht hatte, sich in das winzigeLoch zu zwängen, hatte sie sich schließlich gezwungen, dieBemühungen aufzugeben. Sherry war fort, vielleicht ertrun-ken, vielleicht auch nicht - aber wenn sich die Strömungnicht plötzlich umkehrte, würde sie auch nicht zurückkom-men.Claire fand die Steuerung für den Lift und drückte einenKnopf. Ein verborgener Motor surrte und der Aufzug senktesich zentimeterweise durch den Boden, brachte sie wahr-scheinlich in einen weiteren leeren Gang, einen anderen lee-

ren. unbekannten Raum - oder schlimmer noch, direkt in dieNähe einer weiteren abnormen Kreatur.Frustriert ballte sie die feuchten Hände zu Fäusten undwünschte sich, während der Aufzug langsam nach unten glitt,er würde sich schneller bewegen und dass es eine Möglich-keit gäbe, ihre Suche zu beschleunigen. Sie kam sich vor,als renne sie blind umher, wahllos jeden Weg nehmend, dervor ihr auftauchte. Von dem Tunnel aus, in dem Sherry ver-schwunden war, hatte sie einen schwach beleuchteten Ganggefunden und dann diesen schlichten, irgendwie steril wir-kenden Konferenzraum. Es war wie ein endloses Funhouse -minus des Funs -, und Claire fühlte sich ziemlich mies, weilsie Sherry mit hineingenommen hatte; wenn das Mädchen totwar, musste sie es auf ihre Kappe nehmen.

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Sie gab das sinnlose Nachkarten auf, ehe es noch schlim-mer wurde, und zwang sich zur Konzentration. Selbstvor-würfe waren tödlich. Der Aufzug senkte sich in einen Gang.Claire bückte sich, hielt Irons' schwere Waffe nach vorne,während ihre neue Umgebung gleichsam in ihr Blickfeldemporstieg.Am anderen Ende des betonierten Ganges befand sich einweiterer Aufzug, ein zweiter Korridor kreuzte diesen, knappfünfzehn Meter entfernt - und neben der Kreuzung lehnte einKörper an der Wand offenbar ein Cop ...Claire verspürte eine Mischung aus Schrecken und Sorge,ihre Augen weiteten sich, als sie die schlaffen Züge des Copserkannte, seine Haarfarbe, die Statur...... ist das - Leon?Noch bevor der Lift den Boden berührte, sprang Claire abund rannte auf die zusammengesunkene Gestalt zu. Es warLeon, und er bewegte sich nicht, entweder war er bewusstlosoder tot ... aber nein, er atmete, und als sie vor ihm in die

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Hocke ging, hoben sich flatternd seine Lider. Er hielt sichden linken Arm mit der Hand seine Finger waren voller Blut.„Claire?" Seine blauen Augen wirkten klar - müde, aberwachsam.„Leon! Was ist passiert? Bist du okay?"„Ich wurde angeschossen, muss für einen Moment die Be-sinnung verloren haben ..."Vorsichtig nahm er seine Hand weg und entblößte ein klei-nes, fransiges Loch direkt über seiner Achselhöhle, aus demes rot hervorsickerte. Es sah nach sehr viel Schmer/ aus, aberzumindest sprudelte das Blut nicht aus der Wunde.Zusammenzuckend zog Leon den zerfetzten Stoff seinerUniform über die Wunde und legte seine Hand wieder darauf.„Tut höllisch weh, aber ich glaube, ich werd's überleben -Ada, wo ist Ada?"Die letzten Worte stieß er fast verzweifelt hervor. Er ver-suchte, sich von der Wand wegzustemmen. Mit einem leisenÄchzen sank er zurück, offensichtlich nicht in der Verfas-sung, sich zu bewegen.„Bleib ruhig liegen, ruh dich einen Moment aus", sagteClaire. „Wer ist Ada?"„Ich bin ihr auf dem Revier begegnet", erwiderte er. „Ichkonnte dich nicht finden, und wir hörten, dass man aus Rac-coon fliehen kann - durch die Kanalisation. Die Stadt istnicht sicher, es gab eine Art Ausbruch im Umbrella-Labor,und Ada wollte sofort verschwinden. Jemand schoss auf uns,und ich wurde getroffen - Ada verfolgte den Schützen, die-sen Gang runter, sie sagte, es sei eine Frau ...Er schüttelte den Kopf, wie um ihn klar zu bekommen, dannsah er sie mit gerunzelter Stirn an. „Ich muss sie finden. Ichweiß nicht, wie lange ich weggetreten war, aber nicht länger alsein paar Minuten, sie kann noch nicht weit gekommen sein ..."

Fr wollte sich wieder aufsetzen, doch Claire stoppte ihnund drückte ihn behutsam zurück. „Ich werde gehen. Ich -ich war mit diesem kleinen Mädchen unterwegs, und sie istirgendwo in der Kanalisation. Vielleicht kann ich sie beidefinden."Leon zögerte - dann nickte er und ergab sich seinem Han-dicap. „Wie schaut's mit deiner Munition aus?",Äh - sieben Schuss in der hier ..." Sie klopfte gegen diePistole, die sie aus dem Streifenwagen mitgenommen hatteund die jetzt in ihrem Gürtel steckte. Diese Wahnsinnsfahrtschien plötzlich eine Million Jahre zurückzuliegen...... undsiebzehn da drin."Sic hielt Irons' Waffe hoch. Leon nickte abermals, sein

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Kopf rollte erschöpft nach hinten. „Okay, das ist gut. In einpaar Minuten musste ich in der Lage sein, dir zu folgen ... seivorsichtig, in Ordnung? Und viel Glück."Claire stand auf. Sie wünschte, sie hätten mehr Zeit gehabt.Sie wollte ihm von Chris erzählen, von Irons und Mr. X unddem T-Virus, sie wollte herausfinden, was er über Umbrellawusste oder ob er den Weg aus der Kanalisation kannte -- aber diese Ada hat es womöglich gerade mit einer He-ckenschützin zu tun, und Sheriy könnte irgendwo sein. Über-all ...Leon hatte die Augen geschlossen. Claire drehte sich um,ging den Gang hinunter, der sich kreuzte, und fragte sich, obüberhaupt irgendjemand von ihnen auch nur den Hauch einerChance hatte, diesem Wahnsinn zu entkommen.

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Zwe i u nd zwan z i gAnnette tat alles weh. Langsam setzte sie sich auf. Ihr war übelvon den Schmerzherden in ihrem Körper, die um ihre Auf-merksamkeit buhlten. Ihr Nacken und der Magen taten weh, siehatte sich das rechte Handgelenk geprellt, beide Knie fühltensich an, als würden sie anschwellen - aber am schlimmsten warder scharfe Schmerz in ihrer rechten Seite. Sie glaubte, dass siesich eine Rippe angeknackst oder sogar gebrochen hatte.Du schreckliches, schreckliches Weib!Annette lehnte sich zurück, stützte den schmerzenden Na-cken mit ihrer unverletzten Hand, sah jedoch nur Metall undSchatten; Ada Wong, das Umbrella-Miststück, war offenbardavongerannt. Sie hatte vorgegeben, nichts zu wissen, dochAnnette war nicht dumm; Ada war wahrscheinlich schon aufdem Weg zum Labor - oder sie war hinter ihr her, um ihr denGaraus zu machen.Umbrella. Umbrella hat das getan ...Annette stand mühsam auf und nutzte ihren Zorn, um denSchmerz zu überwinden. Sie musste hier raus, musste zu denLabors, bevor die Spione dort eintrafen - aber, verdammt, estat so höllisch weh! Das stechende Gefühl in ihren Eingewei-den war furchtbar, wie ein Messer, das an ihren Innereien sä-belte, und das Labor schien eine Million Meilen entfernt...Kann nicht zulassen, dass sie seine Arbeit stehlen.Sie taumelte in Richtung der Tür des kavernenartigen Rau-mes, einen Arm gegen ihre schmerzende Brust gedrückt -und blieb stehen, legte den Kopf schief, lauschte.Schüsse. Sie hallten durch die kühle Luft, kamen aus denangrenzenden Müllhaldcn - und eine Sekunde später hörte sieein dröhnendes Zischen, weitere Schüsse, Wasser spritzen ...Annette grinste - ein hartes, humorloses Grinsen. Viel-leicht erreichte sie das Labor ja doch als Erste.Die Brücke, senk die Brücke ab, lass sie nicht entkommen!Müde und schmerzgepeinigt stolperte Annette zu der Hy-drauliksteuerung und aktivierte die Absenkung der Brücke.Das machtvolle Summen der Brückenmotoren übertönte denLärm des Kampfes, der nicht weit entfernt tobte. Die Platt-form neigte sich nach unten und rastete mit einem schwerenKlank ein.Annette drückte sich von der Wand fort und kippte gegendie Konsole bei der Tür. Sie fand die Schalter für den Ventila-tor und legte sie um, immer noch grimmig lächelnd, währenddas heulende Startgeräusch hoch über ihr zu einem dumpfenBrüllen anwuchs. Ada war auf der Müllhalde in Schwierig-keiten geraten, und Annette würde nicht zulassen, dass sieeinfach so wieder herauskletterte - jetzt, da die Brücke abge-

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senkt und der Schacht blockiert war, würde sich Miss WongiIrren Weg schon erkämpfen müssen.Ich hoffe, es ist ein Rudel von Leckern, du Schlampe, ichhoffe, sie reißen dich da drin in Stücke!Annette wandte sich von der Konsole ab - und fiel. DieSchmerzen und das Schwindelgefühl waren zu stark, ihre ge-prellten und anschwellenden Knie schlugen auf den Bodenund sandten neue Pfeile der Agonie durch ihre Beine.Die Tür vor ihr ging auf. Annette hob die Waffe, war jedochnicht imstande zu zielen, verwandte den verbliebenen Rest

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ihrer Kraft nur darauf zu verhindern, dass sie vor Qual undEnttäuschung aufschrie.William, es tut so weh, verzeih mir, aber ich kann nicht -Eine junge Frau ging vor ihr in die Hocke, auf dem ver-schmierten Gesicht einen Ausdruck von Argwohn und Sorge.Sie trug abgeschnittene Shorts und eine Weste, troff vor Ka-nalwasser - und hielt eine glänzende, schwere Pistole in derHand, die sie nicht direkt auf Annette richtete - aber auchnicht von ihr weg.Noch eine Spionin.„Sind Sie Ada?", fragte das Mädchen zaghaft und strecktedie Hand aus, um sie zu berühren - und das war mehr, alsAnnette verkraften konnte, vor Mitleid berührt zu werdenvon einer herzlosen, hintertriebenen Spielfigur der Firma.„Lass mich, geh weg!", knurrte Annette und schlugschwach nach der ausgestreckten Hand. „Ich bin nicht deinMittelsmann', und ich hab es nicht bei mir. Du kannst michumbringen, aber du wirst es nicht finden."Die junge Frau wich zurück, einen verwirrten Ausdruckauf dem schmutzigen Gesicht. „Was finden? Wer sind Sie?"Wieder nur Fragen ... Der Zorn verging und ließ Annettewie betäubt zurück. Sie war es müde, Spielchen zu spielen;es tat zu weh, und sie war einfach nicht mehr stark genug, umnoch zu kämpfen. „Annette Birkin", sagte sie erschöpft. „Alsob du das nicht wüsstest ..."Jetzt bringt sie mich um. Es ist vorbei, es ist alles aus.Annette konnte es nicht verhindern. Tränen rannen überihre Wangen, Tränen so sinnlos wie ihr Plan. Sie hatte Willi-am enttäuscht, sie hatte als Ehefrau und Mutter versagt undselbst als Wissenschaftlerin. Jetzt war es wenigstens vorbei,jetzt würden zumindest die Qualen ein Ende nehmen ...„Sind Sie Sherrys Mutter?"Die Worte des Mädchens lähmten sie, zerrten sie aber zu-gleich auch aus dem Zustand völliger Erschöpfung, trafen sohart wie ein Schlag ins Gesicht. „ Was?! Wer ... was wissenSie von Sherry?"„Sie ist irgendwo in der Kanalisation", sagte die junge Frauschnell. Verzweiflung klang in ihrer Stimme durch. Sie steck-te die Waffe hinter ihren Gürtel. „Bitte, Sie müssen mir hel-fen, sie zu finden. Sie wurde in einen der Abflussschächte ge-sogen, und ich weiß nicht, wo ich suchen soll ..."„Aber ich sagte ihr, dass sie zum Revier gehen muss", jam-merte Annette. Die körperlichen Schmerzen waren verges-sen, ihr Herz pumpte Wogen entsetzten Unglaubens hervor.„Warum ist sie hier? Es ist gefährlich, sie wird umgebrachtwerden! Und das G-Virus - Umbrella wird sie finden, sie

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werden es sich nehmen, warum ist sie hier'!]"Die Frau fasste abermals nach ihr. half ihr hoch, und An-nette wehrte sich nicht dagegen, war zu schwach und veräng-stigt, um sich zu wehren. Wenn Sherry in der Kanalisationwar, wenn Umbrella sie fand -Das Mädchen musterte sie aufmerksam, wirkte irgendwieschuldbewusst, ängstlich und hoffnungsvoll zugleich. „DasRevier wurde überrannt - wo führen die Abflüsse hin? Bitte,Annette, Sie müssen es mir sagen!"Die Wahrheit dämmerte durch ihre Erschöpfung und Angstwie ein Schimmer grellen Lichtes.Die Abflüsse führen hinaus ins Filterbecken - das genauneben der Fabrik-U-Bahn liegt. Der schnellste Weg zu denLabors.Es war ein Trick. Das Mädchen benutzte Sherrys Namen, umzu der Einrichtung zu gelangen, um Informationen über das G-Virus zu erhalten. Sherry war noch auf dem Revier, gesundund sicher, und das alles hier war nur eine aufwändige List.

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Aber Umbrella kennt den Weg, warum sollte sie danach fra-gen, wenn sie ihn bereits kennt? Es ergibt keinen Sinn!Annette hob die Waffe, ihr schmerzendes Handgelenk zit-terte. Sie rückte von der Frau ab. Ihre Verwirrung war zugroß, es gab zu viele Fragen - und weil sie sich nichts sichersein konnte, konnte sie nicht abdrücken.„Keine Bewegung. Folge mir nicht!", fauchte sie. DenSchmerz ignorierend, langte sie nach hinten, um die Tür auf-zudrücken. „Ich werde schießen, wenn du versuchst, mir zufolgen!"„Annette ... ich verstehe nicht, ich will doch nur -"„Halt die Klappe! Halt die Klappe und lass mich in Ruhe,könnt ihr mich nicht einfach alle in Ruhe lassen?!"Rückwärts ging sie zur Tür hinaus, drückte sie vor demüberraschten und verängstigten Mädchen zu und presste ih-ren Arm gegen ihre geprellten oder gebrochenen Rippen,kaum dass das Schott geschlossen war.Sherry...Es war eine Lüge, es musste eine Lüge sein - aber es än-derte so oder so nichts. Sie konnte es immer noch schaffen,musste zurück zur Einrichtung, um zu beenden, was sie be-gonnen hatte.Annette drehte sich um, wankte hinkend und keuchend indie kalte Finsternis des anschließenden Tunnels und ließ sichvon jedem schmerzenden Schritt daran erinnern, was Um-brella getan hatte.Eine kalte, stille Kaverne, die Wände glänzend wie Eis, undich habe mich verirrt. Ich habe mich verirrt, bin erschöpft,bin so lange gerannt und hatte solche Angst, dass ich michjetzt hinsetze und ausruhe. So ruhig, so kalt - aber mein Armtut weh, ich sitze an einer Wand, der Stacheln gewachsen

sind, und einer davon wühlt sich in mein Fleisch, durchbohrtmich. Es tut so weh. doch ich muss aufstehen, ich muss je-manden finden, ich muss —- aufwachen.Leon öffnete die Augen. Sofort war ihm bewusst, dass erwieder weggetreten gewesen war. Die Erkenntnis ließ ihmden Atem stocken, die plötzliche Angst rüttelte ihn vollendswach.Ada, Claire - Gott, wie lange ...?Vorsichtig nahm er die Hand von seinem Arm. Das Blutklebte zäh und dick zwischen seinen Fingern. Es tat weh, abernicht so heftig wie zuvor - und die Blutung hatte aufgehört,zumindest an der Einschusswundc. Die Fetzen seiner Uniformhatten die Wunde verstopft, einen harten Pfropfen gebildet.

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Leon beugte sich vor, fasste nach hinten, um die Stelle zu be-rühren, an der die Kugel ausgetreten war; wiederum fand er einverhärtetes, klebriges Stück Stoff im pulsierenden Schmerzder Wunde. Er konnte nicht sicher sein, aber er glaubte, dassdie Kugel nur durch das Fleisch gegangen war und den Kno-chen verpasst hatte - was bedeutete, dass er gottverdammtviel Glück gehabt hatte.Aber selbst wenn 's mir den Arm abgerissen hätte, Ada istimmer noch da draußen - und ich habe Claire hinter ihr her-geschickt. Ich muss ihnen nach.Er war überzeugt, dass es eher der Schock als der Schmerzoder der Blutverlust gewesen war, was ihm das Bewusstseingeraubt hatte - und er konnte sich nicht mehr Zeit nehmen,um sich zu erholen. Die Zähne zusammengebissen, stemmtesich Leon mit seinem gesunden Arm hoch. Seine Muskelnwaren kalt und steif von der klammen Kühle des Betons.Seine linke Schulter streifte über die Wand, und er keuchteauf, als sich der Schmerz kurzfristig verstärkte, heftig und

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heiß - aber er verebbte, sank nach ein paar Sekunden wiederherab zu jenem dumpfen Pochen. Leon wartete ab, tief ein-und ausatmend, und rief sich in Erinnerung, dass alles ver-dammt viel schlimmer hätte kommen können.Als er endlich auf den Beinen war. entschied er, dass er esschaffen konnte. Er fühlte sich nicht benommen oder schwind-lig, und obschon sich Blut am Boden und an der Wand befand,war es doch nicht so viel, wie er befürchtet hatte. Vorsichtigdarauf achtend, nicht mit der Wunde irgendwo gegen zu sto-ßen, drehte sich Leon um und ging, so schnell er eben konnte,den Gang zu der geschlossenen Tür am Ende hinunter.Hinter der Tür erwartete ihn ein weiterer wasserführenderTunnel, der sich nach beiden Seiten erstreckte. An der Wandlinks von ihm befand sich eine Leiter, aber er wollte nichteinmal darüber nachdenken, wie er sie hochklettern sollte,ohne seine Wunde aufzureißen - abgesehen davon drehte sicham oberen Ende ein Ventilator. Er machte sich nach rechtsauf, stieg in das dunkle Wasser hinab und watete vorwärts, inder Hoffnung, einen Hinweis darauf zu finden, wo Ada oderClaire hingegangen waren.Dieser Heckenschützin nachjagen ... wie konnte sie dastun. wie konnte sie mich einfach so liegen lassen?Nach ihrer Konfrontation mit dem kotzenden Monsterdinghatte er sich geschworen, keine Mutmaßungen mehr überAda Wong anzustellen; sie war abwechselnd kokett und un-nahbar, und wenn sie das Schießen beim Paintball-Spielen er-lernt hatte, dann war er ein Bankdirektor. Aber trotz ihresverwirrenden Verhaltens und ihrer vermutlichen Doppel-züngigkeit mochte er sie. Sie war klug und selbstbewusst. siewar schön - und er hatte angenommen, dass sich hinter dieserwidersprüchlichen Fassade eine gute, anständige Person ver-barg ...

Aber sie hat dich zurückgelassen, um der Schützin hinter-her zu rennen, ließ dich am Boden zurück, mit einer Kugel imArm. Ja, sie ist großartig - du solltest ihr einen Heiratsantragmachen.Leon erreichte eine Abzweigung des Tunnels und hörte auf,Adas Verhalten und Handeln durchschauen zu wollen. Stattdessen sagte er sich kurzerhand, dass er sie ja einfach nachihren Gründen fragen konnte, wenn er sie fand - falls er siefand. Rechterhand war eine verschlossene Tür und so wandteer sich nach links, unbehaglich in die dichter werdendenSchatten spähend, während er weitertrottete. Er hätte Clairenicht allein hinter Ada hergehen lassen dürfen, er hätte sichzusammenreißen und sie begleiten müssen ...

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Fr blieb stehen, hörte etwas. Schüsse, fern und hohl. Siekamen von irgendwo vor ihm. verzerrt durch das gewundeneLabyrinth aus Tunneln, die das Kanalnetz bildeten.Die Magnum nach wie vor festhaltend, presste Leonsein Handgelenk auf die Schusswunde und rannte los. DerSchmerz wurde wieder heftiger, verursachte ihm Übelkeit.Mehr als einen schlurfenden Trab brachte er nicht zustande,das Wasser behinderte ihn fast eben so sehr wie das grässli-ehe Beißen der Verletzung - doch als das letzte Echo derSchüsse verklang, brachte er irgendwie die Motivation auf,noch schneller zu laufen.Links vor ihm befand sich eine schwach beleuchtete Ab-zweigung des Tunnels. Fahlgelbes Licht fiel von dort auf dassanft schwappende Wasser. Noch bevor er die Stelle erreich-te, sah er, dass er eine Wahl würde treffen müssen. Geradeauslag eine Art Plattform, eine schwere Tür, die in die Ziegelstei-ne des Tunnelendes eingelassen war. Von der Decke lief Was-ser in schmalen Rinnsalen herab.Eine naheliegende Wahl, nur ...

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Leon blieb in dem langgestreckten Fleck aus trübem Lichtstehen und sah in die Abzweigung hinein. Eine weitere Tür.aber er hatte keine Zeit mehr für eine langwierige Entschei-dungsfindung, die Schüsse konnten von überall her gekom-men sein -Bamm-bamm!Nach links. Leon sprang aus dem Tunnel, spürte neuerli-chen Schmerz, spürte heiße Nässe an seinem Handgelenk, alsdie Wunde wieder aufbrach. Er achtete nicht darauf, eilte zurTür und zog sie auf. hörte weitere Schüsse fallen, während ereinen breiten, leeren Gang hinunterlief.Der Korridor, den er betreten hatte, war so düster und kaltwie die Kanäle, aber viel größer, breiter, vermutlich eine ArtTransportstraße für schweres Gerät. Der Gang machte eineBiegung nach links, dann noch eine. An der zweiten Eckestanden Kisten und Stahlzylinder in einem Regal, gleich ne-ben einer Art Ladetor.Acetylen, Oxygen vielleicht... Großer GOTT, was steckt soviele Kugeln ein. ohne zu sterben?Er vernahm eine weitere Folge von Schüssen, hörte Wasseraufspritzen - und ein anderes Geräusch, ein tiefes, gutturalesZischen, das ihn bis ins Mark erschauern ließ. Seltsam ver-traut, aber zu laut, um möglich zu sein.Eine Million Schlangen, tausend riesige Katzen, irgendeinvorzeitlicher, schrecklicher Dinosaurier ...ET rannte und gab es schließlich auf. das Einschussloch be-deckt halten zu wollen: er musste seinen Arm bewegen, umschneller laufen zu können. Das Ende des Tunnels war nahe.Er sah eine Schalttafel mit blinkenden Lichtern und eine Öff-nung links, ein weiteres riesiges Ladetor -und blieb gerade noch rechtzeitig stehen, um nicht in dieSchusslinie zu laufen, als eine weitere Serie schneller Schüs-se aufklang, als Wasser mit donnerndem Krachen hochsprüh-te und in dichten Strömen herabregnete.„Aufhören! Ich komme rein!" rief erund hörte Adas Stimme und fühlte sich von Erleichterungüberwältigt, vergaß, was da Für ein Horror vor ihm liegenmochte.„Leon!"Sie lebt!Mit erhobener Magnum, seine Wunde nunmehr wiederstark blutend trat Leon vor die offene Tür - und entdeckteAda auf der anderen Seite des Sees aus aufgewühltem Unrat.Kisten und zerbrochene Bretter schwammen in der wogendenFlüssigkeit. Ada stand auf einem schmalen Betonvorsprungunter einer Leiter, ihre Beretta in das brodelnde Becken ge-

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richtet.„Ada, was -"Etwas Riesiges brach aus dem See hervor und fegte Leonvon den Füßen, drosch ihn zurück in den Korridor. Es ging soschnell, dass er es erst sah. als er schon durch die Luft flog -sein Verstand vermittelte ihm das Bild, als er zu Bodenschlug. Er fiel auf seinen verletzten Arm und schrie auf, vorSchreck über das, was er gesehen hatte, ebenso wie ob derbrutalen Schmerzexplosion.Ein ... Krokodil...!Leon kam auf die Füße und stolperte davon - und die Rie-senechse, das Krokodil, zehn Meter lang, kroch hinter ihmmit einem mächtigen, kehligen Brüllen in den Gang. Der Be-ton erbebte, als das gigantische Reptil aus seinen angestamm-ten Wassern stieg. Literweise strömte ihm die schwarze Brü-he aus dem zahne fletschenden, grinsenden Maul.Ein Maul so groß wie ich, größer noch ...Leon rannte, es gab keinen Schmerz mehr, sein Herz häm-

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merte in extremer Panik. Es würde ihn fressen, es würde ihnin hundert schreiende, blutige Fetzen reißen -und die Beste brüllte wieder auf, ein groteskes tiefesRöhren, das Leons Knochen erbeben, das ihm den Schweißaus jeder zitternden Pore brechen ließ -und er warf einen Blick zurück und sah, dass er viel, vielschneller war als die grinsende Echse. Sic war immer nochdabei, durch das Ladetor zu steigen, auf kurzen, stämmigenBeinen, und ihr unfassbarer Rumpf war zu groß, um ihn soohne weiteres manövrieren zu können.Benebelt vor Schrecken, wechselte Leon die Waffen. SeineWunde protestierte, als er die Remington durchlud. Aufwackligen Beinen schlich er rückwärts, erreichte eine Gang-biegung -- und verschoss alle fünf Patronen, so schnell er sie in denLauf pumpen konnte. Die schweren Geschosse schlugen indie grauenhafte Schnauze des Monsterkrokodils.Es brüllte auf, schwang seinen Schädel von einer Seite zuranderen, und Blut ergoss sich eimerweise aus seiner grinsen-den Fratze. Aber es kam immer noch näher, bewegte sich ge-schmeidig voran, zog seinen gepanzerten Schwanz aus demschleimigen Pfuhl.Niehl genug, nicht genug Power ...Leon drehte sich um und rannte wieder los. entsetzt darüber,dass er sich zurückziehen musste. Fr hatte Angst, was Ada zu-stoßen würde, wenn er das Krokodil zurückließ, doch er wuss-te, dass es weitere fünfzig Schuss brauchen würde, um diesesDing aufzuhalten - entweder das oder einen Atomschlag, undwarum dachte er überhaupt noch? Er musste jetzt weg, nurweg, und konnte sich später darum sorgen, was zu tun war.Halt durch. Ada!Die Schritte des Giganten dröhnten in seinen Ohren, als er

an den Kisten und der Phalanx aus Stahlzylindern vorbeirannteund stehenblieb. Er hatte eine Idee - und als die furchtba-re Echse einen weiteren donnernden Schritt tat, machte Leonkehrt und lief zurück.Lieher Gott. mach, dass das klappt, im funktioniert es dochauch immer, bitte, lieber Gott, hilf mir ...Die fünf glänzenden Zylinder standen auf einem Regal, dasin die Wand eingelassen war, und wurden von einem Stahlseilgehalten. An der Seite des Regals befand sich ein Auslöse-knopf für das Seil. Leon drückte ihn, und das dicke Tau fiel,eines der losen Enden klatschte zu Boden.Leon ließ das Gewehr fallen und packte den nächststehen-

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den Zylinder. Seine Muskeln spannten sich, Blut quoll ausseinem verletzten Arm. Er spürte, wie es in dünnen, tröpfeln-den Rinnsalen über seine schweißnasse Brust lief, doch ergab nicht auf, schaukelte auf den Hacken nach hinten, umden Behälter mit komprimiertem Gas herauszuziehen.Na also ...Leon sprang zurück, als der silberfarbene Behälter vomRegal zu Boden fiel und ein paar Zentimeter weiter rollte. Ersah auf und stellte fest, dass das Krokodil weitere fünfzehnMeter zurückgelegt hatte - es war so nahe, dass Leon diestumpfen, schmutzigen Löcher in den fünfzehn Zentimeterlangen Zähnen sehen konnte, als es abermals brüllte. Leonkonnte den nach verwestem Fleisch stinkenden Atem riechen.Leon stemmte einen Stiefel gegen den Zylinder und drück-te so fest er nur konnte; der Behälter rollte träge auf die näherkommende Echse zu. Es war unglaubliches Glück, dass derBoden des Ganges etwas abschüssig war - der über hundertKilo schwere Zylinder gewann an Geschwindigkeit, währender sich in Richtung des Krokodils bewegte.

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Im Zurückweichen riss Leon die Magnum aus dem Gürtelund richtete sie auf den glänzenden Behälter, zwang aberseinen Finger, noch nicht abzudrücken. Das Krokodil stapftevoran. Sein Schwanz hieb so wuchtig gegen die Wände, dassunter jedem dieser brutalen Peitschenschläge Steinstaub he-rabrieselte. Leon war wie gebannt. Er konnte sich nicht ein-fach umdrehen und fliehen ...Komm schon, du Bastard!Kaum dreißig Meter entfernt kollidierten das Krokodil undder Zylinder miteinander - und da zog Leon endlich denStecher durch. Der erste Schuss prallte mit einem Ping vomBoden vor dem schaukelnden Behälter ab - und das grin-sende Maul klaffte auf. Das gewaltige Tier senkte den Kopf,um nach dem Hindernis zu schnappen und es beiseite zudrücken.Ganz ruhig ...Leon drückte abermals ab, und -KA-BUMM!- wurde zu Boden geschleudert, als der Behälter hochging.In einem Wirbel aus zerreißendem Stahl und entzündeten Ga-sen wurde der Schädel der Kreatur buchstäblich ausradiert,verschwand wie ein geplatzter Ballon. Fast gleichzeitig wur-de Leon von einer Woge dampfenden Blutes getroffen, Zahn-und Knochensplitter und zerfetztes, rauchendes Fleischklatschten auf ihn herab wie eine schwere, nasse Decke.Würgend, mit klingelnden Ohren und blutendem Arm setz-te sich Leon auf. während der kopflose Kadaver zu Bodensackte. Die Beine knickten unter dem Gewicht des Reptilien-monstrums weg.Leon presstc seine blutverschmierte Hand auf die Wunde.Er war erschöpft, ihm war übel vor Schmerzen - und dochfühlte er sich so tief befriedigt wie seit langem nicht mehr.

„Hab ich dich erwischt, du dämliches Vieh", knurrte er lä-ehclnd. Als Ada einen Augenblick später den Gang hcrauf-trabte, fand sie ihn genau so vor: Sein Werk in benommenemTriumph anstierend, blutig und blutend und grinsend wieein kleiner Junge.

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Dre iundzwanz igLeon trug ein weißes Unterhemd unter seiner Uniform. Adariss es in Streifen, verband seinen Arm damit und fertigte ihmeine behelfsmäßige Schlinge, die sie ihm anlegte, nachdemsie ihm sein zerrissenes Hemd wieder übergezogen hatte. Erhatte so viel Blut verloren, dass er benommen war, hilflosfast, und Ada nutzte seinen leichten Schock, um ihm berich-ten. Gleichzeitig versorgte sie ihn wobei die komplexen Ge-fühle, die in ihr miteinander rangen, sie selbst irritierten.„... und ich dachte, sie käme mir bekannt vor. Ich dachte,ich hätte sie durch John kennen gelernt, und ich hatte sie fasteingeholt - aber sie muss irgendwie an mir vorbeigekommensein. Ich verirrte mich in den Tunnels, versuchte, den Weg zu-rück zu finden ..."Nichts davon war wahr, aber Leon schien es nicht zu be-merken - genau so wenig wie er bemerkt hatte, wie sanft undbehutsam sie ihn berührte, oder wie ihre Stimme leicht zitter-te, als sie sich zum dritten Mal dafür entschuldigte, dass sieihn zurückgelassen hatte.Er hat mir das Lehen gerettet. Schon wieder. Und alles,was ich ihm dafür zu gehen habe, sind Lügen, berechnendeTäuschungsmanöver als Lohn für seine Selbstlosigkeit...Etwas hatte sich für sie verändert, als er die für sie be-stimmte Kugel abgefangen hatte, und sie wusste nicht, wie

diese Veränderung rückgängig zu machen war. Schlimmernoch, sie wusste nicht, ob sie sie rückgängig machen wollte.Es war wie die Geburt eines neuen Gefühls, eine Emotion,die sie nicht zu benennen vermochte, die sie aber völlig aus-zufüllen schien; es war beunruhigend, hinterließ Unbehagen- und doch war es nicht gänzlich unangenehm. Seine clevereLösung des Problems, das dieses nahezu unbesiegbare Kro-kodil dargestellt hatte diese Kreatur, die sie lediglich aufDistanz hatte halten können, allen Bemühungen zum Trotz -,hatte dieses namenlose Gefühl sogar noch verstärkt. DasLoch in seinem Arm war nur eine Fleischwunde, aber in An-betracht des Stromes frischen Blutes auf seiner glatten Brustund seinem Bauch wusste sie, dass es sehr wehgetan habenmusste - dass es ihn ausgelaugt, fast umgebracht hatte, wäh-rend er alles daran setzte, ihren Hintern zu retten.Werd ihn jetzt los, zischte es in ihrem Kopf, lass ihn hier,lass sein hehres Verhalten nicht deine Aufgabe beeinflussen -den Job, Ada, die Mission. Dein Leben.Sie wusste, dass es das war, was sie tun musste, es war daseinzig Mögliche - aber als Leon so gut verarztet war, wie sie

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es nur vermochte, und sie Lügengebilde erzählt hatte, vergaßsie bequemerweise, auf sich selbst zu hören. Ada half ihm aufdie Füße, führte ihn weg von der mit Eingeweide besudeltenStelle, an der das monströse Reptil verendet war, und dabeiplapperte sie irgendwelchen Unsinn - dass sie, als sie sichverlaufen hatte, etwas gefunden habe, das wie ein Ausgangaussah.Annette Birkin war verschwunden. Sobald Leon das Kro-kodil aus der Müllhalde gelockt hatte, war Ada die Leiterhochgeklettert und hatte nachgeschaut. Sie hatte gesehen,dass Annette noch über genug Verstand verfügt hatte, dieVentilatoren einzuschalten und die Brücke abzusenken, bevor

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sie davongerannt war. Womit sie Adas andere Fluchtmöglich-keiten wirkungsvoll eliminiert hatte. Die Frau mochte ja einePsychopathin sein, aber sie war keine Idiotin - und wenn sieauch falsch gelegen hatte, was Adas Quellen anging, hatte siehinsichtlich ihrer Absichten doch ins Schwarze getroffen. Umdie Mission abzuschließen musste Ada so schnell sie konnteins Labor gelangen, bevor Annette imstande war, irgendetwas.. .Endgültiges zu unternehmen - und Leon, der schweigende,taumelnde Leon, würde diese Wegzeit noch einmal um gutdie Hälfte verlängern.Lass ihn hier! Wirf den Ballast ab, du bist keine Kranken-schwester, um Himmels willen, das bist nicht mehr du selbstAda!„Ich hab Durst", flüsterte Leon. Warm strich sein Atemüber ihren Hals. Sie blickte in sein blutverschmiertes, verknif-fenes Gesicht und stellte fest, dass es diesmal leichter war, dieinnere Stimme zu ignorieren. Sie musste ihn verlassen, natür-lich, am Ende würden sich ihre Wege trennen müssen -- aber noch nicht jetzt.„Dann müssen wir etwas Wasser für dich finden", sagte sieund lenkte ihn sanft in die Richtung, in die es sie zog.Sherry erwachte im Finstern. Sie hatte einen furchtbar bitte-ren Geschmack im Mund, und an ihren Kleidern zerrte einkalter, schmieriger Strom. Um sie her herrschte ein Getöse,als stürze der Himmel ein, und einen Moment lang konnte siesich weder erinnern, was passiert war, noch, wo sie sich be-fand - und als sie feststellte, dass sie sich nicht bewegenkonnte, geriet sie in Panik. Das Donnern ebbte ab und erstarbschließlich vollständig - aber sie steckte in irgendeinem stin-kenden Fluss, wurde gegen etwas Kaltes und Nasses ge-drückt, und sie war allein.Sie öffnete den Mund zu einem Schrei - und das brüllendeMonster fiel ihr ein, das Monster und dann der riesenhafte,glatzköpfige Mann und schließlich Claire. Der Gedanke anClaire verhinderte ihren Schrei; Claires Bild kam irgendwieeiner beruhigenden Berührung gleich, wirkte trostspendendin all dem blinden Entsetzen, und ermöglichte es Sherrynachzudenken.Ich wurde in ein Abflussloch gesaugt, und jetzt bin ich - ir-gendwo anders, und schreien wird mir nicht helfen.Es war ein tapferer Gedanke, ein starker Gedanke, und ihnzu denken ließ sie sich schon besser fühlen. Sie drückte sichweg von dem harten Etwas in ihrem Rücken, trat das dunkleWasser und stellte fest, dass sie gar nicht feststeckte - sie wargegen eine Reihe von üitterstäben oder Öffnungen im Felsgepresst worden, und die Kraft der Strömung hatte sie dort

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festgehalten, festgehalten und womöglich vor dem Ertrinkengerettet. Um sie her floss der eklige Glibber, blubbernd wiejeder gewöhnliche Fluss, nicht mehr annähernd so stark wiezuvor - und der eklige Geschmack in ihrem Mund musste be-deuten, dass sie etwas davon geschluckt hatte ...Dieser Gedanke weckte auch noch den Rest ihrer Erinne-rung. Sie hatte sich von der Strömung mitreißen lassen, sichdann irgendwie gedreht, etwas von der chemisch schmecken-den, widerlichen Flüssigkeit verschluckt und war ausgerastet- ohnmächtig geworden, dachte sie.Zumindest der Lärm hatte aufgehört, was auch immer ihnverursacht haben mochte. Das Geräusch hatte an einen fah-renden Zug erinnert oder einen riesigen Truck; brüllend hattees sich entfernt... und jetzt, da sie wacher war, merkte Sherry,dass sie sehen konnte. Nicht sehr viel, aber genug, um zu er-kennen, dass sie sich in einem mit Wasser gefüllten Raum auf-hielt, und von weit oben fiel ein schwacher Lichtstrahl herab.

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Es muss einen Weg hinaus gehen. Irgendwer hat diesen Raumgebaut, und diese Leute mussten ja auch hinauskommen ...Sherry schwamm etwas weiter in den großen Raum hinein,und dabei spürte sie, wie ihre strampelnden Füße über etwasHartes streiften. Etwas Hartes, Flaches. Sie kam sich dummvor, dass sie nicht schon eher daran gedacht hatte - holte tiefLuft, streckte die Beine nach unten, und dann stand sie. DasWasser reichte ihr bis zu den Schultern, aber sie konnte ste-hen.Die letzten Spuren von Panik wichen von ihr, als sie da inder Mitte des Raumes stand und sich langsam umdrehte. IhreAugen hatten sich endlich ganz auf das schwache Licht ein-gestellt - und sie sah die Umrisse einer Leiter an der gegen-überliegenden Wand. Sie hatte noch immer Angst, gar keineFrage, aber der Anblick der schemenhaften Sprossen bedeu-tete, dass sie einen Weg hinaus gefunden hatte. Sherry pad-delte auf die Leiter zu, stolz darauf, wie gut sie sich hielt.Kein Schreien, kein Weinen. Genau wie Claire gesagt hat.Ich bin stark.Sie erreichte die Leiter und hob ihre Knie zur unterstenSprosse hoch, die ein paar Zentimeter über der Wasserober-fläche lag. Sie zog die Füße nach, dann kletterte sie nachoben. Die glitschigen Metallstangcn unter ihren Händen lie-ßen sie das Gesicht verziehen. Die Leiter schien kein Ende zunehmen, und als Sherry einen Blick nach unten riskierte, umzu sehen, wie weit sie schon gekommen war, konnte sie nureinen winzigen, schimmernden Fleck ausmachen, wo dasLicht direkt auf die bewegte Wasseroberfläche fiel. Sie konn-te auch die Quelle des Lichtes sehen - ein schmaler Schlitz inder Decke, nicht weit über ihr.Fast oben. Und wenn ich falle, werde ich mir nicht wehtun.Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste.

Sherry schluckte schwer, wünschte sich, dass dieser Ge-danke der Wahrheit entsprach, und schaute wieder nach oben.Noch ein paar Sprossen, und als sie nach der nächsten fass-te, berührte ihre Hand eine unebene Metalldecke. Sie hattedas Gefühl, es geschafft zu haben, und drückte mit einerHand dagegen -- aber das Metall bewegte sich nicht. Kein bisschen.„Scheiße", flüsterte Sherry, aber es klang nicht so verär-gert, wie sie gehofft hatte; das Wort klang klein und einsam,beinahe wie ein Flehen.Sie hakte einen Ellbogen um die Leiterstufe, an der sie sichfesthielt, berührte ihren Glücksbringer, und versuchte es nocheinmal. Diesmal drückte sie richtig fest. Unter Einsatz all ih-

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rer Kräfte meinte sie zu spüren, wie die Decke nachgab, einwenig nur - und nicht annähernd genug. Sie ließ die Handsinken, fluchte diesmal im stillen. Sie saß hier fest.Minutenlang bewegte sie sich nicht. Sie wollte nicht wiederhinunter ins Wasser, wollte nicht glauben, dass sie wirklichfestsaß - doch ihre Arme wurden müde. Sie wollte immernoch nicht springen. Schließlich stieg sie wieder hinunter,viel langsamer, als sie heraufgeklettert war. Jeder Schrittnach unten war wie das Eingeständnis einer Niederlage.Sie hatte etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als sieüber sich Schritte hörte - ein leichtes Pochen erst, eher einVibrieren als sonst etwas, doch dann spaltete sich das Ge-räusch rasch in einzelne Schritte auf, die lauter wurden, näherkamen - und noch lauter wurden, sich der Decke der Grubenäherten, in der Sherry zu sich gekommen war.Einen Augenblick lang erwog sie, die Schritte nicht zu be-achten, dann krabbelte sie doch die Leiter hoch, und be-schloss, das Risiko einzugehen. Es war es wert. Es mochtenicht Claire sein, vielleicht nicht einmal irgendjemand, der

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ihr wohlgesinnt war - aber es konnte ihre einzige Charsein, hier herauszukommen.Sie fing schon an zu rufen, noch ehe sie wieder das obiEnde der Leiter erreicht hatte. „Hallo! Hallo, können Siemich hören? Hallo - hallo!"Die Schritte schienen innezuhalten, und als Sherry wiederunter der Decke anlangte, immer noch rufend, schlug sie etl:

che Male mit der Faust gegen das Metall.„Hallo, hallo, hallo!"Ein weiterer Hieb mit ihrer schmerzenden Hand - und dannschlug sie in die Luft, und blendendes Licht traf ihr Gesicht.„Sherry! O mein Gott, Schätzchen, ich bin ja so froh, dassdu in Ordnung bist!"Claire, es war Claire. Sherry konnte sie zwar nicht sehen,aber allein der Klang ihrer Stimme überwältigte sie fast vorFreude. Starke, warme Hände halfen ihr hinauf, warme,feuchte Arme schlössen sich fest um sie. Sherry blinzelte undverdrehte die Augen und war allmählich imstande, durch diestrahlend weiße Lichtfülle die Umrisse eines weitläufigenRaumes auszumachen.„Woher wusstest du, dass ich es bin?", fragte Claire, ohnesie loszulassen.„Wusste ich nicht. Aber ich kam aus eigener Kraft nichtraus, und da hörte ich Schritte ..."Sherry schaute sich in dem großen Raum um, in den Clairesie gezogen hatte, und empfand lähmendes Staunen, dass ihreFreundin sie überhaupt gehört hatte. Der Raum war gewaltig,wurde von einer Reihe schmaler Metalllaufstegc diagonaldurchzogen - und der Teil des Bodens, aus dem sie geklettertwar, befand sich im hintersten Winkel des finstersten Teilesdieses Raumes. Die Platte, die Claire hochgehoben hatte, warnur ein paar Schritte entfernt.

Mann. Wenn ich nicht geklopft hätte, oder wenn sie nur einbisschen schneller gegangen wäre ...„Ich bin echt froh, dass du es bist", sagte Sherry fest, undClaire grinste. Sic wirkte so glücklich und erstaunt, wie Sher-ry sich fühlte.Claire kniete vor ihr, und ihr Lächeln schwand ein wenig.„Sherry - ich hab deine Mom gesehen. Sie ist okay, sielebt -"„Wo? Wo ist sie?", platzte es aufgeregt aus Sherry hervor -doch sie verspürte auch eine Art ängstlicher Verunsicherung,die plötzlich ihre Muskeln verspannte und ihr das Atmen er-schwerte.Sie schaute in Claires besorgte graue Augen und erkannte,

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dass sie wieder daran dachte zu lügen - dass sie nach dembesten Weg suchte, ihr etwas Unangenehmes beizubringen.Noch vor ein paar Stunden hätte Sherry das vielleicht zuge-lassen -- aber jetzt nicht mehr. Wir müssen stark und tapfer sein!„Sag's mir, Claire. Sag mir die Wahrheit."Claire seufzte kopfschüttelnd. „Ich weiß nicht, wo sie hin-gegangen ist. Sie hatte - Angst vor mir, Sherry. Ich glaube,sie hat mich für jemand anders gehalten, jemanden, der böseist oder verrückt. Sie ist vor mir weggelaufen - aber ich binziemlich sicher, dass sie hier entlang ging, und ich versuchte,sie wiederzufinden, als ich dich rufen hörte."Sherry nickte langsam, bemühte sich, die Vorstellung hin-zunehmen, dass ihre Mutter sich komisch benommen hatte -so komisch, dass Claire die Notwendigkeit sah, es zu beschö-nigen.„Und du glaubst wirklich, sie ist hier durchgegangen?",fragte Sherry schließlich.„Ich kann's nicht sicher sagen. Ich bin auch diesem Cop be-

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gegnct, Leon, bevor ich deine Mutter sah. Ich lernte ihn ken-nen, nachdem ich in der Stadt angekommen war. Er war in ei-nem der Tunnel, durch die ich ging, nachdem du verschwen-den warst. Er war verletzt und konnte deshalb nicht mit mirkommen, um nach dir zu suchen - darum bin ich umgekehrt,um ihn zu holen, als deine Mutter verschwunden war. Aber erwar —"„Tot?"Claire schüttelte den Kopf. „Nein. Nur weg also ging ichdenselben Weg wieder zurück, und meiner Meinung nachkann deine Mom nur diesen Weg genommen haben. Aber wiegesagt, sicher kann ich mir nicht sein ..."Sie zögerte und blickte Sherry nachdenklich an. „Hat dirdeine Mom je von einem G-Virus erzählt?"„G-Virus? Ich glaube nicht."„Hat sie dir je etwas zur Aufbewahrung gegeben, einenkleinen Glasbehälter zum Beispiel, irgendwas in der Art?"Sherry runzelte die Stirn. „Nein, nichts. Warum?"Claire stand auf. legte die Hand auf Sherrys Schulter unzuckte zugleich die Achseln. „Es ist nicht weiter wichtig."Sherry kniff die Augen zusammen, und Clairc lächelte wie-der. „Wirklich. Komm, sehen wir mal, ob wir herausfinden,wo deine Mom hingegangen ist. Ich wette, sie sucht nach dir."Sherry ließ Claire vorausgehen und fragte sich, warum sieplötzlich sicher war - fast überzeugt sogar -, dass Claire ihrnicht glaubte, was sie ihr geantwortet hatte ... und sie wunder-te sich, dass sie es nicht fertig brachte, weiter danach zu fragen.Der Maschinenaufzug befand sich, ebenso wie die U-Bahn,genau dort, wo Annette ihn verlassen hatte. Ihr Spielraumhatte sich zwar verringert, aber sie war den Spionen immernoch voraus, dieser Ada Wong und ihrer kleinen Freundin ...

Lügen! Erzählen mir Lügen, wie sie alle Lügen erzählen,als ob der Verlust von William, das Erleiden solchen Schmer-zes und solcher Trauer nicht reichte, sie zu beschämen ...Sie fummelte den Steuerungsschlüssel aus der Tasche ihreszerfetzten Laborkittels und lehnte sich schwer gegen dieKontrollen, als sie den Schlüssel einführte und drehte. Ihrezitternden Finger berührten den Aktivierungsschalter, undeine Reihe von Lichtern erschien auf der Konsole, selbst inder mondlichtdurchwobenen Dunkelheit noch zu hell. KühleHerbstluft strich über ihren schmerzenden Körper, ein ange-nehmer, sanfter Wind der nach Feuer und Krankheit roch ...... wie Halloween, wie Scheiterhaufen im Dunkeln, wennsie ihre Toten hinausschafften und das pestzerfressene Fleischder verseuchten Leichen verbrannten ...

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Vier brüllende Sirenen plärrten zum Nachthimmel. DerBlick zu der großen Aufzugskabine signalisierte ihr, dass esZeit zum Gehen war. Annette wankte die grauen und gelbenStufen hinauf, unfähig, sich zu erinnern, woran sie eben nochgedacht hatte. Es war Zeit zu gehen, und sie war so furchtbarmüde. Wie lange war es her, dass sie geschlafen hatte? Auchdaran konnte sie sich nicht erinnern.Hab mir den Kopf gestoßen, was? Oder bin vielleicht auchnur schläfrig...Sie war zuvor schon erschöpft gewesen, aber der gnadenlo-se Schmerz ihrer Verletzungen hatte sie an einen delirantenOrt gesandt, von dem sie sich nie hätte vorstellen können,dass er existierte. Ihre Gedanken wurden begleitet von spiral-artigen, unangenehmen Gefühlsausbrüchen, mit denen sienicht klar kam, jedenfalls nicht in befriedigender Weise. Siewusste, was zu tun war - das Auslösesystem, das Öffnen desU-Bahn-Schotts, das Verstecken in den Schatten und dasWarten auf Heilung -, doch der Rest war zu einer seltsamen,

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unzusammenhängenden Gruppierung freier Assoziationen ge-worden, als hätte sie Drogen genommen, die ihre Sinne über-sättigt hatten und ihre Gedanken nur häppchenweise voran-kommen ließen.Es war fast vorbei. Das war etwas, an dem sie sich festhal-ten konnte, eine der wenigen Konstanten in ihrem getrübtenGeist. Eine positive und irgendwie magische Feststellung,die sie noch sehen konnte, ganz gleich, wie blind sie wurde.Auf ihrem Weg durch die Fabrik hatte sie gehustet und gehus-tet und dann vor Schmerz einen dünnen, sauren Strahl vonGalle erbrochen, der dunkle Blasen vor ihren Augen haltezerplatzen lassen, und die Dunkelheit hatte so lange gedauert,dass sie dachte, sie würde tatsächlich ihr Augenlicht verlie-ren ...Es ist fast vorbei.Den Gedanken umklammernd wie eine verlorene Liebe,fand sie die Luke in den Metallraum und ging hinein. DieKontrollen - aktiviert. Die Bewegung und das Geräusch vonBewegung hüllten sie ein, als sie sich auf eine weiche Metall-pritsche legte und die Augen schloss. Ein paar SekundenRuhe, und es war fast vorbei ...Annette sank ins Dunkel. Die summenden Motoren lulltensie in tiefen, übcrgangslosen Schlaf. Sie sank tiefer, ihreMuskeln entspannten sich, Schmerzen und Elend lockertenihren Griff - und für eine scheinbar endlose Zeitspanne fandsie Stille -- bis ein heulender, schrecklicher Schrei die Dunkelheitzerschnitt, ein Kreischen, so zornig und voller Schmerz, dasses ihr Herz anrührte. Es riss sie ins Leben zurück, keuchendund voller Angst -- und dann erkannte sie, was sie aus ihrem traumlosenSchlaf gerissen hatte, und ihre Gedanken sammelten sich undgaben ihr eine weitere klare Konstante, an die sie sich klam-mern konnte.Es war William. William war heimgekommen, er war ihrgefolgt - und Umbrella würde nichts bekommen, denn dasDing, das ihr Ehemann gewesen war, war zurück in dieSprengzone gekommen.Der Schrei erklang abermals, und diesmal verhallte er aneinem der vielen verborgenen Orten des Labors, während derAufzug tiefer und tiefer sank.Annette schloss erneut die Augen, der gerade entstandeneGedanke schloss sich der Sehnsucht von vorhin an, und bei-des zusammen machte sie endlich glücklich.William ist heimgekommen. Es ist fast vorbei.Der dritte Gedanke folgte ganz natürlich, fügte sich hinzu,

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während sie zurück in ihre Stille glitt, wohl wissend, dass sienur zu bald wieder aufstehen musste, um die letzte Reise an-zutreten. Wenn der Aufzug anhielt, würde sie aufwachen undbereit sein.Umbrella wird leiden für das, was sie getan haben - undam Ende werden alle sterben.Lächelnd schlief Annette ein und träumte von William.

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VierundzwanzigWährend er im Kontrollraum saß, wo Ada ihn zurückgelassenhatte, begann Leon, sich allmählich wieder wie er selbst zufühlen. In einem der staubbedeckten Schränke hatten sie einErstc-Hilfe-Set gefunden, dazu eine Flasche Wasser. Ada warerst seit etwa zehn Minuten fort, aber inzwischen machte sichdas Aspirin bemerkbar, und das Wasser hatte Wunder gewirkt.Er saß vor einer mit Schaltern bedeckten Konsole undversuchte zusammenzupuzzeln, was nach der Explosion inder Kanalisation geschehen war. Das Letzte, woran er sichwirklich deutlich erinnerte, war, wie das kopflose Krokodilzusammengebrochen und er dann von Benommenheit undSchwäche überwältigt worden war. Ada hatte ihn verbundenund dann durch die Tunnel geführt -- und eine U-Bahn, wir fuhren mit einer U-Bahn, ein, zweiMinuten lang -- und schließlich in diesen Raum, wo er sich, wie sie ge-sagt hatte, ausruhen sollte, während sie fortging, um etwas zuüberprüfen. Leon hatte protestiert, hatte sie daran erinnert,dass es nicht sicher sei, aber er war noch zu benommen gewe-sen, um irgendetwas anderes zu tun, als dort sitzen zu blei-ben, wo sie ihn hingesetzt hatte. Er hatte sich noch nie sohilflos gefühlt oder so vollkommen abhängig von einer an-deren Person. Nachdem er aber etwa die Hälfte des Wassers,

das ihm zur Verfügung stand, getrunken hatte, ging es ihmwieder besser. Offenbar führte Blutverlust zu Dehydrierung.Sie gab mir also das Wasser und ging dann weg, um wasgenau zu überprüfen? Und woher wusste sie, wie man hier-her gelangt?Leon war kaum fähig gewesen zu laufen, geschweige dennirgendwelche Fragen zu stellen - doch selbst im Deliriumhatte er bemerkt, wie zielstrebig sie gewesen war, wie sie die-sen Weg mit unerschütterlicher Präzision gewählt hatte. Wo-her hatte sie ihre Kenntnisse? Sie war eine Kunsthändlerinaus New York, wie konnte sie irgendetwas über das Kanal-netz von Raccoon City wissen?Und wo ist sie jetzt? Warum ist sie noch nicht wieder zu-rück?Sie hatte ihm geholfen, sie hatte ihm höchstwahrscheinlichdas Leben gerettet - aber er konnte einfach nicht länger glau-ben, dass sie diejenige war, für die sie sich ausgab. Er wolltewissen, was sie tat, und er wollte es jetzt wissen, und nichtnur, weil sie ihm etwas verheimlichte - Claire war immernoch irgendwo in der Kanalisation, und wenn Ada den Weg

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aus der Stadt kannte, dann war Leon es Claire schuldig, dasser versuchte, ihn in Erfahrung zu bringen.Er stand langsam auf, hielt sich an der Lehne des Stuh-les fest und atmete tief durch. Er fühlte sich immer nochschwach, aber nicht schwindlig, und sein Arm schmerzte auchnicht mehr so heftig; das mochte am Aspirin liegen. Er zogseine Magnum, ging zur Tür des kleinen, verstaubten Raumesund schwor sich, dass er sich nicht mehr mit vagen Antwortenoder gelächcltcn Abfuhren abspeisen lassen würde.Er öffnete die Tür und trat hinaus in ein offenes Lagerhaus,das fast groß genug war. um ein Flugzeughangar zu sein. Eswar leer, heruntergekommen und lag in dichten Schatten,

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doch die frische Nachtluft, die hindurch strich, machte es bei-nahe zu einem angenehmen Ort -und da war Ada! Sie trat auf eine erhöhte Plattform au-ßerhalb des Hangars und verschwand hinter etwas, das wieder Teil eines Zuges aussah. Es war ein industrieller Trans-portaufzug - und den gut geölten Schienen nach zu schlie-ßen, die durch das Lagerhaus verliefen, gehörte er zu der auf-gegebenen Fabrik, die allem Anschein nach eben doch nichtvollends aufgegeben war.„Ada!"Seinen verletzten Arm fest gegen den Körper gedrückt,rannte Leon auf den Lift zu - und verspürte dumpfe Wut,als er das anschwellende Rumoren der Aufzugsmotoren hör-te. Das schwere mechanische Geräusch stieg in den klarenNachthimmcl. Ada machte sich aus dem Staub, sie war nichtgegangen, um etwas zu „überprüfen" ...Aber sie geht nirgendwohin, bevor sie mir gesagt hat, wa-rum!Leon rannte ins mondbeschienene Freie, hörte, wie die Türdes Zuges zuschlug. Er streifte eine Steucrkonsolc und stiegzu der vibrierenden Metallplattform hinauf, wobei er auf denhell gestrichenen Stufen fast stolperte. Ehe er sein Gleichge-wicht wiederfand setzte sich die Bahn in Bewegung - einenMeter hohe Platten zerfurchten Metalls erhoben sich ringsum den Zug, umschlossen die große Plattform, als sie sanft indie Tiefe glitt.Leon packte nach dem Türgriff, als die Dunkelheit umden summenden Aufzug herum hochspültc. Der Himmelschrumpfte zu einem immer kleiner werdenden sternübersä-ten Fleck über ihm. Das kühle, bleiche Licht des Mondes undder Sterne wurde rasch ersetzt durch das helle Orange deraufzugscigenen Quecksilbcrlampen.

Leon stolperte hinein und sah den erschrockenen Ausdruckauf Adas Gesicht, als sie sich von einer Bank erhob, die an ei-ner Seite festgeschraubt war. Sie hob die Beretta halb undsenkte sie dann wieder - und er sah einen Anflug von Schuld-gefühl, so kurz nur, dass er schon verflogen war, als Leon dieTür geschlossen hatte.Einen Moment lang sprachen sie beide kein Wort, starrteneinander nur an, während die Kabine sich weiter sanft in dieTiefe senkte. Leon konnte fast sehen, wie Ada über eine Aus-rede nachsann - und müde, wie er war, entschied er, dass erdazu einfach nicht in der Stimmung war.„Wo gehen wir hin'?", fragte er, ohne sich zu bemühen, denZorn aus seiner Stimme zu verdrängen.

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Ada seufzte, nahm wieder Platz und ließ die Schultern hän-gen. „Ich glaube, das ist der Weg nach draußen", sagte sie lei-se. Sie schaute zu ihm auf, ihr dunkler Blick suchte den sei-nen. „Tut mir Leid. Ich hätte nicht versuchen sollen, ohnedich zu verschwinden, aber ich hatte Angst ..."Er konnte echtes Bedauern in ihrer Stimme hören, auch inihren Augen sehen, und spürte, wie seine Wut etwas nachließ.„Angst wovor?"„Dass du es nicht schaffen würdest. Dass ich es nichtschaffen würde, wenn ich versucht hätte, uns beide in Sicher-heit zu bringen."„Ada, wovon redest du?" Leon ging zu der Bank und setztesich neben sie. Sic sah auf ihre Hände hinab und fuhr leisefort: „Als ich in der Kanalisation nach dir suchte, fand icheine Karte. Sie zeigte so was wie ein unterirdisches Laborato-rium oder eine Fabrik - und wenn die Karte stimmt, danngibt es einen Tunnel, der von dort aus der Stadt hinausführt."Sic sah ihn in ehrlicher Niedergeschlagenheit an. „Leon,ich dachte, du seist nicht in der Verfassung für eine solche

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Tour - und ich hatte Angst, dass ... wenn ich dich mitgenom-men hätte und wenn es eine Sackgasse wäre oder wir ange-griffen worden wären ..."Leon nickte langsam. Sic hatte versucht, sich zu schützen -und ihn.„Es tut mir Leid", wiederholte sie. „Ich hätte es dir sagensollen, ich hätte dich nicht einfach so zurücklassen dürfen.Nach allem, was du für mich getan hast, ich - ich war dir zu-mindest die Wahrheit schuldig."Das Schuldgefühl und die Scham in ihren Augen waren et-was, das sich nicht vortäuschen ließ. Leon fasstc nach ihrerHand, war bereit, ihr zu sagen, dass er verstand und ihr keineVorwürfe machte -- als von draußen ein widerhallender Schlag ertönte. Derganze Aufzug erzitterte. Es war nur ein leichtes Beben, aberes reichte, um sie beide in Anspannung zu versetzen.„Wahrscheinlich eine unebene Stelle im Schienenverlauf...", meinte Leon, und Ada nickte, wobei sie ihn mit einer In-tensität betrachtete, die ihn sich angenehm unangenehm füh-len ließ. Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus —BAMM!Ada flog von der Bank, wurde zu Boden geschleudert, alsein gewaltiges, gekrümmtes Ding die Wand durchschlug,durch die metallene Flanke der Kabine krachte, als bestündesie lediglich aus Papier. Es war eine Faust, eine Faust mitknöchernen Krallen, jede fast dreißig Zentimeter lang, undvon den Klauen tropfte -„Ada!"Die riesige Hand zog sich zurück, die blutigen Krallen ris-sen weitere Löcher in die Metallwand. Leon ließ sich zu Bo-den fallen, packte Adas schlaffen Körper und zog sie in dieMitte des Vehikels. Ein furchtbarer Schrei schnitt durch die

draußen vorbeitreibende Dunkelheit - es war derselbe wüten-de Schrei, den sie auf dem Revier gehört hatten, nur nochlauter, noch brutaler und noch weniger menschlich als zuvor.Leon hielt Ada mit seinem gesunden Arm fest, spürte, wiewarmes Blut aus ihrer rechten Seite rann, spürte ihr totes Ge-wicht an seiner sich hebenden und senkenden Brust.„Ada, wach auf! Ada!"Nichts. Er legte sie sanft auf den Boden, dann zog er andem blutigen Loch im Stoff ihres Kleides, direkt über ihrerHüfte. Blut quoll aus zwei tiefen Stichwunden - unmöglichzu sagen, wie schlimm es war. Er riss die unteren paar Zenti-meter ihres kurzen Kleides ab und presste das Material gegendie Wunde ...

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... und das Monster brüllte abermals, doch der Zorn in sei-nem kehligen Heulen war nichts im Vergleich zu dem, wasLeon empfand, während er in Adas regloses, ausdruckslosesGesicht hinabsah. Er zog ihr enges Kleid so gut er konnteüber den provisorischen Verband, dann stand er auf undschnallte die Remington los.Ada hatte sich um ihn gekümmert, hatte ihn beschützt, alser sich nicht selbst hatte beschützen können. Grimmig ludLeon die Shotgun, und er verspürte keinerlei Schmerz mehr,als er sich bereit machte, sich dafür zu revanchieren.Als sie an einem Punkt anlangten, an dem es nicht mehr wei-terzugehen schien, war es Sherry, die herausfand, wo ihreMutter hingegangen sein musste. Sie waren in einen weiterendüsteren, kavernenartigen Raum gegangen, der jedoch nureine Tür besaß - es schien keinen anderen Ausgang zu geben,es sei denn, Annette war von dem erhöhten Boden gesprun-gen und durch die lichtlose Leere, die ringsum herrschte,weiter gelaufen.

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Sie standen am Rande der Dunkelheit, versuchten, in dieSchatten hinabzusehen, hatten jedoch kein Glück. Der Raumwar fast wie eine Laderampe angelegt: Eine geländergesäum-te Plattform verlief von der Tür aus entlang der Rückwandund endete dann abrupt, um einer scheinbar endlosen Leerezu weichen. Entweder war Annette hinuntergeklettert und ei-nen geheimen Pfad durch das Dunkel gegangen, oder Clairehatte sich bezüglich ihres Weges geirrt.Und was jetzt? Zurückgehen oder versuchen, ihr zu folgen?Sie wollte nichts von beidem - obwohl zurückzugehen tau-sendmal verlockender zu sein schien, als in einen pech-schwarzen Abgrund hinabzusteigen. Und Leon befand sichvermutlich noch irgendwo hinter ihnen ...„Könnte es ein Zug sein? Ist das vielleicht ein Bahnhof?",überlegte Sherry laut, und kaum hatte das Mädchen „Zug"gesagt, trat sich Claire in Gedanken herzhaft in den Allerwer-testen.Plattform ... Geländer ... etwa tausend „Rohre" unter derDecke...Claire grinste Sherry an und schüttelte den Kopf über ihreeigene Dummheit - ihr Verstand ließ mehr und mehr zu wün-schen übrig, gar kein Zweifel.„Ja, ich glaube schon", sagte sie, „aber du hast es erraten,nicht ich. Mein Hirn befindet sich offenbar im Streik ..."Die kleine Computerkonsole an einer Seite der Plattform,die sie vorhin noch als unwichtig abgetan hatte, war vermut-lich das Steuerboard. Claire ging darauf zu, Sherry folgte ihrund umklammerte abwesend ihren goldenen Anhänger, wäh-rend sie die Laute beschrieb, die sie im Abflussbecken gehörthatte.„... und es bewegte sich von mir fort, so wie ein Zug. Eshat mir auch ganz schön Angst gemacht. Es war laut."

Unter dem kleinen Bildschirm der Konsole fanden sich einRückruf-Befehlscode und eine Zehnertastatur. Claire gab denCode ein, drückte „Enter" - und der Raum füllte sich mitdem sanften Summen in Gang gesetzter Maschinen: den Ge-räuschen eines Zuges.„Du bist ein helles Köpfchen, weißt du das?", sagte Claire,und Sherry strahlte regelrecht, ihr süßes Lächeln verein-nahmte ihr ganzes Gesicht. Claire legte ihr einen Arm um dieSchultern, dann gingen sie zurück zum Rand der Plattform,um zu warten.Nach ein paar Sekunden tauchten die Lichter des Zugesauf. Der winzige Kreis von Helligkeit wurde größer, währendsie ihm entgegensahen. Nach all den Mühen, die hinter ihnen

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lagen, beschloss Claire, in Anbetracht dieser neuen Entwick-lung so optimistisch zu sein, wie sie nur konnte - in erster Li-nie, um nicht darüber nachzugrübeln, welcher Schrecken alsNächstes auf sie einstürzen mochte. Der Zug würde sie natür-lich aus der Stadt hinausbringen, und er würde bestens ausge-rüstet sein mit Essen und Wasser; er würde Duschen habenund frische, warme Kleidung- halt, streich das. Lieber ein heißes Bad und ein paar vondiesen dicken, flauschigen Bademänteln für danach. UndHausschuhe...Klar doch ... Aber sie würde sich mit allem zufrieden ge-ben, was nichts mit Monstern und Verrückten zu tun hatte.Sie warf Sherry einen Blick zu und bemerkte, dass das Mäd-chen immer noch den Anhänger rieb.„Was ist denn da drin?", fragte sie und wollte Sherry wie-der zum Lächeln zu bringen. „Hast du da ein Bild von dei-nem Freund oder was?"„Da drin? Oh, das ist kein Medaillon", sagte Sherry, undClaire freute sich, ein schwaches Erröten ihrer Wangen zu be-

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merken. „Meine Mom gab es mir, es ist ein Glücksbringer -und ich habe keinen Freund. Jungs in meinem Alter sind totalunreif."Claire grinste. „Gewöhn dich dran, Schätzchen. So weit ichdas beurteilen kann, kommen manche nie aus diesem Stadi-um raus."Der Zug war jetzt so nahe, dass sie seine Umrisse ausma-chen konnten, ein einzelner Waggon, etwa sieben oder achtMeter lang, fuhr sanft entlang seiner Deckenschienen.„Was glaubst du, wo der hinfährt?", fragte Sherry, doch be-vor Claire antworten konnte, explodierte die Tür zur Platt-form.Das Schott flog nach innen, wurde mit metallischem Krei-schen aus den Angeln gehoben und schlug dröhnend zu Bo-den!Claire packte Sherry und zog sie an sich, als der riesigeMr. X den Raum betrat, gebückt und zur Seite gebeugt, umsich durch die Öffnung zu zwängen. Sein seelenloser Blickfiel sofort auf sie.„Geh hinter mich!", rief Claire, zog Irons' Pistole und ris-kierte einen Blick nach hinten auf den näherkommendenZug. Zehn Sekunden - sie brauchten noch zehn Sekunden ...Aber X machte einen Riesenschritt auf sie zu, und siewusste, dass ihnen so viel Zeit nicht bleiben würde. Seinfurchtbares Gesicht wirkte wie versteinert, seine riesigen Hän-de waren bereits erhoben, und auch wenn er noch gut sechsMeter entfernt war, bedeutete dies bei ihm höchstens vierSchritte -„Steig in den Zug, sobald er anhält!", schrie Claire unddrückte ab.Vier, fünf, sechs Kugeln schlugen dem Hünen in die Brust.Die siebte traf eine seiner totenbleichen Wangen, doch Mr. X

blinzelte nicht einmal, blutete nicht - und blieb nicht stehen.Ein weiterer riesiger Schritt, das rauchende Loch in seinemGesicht letzter Beweis seiner Unmenschlichkeit. Claire zieltetiefer, Beine, Knie...Bamm-bamm-bamm!... und er hielt inne, als die Kugeln ihn trafen. Mindestensein direkter Treffer ins Knie. Die schwarzen Augen heftetensich auf Claire, musterten sie -„Da - komm schon!"Sherry zerrte an ihrer Weste, schrie, und Claire wich nachhinten, drückte wieder ab. Die nächsten beiden Kugeln trafenden Giganten in den Bauch.Und dann war sie im Zug, und Sherry hatte die Steuerung

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für die Tür gefunden. Die Tür rauschte zu, Mr. X wurde vondem winzigen Fenster wie eingerahmt, kam nicht näher, fielaber auch immer noch nicht um. Starb nicht.„Mir nach!", rief Clairc, blickte auf die Tafel mit blinken-den Lichtern zu ihrer Rechten und wusste, dass die Tür keineSekunde lang halten würde, falls sich die Schreckensgestaltwieder in Bewegung setzte.Sie rannte auf das Schaltboard zu, Sherry an ihrer Seite undGott dankend, dass der Konstrukteur benutzerfreundlich ge-arbeitet hatte, als der rote Startknopf unter ihrer zitterndenHand nach unten schnappte -- und sich der Zug in Bewegung setzte, sich von der Platt-form entfernte, weg von dem unzerstörbaren Giganten undhinein in die Schwärze.Annette saß im Mitarbeiter-Schlafquartier auf Ebene vier,wartete darauf, dass das Mainframe auf das Power-up reagier-te, und überlegte hin und her, ob sie die P-Epsilon-Sequenzinitiieren sollte. Wenn das System einmal ausgelöst war, wür-

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den alle Türen der Verbindungskorridore entriegelt und dieelektronisch gesteuerten Türen geöffnet. Die Kreaturen, diewährend der letzten Tage festgesessen hatten, würden freisein, umherzustreifen, und die meisten von ihnen würdenhungrig sein ...... hungrig und gefährlich, das personifizierte Virus ...Annette wollte auf ihrem Weg hinaus keiner ... Unannehm-lichkeit begegnen, doch als die ersten Codezeilen über denBildschirm liefen, beschloss sie, die Sequenz nicht einzulei-ten. Das P-Epsilon-Gas war ohnedies nur ein Experiment, et-was, das ein paar der Mikrobiologcn ausgetüftelt hatten, umdas Umbrella-Schadensbegrenzungsteam zu besänftigen.Wenn es funktionierte, würde es die Re3er ausschalten plussämtliche menschliche Träger, die beim ursprünglichen Aus-bruch infiziert worden waren, die erste Welle also, und ihr so-mit Sicherheit auf dem Weg zum Fluchttransporttunnel ga-rantieren. Aber die Spione waren im Anmarsch, und Annettewollte ihnen die Sache nicht auch noch erleichtern. Sie hattegehört, wie der Aufzug zurückgerufen worden war, als siezum Synthesis-Labor gewankt war - was in Ordnung war,großartig; sie kamen gerade rechtzeitig zum Finale, und An-nette wollte, dass sie um ihr Leben kämpfen mussten, wäh-rend sie im Eiltempo aus der Anlage verschwand, weg vonder Explosion, die die Multimilliarden-Dollar-Einrichtungverschlingen würde ...Sie wird brennen, alles wird brennen, und ich werde diesesAlbtraums ledig sein. Endspiel - und ich gewinne. Umbrellaverliert, ein für allemal! Diese heimtückischen, mörderischenBastarde!Sie fühlte sich gut, wach und aufmerksam, und sie littkaum Schmerzen. Sie hatte vorgehabt, bei ihrer Rückkehr ge-radewegs zum nächsten Computerterminal zu gehen, um die

Pannensicherung zu aktivieren, noch bevor sie die Probe ansich gebracht hatte, aber sie war kaum imstande gewesen,auch nur geradeaus zu schauen, als sie aus dem Aufzug ge-taumelt war. Sie hatte gefürchtet, etwas zu vergessen - oder,schlimmer noch, hinzufallen und nicht mehr aufstehen zukönnen. Ein Abstecher zum Medizinschrank im Synthesis-Labor hatte all das behoben; der furchtbare Schmerz warschon jetzt nur mehr eine vage Erinnerung, genau wie die bi-zarren, irreführenden Gedanken, die es so schwer gemachthatten, sich zu konzentrieren. Wenn ihre kleine Cocktail-Spritze nachließ, würde sie für diesen vorübergehenden Auf-schub büßen, aber für die nächsten paar Stunden war sie sogut wie neu - nein, noch besser sogar.

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Epinephrin, Endorphin, Amphetamine ... meine Güte!Annette wusste, dass sie high war, dass sie ihre Fähigkeitennicht überschätzen sollte, aber warum hätte sie sich nichtglücklich fühlen sollen? Sie grinste den kleinen Computer vorsich an und tippte die Codes ein, ihre Finger flogen über dieTasten. Sie hatte das Gefühl, ihre Zähne würden zerspringen,als das synthetische Adrenalin durch ihre geweiteten Adernpulste. Sie hatte es zurück zum Labor geschafft, William warwiedergekommen, und die Probe, die allerletzte lebensfähigeG-Virus-Probe in der Einrichtung, steckte in ihrer Tasche. Siehatte sie in einem der Sicherungskästen versteckt, bevor siesich auf die Suche nach William gemacht hatte, und sie aufdem Weg zum Personalraum wieder an sich genommen ...... 76E, 43L, 17A, Pannensicherungs-Zeit ... 20, Audio-warnung/Stromabschaltung 10, persönliche Autorisation,0001Birkin ...Das war's. Annette konnte nicht aufhören zu grinsen, woll-te auch gar nicht aufhören. Leicht strich sie über die „Enter"-Taste, der Triumph toste als heiße, flüssige Freude durch ih-

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ren tauben, mitgenommenen Körper. Ein leichter Druck, undes gab nichts auf der Welt, was es stoppen konnte. In zehnMinuten würden die aufgezeichneten Warnungen abgespieltwerden, der Transport-Aufzug würde abgeschaltet sein unddie Einrichtung von der Oberfläche abschneiden. In fünfzehnMinuten würde der Audio-Countdown beginnen - fünf Minu-ten, um die minimale Sicherheitsdistanz mit dem Zug zu er-reichen, weitere fünf und -Mir bleiben vom Drückend er Taste bis hin zur Explosionexakt 20 Minuten. Mehr als genug Zeit, um zum Tunnel zu ge-langen und den Zug in Gang zu setzen, ganz gleich, was aus-gehrochen ist. Genug Zeit, um mich im Eiltempo von der ti-ckenden Uhr zu entfernen, unter den Straßen der Stadt, durchdie abgelegenen Gebirgsausläufer in den Randbezirken vonRaccoon. Genug Zeit, um das Ende der Gleise zu erreichen,das Privatgrundstück zu betreten, mich umzudrehen - und zusehen, wie Umbrella alles verliert.Wenn die Uhr auf null sprang, würden die Plastikspreng-stoffladungcn im Zentral-Energiespeicher des Laboratoriumsaktiviert werden. Selbst wenn elf der zwölf Sprengladungennicht hochgingen, würde diese eine Explosion ausreichen,um die Sckundärladungcn zu zünden, die in die Wände ein-gebaut waren - Umbrellas Panncnsicherungs-System war soangelegt, dass es alles in den Untergang riss. Das Labor wür-de sich in ein Inferno verwandeln, in der toten Stadt cruptie-ren, auf Meilen hin sichtbar - und sie würde dort sein, wo siees sehen konnte, sie würde wissen, dass sie getan hatte, wassie konnte, um die Dinge doch noch in Ordnung zu bringen.Ich tue das für dich, William ...Der Gedanke war bittersüß. Eine Zeitlang hatte sie ihre Be-ziehung als Mann und Frau nicht gerade - genossen. Williamwar so genial, verschrieb sich seiner Arbeit dermaßen, dass

die Freuden von Synthcsis und Entwicklung an die Stelle derehelichen Freuden getreten waren. Sie hatte gelernt, auch fürsich selbst sein Genie in den Vordergrund zu stellen, sich da-ran zu erfreuen, ihn zu unterstützen, ohne sich in die Niede-rungen von Beziehungskrisen hinabzubegeben - jetzt aber,da ihr Finger über dem Ende von allem ruhte, ertappte siesich plötzlich bei dem sehnlichen Wunsch, dass in den letztenpaar Jahren mehr zwischen ihnen gewesen wäre, mehr als nurihre Bewunderung seines unglaublichen Talents und seineDankbarkeit für ihre treue Assistenz ...Das ist unser letzter Kuss, Liebster. Das ist mein Beitrag zudeinem Werk, mein letzter Liebesdienst an das, was wir teil-ten.

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Ja, das war richtig, genau so war ihr Feeling. Annettedrückte die Taste mit singendem Herzen und sah. wie der fi-xierte Code in leuchtendem Grün auf dem Monitor erschien.„Mit allem Respekt reiche ich hiermit meine Kündigungein", sagte sie leise - und fing an zu lachen.

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Fümfundzwanz igDie Dunkelheit glitt an der sich bewegenden Plattform vorü-ber, metallische Finsternis in trüb orangefarbenes Licht ge-taucht, und was die Wand der Kabine auch durchschlagen ha-ben mochte, es war verschwunden. Leon hatte die Grenzendes engen Raumes zweimal abgeschritten und dabei nichtsgesehen und nichts gehört, außer dem sanften Brummen derlaufenden Motoren.Als die Kreatur schließlich in den Schatten auf dem Dachaufheulte und Leon die Shotgun hochriss, lähmte ihn förm-lich, was er da erblickte. In der Sekunde, die er brauchte, umes wirklich zu sehen, verging sein von Rache gespeister Zorn,weggeblasen wie Staub, und an seine Stelle trat absolut mark-erschütternde Furcht.Heilige Scheiße!Das Ding kreischte immer noch, den Kopf nach hintengelegt, und der brutale, gurgelnde Schrei klang in der sichbewegenden Dunkelheit wie die Stimme der Hölle. Es war ein-mal ein Mensch gewesen, irgendwann - es hatte Arme undBeine, Kleidungsfetzen hingen ihm noch vom klobigen Leib -,doch alles Menschliche an dem Wesen hatte sich gewandelt,war noch im Wandel begriffen, während es seine Wut in die kal-te Schwärze brüllte. Und Leon konnte es nur anstarren.Der Körper des Wesens wirkte wie geschwollen und wuls-

tig von seinen merkwürdigen Muskeln, die nackte Brustwie aufgeblasen, aufgebläht, in diesem endlosen Schrei. Derrechte Arm war zehn Zentimeter länger als der linke, aus derpulsierenden Hand ragten die fleckigen Knochenkrallen. Undder knollige, sich bewegende Tumor im rechten Bizeps derKreatur sah aus wie ein Augapfel von der Größe eines Esstel-lers, er ruckte feucht hin und her, wie suchend -- und auch der Schrei veränderte sich, wurde tiefer, rauer,das verheerte Gesicht fiel vornüber und schmolz regelrecht indie Brust hinein. Wie heißes Wachs, wie in einem filmischenEffekt floss der Schädel der Kreatur in ihren Oberkörper, ver-schwand in der entzündeten Haut, als sauge diese ihn gierigauf-- und gleichzeitig formte sich ein anderes Gesicht, wuchs,stieg mit einem entsetzlichen Knacken wie von brechendenFingern aus dem Nacken des Wesens hervor. Geschlitzte Au-gen platzten auf, ein knochiges, rotes Loch öffnete sich alsMund, nahm den wüsten Schrei mit neuer Stimme auf -- und Leon drückte ab, aus purer Verleugnung. Er leugnetedie unheilige Existenz dieses Monsters.

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Der Schuss traf die Kreatur in die Brust. Dickes, purpurnesBlut spritzte hervor, schnitt den Schrei des Ungeheuers ab -und das war alles, was der Treffer anrichtete. Das neue Gesichtwandte sich Leon zu, der birnenförmige Kopf neigte sich -- und dann sprang die Kreatur auf die Plattform herab, lan-dete halbgebückt auf Beinen, deren Umfang dem von LeonsBrustkorb gleichkam. Sie machte einen hüpfenden, ungelen-ken Schritt nach vorne und war nahe genug, dass Leon denseltsamen, chemischen Geruch wahrnehmen konnte, der ihrerglänzenden Haut entstieg - und er sah, dass die Brustwundeaufgehört hatte zu bluten, dass das eigenartige Fleisch diewinzigen Löcher fraß.

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Die Kreatur hob ihre gewaltige Klaue, und Leon taumeltenach hinten, lud das Gewehr durch und feuerte, während dieKrallen herabkamen -- und Funken stoben vom Metallgeländer auf, als derSchuss in den Bauch der Kreatur schlug und weitere purpur-ne Flüssigkeit aus ihrem Leib spritzte. Der schwere Trefferaus kaum noch nennenswerter Entfernung schien das hünen-hafte Ungeheuer kalt zu lassen. Es tat einen weiteren Schritt,und Leon wich zurück, lud durch -- und stolperte auf den Stufen, die zum Transportraum hi-naufführten, stolperte und fiel auf den Arsch. Der Schussging weit über den patronenförmigen Kopf der Kreatur hin-weg. Ein Schritt noch, und sie würde über ihm sein -Tot! Ich bin tot!- doch das Wesen vollzog diesen einen Schritt nicht. Statt-dessen wandte es sich zum Geländer um, den bizarren Kopfschiefgelcgt, die rudimentären Nasenlöcher gebläht -- und lautlos, beinahe anmutig, sprang es über den Randder Plattform hinweg ins vorbeiziehende Dunkel!Einen Moment lang rührte Leon sich nicht. Er konntenicht, war zu sehr damit beschäftigt zu begreifen, dass dasMonster ihn nicht getötet hatte. Es hatte etwas gerochen odergespürt, es hatte den Angriff abgebrochen, den es mit ziemli-cher Sicherheit gewonnen hätte - und war aus dem in Bewe-gung befindlichen Aufzug gesprungen.Ich bin nicht tot. Es ist weg, und ich bin nicht tot.Er wusste nicht, warum, und wagte es nicht einmal, denGrund auch nur erraten zu wollen. Es reichte ihm, dass ernoch lebte - und ein bisschen später, nicht mehr als ein paarSekunden, sagten ihm seine aufgewühlten Gedanken undSinne, dass der Aufzug langsamer, dass der Schacht hellerwurde, die Schwärze zu einem Grau verwusch.

Leon kam mühsam auf die Beine und ging, um nach Adazu sehen.Sherry hatte das Monster von weitem gehört, von irgendwotief aus dem riesigen Loch, und hatte sich mehr gefürchtet,als bei der Begegnung mit dem Riesen - Claire nannte ihnMr. X - in der Bahnhaltestation. Claire hatte gesagt, es wahr-scheinlich stecke das Monster nicht einmal dahinter, und dasses vermutlich irgendein Maschincnproblem sei, doch Sherrywar davon nicht überzeugt, auch wenn das Geräusch so weitweg und seltsam geklungen, dass es etwas anderes gewesensein konnte ...... aber was, wenn nicht? Was, wenn Claire sich irrt?Sic standen in der kühlen Dunkelheit vor einem Lagerhaus,

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standen über dem großen Loch im Boden und warteten da-rauf, dass die mechanischen Geräusche verklangen. Der fastvolle Mond stand tief am Himmel, und anhand des blauenLichtes am Horizont wusste Sherry, dass es sehr früh amMorgen war; sie fühlte sich jedoch nicht müde. Sie hatteAngst, war nervös, und obwohl Claire ihre Hand hielt, wolltesie nicht hinunter in das schwarze Loch, wo das Monster lau-ern konnte.Nach, wie ihr vorkam, langer Zeit verstummte der brum-mende Lärm der Maschinen, und Claire trat vom Loch zu-rück - dem Aufzugschacht, wie sie sagte - und wandte sichwieder dem Lagerhaus zu.„Lass uns mal sehen, ob wir den ... Sherry?"Sherry machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Sie starrte indas Loch hinab, hielt sich an ihrem Glücksbringer fest undwünschte sich, so tapfer zu sein wie Claire - aber das war sienicht, sie wusste, dass sie das nicht war, und sie wollte nichthinab steigen in diese Finsternis.

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Ich kann nicht, ich kann nicht da runter, ich hin NICHTwie Claire, und es ist mir egal, ob meine Mom dort hinuntergegangen ist, es ist mir völlig gleichgültig!Sherry spürte etwas Warmes auf ihrem Rücken und schau-te auf. Erstaunt sah sie, dass Claire ihre Weste ausgezogenhatte und nun über ihre, Sherrys, Schultern streifte.„Ich will, dass sie dir gehört", sagte Claire. und trotz ihrerAngst empfand Sherry einen plötzlichen Anflug konfusenGlücks.„Aber - warum? Das ist deine, und du wirst frieren ..."Claire überging ihren Einwand für den Moment und halfihr, die Weste anzuziehen. Sie war ihr zu groß und etwasschmutzig, aber Sherry fand, dass die Weste das Coolste war,das sie je getragen hatte.Für mich. Sie will, dass sie mir gehört.Claire ging vor ihr in die Knie, jetzt nur noch mit einemdünnen schwarzen T-Shirt und Shorts bekleidet. Sic sah Sher-ry sehr ernst an, während sie ihr die Weste vor der Brustschloss.„Ich will, dass du sie trägst, weil ich weiß, dass du Angsthast", sagte sie fest. „Und ich hatte diese Weste lange Zeit,und wenn ich sie anhabe, dann hab ich das Gefühl, dass ichecht taff bin. Als ob nichts mich stoppen könnte. Mein Bru-der hat eine Lederjacke mit demselben Muster auf dem Rü-cken, und er ist taff - aber er hat die Idee von mir."Plötzlich lächelte sie, ein müdes, warmes Lächeln, dasSherry das Monster vergessen ließ, Tür den Augenblick we-nigstens.„Und jetzt gehört sie dir, und jedes Mal wenn du sie trägst,sollst du daran denken, dass ich dich für die beste Zwölfjäh-rige halte, die es je gab."Sherry erwiderte das Lächeln und schmiegte sich an den

ausgebleichten, pinkfarbenen Jeansstoff. „Und es ist ein Be-stechungsversuch, hm?"Claire nickte, ohne zu zögern. „Ja. Und es ist ein Beste-chungsversuch. Also, was meinst du?"Seufzend fasstc Sherry nach ihrer Hand, dann kehrten siein das Lagerhaus zurück, um nach der Steuerung für den Auf-zug zu suchen.Ada erwachte, als Leon sie behutsam auf einer knarrendenLiege absetzte. Sie erwachte mit pochendem Kopfweh undSchmerzen in der Seite. Ihr erster Gedanke war, dass sie an-geschossen worden war - doch als sie die Augen öffnete undihr Blick sich auf Leons besorgtes, bleiches Gesicht richtete,erinnerte sie sich.

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Ich glaube, er wollte mich gerade küssen - und dann ...„Was ist passiert?"Leon strich ihr das Haar aus der Stirn und lächelte schwach.„Ein Monster, das ist passiert. Dasselbe, das Bertolucci er-wischt hat, glaube ich. Es hat mit seiner Klaue die Wand desAufzugs durchschlagen und dich umgehauen. Du hast dir denKopf angestoßen, nachdem es - dich mit seiner Kralle ver-letzt hatte."Das Virus!Ada versuchte, sich aufzusetzen, um sich die Wunde anzu-sehen, doch die Kopfschmerzen zwangen sie wieder zurück.Sie fasste nach oben, berührte vorsichtig die pochende Stelleüber ihrer linken Schläfe und zuckte unter dem Gefühl derklebrigen Kruste zusammen.„Hey, ruhig liegen bleiben", mahnte Leon. „Die Wunde istnicht allzu schlimm, aber du hast einen ziemlich schwerenHieb einstecken müssen ..."Ada schloss die Augen und versuchte, sich zu sammeln.

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Wenn sie infiziert war, dann gab es nichts, was sie jetzt dage-gen tun konnte - was für eine Ironie: Falls es Birkin war, dersie verletzt hatte, und er noch eine Gefahr darstellte, dannwürde sie sich auf extrem persönliche Art und Weise die be-gehrte G-Virus-Probe beschafft haben ...Tief durchatmen, reiß dich zusammen. Du bist nicht mehrim Aufzug, was sagt dir das?„Wo sind wir?", fragte sie und schlug die Augen auf.Leon schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sicher. Wie du ge-sagt hast, es ist ein unterirdisches Labor oder irgendeine Fab-rik. Die Kabine ist gleich da draußen. Ich brachte dich in dennächstbesten Raum."Ada drehte den schmerzenden Kopf weit genug, um kleineFenster über einem vollgestellten Tisch sehen zu können, dieauf den Transporterbereich hinauswiesen.Muss Ebene vier sein, wo der Aufzug hält...Das Haupt-Labor zur Synthese-Herstellung lag auf Ebenefünf.Leon sah so aufrichtig zu ihr herab, seine strahlend blauenAugen leuchteten so schmerzhaft sanft, dass Ada für ein paarSekunden erwog, die Mission abzubrechen. Sie konnten esgemeinsam hinunter zum Fluchttunnel schaffen, sie konntenin den Zug springen und aus der Stadt verschwinden. Siekonnten weglaufen, weit, weit weg -- und was dann? Rufst du Trent an und bietest ihm eineRückzahlung an? Klar doch. Dann kannst du vielleicht LeonsEltern kennen lernen, kriegst einen Ring, ihr kauft euch einHäuschen mit einem hübschen Zaun, bekommt ein paar Kin-der ...du könntest Häkeln lernen und seine Füße massieren,wenn er nach einem schweren Tag heimkommt, an dem erwieder mal Betrunkene eingelocht und Verkehrssünder ge-stoppt hat. Und wenn sie nicht gestorben sind ...

Ada schloss die Augen, konnte ihn nicht ansehen, als siesprach.„Mein Kopf tut ziemlich weh, Leon, und der Tunnel, denich auf dieser Karte sah - ich weiß nicht, wo genau er ist..."„Ich werde ihn finden", sagte er sanft. „Ich werde ihn fin-den, und dann komme ich zurück und hole dich. Mach dirkeine Sorgen, okay?"„Sei vorsichtig", flüsterte sie, und dann spürte sie, wie sei-ne weichen Lippen ihre Stirn streiften, hörte, wie er aufstandund zur Tür ging.„Bleib hier, ich bin bald wieder da", sagte er. Die Tür öff-nete und schloss sich, und dann war sie allein.Er kommt schon klar. Er wird sich auf der Suche nach dem

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Tunnel verlaufen, er wird zurückkommen, er wird sehen, dassich weg bin, und mit dem Aufzug zurück zur Oberfläche fah-ren ... Ich werde die Probe finden und fliehen, und dann istalles vorbei.Ada zählte in Gedanken bis sechzig, dann setzte sie sichlangsam auf. Das Pochen in ihrem Schädel ließ sie das Ge-sicht verziehen, ein böses Hämmern, aber es schwächte sienicht; sie hatte sich im Griff.Draußen erklang ein Geräusch. Ada stand auf und ging zueinem der kleinen Fenster. Sie erkannte das Geräusch, nochbevor sie hinausschaute, und ihr Mut sank ein wenig. DerTransportaufzug bewegte sich nach oben, war vermutlich voneinem Umbrella-Tcam zurück in die Fabrik gerufen worden ...... das heißt, ich habe nicht viel Zeit. Und wenn sie ihn fin-denNein. Leon würde klar kommen. Er war ein Kämpfer, erhatte ein Gespür dafür, Gefahren auszuweichen, er war starkund anständig - und er brauchte in seinem Leben niemandenwie sie. Sie war verrückt gewesen, das auch nur einen Mo-

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mcnt lang in Betracht zu ziehen. Es war Zeit, die Sache zuEnde zu bringen, zu tun, weswegen sie gekommen war, sichdaran zu erinnern, wer sie war - eine freischaffende Agentin,eine Frau, die bedenkenlos stahl oder tötete, um einen Auf-trag auszuführen, eine coole, effiziente Diebin, die stolz seinkonnte auf eine Karriere ohne Fehlschläge. Ada Wong holtesich immer, was sie wollte, und es bedurfte mehr als ein paarStunden mit eines blauäugigen Cops, um sie das vergessen zulassen.Ada zog die Schlüsselkarten und den Hauptschlüsscl ausihrer Tasche und öffnete die Tür, sagte sich, dass sie das Rich-tige tat - und hoffte, dass sie es zur rechten Zeit auch glaubenwürde.

Sechsundzwanz igAnnette steckte in Schwierigkeiten.Der Weg hinunter in den Frachtraum war nicht schlimm ge-wesen; sie war nur einem einzigen Träger begegnet, einem imErststadium befindlichen, und hatte ihm mit dem ersten Schussein Loch in den fahlen, welken Schädel geblasen. Sic war untereinem schlafenden Re3er vorbeigegangen, doch das Wesenhatte sich nicht gerührt in seiner Schlafstatt aus Lumpen, und esschien, als hätten die anderen Kreaturen, die in den Schattender Einrichtung lauerten, noch gar nicht gemerkt, dass sie freiwaren. Entweder das, oder es waren mehr von ihnen zu Breizerfallen, als Annette angenommen hatte ... wie auch immer,sie würde fort sein, ehe sie sich darüber Sorgen machen musste.Sie hatte es in weniger als drei Minuten bis zum Fracht-raum geschafft und den Keycode mit einem Gefühl, etwasGroßes geleistet zu haben, eingegeben. Das durch die Injek-tion ausgelöste Hochgefühl ließ nach, aber sie fühlte sich im-mer noch gut -- bis das Schott zum Frachtraum sich weigerte, aufzuge-hen. Annette hatte den einfachen Code ein zweites Mal einge-geben, sorgfältiger diesmal - doch wieder nichts. Es war eineder wenigen Türen in der ganzen Einrichtung, die sich nachder Pannensicherungs-Auslösung nicht automatisch öffneten,aber es hätte kein Problem damit geben dürfen - in dem

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Schlitz unter den Kontrollen war eine Verifikations-Disk, dieDisk, die immer dort war, obgleich Umbrella darauf bestan-den hatte, dass nur die Bereichsleiter Zutritt haben sollten - \- und als Annette das überprüfte, hatte sie festgestellt, dassdie Disk natürlich nicht da war, dass sie sich nicht dort befand,wo sie hätte sein sollen. Jemand hatte sie herausgenommen.Annette stand vor der verschlossenen Luke in dem leerenGang und spürte, wie die ersten Ausläufer von Panik sich umihren Verstand rankten, eine Hysterie, von der sie sich nichtüberwältigen lassen durfte.Das Labor wird hochgehen, und ich habe jetzt vier, fast fünfMinuten verschwendet - wo ist die gottverdammte Disk?!„Ruhig, bleib ganz ruhig, du bist okay, alles ist in Ord-nung ..."Ein sanftes Echo, ein Flüstern der Vernunft innerhalb desglänzenden Ganges. Sie brauchte nur den Aufzug von eineranderen Ebene aus zu nehmen; sie hatte den Hauptschlüssel,sie hatte eine Waffe, sie hatte Zeit. Nicht sehr viel, aber genug.Tief durchatmend ging Annette zurück zu dem Gang, derzur Treppe führte. Sie rief sich in Erinnerung, dass alles gutwar, dass es wirklich nichts ausmachte und dass Umbrellabüßen würde, ganz gleich, ob sie lebend hier herauskam odernicht. Sie wollte nicht sterben, sie würde nicht sterben, dochdie glänzenden, blutbesudelten Korridore und die vormalssterilen Labors würden auf jeden Fall in Flammen aufgehen,es gab also keinen Grund zur Panik.Doch als sie nach rechts abbog und rasch den Verbindungs-gang hinabging, mit lauten, in der Stille hallenden Schritten,krachte vor ihr ein Deckenpaneel herunter -- und ein Re3er, ein Lecker, stürzte zu Boden und giertenach ihrem Blut.Nein!Annette drückte ab, traf aber nur eine Schulter des Wesens,als es vorsprang und eine ungestalte Kralle ausstreckte, umnach ihr zu schlagen. Sie spürte einen scharfen, rotglühendenSchmerz in ihrem Unterarm und schoss abermals, geschocktund ungläubig -und die zweite Kugel fuhr der Kreatur in die Kehle. Siebrüllte, Blut spritzte ihr aus dem zerfetzten Hals, ihr trom-petenhafter Schrei war ein verstümmeltes, spuckendes Krei-schen, während sie von neuem auf Annette zusprang.Die dritte Kugel klatschte in das graue Gelee des Gehirns.Das Wesen kam spasmisch zuckend zum Halt, nur Zentimetervon Annettes zitternden Beinen entfernt.Sie keuchte, als ihr klar wurde, wie knapp es gewesen war.Sie schaute auf ihren blutenden Arm hinab, auf die dicken Krat-

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zer, die durch ihren Laborkittel hindurch gegangen waren -- und etwas gab nach. Etwas in ihrem Kopf.Ihr rasender Verstand, ihr hämmerndes Herz, das Blut und derLecker, Williams Lecker, tot vor ihr auf dem Boden - all dieseDinge wirbelten und tanzten, drehten sich zu einem Kreis, dersich schloss und auf einen einzigen, lähmend simplen Gedan-ken hinauslief. Ein Gedanke, der allem Sinn verlieh.Es gehört ihnen nicht.Es war so klar, so glasklar. Vor dem Schmerz konnte sienicht davonlaufen, weil der Schmerz sie überall finden wür-de, wohin sie auch floh; sie hatte den Beweis, er rann ihrenArm hinab. William hatte es begriffen, aber er hatte sich ver-loren, ehe er es erklären, ehe er ihr sagen konnte, was siewirklich tun musste. Sie musste ihre Angreifer konfrontierenund sicherstellen, dass sie begriffen, dass das G-Virus nichtihnen nicht gehörte.Aber werden sie das begreifen? Können sie es begreifen?Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch Annette war derart

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überwältigt von der profunden Simplizität der Wahrheit - undsie musste es einfach versuchen, musste versuchen, ihnen i

Augen zu öffnen. Es war Williams Arbeit. Es war seine Hin-terlassenschaft, und jetzt gehörte es ihr - sie hatte das schonzuvor gewusst, aber erst jetzt wusste sie es, es war ein Lichtstrahl in ihrem Geist, der alles andere belanglos machte.Nicht ihnen. Mir.Sie musste sie finden, es ihnen sagen, und wenn sieWahrheit einmal akzeptiert hatten, würden sie sie in Ruhelassen müssen und dann, wenn dann noch Zeit blieb, würdsie ihrer Wege gehen können.Aber erst einmal brauchte sie noch eine Injektion. Lä-chelnd, die Augen groß und stier, stieg Annette über den Le-cker hinweg und ging zur Treppe.Leon glaubte, Schüsse gehört zu haben.Er befand sich in einer Art Operationssaal, dem erstenRaum am Ende des ersten Ganges, den er genommen hatte,nachdem Ada hinter ihm zurück geblieben war. Er sah vondem Haufen zerknüllter Papiere auf, die er gefunden hattehorchte - aber das ferne Krachen wiederholte sich nicht, unso widmete er sich wieder seiner Suche. Rasch durchblätterteer die Seiten, in der verzweifelten Hoffnung etwas anderes zufinden als endlose Listen mit Zahlen und Buchstaben unterdem Umbrella-Briefkopf.Komm schon, irgendwo in all dem Zeug muss doch auchwas Nützliches stehen ...Er wollte raus, er wollte Ada holen und verdammt nochmal hier raus. Der ausgeweidete Leichnam, der verkrümmt inder Ecke lag, war schon Grund genug, aber es war mehr alsnur das - mit der Luft in diesem Raum, im Gang draußen vordem Raum und, darauf hätte er gewettet, in jedem anderen

Raum dieser Einrichtung stimmte etwas nicht. Sic stank nachTod, aber schlimmer noch, die Atmosphäre war geprägt vonetwas noch Dunklerem, etwas Amoralischem etwas Bösem.Hier wurden Experimente durchgeführt, sie haben Testsvorgenommen und weiß Gott was noch - und sie haben eineZombieseuche kreiert, den monströsen Dämon, der Ada an-griff, sie haben eine ganze Stadt umgebracht. Was immer sieauch zu tun vorhatten, sie haben das Böse praktiziert.Das Böse im ganz großen Stil. Die Transportvorrichtunghatte sie in eine geheime Umbrclla-Anlage gebracht, und diewar groß. Anhand der Zahlen an den Wänden wusste Leon,dass er sich auf der vierten Etage befand, was immer dasauch hieß - und der Laufsteg, den er genommen hatte, um zudiesem seltsamen Operationsraum zu gelangen, eines von

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drei zur Wahl stehenden Zielen, hatte sich über zwanzig oderfünfundzwanzig Meter offenen Raumes erstreckt. Der Bodendarunter verlor sich im Dunkeln. Er wusste nicht, wie tief erund Ada vorgedrungen waren, und es war ihm im Grundeauch egal; was er wollte, war eine Karte, so eine wie Ada siein der Kanalisation gefunden hatte, ein klares, einfaches Dia-gramm mit einem Pfeil, der auf Ausgang zeigte.Aber hier ist nichts dergleichen ...Enttäuscht schob Leon die nutzlosen Papiere beiseite - undsah eine Computerdisk auf dem Stahltisch, die unter dem Sta-pel von Ausdrucken verborgen gelegen hatte. Er nahm sie aufund runzelte die Stirn. „Für Frachtraum-Verifikation", standin verschmierten Druckbuchstaben auf dem Etikett.Seufzend ließ Leon die Disk in seine Tasche rutschen undrieb mit der rechten Hand seine schmerzenden Augen; seinlinker Arm war nun praktisch wieder nutzlos, nachdem erAda aus dem Aufzug getragen hatte. Er wollte nicht nach ei-nem Computer suchen, um nachzusehen, was auf der Disk

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war, er wollte nicht von Raum zu Raum marschieren undnach dem Ausgang fahnden, nur um zu sehen, mit was fürGrausamkeiten Umbrella herumgespielt hatte, bevor sie denLaden dichtgemacht hatten. Er war müde, er hatte Schmerzenund er sorgte sich um Ada ...Auf dem Weg zur Tür beschloss er zurückzugehen, um mitihr zu reden. Er wollte sie beruhigen, wollte ihr sagen, dass erden Weg hinaus finden würde, aber diese Anlage war einfachzu verflucht groß; wenn sie wenigstens die Richtung wüssteoder sich an die Etagcnnummer erinnern könnte ...Leon öffnete die Tür, trat hinaus auf den Gang -- und vor ihm stand eine Frau und richtete eine Neunmilli-meter auf seine Brust. Die Unbekannte blutete. Dünne, roteStröme liefen von einem ihrer Arme herab und tropften aufden schmutzig weißen Laborkittel - und ihre Miene, der selt-same, großäugige, gläserne Ausdruck, der über ihre Zügespielte, sagte ihm. dass es eine sehr schlechte Idee wäre, ir-gendeine plötzliche Bewegung zu machen.Jesus, wer isi das?„Du hast meinen Mann umgebracht", sagte die Frau, „duund dein Partner und das Mädchen auch - ihr alle, ihr wolltetauf seinem Grab tanzen, aber ich habe Neuigkeiten für dich!"Sie war high von irgendetwas, er konnte es an ihrer hohen,bebenden Stimme hören und daran sehen, wie sie zitterte. Erließ seine Hände zu beiden Seiten reglos herabhängen undhielt seine Stimme leise und ruhig.„Ma'am, ich bin Polizist, und ich bin hier, um zu helfen,okay? Ich will Ihnen bestimmt nichts tun, ich will nur -"Die Frau schob ihre blutige Hand in ihre Tasche und hieltetwas hoch, ein Glasröhrchen, das mit einer purpurnen Flüs-sigkeit gefüllt war. Sie grinste wild, hob es über ihren Kopf,die Waffe unverändert auf seine Brust gerichtet.

„Hier ist es! Das willst du doch, nicht wahr? Hör mir zu,hörst du mich? Es gehört nicht euch! Verstehst du, was ichsage? William hat es erschaffen, und ich habe ihm dabei ge-holfen, und es gehört nicht euch!"Leon nickte, sagte langsam: „Es gehört mir nicht. Sie ha-ben Recht. Es gehört Ihnen, ganz richtig -"Die Frau hörte nicht einmal zu. „Ihr glaubt, ihr könnt eseuch nehmen, aber ich werde euch aufhalten, ich werde nichtzulassen, dass du es mir wegnimmst - es ist noch viel Zeit,Zeit genug, um dich zu töten und Ada und jeden anderen, derversucht, es mir wegzunehmen!"Ada ...!„Was wissen Sie über Ada?", schnauzte Leon und machte

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einen halben Schritt auf die Wahnsinnige zu, nun keineswegsmehr ruhig. „Haben Sie sie verletzt? Reden Sie!"Die Frau lachte, ein humorloses, irrsinniges Gackern. „Um-brella hat sie geschickt, du dämlicher Idiot! Ada Wong, MissLieb-sie-und-tritt-ihr-in-den-Arsch höchstpersönlich! Sie ver-führte John, um an das G-Virus zu gelangen, aber es gehörtauch nicht ihr! Es ist nicht, es ist NICHT FÜR EUCH BE-STIMMT, ES IST MEIN -"Ein gewaltiger Stoß erschütterte den Boden, ließ Leon zuBoden stürzen - ein grollendes Vibrieren, das die Wände zumWackeln brachte.Rohre und Verputz krachten von der Decke nieder, ein star-ker Träger streckte die Frau mit einem dumpfem Laut nieder.Leon bedeckte seinen Kopf, als Betontrümmer und weißeGipsbrocken auf ihn herab hagelten -- und dann war es vorbei. Leon setzte sich auf. starrte dieFrau erschrocken an. Sie bewegte sich nicht. Der Metallträ-ger, der sie getroffen hatte, hing noch an der Decke fest, einerihrer Arme war darunter eingeklemmt -

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- und plötzlich plärrte eine kühle, klare Stimme aus Laut-sprechern, die irgendwo in der Wand verborgen sein mussten- eine weibliche Stimme, ruhig und durchsetzt vom rhythmi-schen Blöken einer Alarmsirene.„Die Selbstzcrstörungssequenz wurde aktiviert. Die Sclbst-zerstörungssequenz kann nicht abgebrochen werden. Das ge-samte Personal muss die Einrichtung sofort verlassen. DieSelbstzerstörungssequenz wurde aktiviert. Dieses Programmkann nicht abgebrochen werden. Das gesamte Personal mussdie Einrichtung sofort verlassen ..."Leon mühte sich auf die Beine und machte einen schnellenSchritt auf die gestürzte Frau zu. Er fasste hinunter, pflückteden Glaszylinder aus ihrer ausgestreckten Hand und schobihn in seinen Mehrzweckgürtel. Er wusste nicht, wer sie war,aber sie war zu irre, um irgendetwas Belangloses in einemTeströhrchen bei sich zu tragen.Ada - er musste zu Ada, und sie mussten hier raus. DasBlöken der Alarmsirene röhrte durch die hallenden Gänge,jagte ihn zur Tür hinaus und auf den Laufsteg. Die teilnahms-los klingende Frauenstimme verfolgte ihn mit der ständigenWiederholung ihrer Warnung.Die aufgezeichnete Stimme sagte nicht, wie viel Zeit nochbis zur Zerstörung blieb, aber Leon war sich ziemlich sicher,dass er nicht in der Nähe sein wollte, wenn die Frist ablief.

Siebenundzwanz igDie Fahrt den kalten, dunklen Aufzugschacht hinab endete imQuietschen hydraulischer Bremsen - und dann in plötzlicherStille, als der Antrieb abschaltete. Sie saßen fest, irgendwo indem scheinbar endlosen Tunnelsystem.„Claire? Was -"Claire hielt einen Finger an ihre Lippen, um Sherry zu be-deuten, still zu sein - und hörte von draußen etwas, das wieein Alarm klang, ein sich wiederholendes, plärrendes Hupge-räusch. Eine Stimme schien sich auch hineinzumengen, dochClaire hörte nur ein schwaches Murmeln.„Komm, Schätzchen, ich glaube, die Fahrt ist zu Ende. Malsehen, wo es uns hinverschlagen hat, okay? Und bleib dichtbei mir."Sie verließen die Kabine und traten auf die Plattform hi-naus, wo die fernen Geräusche nicht mehr so fern klangen -und von irgendwo hinter dem Lift strömte Licht. Claire nahmSherrys Hand, und sie gingen schnell um den Aufzug herum.Sic wollte nicht, dass sich das Mädchen sorgte, aber sie warsich ziemlich sicher, dass es tatsächlich ein Alarm war, den

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sie da hörten. Zweifellos sprach auch jemand über diesemrhythmischen Quäken, und Claire wollte wissen, was gesagtwurde.Der Aufzug hatte dicht unterhalb eines Wartungstunnels

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gestoppt, das Licht, das Claire bemerkt hatte, rührte von einerGlühbirne, die von einem Gitter geschützt war und von derTunneldecke herabhing. Eine Tür gab es nicht, dafür abereine Art Kriechboden von annehmbarer Größe am Ende derkurzen Passage. Er würde genügen müssen.Entweder das. oder wir klettern an die Oberflüche zurück,ist ja nur etwa eine Meile bis dorthin ...Keine Chance. Claire hob Sherry hinauf, dann kletterte sieihr nach, setzte sich an die Spitze und ging gebückt zu demdunklen Loch. Die blökenden Geräusche wurden lauter, jenäher sie diesem niedrigen Gang kamen. Das Murmeln wur-de zur Stimme einer Frau. Claire bemühte sich, einzelne Wor-te hcrauszufiltern, hoffte, dass sie etwas wie „Störung desAufzugs" und „vorübergehend" aufschnappen würde - abersie verstand noch immer nichts. Sie mussten den Aufzug hin-ter sich lassen und konnten nur hoffen, dass sie es zugunstenvon etwas Besserem taten.Seufzend drehte Claire sich um. „Sieht mir ganz danachaus, als mussten wir zwei in der anstrengendsten und gebück-testen Gangart weiter, Kind. Ich geh voraus, und dann -"Sherry kreischte auf, als hinter ihnen etwas auf dem Dachder Aufzugskabine landete und es mit dem Geräusch zerrei-ßenden Metalls durchschlug. Clairc packte sie und zog sie zusich heran. Der Atem stockte ihr -- und eine Hand nein, zwei Hände tauchten aus dem Lochim Dach auf. Zwei dicke Arme, in Schatten gehüllt, und dannschob sich das leuchtende Weiß von Mr. X' gewaltigem Schä-del wie ein toter Mond in einer sterncnlosen Nacht aus demramponierten Aufzug.Claire drehte sich um und schob Sherry auf die Dunkelheitdes Kriechbodens zu. Ihr Herz hämmerte, ihr Körper war miteinemmal schweißnass und glitschig.

„Geh! Geh, ich bin direkt hinter dir!"Sherry verschwand in der sich krümmenden Schwärze,flitzte wie eine verschreckte Maus außer Sicht. Claire schau-te nicht zurück, sie hatte zu viel Angst, um sich umzudrehen,während sie Sherry in das Loch folgte und ihr gnadenloserVerfolger sicher schon aus dem beschädigten Aufzug kletter-te, um seine erbarmungslose Jagd fortzusetzen - aus wel-chem Motiv heraus auch immer.Ada hatte aus den Schatten der Stelle, an der sich die dreiLaufstege trafen, Bruchstücke von Annettes kreischender Ti-rade mitbekommen. Sie hatte sich gezwungen, Leon nicht zuHilfe zu eilen, sich aber geschworen, diesen Entschluss nocheinmal zu überdenken, sollte sie Schüsse hören -

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doch dann war das Labor heftig erschüttert worden, undeine teilnahmslose Bandstimme hatte ihre Endlosschleife be-gonnen.Scheiße!Ada hielt sich wankend auf den Beinen, voller Wut auf dieWissenschaftlcrin. Ein Teil von ihr sehnte sich schmerzlichnach Leon, und sie wusste, was geschehen war: Annette hattedie „Pannensicherung" aktiviert, was bedeutete, dass ihnenvermutlich weniger als zehn Minuten blieben, um sich ausDodge zu verdrücken ...Leon kennt den Weg nicht!unwichtig. Wenn sie sich die Probe holen wollte, die An-nette gewiss bei sich trug, musste sie es jetzt tun. Leon warnicht ihr Problem, er war nie ihr Problem gewesen, und siekonnte jetzt nicht aufgeben - nicht nach der Hölle, durch diesie gegangen war, um Trents kostbares Virus in ihren Besitzzu bringen.Ada entfernte sich einen Schritt vom Hauptverbindungspa-

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necl, das die drei Laufstege miteinander verband - und hör-te dröhnende Schritte auf sich zukommen, Schritte, die zuschwer waren, um von Annette zu stammen. Sie glitt zurückin die Schatten, herum zu dem Steg, der nach Westen führte,und drückte sich gegen den Rahmen des Kreuzungspunkts.Eine Sekunde später rannte Leon vorbei, wahrscheinlichdorthin zurück, wo er glaubte, dass sie auf ihn wartete. Adaholte tief Luft und entließ sie wieder, während sie Leon ausihren Gedanken verbannte. Dann eilte sie über die Südbrü-cke, um Annette zu suchen.Ada war weg.„... wurde aktiviert. Die Selbstzerstörungssequenz ..."„Halt's Maul, halt 's Maul!", zischte Leon. Hilflos stand erinmitten des Raumes, sein Magen verkrampft, seine Händezu Fäusten geballt.Sie musste in Panik geraten und davongerannt sein, als sieden Alarm gehört hatte. Wahrscheinlich stolperte sie jetztdurch die riesenhafte Einrichtung, verirrt und benommen,und vielleicht suchte sie nach ihm, während diese verdammteStimme ihre Litanei unentwegt wiederholte, während die Si-renen plärrten und heulten.Der Transportaufzug!Leon wandte sich um, rannte wieder zur Tür hinaus undsah, dass die Kabine verschwunden war - wo der Aufzug vor-hin noch gewesen war, gähnte jetzt ein großes, leeres, tiefesLoch. Leon war zu sehr darauf konzentriert gewesen, zu Adazu gelangen. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass der Liftnicht mehr da war.Wir müssen diesen Tunnel finden, wir müssen! Ohne denAufzug sitzen wir hier fest!Mit einem frustrierten Stöhnen machte Leon kehrt undrannte zurück zu den Laufstegen. Und er betete, dass er Adafand, bevor es zu spät war.Der niedrige Durchlass endete abrupt vor einem Durchgang,hinter dem in zwei Meter Tiefe ein leerer Tunnel verlief. Mitdröhnenden Ohren, ihr Mund staubtrocken, umfasste Sherrydie Ränder des rechteckigen Loches, schloss die Augen undsprang.Sie schwang sich über den Gang hinaus und ließ los, lande-te geduckt und stürzte, als ihr rechtes Bein nachgab. Es tatweh, aber sie spürte es kaum, kroch auf I landen und Knienweiter, um den Weg freizumachen, und sah gleichzeitig zudem Loch hinauf -- und da war Claire. Ihr Kopf kam zum Vorschein, aus gro-ßen, sorgenvollen Augen überzeugte sie sich davon, dass sie,Sherry, okay und dass der Gang leer und sicher war ... nur

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dass eben Alarmglocken schrillten, eine Frau über die Sprech-anlage plapperte und Mr. X unterwegs war.Claire streckte ihren Arm mit der Waffe so weit herab, wiesie konnte. „Sherry, nimm das mal, ich kann mich nicht um-drehen."Sherry stand auf und langte nach oben, packte den Laufund war erstaunt, wie schwer die Waffe war. als Claire sielosließ.„Richte sie nirgendwohin". keuchte Claire, und danntauchte sie förmlich aus dem Loch, krümmte ihren Körperund landete mit tief eingezogenem Kopf auf der Schulter. Sievollführte einen halben Purzelbaum, dann stießen ihre Beinegegen die Betonwand.Noch bevor Sherry auch nur fragen konnte, ob sie in Ord-nung war, kam Clairc auf die Beine, nahm die Waffe unddeutete auf die Tür am Gangende.

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„Renn!", sagte sie und lief selbst los. Mit einer Handdrückte sie gegen Sherrys Rücken, während sie der Tür ent-gegeneilten und während die Bandstimmc sie anwies zu ver-schwinden, sie darüber informierte, dass die Selbstzerstö-rungssequenz aktiviert worden war ...Hinter ihnen drang das Geräusch berstenden Metalls durchden blökenden Sirenenlärm, und Sherry rannte vor Schrecknoch schneller.

AchtundzwanzigAnnette kroch unter dem zermalmenden Gewicht des kaltenMetalls hervor, die Waffe noch immer in der Hand, aber dafürwar das G-Virus verschwunden. Als sie den Mund öffnete,um ihrem Zorn mit einem Schrei Luft zu machen, und um dieGötter zu verfluchen wegen der Ungerechtigkeit der furcht-baren Not, die sie litt, lief Blut in einem dicken Streifenklumpigen Speichels über ihre Lippen.Gehört mir mir mir . . .Irgendwie schaffte sie es, auf die Beine zu kommen.Ada sagte sich, dass sie Leon Kennedys Wohlwollen ohnehinnicht verdiente. Sie hatte es nie verdient gehabt.Vergib mir.Als er aus dem Bereich der Transportbucht über den Lauf-steg zurückrannte und nach rechts abbog, wie blind vor Angstum sie, trat sie aus den Schatten und richtete die Berctta aufseinen Rücken.„Leon!"Er kreiselte herum, und Ada spürte, wie ihr die Kehle engwurde ob der Erleichterung, die sich über sein Gesicht legte -und sie bemühte sich, nichts mehr zu empfinden, als seineFreude in Bitternis umschlug und sein Lächeln verschwand.O Jesus, vergib mir!

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„Ich habe auf dich gewartet", sagte sie und empfand keinenStolz darüber, wie glatt und fest ihre Stimme klang. Wie kalt.Der Alarm plärrte, die mechanische Stimme war fast sokalt wie die von Ada, während sie ihnen zu x-ten Male mit-teilte, dass sich das Pannensicherungsprogramm nicht wiederabschalten ließ. Ada hatte nicht die Zeit, die er gebraucht hät-te, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie ein ebensol-ches Monster war wie das Birkin-Ding oder die seelenlosenZombies.„Das G-Virus", sagte sie. „Gib es mir."Leon bewegte sich nicht. „Sie hat die Wahrheit gesagt", er-widerte er, ohne Zorn, aber mit mehr Schmerz, als Ada hörenwollte. „Du arbeitest für Umbrella."Ada schüttelte den Klopf. „Nein. Für wen ich arbeite,braucht dich nicht zu kümmern. Ich - ich ..."Zum ersten Mal seit Jahren, seit sie ein sehr junges Mäd-chen gewesen war, spürte Ada das Brennen von Tränen - undplötzlich hasste sie ihn dafür, dass er sie dazu brachte, sichselbst zu hassen.„Ich hab's versucht!", heulte sie, ihre Fassung verlierendunter dem wilden Sturzbach von Wut, der sie überwältigte.„Ich habe versucht, dich zurückzulassen, in der Fabrik! Unddu musstest es der Birkin ja abnehmen, nicht? Du konntestnicht einfach die Finger davon lassen!"Ada sah Mitleid auf seinem Gesicht und spürte, wie dieWut verging, fortgespült auf einer Welle von Leid - Leid da-rüber, was sie verloren hatte, mit ihm; Leid um den Teil ihrerselbst, den sie vor langer, langer Zeit verloren hatte.Sie wollte ihm von Trent erzählen. Über die Missionen inEuropa und Japan, davon, wie sie zu dem geworden war, wassie heute war, von jedem Ereignis in ihrem elenden, erfolg-reichen Leben, das sie schließlich hierher geführt hatte - wo300sie eine Waffe auf den Mann richtete, der sie gerettet hatte.Der Mann, der ihr vielleicht etwas hätte bedeuten können, zueiner anderen Zeit, an einem anderen Ort.Die Uhr tickte.„Gib's her", verlangte sie. „Zwing mich nicht, dich zu töten."Leon starrte ihr in die Augen und sagte einfach nur: „Nein."Eine Sekunde verging, eine weitere.Ada senkte die Beretta.Leon wappnete sich für den Schuss, für die Kugel aus AdasWaffe, die ihn töten würde -- doch sie ließ die Waffe langsam sinken, ihre Schulter sack-ten herab, eine Träne rann ihr über die porzellanblciche Wange.Leon entließ den angehaltenen Atem, fühlte zu vieles auf

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einmal, ein Durcheinander aus Traurigkeit und Verrat - undMitleid für den qualvollen Widerstreit in ihrem schönendunklen Blick -- und in den Schatten hinter ihr fiel ein Schuss. Adas Au-gen wurden groß, ihr Mund klappte auf, als sie vornüberstürzte, und die Waffe polterte zu Boden. Ada prallte gegendas Geländer und kippte darüber hinweg.„Ada, nein!"Er rannte und sprang, und irgendwie erwischte sie das Ge-länder, während er ihr Handgelenk packte. Ihr Körper bau-melte über der bodenlose Schwärze, Blut lief aus ihrer hän-genden, zertrümmerten Schulter.„Ada, halt dich fest!"„Mir", flüsterte Annette, „es ist mein."Sie hob die Waffe abermals, hatte vor, auch den anderen zuerschießen, sich wiederzuholen, was ihr gehörte, sie alle fürihren Verrat bezahlen zu lassen -

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- doch die Waffe war zu schwer, sie fiel, und Annette fielmit ihr. Zusammen stürzten sie auf das dunkle Metall, insDunkel - das Dunkel wirbelte in ihrem Geist hoch und nahmihr endlich die Schmerzen.William -Es war ihr allerletzter Gedanke, bevor sie einschlief.Die Tür öffnete sich in einen Raum, der mit brüllenden Ma-schinen gefüllt war. Das Heulen und Zischen der summen-den, ratternden Giganten übertönte das Schrillen des Alarms.Claire rannte, zog und schob Sherry mit sich, suchte ver-zweifelt nach einem Ausweg im Bewusstsein, dass das Mons-ter ihnen ganz nahe war.Was will er? Warum uns?Da, eine Plattform in der Ecke, knapp zwei Meter überdem Boden, ein Kistenstapel direkt daneben geschoben.„Da lang!", schrie Claire, und sie rannten vorbei an denReihen bebender Metallkonsolen. Hitze strömte aus den Ma-schinen, während Claire das Mädchen hinaufschob und dannhinterher kletterte.Ein berstendes Geräusch! Sie drehte sich um und sah, wiedie gigantische Kreatur sich ihren Weg durch die Tür brach,in die brüllende Hitze trat und suchte, suchte ...Am Ende der Plattform befand sich ein Doppelschott ausMetall. Sie stürzten darauf zu. Claire dachte nur daran, hierwegzukommen, und wie man ein Wesen vernichtete, das alldies überlebt hatte ...Die Tür war unverschlossen. Sie stürmten auf eine weiterePlattform hinaus. Die Hitze in dem schattenerfüllten Raumwar sengend, furchtbar -- und es war eine Sackgasse. Claire erkannte es, bevor sieein halbes Dutzend Schritte weit in die riesige Halle hinein

gerannt waren. Sie befand sich auf der Übersichtsplattformeiner Gießerei, die kochende Hitze stieg von den schwerenSchmelzbecken unter ihnen hoch.Sie hatte zwölf Schuss, verteilt auf zwei Waffen.Claire wankte an den Rand der Plattform, Sherry war ne-ben ihr, das leuchtende Orange des geschmolzenen Metallsbadete sie in seinem fiebrigen Schein. Da unten war genugHitze, um alles zu verbrennen.Wie? Wie bringe ich ihn dazu, dass er springt?„Sherry, geh da rüber!"Claire deutete zur entferntesten Ecke der Plattform, dochSherry schüttelte den Kopf, ihr kleines Gesicht zitterte vorAngst.„Tu es! Los!", rief Claire, und mit einem Schrei des Entset-

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zens rannte Sherry los, ihr Medaillon schlug gegen die Auf-schläge der offenen Jeansweste -... Icein Medaillon ...- und Sherry schrie, und Claire wandte sich um, und Mr. Xkam. Er betrat die Plattform, so steif, riesenhaft und unmög-lich wie bei ihrer ersten Begegnung. Das unheimliche oran-gene Licht machte ihn noch mehr zum Albtraum. Claire standwie ein Fels, rammte Irons' Waffe in den Bund ihrer Shorts.Ihr soeben gefasster, halbgarer Plan spulte sich in ihremangsterfüllten Kopf ab. Er würde wahrscheinlich nicht funk-tionieren, aber sie musste es versuchen!Er greift nach mir, ich springe über das Geländer, haltemich fest, er fällt -Mr. X richtete seinen leeren Blick auf sie, während er mitbodenerschütternden, gemessenen Schritten vorwärts ging,die schwarzen Einschusslöcher in seinem Gesicht und Halsnur dunkle Dellen in diesem weichen, furchtbaren Kürbis-licht.

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Und dann wandte er sich Sherry zu, riss die Fäuste emporund stürmte auf sie zu.„Hey! Hey, ich bin hierV\ schrie Claire, doch er hörte sienicht, sah sie nicht, sein ganzes monströses Sein fixierte sichauf das verängstigte, schluchzende Mädchen, das sich an diegegenüberliegende Wand kauerte, ihr Medaillon umklam-merte ...Und Claire begriff, was er wollte. Was Sherry und Annettegesagt hatten, fügte sich in einem Blitz der Erkenntnis zu-sammen und bildete die Antwort.G- Virus, trenne sie voneinander, Glücksbringer ...Kein Medaillon.„Sherry, er will die Halskette! Wirf sie zu mir her!"Wenn sie sich irrte, waren sie beide tot. Mr. X näherte sichdem Mädchen, verwehrte Claire die Sicht auf Sherry -- und der Anhänger, der G-Virus-Anhänger, den AnnetteBirkin ihrer kleinen Tochter wie einen Fluch auferlegt hatte,kam durch die erhitzte Dunkelheit geflogen und fiel genauvor Claires Füßen zu Boden.Mr. X wirbelte herum, folgte der Bahn des geworfenen An-hängers mit.seinen schwarzen Augen und vergaß Sherry in derSekunde, da die Halskette ihre Hand verließ. Es stimmte also.Braves Mädchen!Claire hob sie auf, winkte dem Monster damit zu, fühlte ei-nen Anflug unglaublicher Wut und hämischer Freude, als deraufgedunsene Riese mit unerschütterlicher Absicht auf siezuhielt, die Fäuste wieder erhoben, seinen leblosen Blick aufden glitzernden Anhänger geheftet.„Willst du das?", spottete Claire. Die Worte entsprangenihrem Zorn - Zorn ob der verschwendeten Kugeln, der Angst,die sie und Sherry durchgemacht hatten. „Ja? Dann kommund hoFs dir. du verdammter, hirnloser Freak\"Das Monster war keine anderthalb Meter mehr entfernt, alsClaire sich umdrehte und die Kette in den blubbernden, bren-nenden, heißen Pool warf, wo sie im geschmolzenen Eisenverschwand -- und das Superwesen, das sie während dieser endlosenNacht terrorisiert hatte, lief schnurstracks in das Geländer,die Mctallstangen brachen unter seinem übermächtigen An-sturm -- und so stürzte Mr. X lautlos in das riesige Becken. Einegroße Welle zischenden Metalls schwappte über die ge-schwärzten Ränder, spontane Flammeneruptioncn tanztenüber die dunkle Gestalt seines Körpers, während er unter derOberfläche des Schmelzsees verschwand.Triumph, süß und wunderbar - und dann veränderte sich

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die kühle Bandstimme plötzlich, zerstörte die Freude des An-blicks, wie Mr. X sich ein Lavabad gönnte.Über dem Schrillen der mechanischen Sirenen, war zu hören:„Sie haben fünf Minuten, um den Mindestsicherheitsab-stand zu erreichen. Das verbleibende Personal ist angehalten,die Einrichtung sofort zu verlassen. Bitte melden Sie sich ander untersten Plattform. Ich wiederhole, bitte melden Sie sichan der untersten Plattform. Ich wiederhole ..."Sherry trat neben Claire, und sie packte die Hand des Mäd-chens. Dann rannten sie los.Der Schmerz war unvorstellbar. Ada schloss die Augen undfragte sich, ob sie daran sterben würde.„Ada, halt dich fest! Halt dich einfach nur fest, ich ziehdich hoch!"Durch die dröhnenden Sirenen hindurch, die ihre Ohrenmalträtierten, hörte Ada den Beginn des Countdowns, der al-les hier zerstören würde. Fünf Minuten ...

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Wenn er versucht, mich zu retten, sterben wir beide.Leons Griff' war kräftig, die Entschlossenheit in seiner pa-nischen, flehenden Stimme fast so stark wie ihr eigener Wil-le. Fast, aber nicht ganz.Ada wandte ihr Gesicht nach oben und dem seinen zu, sah,dass er trotz allem noch wollte, dass sie überlebte, er wollteihr hochhclfen und sie davontragen, in Sicherheit, mit ihrfliehen.Diesmal nicht. Nicht ich ...Ihr Leben war erfüllt gewesen von Selbstsucht, hatte sichum Egoismus und Gier gedreht. Sie hatte viele Menschensterben sehen, und irgendwo unterwegs hatte sie die Fähig-keit, sich um andere zu sorgen, verloren - hatte sich gesagt,dass selbst das Bemühen darum Zeitverschwendung und einZeichen von Schwäche sei.Und ich habe mich geirrt. Ich war selbstsüchtig, habe michgeirrt, und jetzt ist es zu spät.Nicht zu spät. Was auch unter ihr liegen mochte, die Ent-scheidung war gefallen.„Leon - geh runter, nach Westen, finde den Frachtraumvorbei an der Reihe ... von Plastikstühlcn. Du brauchst dieDisk, sie ist in meiner ... Tasche -"„Ada, ich hab sie! Fracht-Disk, richtig? Ich hab sie, ich habsie gefunden - sprich nicht, halt dich nur fest, lass mich dirhelfen!" Er hantierte am Geländer, versuchte, seinen Griff zuverstärken.Zu reden, strengte fürchterlich an, aber sie musste es zuEnde bringen, musste es ihm sagen, bevor die Zeit um war.„Der Code ist 345. Geh zum Aufzug, Leon. Fahr damitnach unten. Die U-Bahn ... Tunnels führen nach draußen.Musst ... Vollgas geben ... und pass auf Birkin auf, den G-Träger, er - er verändert sich inzwischen. Kapiert?"306Leon nickte. Seine strahlend blauen Augen erfüllten sie re-gelrecht.„Lebe", sagte sie, und das war ein gutes Wort, ein Wort, mitdem man abtreten konnte. Sie war müde, und die Missionwar erfüllt, und Leon würde leben.Sie ließ das Geländer los, und Leon schrie ihren Namen,und der Laut folgte ihr hinab ins Dunkel wie ein bittersüßerAbschied.293

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Neuenundzwan zigSherry hatte Angst, doch Mr. X war tot. Er musste schon dieganze Zeit über das Monster gewesen sein, nicht jenes im Po-lizeirevier, sondern das echte Monster, das alles daran gesetzthatte, sie in Fetzen zu reißen ...Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, dennClaire rannte dorthin zurück, von wo sie gekommen waren,und zerrte sie mit sich durch den Maschinenraum, durch denGang mit dem Kriechboden und um eine Ecke -- und Sherry schrie, als ein Zombie auf sie zuwankte, einetote, weiße Kreatur aus schmutzigen Knochen. Doch Clairchob ihre Waffe und schoss, und der trockene, weiße Kopf lös-te sich auf. Die stöhnende bleiche Kreatur ging zu Boden,und dann zog Claire Sherry auch schon über den Toten hin-weg und lenkte sie auf die Tür am Gangendc zu.Es war ein Aufzug. Sherry brach an einer der Kabinenwän-de zusammen, nachdem Claire sie hineingezogen hatte. Sieversuchte, zu Atem zu kommen, während Claire die Steue-rung bediente. Nach dem Tempo ihrer Flucht vor Mr. X, wardie Abwärtsbewegung des Aufzugs nur ein Kriechen, ein lei-se summendes Kriechen.„Wir schaffen es", keuchte Claire, „es dauert nicht mehrlange."Sherry nickte, doch ihr Herz hämmerte noch heftiger, als

die seelenlose Stimme ihnen sagte, dass sie noch vier Minu-ten hatten, um sich in Sicherheit zu bringen.Leon hatte das Gefühl, vergessen zu haben, wie man aufstandund davonging. Das Bild von Adas gefasstem, schönem Ge-sichts in der Sekunde, bevor sie losließ, verfolgte ihn ...Sie ist tot. Ada ist tot...Die Starre wich. Er griff nach der Beretta, und neue Trauerüberkam ihn, als er sie aufhob. Die Waffe war noch warm vonihrer Berührung - und sie war leicht, um gut die Hälfte zuleicht, weil sie nicht geladen war. Es steckte nicht einmal einMagazin drin. Sie hatte nie vorgehabt, ihn zu verletzen; siehatte gelogen, hatte die ganze Zeit über gelogen, aber sie hat-te nie vorgehabt, ihm wehzutun.„... vier Minuten, um den Mindestsicherheitsabstand zu er-reichen. Das verbleibende Personal muss die Einrichtung so-fort verlassen. Melden Sie sich an der unteren Plattform ..."Vier Minuten. Er hatte vier Minuten, um sich so weit zuentfernen, dass er Adas letzten Wunsch erfüllen konnte.Leon stand auf, drehte sich zur Tür um - und hielt inne,fasste in seine Tasche und holte das Glasröhrchen hervor, das

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mit der purpurnen Flüssigkeit gefüllt war. Er wusste, dass erkeine Zeit zu verlieren hatte, aber es brauchte nur eine Se-kunde, um mit dem Arm auszuholen und die Probe so heftigvon sich zu schleudern, wie er nur konnte - er wollte sie soweit wie möglich von sich entfernt wissen.Wenn das Laboratorium, das für all die Toten verantwortlichwar, in Flammen aufging, sollte das G-Virus mit verbrennen.Ja!"Die Aufzugstür öffnete sich - und da war ein Zug, eine ge-heime U-Bahn in glänzendem Silber. Still und dunkel stand

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sie da, es war nicht die eingeschaltete, betriebsbereit wum-mernde Maschine, die Claire zu sehen erhofft hatte, aber eswar trotzdem das schönste Fluchtfahrzeug, das sie je erblickthatte, ganz bestimmt.Sherry hielt sich an Claires Arm fest, als sie zur vorderenTür der U-Bahn, die drei Waggons besaß, rannten. Die plär-renden Sirenen erklangen unverändert, echoten durch denTunnel aus Beton. Die ausdruckslose Stimme der Frau, dieseStimme, die Claire nun schon seit geraumer Zeit hasste, in-formierte sie, dass ihnen noch drei Minuten blieben, um denMindestsicherheitsabstand zu erreichen.Sie eilten an Bord. Claire stellte fest, dass es keine Sitzegab. nur eine weite, leere Fläche, wo die Passagiere stehenkonnten. Der Führerstand befand sich links.„Dann wollen wir die Show mal starten", sagte Claire, undder strahlende Ausdruck von Hoffnung auf Sherrys ver-schmutztem, erschöpftem Gesicht brach ihr ein klein wenigdas Herz.O Baby...Clairc wandte rasch den Blick ab, sprang die Stufen zumFührerstand hinauf und schwor sich im stillen, dass sie, fallsder Zug nicht funktionierte, Sherry eigenhändig durch denTunnel tragen würde - sie würde alles tun, was nötig war, umdiese zerbrechliche Hoffnung in den Augen des Mädchensnicht verlöschen zu sehen.Der Code und die Verifikations-Disk, die er im Operations-saal gefunden hatte, öffneten die Tür, genau wie Ada es ge-sagt hatte. Dahinter lag ein kurzer Gang. Es waren noch dreiMinuten Zeit. Leon rannte den kalten Korridor hinab, durcheine weitere überbreitc Tür, an der ein Lebensgefahr-Symbolprangte, und fand sich im Frachtraum wieder.310Er hatte keine Zeit, stehenzubleiben und sich richtig umzu-sehen. Er war darauf fixiert, zum Aufzug zu gelangen, ehedie Bandstimme ihm mitteilte, dass er unmöglich noch le-bend aus der Einrichtung entkommen könne. Leon rannte zurRückseite des weiten, seltsam rot getönten Raumes, fand dieSteuerung für den großen Lagerhausaufzug und schlug aufden Knopf, bereit, hineinzuspringen und von hier zu ver-schwinden --doch es passierte nichts, abgesehen davon, dass eine Reihewinziger Lichter - etwa zwanzig winzige Lichter über der Auf-zugtür- in absteigender Folge zu blinken begannen. Langsam.Leon streckte die Hand aus und hieb abermals auf denKnopf. Er empfand etwas wie tauben Unglauben, währendder Aufzug nach unten kroch und zwischen den einzelnen

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Etagen scheinbar minutenlang verweilte, während die Sire-nen dröhnten und der Countdown zur Zerstörung des Laborsmehr und mehr dem Ende entgegentickte.„Jesus!" Er drehte sich um, hatte das Gefühl, brüllend umsich schlagen zu müssen, wenn er noch länger zum Wartenverdammt war -- und zum ersten Mal sah er den Raum, in dem er sich be-fand, richtig. Die beiden hohen, breiten Regale, die an denLängsseiten des Saales verliefen, beinhalteten eine ganz be-sondere Art von „Lagergut" - obwohl das halbe Dutzend rie-siger Glasbehältcr, die sich auf beiden Regalen türmten,nichts anderes enthielt als klare, rote Flüssigkeit, verursachteder Anblick Leon eine Gänsehaut. Jeder Zylinder war sogroß, dass ein erwachsener Mensch hineingepasst hätte, under fragte sich, wofür sie gemacht worden waren.Egal, sie werden in ein paar Minuten eh in die Luft gehen,genau wie ich, wenn sich dieses gottverdammte Ding nichtBEEILT...!

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Er wandte sich wieder dem Aufzug zu, fast froh über seineWut und Frustration; so hatte er wenigstens etwas, das er ne-ben der Trauer empfinden konnte.Die Decke über dem Fahrstuhl fing an zu beben und zuklappern ... Leon wich zurück, richtete seine Magnum aufdas massive Metalldeckenteil, als es auch schon herabkrach-te, und -das Monster aus dem Transportlift landete vor ihm, die-selbe dämonische Kreatur, die Ada verletzt hatte, die ihn hät-te töten sollen!Birkin ...?So, wie das Wesen seinen eigenartigen Kopf zurückwarfund heulte, sein bösartiges, barbarisches Gebrüll das Alarm-gcplärre noch übertönte, hegte Leon jedenfalls keinen Zwei-fel daran, dass es nur gekommen war, um zu Ende zu brin-gen, was es vorhin begonnen hatte.Die U-Bahn war bereit, war startklar - es schien lediglich, alshabe der Öffnungsmechanismus für das Tunneltor nicht funk-tioniert: Inmitten der grünen Lichter auf der Konsole brannteein rotes, das darauf beharrte, dass das Tor manuell geöffnetwerden musste.Zwei Minuten, um den Mindestsicherheitsabstand zu errei-chen.Schaffen es nicht, das schaffen wir nie ...„Bleib hier", sagte Claire und ging hinaus, um den Auslö-ser zu finden, und hoffte, dass dies kein echtes Problem dar-stellte.Leon drehte sich um und stürmte davon, als das Monster aufihn zukam. Jeder der mächtigen Schritte des Ungeheuersdröhnte durch den saalartigen Raum, und die Echos der

fürchterlichen Schreie hallten noch immer von den Wändenwider.Denk nach!Die Shotgun hatte nicht genügt, er musste das Ding an ei-ner wirklich verwundbaren Stelle treffen. Die Augen, nimmdie Magnum!Leon war wieder an der Tür. Er wirbelte herum und drück-te ab, die Magnum auf das Gesicht der Kreatur gerichtet -- aber dieses Gesicht veränderte sich wieder, die Kinnladesackte herab, fiel buchstäblich ab, als das Wesen schrie. Gro-ße, gezackte Dornen von Zähnen oder Klauen schoben sichaus den Überresten des Maulcs, aus der pulsierenden Brust -und als ein weiterer Schrei aus der mutierenden Kehle desMonstrums hervorbrach, sah Leon, wie sich links und rechtszwei neue Arme entfalteten. Die Glieder schnappten an ih-

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ren Platz, die Ellbogen rasteten ein, klauenbewehrte Fingerwuchsen wie fette Würmer aus den Enden.Bamm-hamm-hamm!Die Treffer saßen dicht beieinander, schlugen in die dünne,gedehnte Haut über dem linken geschlitzten Auge des Unge-tüms. Es brüllte auf, diesmal vor Schmerz, und Leon sah, wieKnochensplitter und eiterfarbene Flüssigkeit hervorspritz-ten. Ein schmaler Strom dunklen Blutes verhüllte den gelbenAugapfel des Monsters.Es warf den Kopf vor und zurück, versprühte noch mehrFlüssigkeit, hockte sich hin wie ein entarteter Frosch -- und sprang in die Luft, hüpfte hoch und nach rechts undlandete mit einem tierhaften Grunzen auf einem der überzwei Meter hohen Regale.O Scheiße, wie hat es das gemacht...?Leon konnte die Augen des Monsters nicht sehen, nur sei-nen Rücken, als es zusammensank - und es veränderte sich

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abermals. Leon konnte die feuchten, knackenden Laute hö-ren - und sehen, wie sich die knöchernen Stacheln durch daspurpurne Fleisch des Rückens bohrten.Er wollte nicht sehen, wozu es wurde, doch der Aufzug warnoch immer nicht angekommen, und er hatte gerade nochzwei gottverdammte Minuten.Leon ergriff ein neues Magazin und rammte es in die Waf-fe, dann schoss er auf das, was er sehen konnte - einen Um-riss mit sechs Beinen, eine Gestalt, die nicht länger auch nurannähernd menschlich wirkte.Der Schuss traf eine der muskulösen Schultern, und dieKreatur sprang. Wie ein wildes, spinnenhaftes Tier hüpfte siewieder zu Boden und landete ein paar Schritte vor Leon. Ausder Brust des Wesens war ein Wall seltsamer Zähne gewor-den, Pfähle, die sich unter dem Hecheln des Ungeheuers öff-neten und schlössen - und als es wieder aufbrüllte, war es dasBrüllen eines Dämons, war es wie nichts, was Leon jemalszuvor gehört hatte - wie die Todesschreie von tausend ver-dammten Seelen.Leon versenkte zwei Kugeln in dem Gewirr sich bewegen-der Zähne und stolperte davon - und durch den steten Lärmder Sirenen hindurch hörte er endlich das helle, munterePing, mit dem der Aufzug eintraf.Claire rannte zum vorderen Ende des Zuges, besah sich dieHebel- und Schalterreihen, die in die Wand eingelassen wa-ren, runzelte die Stirn, fand den rotweißen Hebel in wenigerals zehn Sekunden und rammte ihn nach unten. Von irgendwovor dem Zug hörte sie ein Knirschen von Metall. Sie machtekehrt, um zurück zur Tür zu laufen -- als sie abermals metallische Geräusche hörte, das krei-schende Getöse von Stahl, der verbogen und aus seiner Form

gedroschen wurde; es klang irgendwo hinter der U-Bahn auf,irgendwo im hinteren Bereich des Tunnels ...Nein, unmöglich.Sie starrte zum hinteren Ende des Zuges, durch das Metall-gitter eines geschlossenen Tores, das zurück ins Dunkel führ-te - und hörte ein Geräusch wie von Knochen auf Beton, einmahlendcr, schwerer Laut, der sich einmal wiederholte unddann noch einmal.Schritte.Claire rannte auf die Tür zu. Sie wusste, dass es nicht Mr.X sein konnte, das war unmöglich, denn er war geschmolzen,tot, sie hatten das G-Virus nicht mehr in ihrem Besitz ...Da erhaschte sie einen Blick auf Bewegung hinter den Git-terstäben, etwa zehn Meter entfernt. Einen Blick auf etwas

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Großes. Rauchfetzen kräuselten sich durch die Dunkelheit -und dazu der bittere, stickige Geruch von Verbranntem.Es trat aus den Schatten auf das Ende des Zuges zu, hobseine verkohlten, gewaltigen Fäuste —WOAMMMl- und der Waggon erbebte förmlich, als Claire erkannte,dass es Mr. X war... oder was von ihm noch existierte ... unddass er ganz gewiss ein Dämon geradewegs aus der Hölle war!Während der Fahrt im Aufzug hatte sie all ihre Munition inein Magazin geladen. Elf Schuss standen ihr noch zur Verfü-gung. Das konnte unmöglich ausreichen, aber es war alles,was noch blieb.Claire hob kons' Pistole und fragte sich, ob dies das Endewar.Leon rannte um das Regal zu seiner Rechten herum und hieltwieder auf den Fahrstuhl zu. Direkt hinter ihm waren galop-pierende Schritte, die er nicht aufzuhalten vermochte.

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Noch eine Kehre, zurück durch den Mittelteil -- und etwas traf ihn in den Rücken. Er wurde nach vornegeschleudert und zu Boden, als die Bestie ihn gleichsamrammte. Heißes, gummiartiges Fleisch schmetterte ihn zuBoden.Leon rollte sich herum. Es war auf ihm, die tropfenZähne bereit, sich in seinen Kopf zu graben, die dickenne nagelten ihn fest. Der augenhafte Tumor war immer nocda. er öffnete sich auf der Schulter des Monsters, starrteLeon an -- und der stieß den Lauf seiner Waffe gegen das geiferndeKinn und drückte ab. Schreiend jagte er dem Ding die groß-kalibrigen Geschosse in den zustoßenden Schädel.Die Bestie kreischte auf. fuchtelte mit den Armen, kippteseitlich von Leon herunter. Blitzschnell kam er hoch undrannte weiter, schnurstracks auf den offenen Lift zu. Das ge-waltige, absurde Tier heulte immer noch, als Leon sich in denAufzug warf und sich umdrehte, den Knopf, der mit „Ab-wärts" markiert war, drückte -- und sah, wie das Monster sich schüttelte, wie es sich ver-änderte, schrie und Knochen, Fleisch und Blut spuckte, sichebenfalls umwandte und auf den Aufzug zuhielt. Mit jedemstaksenden Schritt wurde es schneller, die Tür schloss sichgrausam langsam, die schreckliche Kreatur flog jetzt beinaheheran -- und Leon, die Shotgun in Händen, lud durch und drückteab. Der Schuss traf die gewölbte Brust des Ungeheuers, warfes zurück -und die Tür schloss sich. Leon fuhr nach unten. Ihm bliebnur noch eine einzige lächerliche Minute.

DRE ISSIGWOAMMWSherry spürte, wie der Zug rings um sie her heftig erbebte.Claire!Sic rannte zur Tür, erinnerte sich zwar daran, dass Clairegesagt hatte, sie solle hierbleiben, aber es scherte sie nicht.Sie wusste nicht, was es war oder was sie tun konnte, um zuhelfen, aber sie konnte nicht einfach nur herumstehen -WOAMMW.Der Waggon schaukelte von neuem, ein weiteres lautes,hämmerndes Krachen dröhnte durch die schale Luft. DerBoden erzitterte unter ihren Füßen. Sherry erreichte die Türund hieb auf den Schalter, um sie zu öffnen. Ihr Herz raste,

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Schweiß rann durch den Schmutz auf ihrem Gesicht.Die Tür glitt auf - und da war Claire. Sie richtete ihre Pis-tole auf etwas, das Sherry nicht sehen konnte, etwas am Endedes Waggons.Claires Blick huschte zu ihr, und ihre geschrienen Wortebebten vor Angst und Panik.„Komm nicht raus! Mach die Tür zu!"Sherry fasste nach den Kontrollen und zögerte aus Sorgeum Claire. Sie wollte sehen, was da war ...Nur ein schneller Blick!Sie reckte ihren Kopf vor, suchte nach der Ursache für Clai-

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res Angst, nach dem, was da auf den Zug eindrosch. Ein Geruchwie von Chemikalien und verbranntem Fleisch hatte sich überdie schwach beleuchtete Plattform gelegt, ausgehend von -Sherry schrie auf, als sie es sah, als sie das abgerissene,verkohlte Monster sah, das die U-Bahn zum Wanken brachte,nur durch eine Barriere aus Gitterstäben von ihnen getrennt.Sie sah, wie seine riesigen Fäuste gegen die Stahlwandungdes Zuges hämmerten, aber es war das Gesicht des Monsters,von dem sie den Blick nicht abwenden konnte.Mr. X.Die Haut war ihm vom Gesicht gebrannt, vom ganzen Leib.Rauch stieg von dem geschwärzten, geschmolzenen Klum-pen seines Schädels auf, doch die Augen waren noch leben-dig - rot und schwarz und dampfend von beißendem Qualmzwar, aber immer noch sehr lebendig.„Sherry! Mach schon, los!", schrie Claire, ohne den Blickvon dem rauchenden Ungeheuer zu nehmen, von seinemfurchtbaren, riesigen Körper, der mit metallisch roten Mus-keln bedeckt war, so rot und verbrannt wie seine schreckli-chen Augen.Sherry hieb auf den Knopf, und die Tür schloss sich, wäh-rend Claire anfing zu schießen.Der Aufzug fuhr abwärts, aber nicht so, wie Leon es erwartethatte, und nicht annähernd so schnell, wie es nötig gewesenwäre. Die breite Plattform glitt einen schrägen Tunnel hinab,wie ein Schlitten. Neongitter auf schwarzen Wänden glittenvorüber. Langsam.„... noch vierzig Sekunden, um den Mindestsicherheitsab-stand zu erreichen ..."„Los, los, los!", keuchte Leon. Die zunehmende Angst, dieauf sein Hirn einwirkte, ließ ihn alle Schmerzen in seinem

Körper vergessen. Die Stimme hatte aufgehört, ihm zu sagen,dass er sich an der unteren Plattform melden solle, machte nurnoch Durchsagen in zehnsekündigen Abständen. So sehr erdie wiederholten Aufforderungen zum Verlassen des Gefah-renbereichs auch verflucht hatte, es war weit schlimmer, sienicht mehr zu hören. Die Stille zwischen den Ansagen verrietihm, dass er es gar nicht mehr zu versuchen brauchte.So weit geschafft, und dann sterbe ich wegen eines lahmenAufzugs ... Damit konnte er sich nicht abfinden. Er hatte zuviel durchgemacht. Der Autounfall, Claire, die Flucht und dieMonster und Ada und Birkin ... er musste es schaffen, sonstwar alles umsonst gewesen.Unter der abwärts gleitenden Plattform schien kein richti-ger Boden zu existieren, sonst hätte er es zu Fuß probiert - der

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Aufzug bewegte sich mittels einer Mechanik, die Leon sichnicht einmal entfernt vorstellen konnte, in Rinnen zu bewe-gen, die zu beiden Seiten in die Dunkelheit gefräst waren.„... zwanzig Sekunden, um ..."Leon begann zu zittern. Die Anspannung, die seine Mus-keln erfasst hatte und sie verhärtete, erschwerte ihm das At-men. Wie groß war der Mindestsicherheitsabstand? Wenndiese kalte, unmenschliche Stimme bis null gezählt hatte, wielange dauerte es dann noch bis zur Explosion?Vollgas, sie sagte Vollgas ...Der Zug würde schnell sein müssen. Und er hatte nochzehn Sekunden, um ihn zu erreichen.Der merkwürdige Aufzug setzte seine sanfte, gemächlicheReise hinab ins Dunkel fort.Die Tür glitt zu, und Sherry war in Sicherheit. Für den Au-genblick wenigstens. Claires Gedanken jagten sich auf Hoch-touren, gingen blitzschnell ihre Optionen durch.

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Darf nicht zulassen, dass er den Zug aus den Gleisen he-belt!Sie wusste, dass sie nicht darauf hoffen konnte, das Unge-tüm zu verletzen, aber vielleicht war sie in der Lage, es langegenug abzulenken, so dass sie entkommen konnten. Sicwünschte. Sherry die einfache Steuerung des Zuges gezeigtzu haben, wünschte, dass der Zug schon in Bewegung wäreund Sherry in Sicherheit brächte -- aber das hab ich nicht und wir müssen los. JETZT.Die Banddurchsage zählte die letzten zehn Sekunden, dienoch blieben, um den Mindestsicherheitsabstand zu errei-chen. Als die rauchenden Überreste von Mr. X der verbeultenU-Bahn-Wandung einen weiteren Hammerschlag versetzten,zielte Claire auf seinen mutierten Schädel und drückte ab.Fünf Schüsse. Vier davon klatschten in das bizarre Materi-al, das sein Fleisch war, etwa dort, wo sich bei einem Men-schen die Ohren befanden. Die fünfte Kugel ging fehl, undals das explosionsartige Donnern durch die Schatten der kal-ten Plattform hallte, wandte sich das Ding, dem sie den Na-men Mr. X verpasst hatte, langsam zu ihr um.Was ist denn jetzt?Die aufgezeichnete Frauenstimme lenkte Clairc für einenSekundenbruchteil ab, als Mr. X einen Schritt auf sie zu-machte, einen schwerfälligen, monströsen Schritt, der ihn ausden Schatten trug......drei. Zwei. Eins. Sie müssen den Mindestsicherheitsab-stand jetzt erreicht haben. Selbstzcrstörung in fünf Minuten.Noch fünf Minuten bis zur Detonation."Die Alarmsirenen plärrten unvermindert, aber die Stimmewar verstummt. Claire hätte es ohnedies nicht bemerkt, ihrschreckgeweiteter Blick war ganz auf das Ungeheuer fixiert.Es war der Gestalt gewordene Albtraum. Seine nach wie vor

menschlichen Konturen verstärkten diesen Eindruck nur noch,wie eine Verhöhnung der Wirklichkeit, der Vernunft. Trotzder verkohlten, qualmenden Flecke, die den Großteil seinesKörpers bedeckten, hatte sein widernatürliches Fleisch nichtsvon seiner Elastizität eingebüßt - das rötliche Material unterden Verbrennungen beugte und straffte sich wie echtes Mus-kelgewebe. Das Wesen sah aus wie ein gehäuteter Riese, derunter einem brennenden Gebäude hervorgekrochen war - undwenn es bei dem Bad in geschmolzenem Metall Schaden ge-nommen hatte, so konnte Claire es nicht erkennen.Ein weiterer, mächtiger Schritt, die Kreatur hob die Arme,das Gittertor wurde herausgerissen, und die Eisenstäbe krach-ten auf den Beton.

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Wenigstens ist es langsam, immerhin etwas.Es war das Einzige, was für sie zu Buche schlug. Claire eil-te auf die U-Bahn-Tür zu. hatte immer noch Angst, aber dasqualmende Ungeheuer war langsam, stark zwar, aber offen-bar nicht imstande, sich wirklich geschmeidig zu bewegen -- doch plötzlich ging Mr. X nicht mehr einfach nur, erbeugte die Hüften, beugte die Knie -und stieß sich mit einem dynamischen Satz vom Bodenab, so kraftvoll, dass er dabei Furchen in den Beton riss. De-formierte Füße katapultierten das Wesen auf Claire zu. dienoch in vollem Lauf war.Ohne zu denken, wich Clairc nach rechts aus und startetehinter dem geduckt springenden Ungeheuer durch, rannte soschnell sie nur konnte. Es erwischte sie dennoch beinahe, sei-ne Reflexe waren schneller als schnell - als hätte der Verlustseiner Hülle es irgendwie befreit, als hätte das flüssige Metalles abgeschält bis auf den Kern seiner Kräfte.Als Claire über das zerborstene Tor in die Schatten sprang,hörte sie das Kreischen, mit dem Finger, die nicht aus Fleisch

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waren, über den Beton scharrten. Sic sah, dass Mr. X einenseiner gewaltigen Arme hochgerissen hatte und dort ins Lee-re schlug, wo sie eine Sekunde zuvor noch gewesen war. Erhatte vor, sie aufzuschlitzen.Aber warum? Ich habe kein G-Virus mehr, es besteht keinGrund -Claire rannte tiefer in die hallende Finsternis, während dieBandstimme sie ruhig informierte, dass ihnen noch vier Mi-nuten Zeit blieben...Noch vier Minuten bis zur Detonation ..."Scheiße scheiße scheiße!Gerade als Leon dachte, der Frust würde ihm einen Schlag-anfall bescheren, kam der Aufzug endlich zum Halten. Er rissam Griff einer dicken Metalltür, spannte seine Muskeln, umloszurennen -- und die Tür öffnete sich in der Wand eines Ganges, einessterilen Betonkorridors, der erhellt wurde von flackerndenDeckenleuchten. Es gab keine Hinweise, die Leon verratenhätten, welchen Weg er nehmen sollte.Links oder rechts?Die paar Sekunden, die er zögerte, konnten ihn das Lebenkosten -falls er überhaupt noch eine Chance hatte.Er hatte einmal gehört, dass Menschen, wenn sie vor dieWahl gestellt werden, sich instinktiv für die Richtung ent-schieden, die ihrer dominierenden Hand entsprach. In Anbe-tracht des lausigen Glücks, das ihm in dieser langen, langenNacht in Raccoon beschieden gewesen war, entschied er sichjedoch, die andere Richtung zu wählen.Er war Rechtshänder - also links. Leon rannte los. SeineStiefel hämmerten über den Boden, und er fragte sich, obsich alle Mühe überhaupt noch lohnte.Nicht weit hinter dem zerstörten Tor erkannte Claire einenÜbergang, der über die Schienen hinwegführte. Die nachoben führende Treppe lag in tiefe Schatten gehüllt.Claire hörte das Stampfen von Mr. X, als er ihr folgte, jederseiner raumgreifenden Schritte ein brutaler Hieb mutiertenFleisches auf Zement. Das Entsetzen trieb sie voran, ihreFüße berührten kaum den Boden, es war ihr egal, ob sie inder tiefer werdenden Dunkelheit mit dem Gesicht voraus ge-gen eine Wand rennen würde. Vielleicht wäre das sogar ambesten; ihr Verfolger war wahnsinnig stark, er war schnell, eswar unmöglich, ihn zu töten - sie hatte keine Chance, wenner sie erwischte.Und die Schritte wurden lauter, schneller, Claire hörte dasreißende Kratzen klauenbewehrter Pranken, die den Betonaufpflügten. Sic hatte vielleicht noch eine Sekunde, bis diese

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Klauen in ihr wühlen würden -- und sie wich wieder nach rechts aus, warf sich in etwaswie ein dunkles Loch direkt neben der Treppe. Mr. X jagtevorbei, ein gigantischer, hochaufragender Schemen. Clairefühlte sogar den Windzug seiner sich bewegenden Hand überihr Bein streichen, als sie auf den kalten Boden prallte.Stechender Schmerz schoss durch ihren Arm, ihr Ellbogenwar hart aufgeschlagen. Sie achtete nicht darauf, sprang wie-der hoch, suchte im Dunkeln nach dem Monster.Kann ihn nicht sehen. Sieht er mich?Ihre Hand fand rechts eine schräge Wand, hinter sich undlinks spürte sie Beton. Sie befand sich in dem Raum unter derTreppe, und sie hatte keine Ahnung, wo der unglaublich leiseMr. X war; aller Schatten würde ihr nichts nützen, wenn er imDunkeln sehen konnte.Claire fuhr mit den Händen über die Wände, fand einenSchalter und drückte ihn. Die Konsistenz der Schatten verän-

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derte sich, als trübes Licht von oben herabsickerte - und siesah das Monster, keine fünfzehn Schritte entfernt, gerade, alses sich umdrehte. Sein roter Blick strich über die verlassenePlattform -- und fand Claire. Fixierte sie. Das einzige Geräusch warein leises Knacken, das von dem immer noch rauchendenFleisch ausging - bis die Kreatur einen Schritt in Richtungder Treppe tat und der Beton unter einem ihrer purpurnenBeine knirschte.Noch sechs oder sieben Schuss übrig - schieß auf die Au-gen!Schnell trat Claire aus den Schatten. Sie hob Irons' Waffe,drückte ab und wich zur Treppe zurück.Bamm-bamm-bamm!All dem zum Trotz positionierte sich Mr. X für einen weite-ren Angriff. Die Kugeln schlugen in sein zerschmolzenes Ge-sicht, zwei prallten von dem Material seines Schädels ab, alshandele es sich um ein schützendes Visier.... bamm-bamm ...Clairc war an der Treppe, stieg seitwärts eine Stufe hoch.Die Kugeln richteten nichts aus, Mr. X machte sich bereit,mit weiten Sätzen loszuhetzen. Er würde bei ihr sein, bevorsie sich umdrehen konnte, bevor sie es schaffte, die Treppe zuüberwinden.Ich werde sterben ...... aber wenigstens werde ich ihn vorher verletzen!Mr. X machte zwei kraftvolle Schritte, halbierte die Dis-tanz zu ihr, während Claire zielte, entschlossen, mit den letz-ten Schüssen etwas zu bewirken. Sie würde sterben, doch ihrBedauern galt nur Sherry, ihr einziger Wunsch war. dass esihr gelänge, den Albtraum X außer Gefecht zu setzen, bevorer das Mädchen umbrachte.324Sie schoss, und das linke Auge des Monsters explodierte.Ein Schwall tintiger Flüssigkeit spritzte über sein schreckli-ches, unmenschliches Gesicht.Ja!Mr. X wankte nach rechts, blieb zwar nicht stehen, kamaber nicht mehr schnurstracks auf sie zu - doch er würde im-mer noch am Fuß der Treppe anlangen. Sie musste versu-chen, das andere Auge zu erwischen, und sie hatte noch etwazwei Sekunden!Clairc nahm ihr Ziel aufs Korn und -Klick!Es war kein Schuss mehr übrig, und das Ungeheuer pralltegegen das untere Ende der Treppe. Der Geruch verbrannten

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Fleisches spülte über Claire hinweg, als es seine gewaltigenHände hochriss, und sein riesenhafter, schrecklicher Körperwar alles, was sie sehen konnte.Claire rollte die Steinstufen hinunter, krümmte sich zusam-men, schrie, als Mr. X' raue. klauenbewehrte Pranke über ih-ren linken Oberschenkel fuhren - und eine ferne Stimme ihrmitteilte, dass ihr noch drei Minuten bis zum Ende ihres Le-bens blieben.

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Einunddre i s s i gEr war den falschen Weg gegangen. Biegungen und Abzwei-gungen des kalten, leeren Ganges hatten Leon schließlich zueinem Lagerraum geführt - der sich als Sackgasse erwies......noch drei Minuten bis zur Detonation ..."Leon wandte sich zurück in die Richtung, aus der er ge-kommen war, und mit, wie ihm schien, letzter Kraft zwang ersich zu einem taumelnden Lauf. Er war zu erschöpft, um Ent-täuschung zu empfinden, um sich seines drohenden Todeswegen zu sorgen, um sich zu wünschen, dass alles anderssein möge; es bedurfte all seiner Energie, um einfach nur inBewegung zu bleiben.Er würde es schaffen oder nicht - wie es auch ausgehenmochte, er glaubte nicht, dass es ihn überraschen würde.Claire erreichte den Fuß der Treppe und richtete sich auf.Blut rann ihr in heiß pulsierendem, stechendem Schmerz dasBein hinab. Sic taumelte zur Seite, offenbar war nichts gebro-chen -- aber sie wusste. dass ihr zerschundenes Bein nur der An-fang dessen war, was Mr. X ihr antun würde, nur der Auftaktfür den wahren Schmerz.Das Ungetüm war immer noch über das Treppengeländergebeugt, doch als sie forttaumelte, auf das zerstörte Tor zur

Plattform zu, stieß es sich ab. Mr. X drehte seinen gewaltigenLeib in ihre Richtung, und aus der Schwärze seiner leerenAugenhöhle troff dunkle, blutige Flüssigkeit. Er würde seineveränderten Sinne kompensieren, dessen war sie sich sicherer würde sie kompensieren, sich neu orientieren und ihr aufsNeue nachjagen - und er würde sie abschlachten, weil er einegnadenlose Maschine war. Es gab nichts, was sie tun konnte,um ihn aufzuhalten.Wenn ich Glück habe, werde ich durch die Explosion ster-ben.Claire stolperte über das Gitter des Tores, konnte sich kaumaufrecht halten. Blut sprühte zu Boden, als sie ein weiteresMal taumelnd stehenblieb.Bitte, mach, dass es schnell geht...„Hier! Benutz das!"Clairc kreiselte herum, sah, dass Mr. X sich für seinen töd-lichen Schlag in Positur brachte - und sah weit oben die Sil-houette, auf der Konstruktion über den Schienen. Die Stimmeeiner Frau, die Konturen einer Frau. Die schemenhafte Ge-stalt warf etwas herab -

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Wer ist das...?- das über den Beton klapperte und zwischen Claire undMr. X landete. Es war Metall, es war silbern - sie hatte so et-was schon in Filmen gesehen ... Es war ein Maschinenge-wehr!Claire rannte darauf zu. Eine weitere letzte Hoffnung, eineweitere Chance, so klein sie auch sein mochte, dass sie undSherry überleben würden.Claire erreichte die Waffe, ließ sich fallen, sah, wie sichMr. X auf sie zuschob, und das Dröhnen seiner Schritte ließden Boden erbeben.Sie nahm die schwere Waffe auf, stieß sich vom Boden ab,

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rollte auf den Rücken, und ihre zitternde Hand fand den Ab-zug. Ihr Körper bewegte sich so, dass sie die Waffe in An-schlag bringen konnte. Gegen den Boden gestemmt, legte siedie Arme um das kalte Metall und zielte.Bitte... bitteDas Monster war nur noch einen Schritt weit entfernt, alssich der Kugelhagel krachend aus der Waffe entlud, eine ras-selnde, ratternde Serie winziger Explosionen, die ClairesKörper durchschüttelte - und in die Eingeweide der Bestieeinschlug. Die schiere Gewalt so vieler Kugeln stoppte dasMonster inmitten seiner Bewegung - und drängte es zurück.Tattatattatatta ...Claire spürte, wie sich das vibrierende Metall rüttelnd ausihrem Zugriff befreien wollte, also packte sie es noch fester.Der Kolben der Waffe hämmerte in irrsinnigem Rhythmusgegen den Boden. Noch immer klatschten die Kugeln in denBauch der Kreatur, so schnell und so viele, dass Claire ihreeigenen keuchenden Schreie der Wut. des Schmerzes und derErregung nicht mehr hörte.Mr. X versuchte trotz allem, sich nach vorne zu bewegen,aber etwas Seltsames geschah, etwas Seltsames und zugleich... Herrliches. Seine Eingeweide wurden von dem endlosenGeschossstrom zerfetzt, der Mittelteil seines Körpers sankein, und schwarze Flüssigkeit ergoss sich aus der fransigen,wachsenden Wunde über die untere Hälfte des Leibes. Mr. X'Mund stand offen, ein leeres Loch, genau wie seine Augen-höhle - und wie aus der Augenhöhle quoll auch hier einezähe Flüssigkeit hervor und bedeckte sein mitleidloses Ge-sicht.Tattatattatat...Claire gab nicht nach, lenkte den Bleihagel, sah zu, wie dieKreatur versuchte, der pulsierenden, krachenden Endlossalve

zu widerstehen. Sah zu, wie sie blutete. Sah zu, wie sie zu —kondensieren schien, wie ihr klobiger Körper sich krümmte,ihr Torso nach unten sank.Noch immer flogen die Kugeln. Mr. X hob die Arme -- und zerfiel in zwei Hälften.Claire nahm den Finger vom Abzug, als der Oberkör-per des Ungeheuers zu Boden kippte, ein feuchtes Waschschschweren Fleisches, und seine Beine nachgaben und zur Sei-te fielen. Aus beiden Hälften ergoss sich noch mehr von sei-nem eigenartigen Blut. Pfützen glänzender Schwärze bilde-ten sich um die monströsen Teile seines zerbrochenen Leibes,bildeten stinkende Lachen. Die Kreatur war tot - und selbstwenn sie es nicht war, kam es darauf nicht mehr an. Wenn das

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Ungetüm sich nicht so schnell über den Boden ziehen konnte,wie Claire rannte, war ihr Kampf mit dem schaurigen Myste-rium namens Mr. X endlich vorbei ...Zum Teufel damit, du hast keine Zeit - BEWEG DICH!Claire kam binnen einer Sekunde auf die Beine, ignoriertedas Schmatzen des Blutes in ihrem Stiefel und den Schmerz,der es verursacht hatte. Ihr Blick suchte die obere Plattformnach ihrer unbekannten Retterin ab. Doch da war niemandmehr, und sie wusste nicht, ob eine weitere Minute verticktwar; die aufgezeichnete Stimme war im MG-Feuer unterge-gangen.„Hey!", rief Claire, während sie rückwärts zur U-Bahn zu-rückwich. „Wir müssen jetzt los!"Keine Antwort, kein Laut, nur das Klingeln in ihren Ohrenund das Echo ihrer zitternden Worte. Wenn sie Sherry rettenwollte, dann ...Claire drehte sich um und rannte.„... zwei Minuten bis ..."Leon zwang sich, schneller zu gehen. Der gewundene

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Tunnel war ein verwaschenes, graues Etwas, das an seinerschmerzenden, atemlosen Wahrnehmung vorbciwirbelte. Erhatte den Überblick verloren über all die Abzweigungen undBiegungen des Ganges, und seine Hoffnung nahm rasant ab.Eine Stimme weit hinten in seinem Schädel sagte ihm, dasses vielleicht am besten wäre, stehenzubleiben, sich hinzuset-zen und auszuruhen -- doch dann hörte er es, und das winzige, verzweifelteFlüstern in ihm wurde von dem Geräusch übertönt.Dem Geräusch schwerer Maschinen, die zum Leben er-wachten, irgendwo vor ihm, unweit ...Der Zug! Schneller!Seine Beine wie weit entfernt und gummiartig, seine Lun-gen pumpend, sein Herz hämmernd ... egal, was er tat, es warvorbei.

ZWE I U N D D RE I S SI GClairc stürmte in den Zug, ein riesiges Gewehr in Händen,ein Bein blutbedeckt, und hielt kaum inne, um den Türschlie-ßer zu drücken, ehe sie zur Fahrerkabine weiterrannte. Sherrywusste, dass sie in Schwierigkeiten steckten, dass es knappwerden würde, deshalb verschwendete sie keine Zeit auf Fra-gen. Sie folgte Claire, grenzenlos erleichtert, dass sie okaywar, behielt es jedoch für sich.Okay, sie ist okay, und jetzt verschwinden wir ...Eine leise, blecherne Version der Bandstimme und der Sire-nen schepperte aus dem Armaturenbrett des winzigen Raumes.„... zwei Minuten bis zur Detonation ..."Claire hatte das komisch geformte Gewehr fallen lassenund drückte Knöpfe, betätigte Schalter; ihre Aufmerksamkeitwar ganz auf die Konsole gerichtet. Plötzlich hüllte ein mäch-tiges mechanisches Brummen sie ein, ein anschwellendesheulendes Rumpeln, das Claire mit den Zähnen knirschenließ. Sherry konnte nicht sagen, ob es ein Lächeln war, abersie lächelte, als sie spürte, wie ein Ruck durch den Zug gingund er sich in Bewegung setzte, fort von der Plattform.Claire drehte sich um, sah Sherry hinter sich stehen undversuchte zu lächeln. Sie legte eine Hand auf Sherrys Schul-ter, sagte aber nichts - und so schwieg Sherry ebenfalls undwartete, was geschehen würde.

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Der Zug wurde allmählich schneller, glitt an schwach er-hellten Gängen und Plattformen vorbei. Der Tunnel vor ihnenwar dunkel und hoffentlich leer. Die Wärme von ClairesHand erinnerte Sherry daran, dass sie Freunde waren, dass,was auch passieren würde, Claire ihre Freundin war -- und sie sah einen Mann, einen Polizisten, vor ihnen in ihrBlickfeld taumeln, und dann glitt der Zug an ihm vorbei. Sei-ne Augen waren groß und suchend und verzweifelt in demschmutzigen Gesicht.„Claire!"„Ich sehe ihn -"Claire wandte sich um und rannte aus der Kabine. IhreSchritte klapperten durch den Waggon, sprinteten zur Tür. Siedrückte den Öffner, und die Tür glitt auf. Die dröhnenden,mahlenden Geräusche der U-Bahn wogten von draußen he-rein.„Leon!", schrie sie. „Beeil dich!"Sie zuckte zurück, als eine Wand vorbeiglitt, wirbelte he-rum und wirkte ebenso verzweifelt wie dieser Mann - Leon.Nach einer weiteren Sekunde drehte sie sich erneut um undschloss die Tür.„Hat er es geschafft?", fragte Sherry, und noch während ihrdie Worte aus dem Mund kamen, wurde ihr bewusst, dassClaire das unmöglich wissen konnte.Clairc kam zu ihr und legte einen Arm um sie, während derZug schneller wurde, und ihr Gesicht verkrampfte sich vorSorge -- und die Bandstimme sagte ihnen, dass ihnen noch eineMinute blieb -- und die hintere Tür des Waggons öffnete sich. Leonwankte herein, seinen Arm in einen zerfetzten, fleckigen Ver-band gewickelt, sein Haar mit dunkler, getrockneter Schmie-

re verklebt, seine Augen strahlend blau in der Maske ausDreck.„Vollgas!", rief er. Claire nickte, und Leon stieß heftig denAtem aus. Er taumelte auf sie zu, der Zug ruckte hin und her,raste jetzt raketenhaft durch den Tunnel. Leon legte seinenArm um Claire, und sie drückte sich fest an ihn.„Ada?", flüsterte Claire. „Ann - die Wissenschaftlerin?"Leon schüttelte den Kopf, und Sherry sah, dass er fastweinte. „Nein. Ich konnte nicht - nein ..."„... dreißig Sekunden bis zur Detonation. Neunundzwanzig... achtundzwanzig ..."Die Frauenstimme zählte weiter, die Zahlen schienen dop-pelt so schnell zu kommen, als sie es sollten, und Sherry ver-

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grub ihr Gesicht in Claires warmer Seite und dachte an ihreMom. An Mom und Dad. Sie hoffte, dass sie es geschafft hat-ten, dass sie irgendwo in Sicherheit waren -- aber das sind sie vermutlich nicht. Sie sind wahrschein-lich tot.Sherry konnte Claires Herz klopfen hören, und sie umarm-te ihre Freundin fester; sie würde später darüber nachdenken.„... fünf, vier, drei, zwei, eins. Sequenz komplett. Detona-tion."Eine Sekunde lang herrschte völlige Stille. Der Alarm hat-te endlich aufgehört, und die rumpelnde Bewegung des da-hinrasenden Zuges war alles, was zu hören war -- doch dann gab es eine Explosion, ein gedämpftes Ge-räusch, ein Schuump, das anschwoll, gewaltig wurde.Sherry schloss die Augen. Plötzlich erbebte der Zug ganzfürchterlich, und sie wurden alle auf den Metallboden gewor-fen. Grelles, brennendes Licht flackerte durch das Fenster he-rein, Lärm wie von einem Autounfall wurde um sie her laut,schwere Wumps regneten auf das Dach nieder -

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- und der Zug fuhr weiter. Er fuhr weiter, und das Lichtverging, und sie waren nicht tot.Der blendende Blitz löste sich auf, verging, und Leon spürte,wie die Anspannung von seinem Körper abfiel. Er rollte sichauf die Seite und sah, wie Claire sich aufsetzte und nach derHand des Mädchens neben ihr fasste.„Okay?", fragte Claire die Kleine, und das Kind nickte.Beide wandten sie sich ihm zu, ihre Gesichter drückten aus,was sie empfanden - Schock, Erschöpfung, Fassungslosig-keit, Hoffnung.„Leon Kennedy, das ist Sherry Birkin", sagte Claire. Siesprach die Worte behutsam aus, legte eine leichte Betonungauf „Birkin". Er verstand die Message auch ohne ihren schar-fen Blick und gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass erBescheid wusste. Dann lächelte er dem Mädchen zu.„Sherry, das ist Leon", fuhr Claire fort. „Wir sind uns be-gegnet, kurz nachdem ich in Raccoon eingetroffen war."Sherry erwiderte sein Lächeln, ein müdes, zu erwachsenesLächeln, das fehl am Platze schien; sie war zu jung, um so zulächeln.Noch eine verdammte Untat, die Umbrella anzulasten ist -einem Kind die Unschuld zu stehlen ...Ein paar Sekunden lang saßen sie einfach so am Boden,starrten einander an, und das Lächeln schwand aus ihren Ge-sichtern. Leon wagte kaum zu hoffen, dass es wirklich vorbeiwar - dass sie das Entsetzen tatsächlich hinter sich ließen.Abermals sah er eine Widerspiegelung seiner Gefühle aufSherrys sorgenvoll gefurchter Stirn und in Claires müdengrauen Augen -- und als sie das ferne Quietschen von Metall hörten, dasvon irgendwo aus dem hinteren Teil des Zuges zu ihnen

drang, bemerkte er keinerlei Überraschung. Ein reißendesKreischen - gefolgt von einem schweren, irgendwie verstoh-lenen Wump - und dann nichts mehr.Hätte wissen müssen, dass es nicht vorbei ist...„Ein Zombie?", flüsterte Sherry, und ihre Worte gingen fastunter im dumpfen Rattern des rasenden Zuges.„Ich weiß es nicht, .Schätzchen", sagte Claire leise, undjetzt erst sah Leon, dass ihr linkes Bein aufgerissen war -Blut quoll aus mehreren Kratzern; er war bisher zu verblüfftgewesen über seine ... über ihre knappe Flucht, um es eherzu bemerken.„Wie war's, wenn ich mal nachsehe?", meinte Leon. Er hat-te Claires Stichwort verstanden, hielt seine Stimme leise undgleichmäßig. Es brachte nichts, Sherry noch mehr zu veräng-

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stigen. Er stand auf und wies mit einem Nicken auf ClairesBein.„Sherry, warum bleibst du nicht hier bei Claire und hältstihr Bein im Auge? Vielleicht finde ich ja etwas Verbandsma-terial, während ich mich da hinten umschaue. Pass auf, dasssie sich nicht bewegt, okay?"Sherry nickte, ihr kleines Gesicht angespannt vor Ent-schlossenheit, und auch für diesen Ausdruck war sie zu jung.„Geht klar."„Ich bin gleich wieder da", sagte Leon, wandte sich demrückwärtigen Bereich des schwankenden Raumes zu, betete,dass es nichts weiter war, und wusste es doch längst besser,als er nach der Remington griff und losging.Leon öffnete die Tür. Die Geräusche des fahrenden Zugesverstärkten sich eine Sekunde lang, bis die Tür sich hinterihm wieder schloss. Von ihrer Position am Boden aus konnteClaire nicht sehen, wie er den nächsten Waggon betrat, und

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sie wünschte sich, sie wäre in der Lage gewesen, mit ihm zugehen - denn wem sich noch etwas anderes im Zug befand,war Sherry nicht sicher, dann war keiner von ihnen sicher ...So darfst du nicht denken, es ist nichts. Es ist vorbei!So wie es mit Mr. X vorbei war?„Was soll ich tun?", fragte Sherry und erlöste Claire damitvon den entmutigenden Gedanken. „Fest drücken, richtig?"Claire nickte. „Normalerweise ja, nur dass wir beide ziem-lich schmutzig sind, und ich glaube, das Blut gerinnt schon.Lass uns abwarten, ob Leon mit etwas Sauberem zurück-kommt ..."Sie verstummte, ihre Gedanken kehrten zurück zu Mr. X.Irgendetwas nagte in ihr, aber sie war zu benommen von demBlutverlust.Das G-Virus. Er war hinter dem G-Virus her.Warum aber war Mr. X dann zur U-Bahn-Plattform ge-kommen? Warum sonst hätte er versuchen sollen, in den Zugzu gelangen, wenn nicht weilClaire kam mühsam hoch, bekämpfte das Schwindelgcfühlin ihrem Kopf und den pochenden Schmerz in ihrem Bein.„Hey, nicht bewegen", sagte Sherry, ein Ausdruck tieferSorge in den Augen. „Leon sagte, du sollst ruhig liegen blei-ben!"Sie hätte es vielleicht geschafft, ihre physischen Problemezu überwinden, aber Sherry am Rande einer Panik zu sehen,das war zu viel. Wenn eine G-Virus-Kreatur an Bord war,wenn das der Grund war, weshalb Mr. X gekommen war,würde Leon sich dieser Sache allein stellen müssen. Siekonnte Sherry nicht verlassen. Wenn Leon nicht zurückkam,musste sie herausfinden, wie man ihren Waggon abkoppelteoder den Zug stoppte, damit sie aussteigen konnten, ehe dasWesen zu ihnen vordrang ...

Claire schaltete ihr Denken ab und zwang sich, Sherry zu-liebe, zu einem Lächeln. „Ja, Ma'am. Ich wollte mich nurvergewissern, dass er durch den zweiten Waggon gekommenist ..."Sie konnte Erleichterung über Sherrys Gesicht huschen se-hen. „Oh. Vergiss es. Ich kümmere mich jetzt um dich, undich sage dir, du bleibst ruhig liegen."Claire nickte abwesend, hoffte, dass sie sich irrte, hoffte,dass Leon gleich wieder zurückkommen würde -Bamm! Bamm! Bamm!Das Krachen der Remington war laut und deutlich. Sherrypackte ihre Hand, als zwei weitere Schüsse die Hoffnung ausClaires benebeltem Kopf bliesen. Und der Zug raste weiter

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durch das Dunkel.Der zweite Waggon war leer - noch immer derselbe weite,offene Raum, durch den Leon den Zug betreten hatte. Staubi-ger Stahl und sonst nicht viel. Wer dieses Fluchtvehikel auchentworfen hatte, er hatte offensichtlich geplant, die Umbrclla-Mitarbcitcr wie Ölsardinen hineinzupacken.Sind aber nur wir drei - und unser blinder Passagier...Es war nichts zu sehen, trotzdem ging Leon langsam wei-ter. Vorsichtig durchforstete er die dunklen Ecken und wapp-nete sich für was auch immer sich im letzten Wagen befindenmochte. Was es auch war, es konnte nicht so schlimm seinwie das Ding, das ihn zuvor angesprungen hatte, das Birkin-Ding - wenn es das denn gewesen war. Der Gedanke, dassdie Kreatur irgendetwas mit Claires junger Freundin zu tunhatte, war zutiefst beunruhigend, obszön geradezu. EinMonster und eine Wahnsinnige, beide tot, beide die Eltern ei-nes kleinen Mädchens ...Er erreichte das hintere Ende des düsteren, schaukelnden

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Waggons, spähte durch die Tür und verdrängte alle anderenGedanken, während er versuchte, im letzten Wagen irgendet-was auszumachen. Da war Dunkelheit und sonst nichts.Verdammt.Vielleicht gab es ja nichts zu sehen, aber er musste nach-schauen. Er spürte, wie sein Herz frisches Adrenalin durchseinen Körper zu pumpen begann, spürte, wie die Müdigkeitvon ihm wich. Nichts, es war bestimmt nichts, aber er hatteein ungutes Gefühl. Etwas stimmte nicht.Leon holte tief Luft und öffnete die Tür, trat hinaus insFreie, zwischen die Waggons, in die laute, peitschende Brise,und hielt sich am Geländer fest. Das Rattern des Zuges über-tönte das Pochen seines Herzens, als er sich auf den letztenWagen zubewegte, die Tür öffnete und ins Dunkel trat.Augenblicklich hob er das Gewehr, all seine Sinne dräng-ten ihn zu rennen, als die Tür hinter ihm zuglitt. Er fasstenach hinten, tastete nach einem Lichtschalter. Dunkelheit.Aber da war ein kräftiger Geruch nach Bleichmittel oderChlor, und da war ein leises feuchtes Geräusch, das Geräuschvon Bewegung ...In der Mitte des Waggons flackerte eine einzelne nackteGlühbirne auf, nachdem Leon einen Schalter gefunden hatte,und eine Sekunde lang glaubte er, den Verstand verloren zuhaben.Da war ... ein Ding. Eine Kreatur, die nicht einmal entferntmenschlich war, bis auf einen seltsamen, pulsierenden Tumor,der ihr aus einer Seite ragte, ein glatter Ball, der sehr nach ei-nem Auge aussah.Birkin.Die Kreatur war ein riesiger, langgestreckter dunkler Klum-pen schleimiger Materie, der sich über die Breite des Wag-gons erstreckte. Leon vermochte nicht zu sagen, wie groß

das Gebilde war. Aus dem Birkin-Ding ragten dicke Stränge.Tentakel aus feuchtem, elastischem Schleim hingen an allenmöglichen Stellen des Raumes vor dem Monster - an der De-cke, den Wänden, am Boden. Und während Leon sie ansah,zog sich die fremdartige Bestie nach vorne, die dunklenGliedmaßen kontrahierten, brachten die Körpermasse einpaar Fuß weiter nach vorne.Nein, er war nicht verrückt. Er sah es tatsächlich, sah diesebrackigen, sich bewegenden Farben, schwarz, grün und pur-purn, in den Tentakeln, als sie sich wieder streckten. Dasdickflüssige Material saugte sich irgendwie am Metall desWagens fest, zog den Klumpen noch ein Stück weiter. DerLeib selbst war kaum mehr als ein klaffender Rachen, eine

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feuchte Höhle, die noch Zähne hatte.Es würde ihn, Leon, ziemlich bald erreicht haben, wenn ersich nicht aus seiner Erstarrung löste.Er zielte in das riesige Loch des Mauls und drückte ab, luddurch, schoss, lud, schoss -- und dann war die Shotgun leer, und das gigantische, halb-flüssige Ding bewegte sich immer noch stetig voran.Leon wusste nicht, wie es zu töten war, wusste nicht, ob dieKugeln es überhaupt verletzt hatten. Seine Gedanken rastenauf der Suche nach einer Antwort, nach einer Lösung, die dasentsetzliche Leben des G-Virus-Monsters hätte beenden kön-nen. Er wäre imstande gewesen, den letzten Waggon abzu-hängen, die Bolzen und Ketten zu zerschießen, die diesenWagen mit dem anderen verbanden, wenn er denn die Kupp-lung fand -- aber dann wäre es immer noch am Leben und würde sichweiter verändern in der Schwärze des Tunnels, es würde zuetwas Neuem werden ...Die hingestreckte, elastische Masse der formlosen Gestalt

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bewegte sich zentimeterweise voran. Leon fasste nach demTüröffner. Er musste versuchen, den Waggon abzuhängen, esblieb ihm keine andere Wähl.Es sei denn ...Er zögerte, dann zog er seine Magnum aus dem Holsterund richtete sie auf das unmögliche Gebilde. Auf den seltsa-men Tumor, der aus einem Schlitz in dem gummiartigenFleisch lugte, dieses Auge, das Teil jeder Gestalt gewesenwar, die Birkin bislang angenommen hatte. Er zielte sorgfäl-tig und --BAMMM!Die Wirkung zeigte sich umgehend und war absolut. Dasschwere Geschoss durchschlug die feuchte Kugel - und einzischendes, kreischendes Heulen entfuhr dem zahnbewehr-ten Rachen, unirdisch, wie das Heulen von etwas Mechani-schem oder Wahnsinnigem. Die Ranken unförmiger Substanzschrumpften, wurden schwarz, vertrockneten -- und das Ding implodierte, zog sich in sich selbst zurück,verdorrte zu einer dampfenden, schwarzen Masse von weni-ger als einem Viertel ihrer ursprünglichen Größe. Wie einStrandball, aus dem man die Luft herausließ, verschrumpelteund schrumpfte der geleeartige Klumpen, kollabierte, wurdeflacher und verlor sich geifernd in einer großen Lache blub-bernden Schleimes.„Saug dich daran fest", sagte Leon leise. Die letzten Bla-sen zerplatzten, die Lache war nur mehr ein totes, unbeseel-tes Etwas. Er betrachtete es ein paar Augenblicke lang unddachte an gar nichts - dann machte er sich schließlich auf,um zu den anderen zurückzukehren und ihnen zu sagen, dasses vorbei war.Mein erster Arbeitstag, dachte er.„Ich will eine Gehaltserhöhung", murmelte Leon zu sich

selbst und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, ein mü-des, sonniges Grinsen, das rasch verging ... doch in den we-nigen Sekunden, die es währte, fühlte Leon sich so gut wielange nicht mehr.Leon war zurück. Er hatte einen Overall gefunden, den er inStreifen riss und benutzte, um Claires Bein zu verbinden. Al-les, was er gesagt hatte, war, dass sie jetzt in Sicherheit wa-ren, obwohl Sherry gesehen hatte, wie er und Claire einenBlick gewechselt hatten - einen dieser „Wir-solltcn-nicht-ge-rade-jetzt-darüber-reden"-Blickc. Sherry war zu müde, umsich deswegen gekränkt zu fühlen.Sie kuschelte sich in Claires Arme. Claire strich ihr übersHaar, und sie schwiegen alle drei. Es gab nichts zu sagen,

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jedenfalls für eine Weile nicht. Sie waren am Leben und ineinem Zug, der durch die Dunkelheit donnerte - und von ir-gendwo nicht weit voraus sickerte weiches Licht zu ihnen,durch das Fenster des Führerstands, und Sherry fand, dass essehr nach Morgen aussah.

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EP I L O GZehn Meilen außerhalb der Stadt sahen sie die Folgen der Ex-plosion, eine schwarze, sich aufblähende Rauchwolke, die insfrühe Morgenlicht emporstieg und über Raccoon hing wie einfurchtbarer Sturm -- oder wie ein böser Traum, dachte Rebecca, ein sich wie-derholender Albtraum. Umbrella.Sie sprach es nicht laut aus, weil es nicht nötig war. Johnund David hatten zwar den Albtraum in der Spencer-Villanicht miterlebt, aber sie waren in der Einrichtung von CalibanCove gewesen und hatten gesehen, wozu Umbrella fähig war.Sie wussten Bescheid.Niemand sagte etwas, als David aufs Gas trat. Seine Knö-chel am Lenkrad traten weiß hervor. Diesmal riss John keineWitze darüber, was geschehen sein mochte. Sie wussten alle,dass es schlimm war. Bevor Jill, Chris und Barry nach Euro-pa abgereist waren, hatte Jill ihnen ein Telegramm geschickt,in dem sie ihren Verdacht über einen weiteren Unfall geäu-ßert und sie gebeten hatte, die Sache im Auge zu behalten.Als die Telefonleitungen nicht mehr funktionierten, hatten siedas SUV beladen und Maine verlassen, um nachzusehen,was getan werden konnte. Die einzige offene Frage war, wieviele Menschen diesmal gestorben waren.Vielleicht hört es jetzt endlich auf. Eine Explosion wie die-327se ... kann Umbrella nicht so ohne weiteres vertuschen, nichtwenn es so schlimm ist, wie es aussieht.John brach das Schweigen schließlich, seine tiefe, weicheStimme klang untypisch gedämpft. „Hat da jemand den Not-hebcl umgelegt?"David seufzte. „Wahrscheinlich. Wenn es einen Ausbruchgegeben hat, gehen wir da nicht rein. Wir fahren um die Stadtherum und rufen dann Hilfe aus Latham. Umbrella schickt si-cher ein eigenes Aufräumkommando hinein."Rebecca nickte, genau wie John. Sie gehörten im Prinzipnicht mehr zu S.T.A.R.S., aber David war einmal Captaingewesen, und das aus gutem Grund.Sie verfielen wieder in angespanntes Schweigen. Währenddie von der Dämmerung berührten Bäume am Fahrzeug vorbei-wischten, fragte sich Rebecca, was sie wohl finden würden -- als sie auch schon die Menschen sah, die auf die Straßewankten und mit den Armen winkten.„Hey -", setzte sie an, doch David ging bereits auf dieBremse und verlangsamte den Wagen, während sie sich dendrei abgerissen aussehenden Fremden näherten. Ein Cop mit

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einem verbundenen Arm und eine junge Frau in Shorts, beidehielten Waffen in den Händen, und ein kleines Mädchen ineiner pinkfarbenen Weste, die ihm viel zu groß war. Sie wa-ren nicht infiziert oder zeigten zumindest keinerlei Anzei-chen, die Rebecca aufgefallen wären - aber sie sahen trotz-dem furchtbar aus. Mit ihren zerfetzten Kleidern und ihrenGesichtern, die bleich und schockiert waren unter den Mas-ken aus Dreck, wären sie locker als wandelnde Leichendurchgegangen.„Ich rede mit ihnen", sagte David sanft, aber bestimmt mitseinem trockenen britischen Akzent, und dann stoppten sieneben den Überlebenden von Raccoon.343

Page 329: Resident Evil - Stadt Der Verdammten

David öffnete sein Fenster und stellte den Motor ab. Derjunge Cop trat vor, während die Frau einen schmutzigen Armum die Schultern des Mädchens legte.„Es hat einen Unfall gegeben in der Stadt", sagte der Cop,und obwohl sie unübersehbar müde und verletzt waren undHilfe dringend nötig hatten, lag Misstrauen in seiner Stimme,ein vorsichtiger Unterton, der erahnen ließ, wie übel ihnenmitgespielt worden war. „Ein schrecklicher Unfall. Sie soll-ten da nicht hin, es ist nicht sicher."David runzelte die Stirn. „Was für ein Unfall, Officcr?"Die junge Frau antworte, ihr Mund ein schmaler Strich derVerbitterung. „Ein Umbrella-UnfaH", sagte sie, und der Copnickte, und das kleine Mädchen vergrub sein Gesicht an derHüfte der Frau.John und Rebecca wechselten einen Blick, und David ent-riegelte per Knopfdruck die Türen.„Wirklich? Das sind für gewöhnlich die schlimmsten", sag-te er ruhig. „Wir würden Ihnen gerne helfen, wenn Sie möch-ten, oder wir könnten Hilfe rufen ..."Es war eine Frage. Der Cop blickte die Frau an, dann sah erDavid einige Herzschläge lang an. Er musste in Davids Ge-sicht etwas gefunden haben, von dem er das Gefühl hatte,ihm trauen zu können, denn er nickte langsam. Dann bedeu-tete er der Frau und dem Mädchen mit einer Geste, zu ihm zukommen.„Danke", sagte er. und die Erschöpfung brach sich endlichBahn. „Wenn Sie uns mitnehmen könnten, das wäre großartig."David lächelte. „Steigen Sie ein. John, Rebecca - würdetihr ihnen bitte behilflich sein ...?"John schnappte sich ein paar Decken, Rebecca griff nachihrer Sanitätsausrüstung, sorgsam darauf achtend, die Geweh-re neben dem Radkasten nicht aufzudecken.Ein Umbrella-Unfall...Rebecca fragte sich, ob sie wussten, wie glücklich sie sichschätzen durften, dies überlebt zu haben - doch ein weitererBlick in die drei erschöpften, niedergeschmetterten Gesichterüberzeugte sie, dass sie es vermutlich wussten.Sie begannen zu reden, noch ehe David den Wagen gewen-det hatte - und binnen sehr kurzer Zeit stellten sie fest, dasssie vieles, vieles gemeinsam hatten. Während das Kind ein-schlief, fuhren sie den Weg zurück, den sie gekommen waren,und ließen die brennende Stadt hinter sich zurück.345329