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"ROSEGARDEN – Imperium für Geschichten" ist ein Magazin, das sich den Themen rund um Kreativität und den Fragen unserer Zeit widmet: Multioptionalität, Leben und Hadern in Städten. Wir präsentieren Schnappschüsse, Meinungen und Inspiration. In Ausgabe 4 geht es uns um das Thema "Monetizing Passion". Wir sind der Frage nachgegangen, wie man Leidenschaft zu Geld machen kann. Dazu führten wir verschiedene Interviews: Von der Bäckerin über den DJ bis hin zum Künstler. Wolf Schmid und Teresa Cortez berichten aus Lissabon – der vielleicht leidenschaftlichsten aller Städte. Lisa Lindner traf den Outdoor-Fotografen Frank Kretschmann, der für seine Leidenschaft hoch hinaus geht. Und Christian Neuner-Duttenhofer will Leidenschaft einfach Leidenschaft sein lassen. Viel Spaß beim Lesen!
Citation preview
Titelthema: Monetizing PassionInterviews mit: Sharmaine Lovegrove, Alyssa Jade, Kevin Knapp und mehr!Christian Neuner-Duttenhofer sagt: Follow that what turns you onGedanken zum bedingungslosen Grundeinkommen mit Daniel HäniEindrücke aus Lissabon von Wolf Schmid und Teresa Cortez
I M P E R I U M F Ü R G E S C H I C H T E N
Ausgabe IV
2
Liebe Leserinnen und Leser,
herzlich willkommen in der vierten Aus-
gabe von ROSEGARDEN. Und auch dieses
Mal ist wieder vieles anders.
Nachdem wir im April unser Redaktions-
konzept ziemlich radikal verändert haben,
steht nun die Homepage im Zentrum un-
serer Aktivitäten. Sozusagen das Haupt-
haus in unserem Imperium für Geschich-
ten. Dort versorgen wir euch nun beinahe
täglich mit neuen Inhalten: Mit Interviews,
Konzertberichten, Fotostrecken, Geschich-
ten. Die Zugriffszahlen zeigen uns: Euch
gefällt das so. Wir sind happy.
Vor diesem Hintergrund hat sich nun auch
das Konzept für das in gebündelter Form
erscheinende Magazin verändert. Ab so-
fort konzentrieren wir uns hier im Maga-
zin auf ein Thema. In dieser Ausgabe heißt
es: „Monetizing Passion“ – ein Thema, das
uns seit langem umtreibt und begegnet:
Wie kann man Leidenschaft zu Geld ma-
chen. Dazu gibt es viele inspirierende In-
terviews mit Leuten, die einfach mal ihrer
Leidenschaft gefolgt sind: Fotografie, Klet-
tern, Malen, Backen, Schokolade und Ge-
schichten.
Die Frage ist aber auch: müssen wir mit
unserer Leidenschaft überhaupt Geld ver-
dienen? „Follow that what turns you on!“,
sagt Christian Neuner-Duttenhofer und
schreibt darüber, warum wir uns Passio-
nen leisten sollen.
Wolf Schmid ist für seine Leidenschaft
Schreiben nach Lissabon gezogen und er-
zählt über diese melancholische Stadt und
warum eine strauchelnde Wirtschaft nicht
Editorial
Endlich ein Imperium!
3
der schlechteste Nährboden für kulturelles
Leben ist.
Das war es allerdings noch lange nicht mit
den Neuigkeiten!
Seit Mai versorgt uns Sven Hätscher ali-
as GuteMukke jeden Dienstag mit seiner
Playlist Tuesday‘s Child. Damit kommen
wir alle etwas beschwingter durch den
Rest der Woche.
Und ebenfalls seit Mai freuen wir uns sehr
darüber, zwei mal im Monat für den Blog
der Bildagentur Shutterstock aus Berlin
berichten zu dürfen.
Man kann also auch im vierzehnten Mo-
nat unsers Bestehens sagen: Veränderung
und Bewegung gehören zum Rosengarten
wie Dornen und Blüten... oder so.
Genug der Vorrede, hereinspaziert in eine
Ausgabe, auf dessen Inhalt wir ein biss-
chen stolz sind.
Viel Spaß im Imperium für Geschichten,
Maren Heltsche, Mario Münster,
Bertram Sturm
Endlich ein Imperium!
Foto
: Ver
a H
ofm
ann
4
Inhalt
Monetizing Passion: Leidenschaft zu Geld machen – oder lieber nicht?
Interviews: Sie bereuen nichts
Wir haben uns einmal umgehört, um zu erfahren, wie das so ist, wenn man der Lei-
denschaft folgt. Keiner unserer Interviewpartner hat es bereut. Unterschiedlich sind
ihre Geschichten dennoch. Die Bäckerin Anna-Maria Wild folgte einem klaren Plan.
Die Fotografin Vera Hofmann und der Künstler Chris Koch stiegen einfach aus. Der DJ
Kevin Knapp verließ San Francisco. Sharmaine Lovegrove liebt Geschichten und Alys-
sa Jade ist verrückt nach Schokolade. Lasst euch inspirieren 10
Leitartikel Monetizing Passion
Ist das jetzt ein Trend oder bloß eine
Beobachtung in unserem Umfeld? Fest
steht: Menschen machen sich auf und
folgen ihrer Leidenschaft mit dem Ziel,
sie zu Geld zu machen. Ein Versuch das
Thema zu beleuchten 6
5
Raus aus der Komfortzone
Lisa Lindner traf den Kletterfotografen
Frank Kretschmann. Seine Leidenschaft
führt ihn in die Berge. Bericht über ei-
nen, der steil geht 26
Hauptstadt von Vorgestern
Wolf Schmid folgte seiner Leidenschaft –
dem Schreiben – und ging in die leiden-
schaftlichste aller Städte: Lissabon. Er
fand dort eine Stadt, die einen nicht so
leicht loslässt.
Die Illustratorin Teresa Cortez hat die
Stimmung der Stadt für diesen Beitrag
auf ihre Weise übersetzt 44
Follow that what turns you on
Christian Neuner-Duttenhofer ist neuer
Kontributor bei ROSEGARDEN. Er stellt die
berechtigte Frage, ob man Leidenschaft
überhaupt zu Geld machen muss 32
Bedingungsloses Grundeinkommen
Maren Heltsche geht einem radikalen
politischen Konzept auf die Spur und be-
ginnt sich mir der Idee anzufreunden 36
Vor der Haustür das Meer
Eine Kurzgeschichte von Lisa Lindner.
Zum Entspannen 50
6
Monetizing Passion:
Leidenschaft zu Geld machen – oder lieber nicht?
Von Maren Heltsche und Mario Münster
Vor kurzem trafen wir
auf einer Party einen
Menschen, der so be-
geistert von seiner Ar-
beit war, dass er sogar
dafür bezahlen würde,
sie zu machen. Er arbeitet als Architekt
bei einer Hilfsorganisation und ist am
Wiederaufbau in Katastrophengebieten
beteiligt.
Beneidenswert! Noch nie haben wir je-
manden getroffen, der das so klar von sich
behauptet. Wir kennen viele Menschen,
denen ihre Arbeit Spaß macht, aber auch
viele, die sofort einen Plan B aus der Tasche
zaubern würden, für den unwahrscheinli-
chen Fall, dass Geld mal keine Rolle spielt.
Aber ist das nicht eigentlich ein erstre-
benswerter Zustand für alle? Den Groß-
teil unserer Zeit verbringen wir mit Arbei-
ten. Soll dann die Arbeit
nicht auch unsere Lei-
denschaft sein? Oder
können wir unsere Lei-
denschaft irgendwie zu
Geld machen?
Die Idee eine Ausgabe zum Thema „Moneti-
zing passion“ zu machen ist aus den Begeg-
nungen in unserem persönlichen Umfeld
und durch die Geschichten und Menschen,
um die es in ROSEGARDEN geht, entstan-
den. Unser Eindruck ist: Viele Menschen,
machen sich auf den Weg, um mit den Din-
gen, die sie lieben, Geld zu verdienen. Es ist
vielleicht noch kein Trend aber aus unserer
Sicht eine relevante Entwicklung.
Betrachtet man die Gesamtheit all dieser
sehr individuellen Geschichten und Wege,
so sind im wesentlichen drei verschiedene
Muster erkennbar.
Love what you do, do what you love!
7
Der Masterplan: Der zielstrebige, geplante
Weg ohne Umwege zu einem Geschäfts-
modell.
Der harte Einschnitt: Also Menschen, die
im Berufsleben stehen und sich plötzlich
entscheiden, alles aufzugeben und ihrer
Leidenschaft folgen.
Das Modell Zweigleisigkeit: Der Versuch,
ausgehend von einem sicheren berufli-
chen Standbein, eine Sache, die man lei-
denschaftlich gerne macht, zu einem Ge-
schäftsmodell zu entwickeln.
Wir haben für diese Ausgabe eine Reihe
von Menschen interviewt, die ihre Leiden-
schaft zum Beruf gemacht haben oder ge-
rade versuchen, genau das zu erreichen.
So unterschiedlich ihre Wege und so ver-
schieden ihre Leidenschaften sind – in je-
dem Interview werdet ihr den einen Satz
finden, der deutlich macht, dass sie es alle
lieben, dass es nie-
mand bereut, dass
die Entscheidung,
der Leidenschaft zu
folgen, ein persönlicher Gewinn ist, eine
Erfahrung von Freiheit und Zufriedenheit.
Und dennoch sei die Frage erlaubt: Muss
das denn sein? Muss man die Arbeit gleich
lieben, und: muss aus Leidenschaft Geld
gemacht werden? Ist Leidenschaft nicht
eigentlich eine Sache, die für sich stehen
muss? Ohne monetären Mehrwert oder
Mehrwert überhaupt. Christian Neu-
ner-Duttenhofer geht in seinem Artikel
„Follow that what turns you on“ genau die-
ser Frage nach und formuliert ein „dringen-
des Plädoyer dafür, den Passionen und Lei-
denschaften zu folgen. Ohne Berechnung“.
Da ist doch was kaputt!
Individuelle Leidenschaft und der Versuch
sie auszuleben und in Geschäftsmodelle
zu verwandeln, geht oft einher mit der Ver-
schönerung des All-
tags der anderen.
Um es weniger ab-
strakt zu machen:
Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps! Echt jetzt?
8
Wir genießen
es, in Ausstel-
lungen, auf
Konzerte oder
in neue Läden zu gehen. Wir freuen uns
über neue Songs und neue Bilder und fie-
bern Dinner-Events entgegen. Die Leiden-
schaft einzelner hat einen Mehrwert für
viele. Finanziell gesehen bringt es aber
oft keinen großen Mehrwert für die Men-
schen hinter diesen Ideen. Oder eben nur
eine sehr geringen.
Es ist kompliziert! Die meisten Leiden-
schaftsprojekte finden keinen Markt im
wirtschaftlichen Sinne. Und: viele Dinge,
die sich wirtschaftlich lohnen sind ohne
Leidenschaft. Da ist doch was kaputt!
Vor allem in Berlin ist dabei auffällig: Es
gibt eine viel zu große Zahl an Menschen,
die ihre Leidenschaft für gar kein oder für
viel zu wenig Geld verfügbar, konsumier-
bar und genießbar machen. Die Anzie-
hungskraft Berlins und anderer Metropo-
len ist in hohem
Maße geprägt
von Subkultur,
Hinterhof-Kre-
ativen und Künstlern auf dem Weg in die
Etabliertheit. Aus dieser Anziehungskraft
schöpfen viele eine Dividende: Hotels, Gas-
tronomen, Einzelhändler, Fluglinien und
die Städte, die sich mit dem Sexappeal der
jungen Leidenschaftler schmücken.
Die einzigen, die oft keinen oder nur einen
sehr geringen Anteil von dieser Dividen-
de erhalten, sind die Macher, Künstler und
Kreativen. Im Gegenteil: Die zunehmende
Attraktivität der Orte, an denen sie tätig
sind, macht diese zu teureren Lebensräu-
men, was das Überleben für sie genau dort
wieder schwierig macht. Pervers.
Unser Vorschlag: Kreativ-Abgabe für Tou-
risten
Darüber wird zu wenig gesprochen. Die
zur absoluten Unkultur verkommene Sit-
Menschen machen sich auf, um mit den Dingen, die sie lieben, Geld zu verdienen.
9
te, dass man viele Dinge für symbolische
Honorare oder für Umsonst macht, weil
man sich ja mit einem einfachen Lebens-
stil begnügt und ja auch irgendwie vor-
ankommen will, ist ein Thema, das uns in
Gesprächen immer wieder begegnet und
um es klar zu sagen auch ärgert. Auch RO-
SEGARDEN ist Teil dieses Systems, auch
wir verdienen kein Geld mit dem Magazin
und auch unsere Redakteure und Fotogra-
fen erhalten keine Honorare.
Vielleicht brauchen wir auch einfach ande-
re Finanzierungskonzepte für kreative Lei-
denschaften. Warum nicht eine obligatori-
sche Kreativ-Abgabe für Berlin-Touristen?
Die antiquierte Kurtaxe in der Pampa stört
niemanden. Zwei Euro von jeder Hotel-
übernachtung in einen Fonds für Kreative
in allen Städten, deren kreative Szenen das
Image der Stadt prägen! Das ist vielleicht
nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber in
diese Richtung müsste man denken.
Ein anderes Konzept ist das „Bedingungslo-
ses Grundeinkommen“. Niemand in der Re-
daktion von ROSEGARDEN hat einen einfa-
chen Zugang zu dieser Idee. Wir hielten sie
mehrheitlich für absurd. Im Hinblick auf die
beschriebene Situation gewinnt die Idee je-
doch eine neue Bedeutung. Deshalb haben
wir uns diesem Thema auch in einem Bei-
trag für diese Ausgabe gewidmet.
Seine Leidenschaft zum Beruf zu machen
erfordert Freiheit, Sicherheit und Mut. Es
ist sicherlich auch ein Luxusmodell in einer
Zeit, in der wir es uns leisten können, Versu-
che zu starten. Wir wollen mit dieser Aus-
gabe zeigen, dass es einen Versuch wert ist.
Mehr noch: Wir wollen Leidenschaft. Egal
ob für Geld oder um ihrer selbst Willen. Und
wir wollen Bedingungen, die es Menschen
ermöglicht, ihre Leidenschaft in den Dienst
einer lebenswerteren Welt zu stellen.
Kaffee, Kinder, Köter und das Internet
Mario Münster war in San Francisco und musste
das in Textform verarbeiten.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
10
Alyssa Jade McDonald-Bärtl
Passion: Chocolate
Lyss is a social entrepreneur with her own business
BLYSSchocolate. Her mission is not only to create
extraordinary chocolate but also to improve the
way food systems could be better and sustainable.
She gave up her job in the corporate world to
become a real change maker and she empowers
people to become change makers themselves.
Interview: Maren Heltsche
Lyss, you gave up your job in the corporate
world to found your own business and
create a very special chocolate. Was it eas-
ier or more difficult as you thought at the
beginning?
On a soul level, every day is easier because I
am living my dream. Actually spending the
hours in my day working on something I
believe in, and actively contributing to the
positive chance I wish to see in the world.
Although chocolate is my tool and meta-
phor, it is really all about being the example
of responsible food production from source
to recipe. That feels great, every day.
On a functional level, a start has been hard.
We will be 5 years old in August, and I have
still not been paid a wage. I think every
entrepreneur goes through years without
paying themselves and reinvesting every
little inch forward with development and
growth. We are a social enterprise, which
means almost 100% of my cost of goods
are spent in evolving the industry and
communities we work in. So from this per-
spective, it is a constant battle because we
live in an economy that rewards hard-core
capitalism and those are not the heuristics
that we judge our work by.
The first years are best characterised by
schizophrenia and tourrets syndrome. Af-
ter a while, like this year, I feel like ‘just’
maniac. That is a relief.
11
Do you need a
master plan for
projects like that?
Absolutely yes!
Again, it depends
on what you
judge your suc-
cess by, and by
whose standards you live up to. We have
a plan in BLYSS to actively influence agro-
ecoloy and food sovereignty standards.
We have a strict program that governs it,
which is called ‘bean2belly’ and the chair-
man sits outside of our GmbH, and is my
mother. She works together with a quality
Assurance officer who audits our work, to
ensure it meets the standards of what we
are looking to achieve. This is like a sepa-
ration of powers, whereby the daily deci-
sions that I make are aligned on a quarter-
ly basis to our big vision. Having plans and
controls in place like this, ensure the con-
stant re-navigation
of a dream occurs
in flight.
Of course things
like business case,
budget control, reg-
ulatory compliance
are part of the daily
job. There are great
organisations who help this, like the Finan-
zamt, Ordnungsamt and IHK who are kind
and friendly people when you come with
open hands and ask for guidance. These
are functional skills that anyone can learn,
and you just need to get over yourself, and
ask the questions. And most importantly,
listen to the answer!
Was it worthwhile investing that path?
Abso*fucking*lutely
I would redo every decision, every day. No
regrets, all learning and all in evolution.
Foto
: Rie
ka A
nsc
hei
t
I would redo every decision,
every day.
12
Vera Hofmann
Leidenschaft: Fotografie
Vera Hofmann ist Fotografin und Teil der Künstler-
gruppe Benten Clay. Sie verbindet ästhetisch ein-
gängige Fotos, Videos und Installationen mit Nach-
denken. Über Tod und Erinnerung, digitales Leben,
Macht und die Begrenzung natürlicher Ressourcen
– beispielsweise. Diese Arbeit ist ihre Leidenschaft.
Kann man davon leben?
Interview: Maren Heltsche
Vera, Du hast deinen Job in der Werbe-
branche aufgegeben, um deine Leiden-
schaft Fotografie und Kunst zum Beruf zu
machen. Ist es jetzt einfacher oder schwe-
rer als du dir zu Beginn vorgestellt hast?
Definitiv schwieriger. Der Fotografiemarkt
ist während meiner Ausbildung durch das
Magazinsterben, Digitalkameras, Handy-
kameras und Stockagenturen total einge-
brochen und der Kunstmarkt, gerade in
Berlin, ist mehr als gesättigt. Zum Glück
habe ich einige gut bezahlte Aufträge in
der Industrie, mit denen ich meine künst-
lerischen Projekte teilfinanzieren kann. Die
Selbständigkeit erfordert Struktur, eine
gute Selbstorganisation und Ausdauer. In
der Kunst gelten noch mal ganz andere
Spielregeln, auch im Selbstverständnis. Es
ist eine Lebenshaltung, die man nicht nach
Feierabend an der Firmentür abgeben
kann und möchte. Ich glaube, sie ist eine
der schwierigsten „Branchen“ überhaupt,
denn die Motivation erfolgt nicht aus fi-
nanziellen Gründen, der Markt ist klein
und spezialisiert und man braucht einen
sehr langen Atem und viel Engagement,
an totale Selbstausbeutung grenzend,
wenn man dies hauptberuflich und lang-
fristig ausüben möchte. Viele Leute haben
mir gesagt, ich sei mutig gewesen, meine
vorherige BWL-Karriere einfach aufzuge-
ben. Ich habe das nie so gesehen, sondern
eher als logische Konsequenz. Bisher habe
13
Foto
: Sab
ine
Sch
rün
der
Es lohnt sich immer und unbedingt seiner Leidenschaft nachzugehen.
14
ich mir noch kein einziges Mal in meinen
Job zurück gewünscht. Was nicht heißt,
dass es keine Zweifel gibt, aber es gibt auf
keinen Fall ein Zurück.
Braucht man einen Masterplan?
Der hilft sicherlich, ist aber eher ganzheit-
lich zu sehen als nur rein beruflich. Ich glau-
be, so lange man Etappenziele visualisieren
kann, kann man sie auch erreichen. Und
von da aus geht es zum nächsten Schritt.
Lohnt es sich in den Weg zu investieren?
Man sollte schon einen Plan haben, woher
das Geld zum Leben kommen soll – leider.
Aber das nimmt viel Druck raus. Wenn man
das einigermaßen auf die Reihe bekommt,
lohnt es sich immer und unbedingt, seiner
Leidenschaft nachzugehen. Wenn man
sich dann noch politisch einbringt und für
Strukturen kämpft, in denen individuelle
Entfaltung und Begabung zum Wohl der
Gemeinschaft gefördert werden, könnte
unsere Gesellschaft Quantensprünge er-
leben, da so viel ungenutztes, wertvolles
Potential in langweiligen Jobs und unsin-
nigen Firmen versauert.
Bier und Wolkenbruch mit Sophie Auster in Brooklyn
Wir konnten Sophie Auster zum Gespräch in Brooklyn
treffen. Hier könnt ihr den Bericht einer spannenden
Begegnung lesen.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
15
Kevin Knapp
Passion: Music
A few weeks ago I visited for the first time ever
the San Francisco Bay Area where I met the DJ
Kevin Knapp who lived since a year in Berlin. I had
only one question in mind: „Why the hell are you
leaving THIS(!) place and moved to Berlin?“ Here
is the answer.
Interview: Mario Münster
Kevin, please describe what you are doing.
I’ve been DJ’ing for 13 years. I got my first
pair of turntables shortly after moving to
San Francisco. After gigging in San Francis-
co and parts of the US for over a decade,
I began to reach what I felt was the ceil-
ing of the professional tier I inhabited as a
local. In my opinion, the industry is much
more prominent in Europe, especially in
Berlin, Ibiza and London in particular. As
Berlin was the least expensive of the three
options and possessed the added bonus of
amenable immigration laws, I made the
decision to move here to pursue being a
bigger fish in a larger pond. Fortunately,
I’m also a lawyer at a non-profit law firm
in San Francisco whose been amazingly
supportive this effort. So while the music
career continues to grow, I’m able to work
a few days a month for the firm so that
the wife and I can get a steak from time to
time. Haha …
Do you have a master plan on how to
monetize something you love?
There is definitely a road map to becoming
a successful touring DJ/Producer, but even
if you’re successful in accomplishing all
the necessary steps that is no guarantee
for success. There’s a reason parents sel-
dom encourage their children to aspire to
be touring musicians. The law of averages
dictates that making a living as a musician
just does not happen for many folks talent-
ed or otherwise. For myself, I feel like I had
very little choice in the matter. I believe
16
Foto
: Iyy
a K
aila
ni o
f Eye
C P
hot
ogra
phy
I believe strongly in the mantra that we should all
do what we’re best at in life.
17
strongly in the mantra that we should all
do what we’re best at in life and that in do-
ing so, we’ll all fill the world’s varied em-
ployment niches and thus society overall
will benefit. For me I believe DJ’ing is put-
ting my best foot forward, giving my most
competent skill to the world. Ironically, my
brother told me years ago that the period
of his life that he spent doing music he did
because he was powerless to do anything
else. I remember wishing for that and
many years later, find myself in an identi-
cal position.
You recently moved from San Francisco to
Berlin. Is this a step on the path to follow
your passion as a DJ?
As I mentioned before, I felt access to the
industry in Berlin was paramount to my
growth as an artist. It really has been tre-
mendously helpful being in such close
proximity to such amazing talent. I also
must add that the creative/DIY energy in
the city really serves as a catalyst for my
personal creative energy. I really have be-
gun to feed off that creatively speaking,
and it was completely unexpected. I con-
sider it a major step in pursuing my pas-
sion and let‘s be honest, it’s a shitload of
fun as well!
We also put a focus on the question if it is
good to turn your passion into a business
or if it‘s better if passion stays passion.
What are your feelings about this?
I do understand the notion of leaving pas-
sions to be enjoyed without the pressure
of monetizing or demystifying them. Un-
fortunately for me, when I love something
as much as I do music or say cooking, there
is very little anyone can do to keep me
from learning as much as humanly possi-
ble about it. Perhaps the people who excel
with moderation can keep the things they
love compartmentalized. It’s just not an
option for me, and I’m good with that.
Listen to Kevin‘s music: https://soundcloud.com/kevin-knapp
18
Sharmaine Lovegrove
Leidenschaft: Geschichten
Sharmaine Lovegrove zog 2009 von London nach Berlin
und gründete die Buchhandlung Dialogue Books. Ihre
Leidenschaft für Geschichten treibt sie nun in einem
weiteren Projekt voran: Dialogue Berlin. Ein Kollektiv von
Kommunikations-Strateginnen mit dem Schwerpunkt
Kunst und Kultur.
Interview: Mario Münster
Sharmaine, beschreibe in wenigen Wor-
ten, was du machst.
Mein Geschäft ist Storytelling. Egal ob ge-
schriebene Geschichten in verschiedenen
Formaten oder Geschichten von Unter-
nehmen. Mein Job ist es, dafür zu sorgen,
dass diese Geschichten einer breite globa-
le Zuhörerschaft erreichen.
Hattest du für deinen Job eine Art Mas-
terplan, der dir dabei helfen sollte, deine
Leidenschaft für Geschichten zu Geld zu
machen oder ist das einfach so passiert?
Ich hatten den festen Plan ein Unterneh-
men zu gründen, mit Sachen, in denen
ich mich wirklich gut auskenne: Bücher
verkaufen, Events und PR. Nachdem ich
für diese Arbeit eine Plattform geschaffen
hatte, war es mir möglich, von dort aus
in andere Bereiche vorzudringen, für die
ich mich interessiere. Das entscheidende
aber war: Ich habe mich selbst als jemand
positioniert, der alles machen kann und
gleichzeitig offen ist für alles, was passie-
ren kann.
Wie lange hat es gedauert, bis du das Ge-
fühl hattest „ich habe es geschafft“.
Seit ich arbeite, arbeite ich mit Büchern
und Storytelling. Ich kam 2009 von London
nach Berlin und habe angefangen selbst-
ständig zu arbeiten. Heute, fünf Jahre spä-
ter, habe ich ein stärkeres Gefühl von „es
geschafft zu haben“, als ich mir jemals er-
träumen konnte.
Uns geht es auch um die Frage, ob es über-
haupt erstrebenswert ist, seine Leiden-
schaft zu Geld zu machen und ob es nicht
besser ist Leidenschaft eben Leidenschaft
sein zu lassen. Was denkst du darüber?
Ich liebe es, zu lesen und die Geschichten
von anderen zu erfahren. Und da genau
das mein Job ist, gibt es da für mich kei-
ne Trennung. Ich musste lernen, auf ver-
schiedene Weise zu lesen, um meine Lei-
denschaft und meine Arbeit gelegentlich
voneinander zu trennen. Grundsätzlich
aber gilt: Ich arbeite nicht mit Themen, die
mich nicht interessieren. Diese natürliche
Neugierde hört nie auf, während sich mein
Job weiterentwickelt.
Foto
: pri
vat
Ich habe ein stärkeres Gefühl
von „es geschafft zu haben“,
als ich mir jemals erträumen konnte.
Mit 61 Jahren fängt die Arbeit an
Désirée Schwarz dokumentiert den Freiwilligen-
dienst zweier Neu-Rentner in einem Jerusalemer
Kloster.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
20
Anna Maria Wild
Leidenschaft: Backen
Anna Maria Wild hat einfach gemacht, wovon so
viele träumen. Das eigene Café. Liebevoll eingerich-
tet nach den ganz eigenen Vorstellungen. Dann fing
sie an zu backen. Und die Berliner kamen in Strömen.
Heute sieht man nicht selten kleine Gruppen von
Japanerinnen auf der Suche nach Annas bezaubern-
dem Café um das Kottbusser Tor streunen.
Interview: Mario Münster
Anna, beschreibe doch mal deinen Job in
ein paar Worten.
Ich habe 2010 ein kleines Café in Kreuzberg
eröffnet. Meine Arbeit ist vielfältig: Service
und Backen sind nur ein kleiner Teil meines
Alltags. Ich kaufe ein und mache Bestellun-
gen, kümmere mich um Reparaturen, Wei-
terentwicklungen, Geschäftskontakte, Kun-
denanfragen, Dienstpläne und natürlich ist
auch die finanzielle Organisation in meinen
Händen. Und jetzt hab ich bestimmt noch
fünf Sachen mindestens vergessen.
Hattest du einen Masterplan dafür, wie
du etwas, was du leidenschaftlich gerne
machst zu Geld machen kannst oder ist
das einfach passiert?
Ich habe schon immer davon geträumt,
einen eigenen Laden zu haben und mich
deshalb nach dem Abitur für ein Wirt-
schaftsstudium entschieden. Es war also
gar nicht unbedingt das Backen, sondern
das Aufbauen eines eigenen Geschäfts,
das die Leidenschaft war. Das Backen
habe ich aus meinem familiären Hinter-
grund einfach „gehabt“. Zurück zum Mas-
terplan: doch, doch! Den gab es absolut!
Ich habe spätestens mit Beginn des Stu-
diums an meinen Plänen gefeilt. Ich ver-
suche eigentlich immer erstmal, das zu
tun, was ich am liebsten tun würde. Und
wenn das schiefgeht, kann ich immer
noch was anderes machen. Warum nicht
also vor allem beruflich Träume verwirk-
lichen? Dazu braucht es meiner Meinung
nach einen Plan. Sonst geht es vielleicht
aus unnötigen, doofen Gründen hops,
und wie schade wäre das!
Wie lange hat es gedauert bis du das Ge-
fühl hattest „jetzt funktioniert es, ich
kann davon leben.“
Och, das ging entweder schnell oder ich
warte immer noch drauf, kommt drauf
an, wie man´s sehen will. Ich hatte zum
Start keinerlei Erwartungen, war also
vom schnellen Erfolg völlig überrumpelt.
Ich hatte dann allerdings zum dritten Ge-
burtstag das Ziel, dass ich mein Privat-
leben wieder etwas genießen kann. Das
hat gut geklappt, ich habe ein großartiges
Team und wir haben Strukturen geschaf-
fen, die im Alltag Routine (endlich!) brin-
gen. Das gibt mir viel Freiheit und ich kann
mich um Dinge kümmern, die den Laden
Foto
: Sas
cha
Kri
cke
Masterplan? Den gab es absolut.
22
voranbringen oder meine Freunde wieder
öfter sehen. Einen Nebenjob habe ich nie
gebraucht, seit der Laden offen ist, aber
reich bin ich noch nicht.
Wir gehen auch der Frage nach, ob es
überhaupt gut ist, Leidenschaft zu Geld
zu machen oder ob es nicht besser ist,
Leidenschaft Leidenschaft sein zu lassen.
Was hast du diesbezüglich für Gedanken?
Hast du es vielleicht sogar mal bereut
nicht mehr nur zum Spaß zu backen?
In der Tat backe ich zu Hause nicht mehr
so viel, was aber an fehlender Zeit liegt.
Ich hab‘s nie bereut, ich liebe mein Le-
ben, ich bin sehr glücklich. Ich empfeh-
le es jedem, der bereit ist, über mehrere
Jahre sein Leben komplett einer Sache zu
verschreiben. Was allerdings manchmal
nervt, ist, dass die Kreativität im Privatle-
ben echt leidet. Auch das ist ein Zeitpro-
blem, glaube ich. Als Studentin hatte ich
echt mehr Zeit.
Fräulein Wild findet ihr in der Dresdener Straße 13 in Berlin-Kreuzberg.
Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Lasst Blumen sprechen
Tabea Mathern und Mario Münster haben die Floristin
Ruby Barber getroffen. Eine in vielerlei Hinsicht inspi-
rierende Begegnung.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
23
Cris Koch
Leidenschaft: Kunst
Cris Koch hat seinen Job als Schriftsetzer bei einem
großen Verlag aufgegeben, um als Maler und Künstler
zu arbeiten. Denn Freiheit ist im wichtiger als Geld
und sein idealer Arbeitsalltag hat keine Routinen.
Interview: Bertram Sturm
Du hast dich gegen einen sicheren Job und
für deine Leidenschaft entschieden. Ist es
jetzt einfacher oder schwerer als du dir es
zu Beginn vorgestellt hast?
In dem Job in der Druckinsdustrie fehl-
te nach einigen Jahren die Herausforde-
rung, so gern ich dort arbeitete. Es gab
zwar das Angebot in der vermeintlichen
Karriereleiter auf-
zusteigen. Aber
ich sah da den
Aufstieg nicht. Das
fühlte sich eher
an wie Abstieg
in Unfreiheit und
Bindung mit noch
weniger freier Zeit
für die eigenen
Dinge. Und dieser
Freiraum war mir
immer wichtig.
Zeit, beziehungsweise Lebenszeit ist das
wertvollste überhaupt, genug davon auf
die eigene Sache verwenden zu können
ist Luxus.
Ich habe das Angebot dankend abgelehnt
und bin mehr einer Intuition gefolgt als
ich mich an der Akademie bewarb. Einer
Vorstellung bin ich nicht gefolgt.
Hast Du einen Mas-
terplan für Deine Tä-
tigkeit oder kannst
Du aus Deiner Lei-
denschaft Geld ma-
chen?
Einen Masterplan
habe ich nicht. Kann
man in der Kunst nur
schwer haben, denn
nichts ist sicher. Kunst
Foto
: Cri
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Live is a game,
not a career.
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zu machen hat viele Lesarten, aber eine
wichtige ist das Streben nach Freiraum. Die
Gesellschaft hingegen strebt nach mehr
Sicherheit. Das wird erreicht durch Angst
und Beschneidungen der Freiheit. Mit die-
ser Thematik beschäftige ich mich in mei-
ner konzeptuellen Arbeit „Kunst+Sicher-
heit“, auf sehr ironische Art. Kurz gesagt ist
die Idee, dass alle Menschen zu jeder Zeit ei-
nen Helm tragen, dann ist alles sicher und
alle sind frei. Des Weiteren gibt es eine fort-
laufende Fotoserie, die Kunstschutz Army.
Ideell gedacht sind alle Künstler Freiheits-
kämpfer, global gesehen ist das eine Armee,
die für die Freiheit kämpft, aber ohne Waf-
fen, ohne Struktur und Ordnung, eben frei.
Die Fotoserie portraitiert diese „unsichtba-
re“ Armee, natürlich mit Helm …
Anstatt einem Masterplan habe ich ei-
nen Plan B: Ich erstelle eine lose Serie
mit gefundenen Objekten, die ich mit der
Typo „Plan B“ bemale. Das sind Taschen
oder kleine Boxen die eigentlich nichts
beinhalten und ironisch mit diesem Ge-
danken der Absicherung spielen. Ein mir
wichtiges Zitat von Brion Gysin möchte
ich hier nennen: After all, live is a game,
not a carrier.
Lohnt sich der Weg den Du gegangen bist,
würdest Du ihn wieder gehen?
In deiner Frage steckt die Frage nach dem
Lohn, also dem wertbaren Ausgleich. Ich
sehe das nicht als vordergründiges Ziel.
Im Prozess des Malens zum Beispiel wäre
25
das ein verhängnisvoller Gedanke. In ei-
nem Interview mit Marina Abramovic
las ich vor kurzem: „Money and success is
not the aim, its just side effect“. Sie sagte,
dass man als Künstler bereit sein sollte,
Fehler zu begehen. Den Gedanken mag
ich. Wie wenn man spielt und immer
wieder Neues ausprobiert und auch was
falsch machen darf, ohne dafür gleich
bewertet zu werden. Denn das ist ja der
Lohn. Dafür muss aber alles stimmen und
perfekt oder schön gemacht sein. Das ist
langweilig.
Im Blick zurück auf den Werdegang würde
ich einiges anders machen aber dennoch,
ja, ich würde den Weg wieder so gehen.
Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus und ist
die Leidenschaft hierbei immer eine mo-
tivierende treibende Kraft?
Der ideale Arbeitsalltag hat keinen Alltag.
Sich immer wieder selbst überraschen, im
positiven wie im negativen. Wenn denn
doch Alltag eintritt, wechsle ich das Medi-
um. Woanders weitermachen. Dinge mit
Abstand neu betrachten und sehen wohin
das führen könnte. Ernsthaftes Spiel.
Leidenschaft ist sicher eine treibende Kraft,
aber damit ist es nicht getan. Es steckt sehr
viel Arbeit in der Sache, Disziplin ist wich-
tig, Wille und Beharrlichkeit. Kunst ist auf
Dauer angelegt, das ist ein Weg und ich
will den gehen.
www.criskoch.de
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„Raus aus der Komfortzone“
Vom Visuellen und Spirituellen.
Ein Gespräch mit Kletterfotograf
Frank Kretschmann.
Text: Lisa Lindner
Wenn Frank Kretschmann wieder einmal
den Rucksack packt, gestaltet sich das als
ein oft wochenlanges Abtauchen aus der
vertrauten Welt daheim und ein Eintau-
chen in die grenzenlose Natur. Dann geht
es ab durch nahe und ferne Länder, rauf
auf die großen Wände, die Kamera immer
mit dabei. Denn Frank ist gelernter Foto-
graf und wenn er seine Zeit nicht mit Ar-
beit im Studio verbringt, ist er viel drau-
ßen unterwegs, ob mit der Familie, mit
Freunden oder auf Job; das ist ihm wich-
tig. Dem 33-Jährigen ist es mit Passion,
harter Arbeit, körperlichem Einsatz und
dem Glück, zur richtigen Zeit am richtigen
Ort gewesen zu sein, gelungen, seinen Be-
ruf als Studiofotograf mit seinem großen
Hobby, dem Klettern, zu verbinden. Doch
auch hinter dieser Symbiose, die sich vor-
erst nach dem Traumjob eines jeden Out-
doorfreaks anhört, steckt ein langer Weg
und jede Menge Knochenarbeit.
Frank Kretschmann wurde in Dachau bei
München geboren, wuchs dann in Will-
ersdorf bei Forchheim auf. Der Besuch der
Kunstfachoberschule in Nürnberg ermög-
lichte ihm erste Einblicke in die Fotogra-
fie, an den Schulabschluss knüpfte er eine
Ausbildung zum Fotografen bei Kaletsch
Medien in Nürnberg an. Nach seiner Aus-
bildung zog es den jungen Franken nach
Südamerika, dort nutzte er die Zeit haupt-
sächliche für Kletterausflüge in die Anden.
Nach einigen Jahren Studio-Fotografie ver-
kürzte er seine Arbeitszeit auf zwei Tage
pro Woche. Die gewonnene Freizeit nutzte
er intensiv zum Reisen und Klettern, Fa-
milie und Verpflichtungen gab es damals
nicht. Der Konsumgedanke fehlt bei Frank
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so ein bisschen. Was zählt, ist das Klettern
und vor allem der damit verbundene Life-
style: draußen sein, draußen leben, reisen –
und immer wieder fotografieren. Er ist Teil
dieser großen Kletter-Community, nimmt
sich Zeit für die Athleten am Berg, die sich
bereitwillig ablichten lassen. Mühe, Hart-
näckigkeit und die richtigen Connections
zahlten sich über die Jahre aus. Was als
ein Hobby begann, nahm mit der Zeit Kon-
turen an. Den Sommer 2009 bezeichnet
Frank als den Startschuss seiner professi-
onellen Kletter-Fotografie und den Beginn
einer Idee – „madebynomads“. In diesem
Sommer konnten er und sein heutiger Kol-
lege Franz Walter am Eiger in den Berner
Alpen in der Schweiz die geschichtsträch-
tige Begehung der „Japaner-Direttissima“
mit dem deutschen Extrembergsteiger
Robert Jasper und dessen Schweizer Klet-
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rets
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ann
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terpartner Roger Schäli dokumentieren.
Diese Aufnahmen waren der Grundstein
zahlreicher Kontakte zu Magazinen, einer
andauernden Freundschaft zu den beiden
Sportlern und dem Ursprung einer Ko-
operation. „madebynomads“ bildet den
Zusammenschluss einer Gruppe von un-
abhängigen Fotografen und „storytellers“,
die es sich zur Aufgabe gemacht hat, kleine
Projekte filmisch und fotografisch zu doku-
mentieren. In Fotos und Videos will dieser
Zusammenschluss von kreativen Köpfen
seinem Publikum einen nomadischen, na-
turverbundenen Lifestyle näher bringen.
Bei unserem Gespräch merke ich schnell,
Frank ist nicht nur Fotograf und Kletterer
aus Leidenschaft, der 33-Jährige packt al-
les mit Begeisterung an, hat ständig neue
Ideen, sprüht vor Kreativität. Dass die ers-
ten Jahre dieser Szene-Fotografie kein Zu-
ckerschlecken waren, versteht sich von
selbst. Jede Sekunde wurde da in Eigen-
werbung gesteckt, Sponsoren mussten
gefunden und Kontakte gewahrt werden.
Das alles kostete viel Zeit, Energie und vor
allem Geld. Doch Frank bleibt passioniert:
Was wirklich wichtig ist, ist das Dabeisein.
Es sind die Geschichten, die hinter den Bil-
dern stecken und welche für den Aufwand
entschädigen. Denn hier auf Tour werden
echte Freundschaften geknüpft und im-
mer wieder heißt es: Der Weg ist das Ziel!
Der anfängliche Versuch, zwischen Stu-
dio-Fotografie und Freizeit einen Mittel-
weg zu finden, hat sich inzwischen längst
zu einer Sieben-Tage-Woche entwickelt,
denn Frank hat sich als Name in der Out-
door-Branche etabliert. Dennoch ist dem
jungen Fotografen auch heute noch oft
der Vorsatz von Bedeutung, neben so man-
chen Kommerz-Aufträgen zur Refinanzie-
rung seiner Projekte mit seinen Aufnah-
men nicht das große Geld verdienen zu
wollen. Ihm ist wichtig, vor allem das zu
tun, was Spaß macht und als interessant
erscheint. Mit seinen Fotos und Videos will
Frank in erster Linie Geschichten schrei-
ben, intensive Erlebnisse und realitätsna-
he Momente der Kletter-Szene wiederge-
31
ben. Es sind die Reisen in ferne Länder, die
diese einschneidenden Erlebnisse ausma-
chen. Erst das Nirgendwo in den bereisten
Entwicklungsländern lässt erkennen, wie
gut es einem daheim geht. Die körperliche
Arbeit an der Wand schafft Raum für das
Bewusstsein des eigenen Lebens, erst die
Natur erdet völlig. Das sind die Gründe, die
Frank immer wieder raus aus dem Kom-
fort und rein in den Dreck ziehen, auch
wenn nach dem Job keine heiße Dusche in
einem Hotelzimmer wartet.
Heute ist der Fotograf verheiratet und hat
einen sechs Monate alten Sohn. Nun heißt
es wieder, einen Mittelweg zu finden oder
Kind und Kegel auch schon mal mit einzu-
packen, wenn es auf Tour geht. Ein festes
Ziel vor Augen gibt es nicht, alles ist mög-
lich, alles kann kommen. In Franks Kopf
ist immer wieder Raum für neue Ideen,
wichtig dabei ist, den Abstand wahren zu
können und andere Dinge im Leben nicht
völlig auszublenden. Über die Zukunft
denkt der 33-Jährige im Moment nicht
groß nach. Vielleicht ergeben sich in ein
paar Jahren neue Optionen, gerade ist die
Kletterfotografie jedoch eine richtig gute
Sache im Leben des Weltenbummlers. Und
so lange werden wir mit Sicherheit auch
noch mehr gute Sachen von Frank Kretsch-
mann zu sehen bekommen.
Frank Kretschmann wurde am 16. Februar 1981 in Dachau bei München geboren und
machte nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung zum Fotografen bei Kaletsch Me-
dien in Nürnberg. Er ist verheiratet und Vater eines Sohnes, die Familie wohnt derzeit in
Nürnberg. Frank arbeitet unter anderem mit großen Outdoor-Marken wie Monkee, Sa-
lewa und Adidas. Zu seinen Highlights im Klettersport zählen der „Jirishanca“ (Peru, An-
den), der „El Capitan“ (USA, Yosemite) oder der „Arwa Spire“ (Indien, Garhwal Himalya).
Für mehr Infos klicke www.funst.de und www.madebynomads.com
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Velonistas!
Regine Heidorn hat für uns einen spannenden Artikel
über das Rennrad-Frauen-Amateur-Team Velonistas
Berlin geschrieben.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
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Follow that what turns you on –
Warum wir uns Passionen leisten sollen
„Und ich erschaffe mich mit einem Federzug/ Herr der
Welt /Unbegrenzter Mensch“ (Pierre Albert-Birot)
Text: Christian Neuner-Duttenhofer
I. Die neue Freiheit
Du bist im Kampf mit dir selbst. Sonst
nichts. Sonst nichts? Das klingt nach pu-
rem Luxus. Stimmt auch. Vor allem gegen-
über einem großen Anteil der Menschen
auf diesem Planeten, aber auch histo-
risch gesehen. Gegenüber Generationen,
die gegen Hunger, im Krieg und mit der
herrschenden Ordnung kämpfen muss-
ten. Egal. Wir schauen ja aus den Augen
der urbanen Boheme und betrachten uns.
In einer alles-ist-möglich-Zeit. Angeblich.
Und da ist dieser Kampf nicht ganz ohne.
Vor allem vergeblich. Die zunehmende
Verunsicherung des Einzelnen, die Suche
nach authentischer Individualität und au-
tonomem Handeln bei gleichzeitiger Ent-
grenzung und Unübersichtlichkeit führt
zunehmend zu Angststörungen und Iden-
titätskrisen. Was zur Hölle soll ich hier?
Wer heute externe Gründe ins Feld führt
als hemmend für Leben und Glück, gerät in
den Verdacht, sich herausreden zu wollen.
„Er denkt“, so der Autor von Das Ende der
Liebe Sven Hillenkamp: „Eigentlich liegt
es an mir“. Die allgegenwärtige Möglich-
keitsform und die von Alain Ehrenberg be-
schriebenen „Evangelien der persönlichen
Entfaltung“ setzen uns unter Druck. In der
neuen Freiheit ist das Gefühl der Sinnlo-
sigkeit ist die einzige Alternative zur Hype-
raktivität. Erschöpfungszustand inklusive.
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II. Die stille Ideologie der ökonomischen
Verwertbarkeit
Still und allgegenwärtig herrscht das Dik-
tat der Verwertbarkeit. In dieser Ersatz-
ideologie zählt der ökonomische, monetä-
re Wert. Auch für das eigentlich und not-
wendigerweise Innerliche.„Wir sind es
schlicht gewohnt“, meint die Philosophin
Natalie Knapp, „nur in eine bestimmte
Richtung zu denken“. Dieselbe Idee (des
Wachstums) werde einem immer und
immer wieder gespiegelt. Deswegen hal-
ten wir sie für die Norm. Auf der Strecke
bleibt da die eigene Wahrnehmungsfähig-
keit, die menschliche Sensibilität, die Ei-
genwahrnehmung, die guten Prioritäten,
das, was uns und anderen gut tut. Schon
oft wurde das beschrieben. Byung-Chul
Han bringt es auf den Punkt: „Indem jeder
Unternehmer seiner selbst wird (...), indem
man sich als jemanden beschreibt, der sich
selbst neu erfindet und optimiert“. Die-
se Selbstregulierung macht selbst vor der
zentralen Idee menschlicher Autonomie
keinen Halt. Im Gegenteil. Ihres emanzipa-
torischen Gehalts beraubt, richtet sie sich
gegen die Subjekte selbst. Massenoptimie-
rung in der Manier von Lemmingen.
III. Der Traum vom Erfolg
Die gegenwärtige Erzählung des Erfolgs
besteht so häufig darin und findet unse-
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re Verehrung und respektierende Zustim-
mung, wenn im Silicon Valley wieder
eine Nerdidee für ein paar Millionen oder
Milliarden Dollar über den Tisch geht.
Oder wenn zumindest ein Verlag in einen
Modeblog einsteigt und endlich, endlich
die Passion monetarisert werden kann,
oder zum Beruf wird. Und selbst wenn es
den Akteuren ziemlich eindimensional
immer nur darum gegangen sein mag.
Ist ja auch toll. Aber wir unterstellen zu
gerne, dass da doch irgendwie die Passion
mit im Spiel war. Und die ist jetzt Money.
Hach: das Hobby zum Beruf machen. Eine
Idee, nur eine, die aber einfach der globale
Killer ist. American Dream 3.0.
IV. Follow that what turns you on
Und doch halte ich den Begriff der Selbstge-
staltung für zentral. Aber eben nicht im Sin-
ne der Verwertbarkeit auf Märkten und der
eigenen Optimierung. Sondern mit Blick auf
das Erleben von Können und Eigenmächtig-
keit. Raus aus dem „passiven Gestaltetwer-
den“. Rein ins innere Wachstum. So ist „die
Sorge um Schönheit in der Lage, die Denk-
weise und Ethik der bloßen Nützlichkeit zu
konterkarieren“ (Wilhelm Schmid).
Das ist Grund genug für mein dringen-
des Plädoyer, den Passionen und Leiden-
schaften zu folgen. Ohne Berechnung. Fol-
low that what turns you on. Denn „hierin
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liegt das Geheimnis des Glücks: dass der
Mensch seine Interessen so umfassend
wie möglich gestaltet“, betont Bertrand
Russell in Der Eroberung des Glücks. Die
Beschäftigung mit dem, was uns interes-
siert, fordert, gar unterhält. Das Einsteigen
in ein Thema, in ihm aufsteigen. Exper-
te werden. Ohne äußere Notwendigkeit.
Üben. Meisterschaft. Ohne Zweck. Nur für
sich sein. Muße zulassen. Nicht als Event,
sondern als Raum der Reflexion. Da ist
endlich: Andersdenken, Nachdenken und
Neudenken. Erfüllung und Fülle. Oder in
Anlehnung an Roland Barthes: Passion ist
nichts anderes als jene Sphäre von Raum,
von Zeit, wo man kein Objekt ist, sondern
das Recht wahrnimmt, Subjekt zu sein.
Nur: was zur Hölle soll ich jetzt machen?
Christian Neuner-Duttenhofer, ist Coach und Politikberater. Er leitet die Weiterbil-
dungsakademie für Politik und Management GreenCampus in der Heinrich-Böll-Stif-
tung. Und schreibt. Und fotografiert. Und probiert.
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Kleinstadt für Großstädter: Healdsburg, California
Mario Münster hat sich in die nordkalifornische
Stadt Healdsburg verliebt. Lektüre des Artikels auf
eigene Gefahr.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
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Wie wäre es eigentlich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen?
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Zur Übergabe der 126.000 Unterschriften für die Volksinitiative in der Schweiz schütten die
Initiatoren der Grundeinkommensinitiative 8 Millionen Fünf-Rappen-Stücke
auf den Bundesplatz in Bern.
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Grundeinkommen für alle – bedingungslos
Text: Maren Heltsche
Das bedingungslose Grundeinkommen
hat 74.896 Fans – auf Facebook. Sechs
meiner Freunde sind auch darunter. Ich
auch. Seit heute. Das war noch nicht im-
mer so. Einmal habe in meiner Studien-
zeit ein Seminar aus Protest verlassen. Es
ging um das Recht NICHT zu arbeiten und
davon ausgehend, um die Einführung ei-
nes bedingungslosen Grundeinkommens.
Das war im Jahr 2000. Nun gut, das Ot-
to-Suhr-Institut in Berlin, wo ich studierte,
ist für links-alternative Gedanken bekannt.
Ich hätte mich nicht wundern sollen. Aber
ich fand: Jeder der arbeiten kann, soll auch
arbeiten, für die die nicht arbeiten können,
ist in unserer Gesellschaft schon gesorgt.
Heute sehe ich das ein bisschen anders.
Ich habe gelernt, dass Arbeit und Lohn
zwar schon irgendwie, aber nicht zwangs-
läufig logisch zusammenhängen. Ich ken-
ne Menschen, die arbeiten und notorisch
unterbezahlt sind, Menschen, die gerne
arbeiten würden, aber keine mehr finden.
Menschen, die viel arbeiten und viel Geld
verdienen, Menschen, die ihre Arbeit krank
macht, Menschen, die mit ihrer Kunst und
mit Leidenschaftsprojekten andere inspi-
rieren. Menschen, die ihre Kinder erziehen
und Angehörige pflegen, Menschen, die
für andere putzen, Menschen, die in ihrer
Freizeit Leben retten und Feuer löschen,
Menschen, die noch nie für ihr Geld arbei-
ten mussten und solche, die versuchen mit
Hartz IV über die Runden zu kommen.
Was das heißt? Es gibt in unserer Gesell-
schaft viele Arbeiten, die werden gut be-
zahlt, viele Arbeiten die werden schlecht
bezahlt und viele Arbeiten, die werden gar
nicht bezahlt. Über das, was sie in unse-
rem Alltag und in unserer Gesellschaft be-
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deuten, sagt das
nichts aus. Gar
nichts!
Umso interessanter ist die Idee des bedin-
gungslosen Grundeinkommens. Sie ist so
einfach wie subversiv: jeder Bürger be-
kommt ein Einkommen vom Staat, unab-
hängig von seiner wirtschaftlichen Lage
und ohne Gegenleistung. Ein Konzept, das
gleichzeitig ursozial und urliberal ist. Und
entsprechend schwer in politischen La-
gern unterzubringen.
Die Idee ist nicht neu und wurde schon
vor langer Zeit von politischen Vorden-
kern und Philosophen entworfen. Seit-
dem wurden unterschiedliche Konzepte
entwickelt und es gab einige Versuche,
ein bedingungsloses Grundeinkommen
auf die politische Agenda zu bringen. In
der Breite disku-
tiert wurde es al-
lerdings noch nie.
Und es ist weit
davon entfernt im politischen Mainstre-
am angekommen zu sein. In Deutschland
gab es 2008 eine Petition zum Thema. Die
Initiatorin, Susanne Wiest, wurde 2010
zwar im Bundestag angehört, aber zu ei-
ner Debatte kam es nicht.
„Es geht um den Menschen und die Frage
der Freiheit“
In der Schweiz existiert eine aktuelle Dis-
kussion zum Thema. Losgetreten von Da-
niel Häni, Unternehmer und Aktivist in Sa-
chen bedingungsloses Grundeinkommen.
1999 gründete er in einem Bankhaus in
Basel das „unternehmen mitte“ – ein Kaf-
fehaus, Veranstaltungsort und Co-Wor-
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king-Place. Sein Fokus: herausfinden, was
Menschen tun, wenn sie nicht müssen.
Die Gäste müssen nicht konsumieren und
die Mitarbeiter haben nicht nur Mitspra-
cherecht, sondern Mitsprachepflicht.
Häni ist außerdem Mit-Initiator der „Ini-
tiative Grundeinkommen“. Im vergangen
Jahr sammelte die Initiative 126.000 Un-
terschriften für eine Volksabstimmung
zur Einführung des bedingungslosen
Grundeinkommens in der Schweiz. Häni
rechnet nicht auf Anhieb mit einer ma-
thematischen Mehrheit, wenn die Ab-
stimmung 2016 stattfindet. Er sieht sie
aber als Meilenstein für das Konzept, das
für viele den Charakter einer Revolution
hat. Für Häni ist es eher eine Evolution,
eine Entwicklung hin zum Ernstnehmen
der Menschen. „Das Menschsein wird
durch das bedingungslose Grundeinkom-
men auf die eigenen Beine gestellt, nicht
auf den Kopf“, sagt er. „Wir leben im to-
talen Überfluss und gleichzeitig müssen
sich Menschen mit Problemen der Exis-
tenzsicherung herumschlagen, die wir ei-
gentlich gar nicht haben müssten. Das so
tun, als würden wir im Mangel leben ist
ineffizient.“
Wie würde das bedingungslose Grund-
einkommen funktionieren?
Daniel Häni sieht die Frage über Modelle als
Ablenkung derjenigen, die eine Diskussion
ums Wesentliche verhindern wollen. Wie
genau soll ein solches Grundeinkommen
finanziert werden? Geht dann überhaupt
noch jemand zur Arbeit? Alles berechtigte
Fragen, vor allem wenn man eine politi-
sche Debatte führen will. Bevor man sich
mit diesen Fragen beschäftigt, sollten wir
uns aber mit den grundsätzlichen Fragen
auseinandersetzen: „Will ich wirklich be-
stimmen, was andere zu tun haben? Will
ich bewusst verzichten, damit andere kei-
41
Bedingungsloses Grundeinkommen
Die Idee: Jede Bürgerin und jeder Bür-
ger erhält ein Einkommen vom Staat und
zwar unabhängig von beruflichen und fi-
nanziellen Verhältnissen und ohne Gegen-
leistung. Diejenigen, die zusätzlich Geld
verdienen möchten, können das durch
klassische Erwerbsarbeit tun.
Geht nicht?
Doch! sagen die Befürworter. Es gibt un-
terschiedliche Modelle, die das berechnen.
Prinzipiell laufen aber alle darauf hin-
aus, den teuren und komplizierten Appa-
rat, der für unterschiedliche Steuern und
Transferleistungen zuständig ist (Kinder-
geld, Arbeitslosengeld, Hartz IV, Rente) zu
vereinfachen bzw. ganz abzuschaffen und
das dadurch ersparte Geld, den Menschen
als Grundeinkommen zur Verfügung zu
stellen. Alle Menschen bekämen so die
Möglichkeit, ein menschenwürdiges Le-
ben zu führen und nicht ausgegrenzt oder
stigmatisiert zu werden. Sie könnten sich
in Bereichen selbst engagieren, die nicht
als Erwerbsarbeit entlohnt würde. Kon-
kurrenzkämpfe und stressbedingte Krank-
heiten nähmen ab, schlecht bezahlte aber
notwendige Arbeiten, müssten attraktiver
gestaltet werden.
Nein! sagen die Gegner. Das Ganze sei zu
unsicher, die Menschen würden dadurch
zum Nichtstun verleitet und die Arbeits-
motivation würde sinken. Die Auswir-
kungen auf die Märkte und Preise seien
nicht vorhersehbar: Werden dann die not-
wendigen Güter noch produziert und die
Dienstleistungen erbracht? Wird eine in-
novationsfeindliche „Rentnermentalität“
entstehen? Das Konzept bevorzuge Gut-
verdiener und wirklich Bedürftige hätten
keine Chance auf mehr.
Mehr in Wikipedia
Foto
: Han
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ne Existenzängste haben? Wie ist das Ver-
hältnis vom Einzelnen zur Gesellschaft?“
Alles schon sehr philosophisch.
Aber um dem Kern des Ganzen etwas nä-
her zu kommen, kann man sich die Frage
stellen, was der eigene Antrieb für das ist,
was man tut. Was mache ich aus Leiden-
schaft, für Anerkennung oder für das Wohl
anderer? Und: was würde ich tun, wenn
kein Geld verdienen müsste?
Mit meinem positiven Menschenbild
komme ich zu der Erkenntnis: es könnte
klappen. Allerdings würde es eine so gro-
ße Umwälzung bedeuten, dass sie wohl
kein Politiker jemals in Angriff nimmt. Es
sei denn, irgendwann steigt der Druck,
weil wir als Gesellschaft die großen Her-
ausforderungen in Sachen Rente und Ar-
beitslosigkeit nicht anders lösen können.
Und vielleicht auch, weil wir neugierig
sind und wissen wollen: Was passiert ei-
gentlich, wenn alle ihre Leidenschaften
entdecken und ausleben können, weil für
ihr Einkommen gesorgt ist.
tl; dr: Arbeit und Einkommen hängen nicht
logisch zusammen und unsere (Arbeits-)
gesellschaft ändert sich derzeit rasant.
Deshalb ist ein bedingungsloses Grund-
einkommen gar keine so schlechte Idee.
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Hauptstadt von Vorgestern
In Kunst und Medien wird Lissabon meistens zur
melancholischen Hauptstadt von Vorgestern ver-
klärt. Dabei ist die portugiesische Metropole längst
in der Gegenwart angekommen und tritt den Beweis
dafür an, dass eine strauchelnde Wirtschaft nicht der
schlechteste Nährboden für kulturelles Leben ist.
Text: Wolf Schmid, Illustration: Teresa Cortez
Im Frühjahr 2009 kündigte ich meine Woh-
nung in München und zog nach Lissabon.
Ich wollte einen Roman schreiben, hatte
genügend Geld, mich etwa 4 Monate über
Wasser zu halten und vage Vorstellungen
davon, wie es danach weitergehen könnte.
Kurz vor meiner Abreise traf ich eine alte
Freundin, die bei einem Verlag arbeitete.
Dort suchte man einen Ghostwriter für ei-
nen Schnäppchenplaner. Ich ließ mich auf
das verkaufsabhängig honorierte Aben-
teuer ein und hoffte meine Schreibzeit da-
durch verdoppeln zu können.
Im Spätsommer desselben Jahres erzähl-
te mir der sonnenverbrannte 62-jährige
Senhor Jorge aus der Nachbarschaft, dass
er Angela Merkel für ihre starke Hand be-
wunderte und dem ehemaligen portugie-
sischen Diktatoren Salazar nachtrauerte.
Im selben Zeitraum kam der Begriff Euro-
krise ins Gespräch. Portugal war einer der
Wackelkandidaten. Ab 2010 verabschie-
dete die Regierung ein Sparpaket nach
dem anderen. Die Zinsen für Staatsanlei-
hen stiegen trotzdem unaufhörlich. 2011
flüchtete sich das Land unter den Euro-Ret-
tungsschirm und aus den Sparbemühun-
gen wurde ein Spardiktat. Steuern wurden
erhöht, Renten gekürzt, das Kulturministe-
rium abgeschafft.
Auch vor der Krise war Lissabon ein blas-
ser Fleck auf der Karte europäischer Kul-
45
turstädte. Meistens wird
es auf die Stichworte Fado
und Saudade reduziert.
Fado, die tristen Gesänge,
die von unglücklicher Lie-
be und der Sehnsucht nach
besseren Zeiten erzählen.
Saudade, die unübersetz-
bare Schwester von Welt-
schmerz und Sehnsucht.
Alle meine Besucher wa-
ren von Reiseführern und
Reportagen entsprechend
vorbelastet. Der gelang-
weilte Blick, den der leder-
häutige Angler über die
spiegelglatte Oberfläche
des Tejo schweifen ließ,
war für meine Mutter ein
Blick in vermeintlich bes-
sere Zeiten. In Filmen und
Büchern über Lissabon herrscht stets trü-
bes Winterwetter oder glühende Hitze,
und die schmalen, malerischen Gassen
sind weitgehend entvölkert.
In Bezug auf gegenwärtige Kultur, wird
die Luft dünn. Der Literaturnobelpreis-
träger José Saramago ist tot. Die Instal-
lationskünstlerin Joana Vasconselos gibt
46
die Kunsthandwerkerin für gehobene
Einkommensklassen. Die Kuduro-Band
Buraka Som Sistema ist nach London aus-
gewandert. Dabei vibriert in Lissabons
schmalen Gassen das Leben auf eine sehr
spezielle Art. Zum Teil hat das mit der ex-
ponierten Lage am südwestlichsten Zip-
fel Europas und der Kolonialvergangen-
heit zu tun. Afrika und Südamerika sind
hier keine exotischen Zutaten, sondern
Bestandteile des Alltags. Egal ob der Putz
von den Wänden blättert, die Farben der
Graffiti und Stencils leuchten hier kräf-
tiger als anderswo. Egal ob die afrika-
nischen Trommeln in den Katakomben
der Fábrica Braço de Prata dafür sorgen,
47
oder die DJs auf dem Mercado Fusão, die
Rhythmen kommen hier leichtfüßiger
daher.
Kulturelle Bereiche, die von einer gewissen
Investitionsbereitschaft abhängig sind,
haben es derzeit schwer. Film und Archi-
tektur lösen sich nur sehr allmählich aus
der Schockstarre. Doch der beweglichere
Teil der Kreativszene arrangiert sich bes-
tens mit den Sparmaßnahmen. Wo keine
festen Arbeitsverträge vergeben werden,
sind Freelancer gefragt. Rafael Lourenço
vom Design-Kollektiv vivóeusébio streicht
sich den Allen-Ginsberg-Bart und erzählt,
dass sie in den letzten Jahren etliche Kun-
den hinzugewonnen haben, die früher
ausschließlich mit festen Designern arbei-
teten. Er ist glücklich damit. So kann er mit
Freunden arbeiten und sich um diejenigen
Aufträge bemühen, die ihn herausfordern.
Wo der Druck von Außen zunimmt,
wächst auch der innere Zusammenhalt.
Lokale Modelabels, Kleinverlage und Mu-
siker segeln seit einiger Zeit mit Rücken-
wind. Mittlerweile auch jenseits der Lan-
desgrenzen. Planeta Tangerina ist 2013 bei
der Bologna Children’s Book Fair als bester
europäischer Kinderbuchverlag ausge-
zeichnet worden. Die Illustratorin Catarina
Sobral gewann dieses Jahr den Internatio-
nal Award for Illustration.
Bands wie Paus und Dead Combo eifern
keinen angelsächsischen oder amerika-
nischen Vorbildern nach, sondern lassen
sich von ihrer Umgebung inspirieren und
haben Erfolg damit. Paus reichern ihren
Postrockentwurf mit tribalen Rhythmen
afrikanischer und lateinamerikanischer
Färbung an und versetzen damit ihr Publi-
kum in den USA, Mexiko und London glei-
chermaßen in Ekstase. Dead Combo neh-
men traditionelle portugiesische Gitarren,
vermischen sie mit Blues und Weltmusik,
und werden rund um den Globus verehrt.
Auch die Konzertbühnen der Stadt haben
einiges zu bieten. Ein ehemaliges Bordell,
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ein traditioneller Tanzsaal und ein altes
Herrenhaus sind nur drei von zahllosen
fantastischen Locations. Bespielt werden
sie von einer lokalen Musikszene, die sich
innerhalb immer neuer Kollaborationen
permanent neu erfindet. Das ZDB ist Kno-
tenpunkt und Veteran der Szene, und zu-
gleich internationales Aushängeschild der
lokalen Subkultur. Seit der Auflösung von
Sonic Youth haben alle ehemaligen Mit-
glieder der Indie-Ikonen hier mindestens
einmal hier aufgespielt. Thurston Moo-
re dachte zwischenzeitlich sogar darüber
nach, seinen Lebensmittelpunkt ganz an
den Tejo zu verlegen. Vielleicht inspirier-
te ihn das Schaufenster neben der Bühne,
durch das man ins Kneipenviertel Bairro
Alto schauen kann. Oders das Sommer-
nachtskino auf der Dachterrasse, bei dem
Musikdokumentationen auf den Giebel
des Nachbarhauses projiziert werden.
Ein schlechter Nährboden für ein vitales
kulturelles Leben scheint eine straucheln-
de Wirtschaft nicht zu sein. Wenn die öko-
nomische Ausgangssituation so holprig
ist, dass selbst Standardschritte auf dem
Karriereparkett zu Wagnissen werden,
versucht manch einer vielleicht gleich,
seine Herzensangelegenheit ins Zent-
rum des Lebens zu rücken. Aus Deutsch-
land war ich daran gewöhnt, dass jedes
Gespräch mit einem Unbekannten durch
die Frage nach dem Beruf eröffnet wird.
Meistens nannte ich meinen jeweiligen
Brotjob, aber manchmal sprach ich vom
Schreiben. Wenn überhaupt, kam die Fra-
ge „Was schreibst du denn?“ immer lange
nach dem „und davon kannst du leben?“.
Ein paar Wochen nach meiner Ankunft
in Lissabon ging ich vom Rossio-Bahnhof
Richtung Bairro-Alto. Ich ächzte wegen der
flachen Stufen, die zu breit waren, als dass
man zwei auf einmal hätte nehmen kön-
nen. Hinter mir ging der Kunstmaler Da-
niel Melim. Er fragte, was ich in Lissabon
machte. Ich erzählte vom Schnäppchen-
planer. Er lachte. „Aber darum geht es dir
doch nicht. Ich will wissen, was du wirk-
lich machst?“.
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Teresa Cortez ist in Lissabon geboren und immer wieder dorthin zurückgekehrt. Sie
arbeitet als freie Illustratorin und Animatorin für Bücher, Magazine, Plattencover,
Imagefilme und Videoclips. Im Winter erscheint bei Nave Especial ihre iPad-Applikati-
on „Guarda-Sóis do Brasil“. (teresacortez.com)
Wolf Schmid lebt in Lissabon. Er arbeitet als Stadtführer, Wellenreitlehrer und freier
Schriftsteller. Unter dem Heteronym „Konrad Geyer“schreibt er auf Kommentarblog.
Im September erscheint beim Liesmich-Verlag sein Debütroman „Pedalpilot Dop-
pel-Zwo“. Für Teresas App hat er am Konzept und den Texten mitgeschrieben.
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Vor der Haustür das Meer
Kurzgeschichte: Lisa Lindner
In einem Buch hatte er gelesen, dass es
rein gar nichts daran änderte, wenn man
durch den Regen rannte. Die Tropfen
würden einen dennoch bis auf die Haut
durchnässen, ganz gleich ob man eilte
oder gemächlichen Schrittes ging. Er hatte
an diesem Abend nur wenig Muse, dieser
These auf den Grund zu gehen, stattdes-
sen presste er die lederne Mappe enger
zum Schutz an seinen Körper und steu-
erte zielstrebig das nächstgelegene Licht
in der stetig wachsenden Dunkelheit an.
Als er die massive Eichentür zum Eingang
eines gut besuchten Pubs aufstieß, schlug
ihm die feuchte, schwere Luft von damp-
fenden Mahlzeit, frisch gezapftem Bier
und Zigarettenrauch an diesem nasskal-
ten Regentag beinahe einladend entge-
gen. Der Dunst legte sich auf seine dicken
Brillengläser, sodass er sich eilends be-
mühte, diese mit einem letzten trockenen
Hemdzipfel von Nebel und Feuchtigkeit
zu befreien, ehe er sich in der verwinkel-
ten kleinen Schankstube umblicken konn-
te. Die Einheimischen kümmerten sich
nur wenig um den fremden Gast, welcher
nun den Raum betrat und seinen Blick su-
chend über die belegten Plätze schweifen
ließ. Schließlich sank er, seufzend resig-
nierend, auf einen der freien Barhocker
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und gab dem Schankwirt mit der Hand
ein Zeichen. Er seufzte ein zweites Mal,
als er die lederne Mappe aufschlug und
sah, dass sich auf der obersten Seite eines
Stapels Papier erste Wassertropfen gebil-
det hatten. Verstohlen blickte er sich in
der dunklen Schankstube um, niemand
nahm Notiz von ihm. Er war unsichtbar
– nicht nur hier, im entlegensten Küs-
tenstädtchen, an den es ihn jemals ver-
schlagen hatte. Mit den Zehen streifte er
sich die durchnässten Schuhe von den
Füßen und bewegte diese eine Weile,
um die Feuchtigkeit aus den Knochen zu
vertreiben. An seinem Nacken lief von
dem kurz geschorenen Haar ein dünnes
Rinnsal von Regenwasser hinab. Wie ein
Hund schüttelte er ein Mal kurz den Kopf,
dann ein zweites Mal. „Stürmisch heute“,
bemerkte plötzlich ein alter Mann rechts
von ihm. Der Fremde blickte sich kurz
verwirrt um, nicht ganz sicher, ob der
Mann ihn angesprochen hatte. Dieser
schwieg wieder – war es nur ein Selbst-
gespräch gewesen? Er blickte den alten
Mann noch einmal verwirrt an, muster-
te ihn kurz und vertiefte sich dann in das
Bier, das er geordert hatte. Die beiden
Männer saßen eine Weile da, nur für sich,
schweigend. Die Gedanken des Fremden
schweiften erneut ab, er dachte an die Ar-
beit, die heute Abend noch in der Mappe
auf ihn wartete und an das ungemütli-
che Hotelzimmer, das ihn nur noch mehr
anonym erscheinen ließ. Er wünschte, er
könne sagen, dass er sich nach Daheim
sehnte, doch die Dachgeschosswohnung
am Standrand war kaum weniger spar-
tanisch und ungemütlich eingerichtet als
das fremde Zimmer in der kleinen Küs-
tenstadt. „Beruflich hier?“, fragte der alte
Mann nun und blickte ihn auffordernd
an. Der Fremde stockte, blinzelte hinter
den Brillengläsern verwirrt zwei Mal. Er
runzelte kurz die Stirn, mehr verlegen als
verärgert über die Unterbrechung seiner
Gedanken, dann nickte er bejahend auf
die Frage, kurz darauf noch einmal, zur Si-
cherheit. Der alte Mann nickte ebenfalls,
brummte etwas in seinen grau-gestutz-
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ten Bart und nahm einen Schluck aus der
Flasche vor ihm. „Sie sind nicht von hier“,
stellte er fest und wiegte seinen Ober-
körper leicht vor und zurück, während er
sprach. Der Fremde schüttelte den Kopf
und zuckte dann fast entschuldigend mit
den Schultern. „Nee, nee, sind Sie nicht“,
sagte der Mann nun wieder. „So wie sie
bei diesem Hundewetter rumlaufen,
ohne Mantel und mit diesen schnieken
Herrenschuhen“. Er blickte dabei auf die
durchnässte Socken, der Fremde lief rot
an. Der alte Mann hingegen trug ein fes-
tes Paar Gummistiefel und ein wetter-
gegerbtes Regencape. Auch ihm lief ein
feines Wasserrinnsal den Nacken hinab,
doch er schien es noch nicht einmal zu
bemerken. „Wissen Sie, wenn man hier
seit sechzig Jahren lebt und arbeitet, ken-
nen man jeden Hosenknopf“, erklärte der
alte Mann und seine Barthaare zuckten
beim Sprechen. „Das Städtchen ist klein,
doch mit dem Meer als Vorgarten vor der
Haustür lebt man gern. Und wenn’s zu
viel Getratsche gibt, steig ich auf meinen
Kutter und hör nur den Wellen zu, mehr
braucht es nicht. Sie kommen bestimmt
aus der Stadt, mit dem Anzug und Ihren
schnieken Herrenschuhen“. Der Frem-
de lief erneut rot an, vielleicht war er es
noch immer, er wusste es nicht. Er hat-
te einfach nur da gesessen und dem so-
noren Brummen seines Nachbars ge-
lauscht. Die Stimme des alten Mannes
strahlte eine tiefe, innere Ruhe aus und
die vielen Lachfalten in seinem Gesicht
zeugten von einem langen, glücklichen
Leben. „Schauen Sie nicht so unglücklich,
was macht Ihnen denn zu schaffen? Das
bisschen Regen ist morgen wieder vorbei
und wenn nicht, geht das Leben trotzdem
weiter. Solang sich die Fische noch mun-
ter im Wasser tummeln, hab ich was zu
tun. Das sollten sie mal sehen, wie die im
Netz springen und zappeln.“ Der Fremde
schwieg noch immer, er dachte wieder
an die Verträge in der Ledermappe, die er
heute noch durchgehen musste, um sie
am nächsten Morgen seinem Chef faxen
zu können. „Was schauen Sie denn so un-
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glücklich?“, fragte der Fischer neben ihm.
„Solang man noch springen und zappeln
kann, gibt’s für jeden noch Hoffnung. Sie
sollten mal mit mir raus fahren, bisschen
Seeluft schnuppern, das würde Sie auf an-
dere Gedanken bringen. Aber Gummistie-
fel müssen Sie schon selbst mitbringen,
für diese schnieken Herrenschuhe sind
wir hier nicht gemacht“. Der Mann schob
seinen Barhocker zurück und erhob sich
ächzend. „Mehr als sechzig Jahre mach
ich das jetzt schon und die Feuchtigkeit
wohnt in jedem einzelnen Knochen. Je-
den Morgen muss ich meine alten Beine
dazu überreden, dass sie mich noch einen
Tag tragen und jeden Abend kriegen mei-
ne Finger kaum noch den Knoten ins Tau.
Das einzige, was nach einem harten Tag
da draußen auf mich wartet, sind dieser
Hocker und die Möwen, die sich nur gierig
auf den Fisch stürzen wollen. Aber glau-
ben Sie mir eins: Mit dem Meer als Vorgar-
ten vor der Haustür kann man gar nicht
unglücklich sein.“
Lisa Lindner hat an der Uni Erlangen-Nürnberg Germanistik und Nordische Philolo-
gie studiert. Eine Antwort auf die Frage, was man denn mit Letzterem später mal so
macht, hat sie aber nicht. Deshalb studiert sie in ihrem Master auch Literaturstudien
und schreibt ihre Texte lieber auf Deutsch. Nach Stockholm würde sie aber trotzdem
wieder ganz gerne zurück ziehen.
Hostwriter: Sofas, Informationen & Geschichten
Maren Heltsche hat die Macherinnen des Projektes
Hostwriter getroffen.
Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de
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Impressum
Postanschrift:Bouchéstraße 12, 12435 BerlinTelefon: +49 (0) 151 240 30 742
Herausgeber: Maren Heltsche, Mario Münster
Chefredakteur: Mario Münsterstellv. Chefredakteurin:Maren Heltsche
Anzeigen und Werbung:[email protected]
Redakteurinnen und Redakteure (Text):Maren Heltsche, Lisa Lindner, Mario Münster, Christian Neuner-Duttenhofer, Wolf Schmid, Bertram Sturm
Redakteurinnen und Redakteure (Foto/Bild): Rieke Anscheit, Stefan Bohrer, Eye C, Te-resa Cortez, Vera Hofmann, Sascha Knicke, Frank Kretschmann, Sabine Schründer, Hansjörg Walter, Cris Koch
Titelfoto: Ralph Boes
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Lektorat: Mandy Schoßig
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Bis zum nächsten Mal.