12
POINTIERT Ein Bombe für Sonneborn W er in der Armee ge- dient hat, findet’s im Zirkus langweilig, lautet eine russische Armeeweisheit. Stimmt: Wer ein- mal erlebt hat, wie russische Sol- daten vor ranghohem Besuch die Tomaten im Kasernengarten rot pinseln, dem kann eine Blödel- comedy wie „RTL Samstag Nacht“ nur noch ein müdes Lä- cheln abringen. Solch absurde Armeeweisheiten gibt es zu Hunderten, musste der russische Rekrut doch bis vor Kurzem noch zwei Jahre in der Kaserne verbringen, was seinen Sinn für Humor scharf wie ein Kalaschnikow-Bajonett werden ließ. Diesen kann er auch gut im Alltag nutzen (den Humor, nicht das Bajonett), ist das Leben in Russland doch so komisch, dass selbst ein Satiriker wie Martin Sonneborn wegen des Themen- überflusses überflüssig wäre. Würde dieser eine russische Fi- liale seiner PARTEI gründen, könnte sie an den Wahlen teil- nehmen und sie mit Programm- punkten wie „ABM Tomatenla- ckieren“ sogar locker gewinnen. Diese Art selbstgeißelnden Hu- mors mögen die um drei Ecken denkenden Russen sehr. Aber wie eine andere Armeeweisheit besagt, fällt die Bombe immer in den Bombentrichter: Eine Sa- tirepartei würde in Russland nämlich Gefahr laufen, für eine echte gehalten zu werden. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Hoch oben jenseits des Polarkrei- ses beerdigen deutsche und rus- sische Firmen einen Großteil der sowjetischen atomaren Nordflot- te. Das strahlende Erbe des Kal- ten Krieges war in den 90er-Jah- ren vor sich hingerottet, bis Deutschland und Russland 2003 beschlossen, das Problem gemein- sam anzupacken. 100 Jahre wird es noch dauern, bis die Radioak- tivität der Reaktorsektionen soweit abgeklungen ist, dass sie von Hand zerlegt werden können, bis dahin lagern sie auf einem U-Boot-Friedhof. 47 U-Boote sind auf diese Weise schon in riesige Container verpackt worden. Und die Arbeit zeigt erste Folgen: Möwen, Wildenten und Robben sind in ein Gebiet zurückgekehrt, das lange als verloren galt. Im Westkaukasus, wenige Kilo- meter von der Olympiastadt Sot- schi entfernt, lockt die Republik Adygeja Ökotouristen, die durch die Vielfalt der Natur angezogen werden. Ob Kastanienwälder oder Wisente, geschützte Blumen oder Steinadler. Für Abenteurer bietet der Wildwasserfluss Belaja Reka ein Rafting-Mekka, Sonnenanbe- ter wandern jenseits der Dreitau- sender zum Schwarzen Meer . DAS THEMA: SEITEN 6,7, 11 UND 12 SEITE 8 SEITE 9 Frage: Ist der Kommunismus eine Wissenschaft? Antwort: Nein. Wäre er eine Wis- senschaft, hätte man ihn zuerst an Tieren ausprobiert. Witze wie dieser geisterten zu Tausenden durch die Küchen und Kantinen der Sowjetunion, waren eine Form, sich mit der oft trost- Ruhestätte für Atommüll Adrenalin am Weißen Fluss Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Die IT-Managerin Natalja Kasperskaja im Interview SEITE 3 Liebt Geld Ruth Wyneken kann nicht mehr lachen über Klischees, egal ob über’s “Russen-Hoch” oder “Chände choch!” SEITE 10 Sieht rot Der Moskauer-Stuttgarter Comedian Nikita SEITE 12 Macht Spaß Mittwoch, 2. Mai 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Am 7. Mai kehrt Wladimir Putin in den Kreml zurück, Dmitri Medwedjew wird wohl Premierminister. Was bleibt von ihm nach vier Jahren? In den Beziehun- gen zur EU und zu den USA hat der Präsident am Ende mehr erreicht als im eigenen Land. Dabei fürchtete er am Anfang seiner Amtszeit, in eine Reihe mit Kim Jong-il oder Ahmadinedschad gestellt zu werden. SEITEN 2 UND 3 WIRTSCHAFT SEITE 5 FEUILLETON SEITE 11 FEUILLETON SEITE 11 POLITIK SEITE 3 Sprache Russisch und deutsch lächeln Syrien Was Russland erreichen will Kultserie Der Spion im Führerbunker Kino Joachim Król im fernen Sibirien INHALT AMTSWECHSEL WAS DMITRI MEDWEDJEW BEWIRKT HAT Der Letzte lacht das Licht aus POLITIK Komik im Rampenlicht: „Comedy-Club“-Moderator Garik Martirossjan greift die Lachmuskeln der Russen an. losen Wirklichkeit zu arrangie- ren. Doch die Tabus, die jenen Witzen die Würze und das Niveau vorgaben, fielen mit der Perestro- ika plötzlich weg, ganz besonders die politischen (S. 6/7). Heute lachen die Russen über die Alleinunterhalter auf der Bühne, haben ihren eigenen Comedy Club und mit „Nascha Russia“ eine Satireserie, in der sie sich über hungernde (weil ehrliche) Polizis- ten und die goldenen Klosetts der Superreichen amüsieren. „Auch heute zeichnet uns aus, dass wir das Leben mit Humor nehmen“, sagt Semjon Slepakow, führender Kreativkopf der russischen Co- medy. Erklärt das, warum Rus- sen auch über bitterernste The- men wie die eigenen Spione im Dritten Reich lachen können (S. 11)? Ja, sagt der russisch-deutsche Entertainer Nikita Gorbunov aus dem Schwabenland (S. 12). FELIX KAESTLE JAN LIESKE PRESSEBILD PRESSEBILD REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Russland HEUTE

Embed Size (px)

DESCRIPTION

die Ausgabe vom 2. Mai 2012.

Citation preview

Page 1: Russland HEUTE

POINTIERT

Ein Bombe für Sonneborn

Wer in der Armee ge-dient hat, � ndet’s im Zirkus langweilig, lautet eine russische

Armeeweisheit. Stimmt: Wer ein-mal erlebt hat, wie russische Sol-daten vor ranghohem Besuch die Tomaten im Kasernengarten rot pinseln, dem kann eine Blödel-comedy wie „RTL Samstag Nacht“ nur noch ein müdes Lä-cheln abringen. Solch absurde Armeeweisheiten gibt es zu Hunderten, musste der russische Rekrut doch bis vor Kurzem noch zwei Jahre in der Kaserne verbringen, was seinen Sinn für Humor scharf wie ein Kalaschnikow-Bajonett werden ließ. Diesen kann er auch gut im Alltag nutzen (den Humor, nicht das Bajonett), ist das Leben in Russland doch so komisch, dass selbst ein Satiriker wie Martin Sonneborn wegen des Themen-überflusses überflüssig wäre. Würde dieser eine russische Fi-liale seiner PARTEI gründen, könnte sie an den Wahlen teil-nehmen und sie mit Programm-punkten wie „ABM Tomatenla-ckieren“ sogar locker gewinnen. Diese Art selbstgeißelnden Hu-mors mögen die um drei Ecken denkenden Russen sehr. Aber wie eine andere Armeeweisheit besagt, fällt die Bombe immer in den Bombentrichter: Eine Sa-tirepartei würde in Russland nämlich Gefahr laufen, für eine echte gehalten zu werden.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

Hoch oben jenseits des Polarkrei-ses beerdigen deutsche und rus-sische Firmen einen Großteil der sowjetischen atomaren Nord� ot-te. Das strahlende Erbe des Kal-ten Krieges war in den 90er-Jah-ren vor sich hingerottet, bis Deutschland und Russland 2003 beschlossen, das Problem gemein-sam anzupacken. 100 Jahre wird es noch dauern, bis die Radioak-tivität der Reaktorsektionen soweit abgeklungen ist, dass sie von Hand zerlegt werden können, bis dahin lagern sie auf einem U-Boot-Friedhof. 47 U-Boote sind auf diese Weise schon in riesige Container verpackt worden. Und die Arbeit zeigt erste Folgen: Möwen, Wildenten und Robben sind in ein Gebiet zurückgekehrt, das lange als verloren galt.

Im Westkaukasus, wenige Kilo-meter von der Olympiastadt Sot-schi entfernt, lockt die Republik Adygeja Ökotouristen, die durch die Vielfalt der Natur angezogen werden. Ob Kastanienwälder oder Wisente, geschützte Blumen oder Steinadler. Für Abenteurer bietet der Wildwasser� uss Belaja Reka ein Rafting-Mekka, Sonnenanbe-ter wandern jenseits der Dreitau-sender zum Schwarzen Meer .

DAS THEMA: SEITEN 6,7, 11 UND 12

SEITE 8 SEITE 9

Frage: Ist der Kommunismus eine Wissenschaft?Antwort: Nein. Wäre er eine Wis-senschaft, hätte man ihn zuerst an Tieren ausprobiert.Witze wie dieser geisterten zu Tausenden durch die Küchen und Kantinen der Sowjetunion, waren eine Form, sich mit der oft trost-

Ruhestätte für Atommüll

Adrenalin am Weißen Fluss

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYONDTHE HEADLINES

Die IT-Managerin Natalja Kasperskaja im Interview

SEITE 3

Liebt GeldRuth Wyneken kann nicht mehr lachen über Klischees, egal ob über’s “Russen-Hoch” oder “Chände choch!”

SEITE 10

Sieht rotDer Moskauer-Stuttgarter Comedian Nikita

SEITE 12

Macht Spaß

Mittwoch, 2. Mai 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Am 7. Mai kehrt Wladimir Putin in den Kreml zurück, Dmitri Medwedjew wird wohl Premierminister. Was bleibt von ihm nach vier Jahren? In den Beziehun-gen zur EU und zu den USA hat der Präsident am Ende mehr erreicht als im eigenen Land. Dabei fürchtete er am Anfang seiner Amtszeit, in eine Reihe mit Kim Jong-il oder Ahmadinedschad gestellt zu werden. SEITEN 2 UND 3

WIRTSCHAFT SEITE 5

FEUILLETON SEITE 11

FEUILLETON SEITE 11

POLITIK SEITE 3

Sprache Russisch und deutsch lächeln

Syrien Was Russland erreichen will

Kultserie Der Spion im Führerbunker

Kino Joachim Król im fernen Sibirien

INHALT

AMTSWECHSELWAS DMITRI MEDWEDJEW BEWIRKT HAT

Der Letzte lacht das Licht aus

POLITIK

Komik im Rampenlicht: „Comedy-Club“-Moderator Garik Martirossjan greift die Lachmuskeln der Russen an.

losen Wirklichkeit zu arrangie-ren. Doch die Tabus, die jenen Witzen die Würze und das Niveau vorgaben, � elen mit der Perestro-ika plötzlich weg, ganz besonders die politischen (S. 6/7).Heute lachen die Russen über die Alleinunterhalter auf der Bühne, haben ihren eigenen Comedy Club

und mit „Nascha Russia“ eine Satireserie, in der sie sich über hungernde (weil ehrliche) Polizis-ten und die goldenen Klosetts der Superreichen amüsieren. „Auch heute zeichnet uns aus, dass wir das Leben mit Humor nehmen“, sagt Semjon Slepakow, führender Kreativkopf der russischen Co-

medy. Erklärt das, warum Rus-sen auch über bitterernste The-men wie die eigenen Spione im Dritten Reich lachen können (S. 11)? Ja, sagt der russisch-deutsche Entertainer Nikita Gorbunov aus dem Schwabenland (S. 12).

FELI

X K

AES

TLE

JAN

LIESKE

PRESSEB

ILDPR

ESSEBILD

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Page 2: Russland HEUTE

2 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPolitik

ZUM GEBURTSTAG EIN KOCHBUCH FÜR ANGELA

AM 7. MAI WIRD DMITRI MEDWEDJEW VON WLADIMIR PUTIN AUF DEM POSTEN

DES PRÄSIDENTEN RUSSLANDS ABGELÖST. EINE BILANZ SEINER ARBEIT

MACHTWECHSEL IN RUSSLAND

WLADIMIR SOLOWJOWKOMMERSANT-WLAST

2008 fürchtete Medwedjew noch, international isoliert zu werden. Doch erst half ihm Merkel, die Beziehungen zur EU zu normalisieren, dann Obama, in die WTO einzutreten.

„Die letzten drei Jahre des ver-gangenen Jahrzehnts waren wahr-scheinlich die besten in den Be-ziehungen zwischen Russland und den USA“, gestand Dmitri Med-wedjew Barack Obama während ihres letzten Treffens in Seoul am 26. März. Das Geständnis war auf-richtig, die Staatschefs gingen als Freunde auseinander. Obama übergab Medwedjew sogar einen Umschlag mit einer persönlichen Nachricht, wie sie scheidende US-Präsidenten ihren Nachfolgern überreichen. Solche Schreiben enthalten gewöhnlich Ratschlä-ge. Aber Obama übermittelte Med-wedjew nichts dergleichen. In win-ziger Schrift dankte er seinem Freund Dmitri für das Vertrau-en, das ihnen gestattet habe, ge-meinsam zahlreiche Probleme zu lösen. Medwedjew war so gerührt, dass er die Notiz gleich mehreren Delegationsmitgliedern zeigte. Im Jahr 2008 hätte niemand ge-glaubt, dass es einmal zu einem Augenblick wie diesem kommen könnte. Denn Medwedjews Prä-sidentschaft begann außenpoli-tisch so dramatisch, dass sie ge-nauso gut die übelste Zeit seit dem Kalten Krieg für die russisch-amerikanischen Beziehungen hätte werden können – wegen des russisch-georgischen Krieges im August 2008. Es heißt, dass Medwedjews Ope-ration, Saakaschwili zum Frieden zu zwingen und die Unabhängig-keit Abchasiens sowie Süd-ossetiens anzuerkennen, fast ein-mütig von den Mitgliedern der russischen Regierung und den

Mitarbeitern der Kremlverwal-tung unterstützt wurde.Doch die Frage, ob Moskau im Falle einer Anerkennung der Un-abhängigkeit Abchasiens und Südossetiens das übrige Georgi-en verlieren würde, war nicht das brennenste Thema in jenen hei-ßen Augusttagen. Dem Kremlchef machte ein ganz anderes Problem zu schaffen: Die ganz reale Mög-lichkeit, sich in Gesellschaft „nicht verhandlungsfähiger“ Staatschefs wie Mahmud Ahmadinedschad oder Kim Jong-il wiederzu� nden. „Medwedjew rechnete damit, iso-liert zu werden. Moralisch war er darauf eingestellt, alle vier Jahre seiner Amtszeit das Echo des ge-orgischen Krieges zu hören“, er-innert man sich im engen Kreis des scheidenden Präsidenten.

Medwedjews doppeltes GlückDie Befürchtungen waren nicht unbegründet: Die EU wollte Mos-kau mit Sanktionen abstrafen. Die heftigste Kritik kam aus Polen und den baltischen Staaten. Bun-deskanzlerin Angela Merkel, die Medwedjew am 15. August 2008 in Sotschi besuchte, brachte ihm in einem Gespräch schonungslos ihre Position bei: „Merkel sagte, dass dieser Kon� ikt die Beziehun-gen Russlands zur Europäischen Union verkomplizieren würde und dass die EU Russland dabei nie-mals unterstützen werde“, erin-nert sich ein Teilnehmer jener Verhandlungen. Doch Medwedjew hatte doppeltes Glück. Zum einen hatte Frank-reich den EU-Ratsvorsitz inne. Dessen energischer Präsident Nicolas Sarkozy nutzte die Gele-genheit und übernahm im rus-sisch-georgischen Konflikt die Vermittlerrolle. Er bereitete rasch einen Friedensplan vor, den Med-wedjew und Micheil Saakaschwi-li unterzeichneten. Zum anderen wurde der russisch-georgische

onalen Konferenz zur Reorgani-sation des Welt� nanzsystems im französischen Evian, sprach Med-wedjew in erster Linie über Maß-nahmen zur Stabilisierung der Finanzmärkte und nur beiläu� g über den Augustkrieg. Einen Monat später stimmten Sar-kozy und vor allem Angela Mer-kel auf dem Russland-EU-Gipfel in Nizza versöhnliche Töne an.„Deutschland blieb bei der EU-Position zum Georgien-Kon� ikt, aber es sorgte dafür, dass der Di-alog mit Russland nicht einfror. Berlin und Paris waren einer Mei-nung und konnten ihre Vorstel-lungen in der EU durchsetzen“, so ein Vertreter des russischen Au-ßenministeriums. Personen, die Medwedjew auf seinen Auslands-

reisen begleiteten, sehen einen Grund dafür in der politischen Freundschaft zwischen Merkel und Medwedjew. „Sie p� egen eine gute, sogar herzliche Beziehung. Das half, Positionen in Einklang zu bringen und sie auszuformu-lieren“, sagt ein Mitarbeiter der Kremlverwaltung. Medwedjew weiß solche Beziehungen zu schät-zen. Zu Merkels Geburtstag such-te er persönlich ein Geschenk für sie aus: russische klassische Musik und ein Kochbuch. Reiste Med-wedjew um die Welt, bemühte er sich stets um einen Zwischenstopp in Berlin, um sich mit der Kanz-lerin kurz auszutauschen. Diese enge Verbindung löste zu-weilen Irritationen bei Sarkozy aus, der daraufhin auf Dreiertref-fen bestand wie im Oktober 2010. Auf dem Gipfel erklärte sich Med-

wedjew einverstanden, einen Monat später in Lissabon eine Sit-zung des Russland-NATO-Rates auf höchster Ebene einzuberufen, auf der er den USA vorschlug, ge-meinsam mit Russland ein sekto-rales Raketenabwehrsystem in Europa zu errichten. Es war eine Sensation, und fast glaubte man, die beiden Seiten würden endlich ihr Hauptproblem der letzten Jahre bewältigen.

Ein Präsident als UnterhändlerMedwedjew und Obama waren einander durch die Arbeit an einem neuen Vertrag über die Reduktion strategischer Offensiv-waffen (START) nahegekommen. „Zum einen ist Medwedjew weit weniger amerikakritisch als Wla-dimir Putin“, erklärt ein Krem-lfunktionär. „Doch die Agenda wurde primär von Pragmatismus diktiert. Während der Ausarbei-tung des START-Abkommens telefonierten Obama und Med-wedjew manchmal mehrere Stun-den lang.“ „Der Präsident war der Haupt-unterhändler“, bestätigt Vizever-teidigungsminister Anatoli An-tonow, der die russische Delega-tion bei den START-Verhandlungen anführte. „Insgesamt sprachen sie mehr als fünfzehn Mal miteinan-der. Und dabei kam die Rede nicht nur auf allgemeine politische Überlegungen, sondern auch auf kritische Verfahrensfragen.“ An-tonow erinnert sich, wie Moskau und Washington über den Aus-tausch telemetrischer Raketenda-ten debattierten. Die USA woll-ten im Vertragstext diesbezüglich eine verbindliche Verp� ichtung jeder Seite, Russland hielt das nicht für nötig. „Medwedjew fand eine Lösung, welche die Ameri-kaner und uns gleichermaßen zu-friedenstellte. Es handelte sich nicht um eine Konzession, sondern um eine diplomatische Beilegung des Problems“, erzählt Antonow. Demnach durften die Seiten selbst bestimmen, welche telemetrischen Daten man dem Partner überlässt und über welche Raketentests man

ZAHLEN

69 Prozent der Russen un-terstützten Medwedjew und seinen Kurs wäh-

rend des Georgienkonflikts 2008 – ein Umfragehoch. Im März 2012 wa-ren es dann nur noch 23 Prozent.

4 Jahre war Medwedjew im Amt. Aufgrund einer Verfas-sungsänderung im Jahr

2008 wird sein Nachfolger Wladimir Putin sechs Jahre Präsident bleiben.

Medwedjew hatte sich auf das Echo des georgischen Krieges eingestellt: Er rechnete damit, isoliert zu werden.

Kon� ikt schnell von der weltwei-ten Finanzkrise überschattet – wirtschaftlicher Pragmatismus gewann in der EU die Oberhand. „Im Grunde sah sich Medwedjew mit zwei Problemen konfrontiert. Das eine hieß Georgien, das zwei-te war die Krise. Damit war seine außenpolitische Agenda klar vor-gegeben“, sagt ein Funktionär aus dem Präsidentenstab. Bereits im Oktober 2008, auf der internati-

Gutes Verhältnis: Präsident Medwedjew, Kanzlerin Merkel

CORBIS/FOTO SA

COR

BIS

/FO

TO S

A

Page 3: Russland HEUTE

3Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau Politik

Informationen herausgibt. Als weiteren persönlichen Erfolg Med-wedjews wertet Antonow einen Zusatz in der START-Präambel. Darin werden strategische Offen-siv- mit Defensivwaffen, das heißt mit der Raketenabwehr, ver-knüpft. Der Zusatz war ein wich-tiger Punkt für Moskau, das sich gegen die Errichtung amerikani-scher Raketenabwehrsysteme in Europa aussprach. Die Beziehung zu den USA, die sich während der Arbeit am START-Vertrag deutlich ent-spannte, genoss bei Medwedjew auch nach Vertragsunterzeich-nung im April 2010 Priorität. Plötzlich kam Moskau den Ame-rikanern in Themen entgegen, bei denen es den Amerikanern unter George W. Bush heftigen Wider-stand geleistet hatte. Im Juni 2010 unterstützte die Russische Föde-ration die Resolution 1929 des UN-Sicherheitsrats, die neue

Sanktionen gegen den Iran ver-fügte. Darüber hinaus ging sie auch die Verpflichtung ein, die der iranischen Regierung bereits zu-gesicherten Luftabwehrraketen- systeme vom Typ S-300 nicht auszuliefern.Im Kreml erklärt man das nicht nur mit dem Tauwetter zwischen Moskau und Washington. „In Bezug auf den Iran vertraten wir lange einen äußerst rigiden Stand-punkt – aus Unwissenheit. Aber als uns die Dokumentationen über Geheimfabriken für Urananrei-cherung erreichten, ließ sich das Offensichtliche nicht mehr leug-nen. Die Beweislast war erdrü-ckend, und hätten wir an unserer Position festgehalten, hätten wir uns bei der Verteidigung eines Lügners als Idioten fühlen müs-sen“, sagt ein Kremlbeamter.

unter kollegen: nach Verhandlungen im august 2008 mit sarkozy, auf dem nuclear security summit in seoul im März 2012 mit obama

Die Beziehung zu den USA genoss bei Medwedjew auch nach dem START-Vertrag im April 2010 Priorität.

Fjodor lukjanow

PoliTologe

etwas über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimiert wird. Mit anderen Worten: Ent-weder die Irakvariante des Jah-res 2003 oder Moskaus Bedingung wird akzeptiert. Diese Bedingung lautet: Die internationale Gemein-schaft kann und darf sich nicht in einen Bürgerkrieg einmischen, indem sie für eine Seite Partei er-greift und die andere beseitigt.Moskau war schon lange nicht mehr einer derart vernichtenden Kritik ausgesetzt wie im Syrien-konflikt. Sie reicht von Anschul-digungen, seiner Position lägen merkantile Motive zugrunde, bis hin zum Vorwurf, einer blutigen Tyrannei geistig nahezustehen. Doch das russische Außenminis-terium rüstete sich zur Verteidi-gung und hielt standhaft den Schlag aus. Nach nur wenigen Wo-chen Bedrängnis konnte es den Rückzug der Angreifer vermel-den. Die Irakerfahrung ist noch frisch im Gedächtnis, wie sich zeigt, und ohne UN-Mandat wol-len nicht einmal die kampfeslus-tigsten Hauptstädte handeln. Die Ernennung Kofi Annans zum UN-Sondergesandten sowie die Ausarbeitung eines Plans, der nichts enthält, was Moskau nicht akzeptieren könnte, sind insbe-sondere Ergebnis der russischen Politik. Das Wichtige, Eigentliche aber besteht in der Rückbesinnung der internationalen Gemeinschaft auf das reiche Arsenal diploma-tischer Instrumente, die in derar-tigen Fällen üblicherweise zur An-wendung kommen. Moskau hat der Welt ins Gedächt-nis gerufen, dass ohne Russland nichts geht, im Endeffekt sind sogar, nimmt man die Syrienkon-ferenz von Ankara als Indiz, über-triebene Vorstellungen von seiner Bedeutsamkeit geweckt worden. Wie geht es nun weiter? Für Russ-land gibt es zwei Wege. Entweder versucht Moskau, die Rolle eines vollwertigen Vermittlers zu über-nehmen. Was bedeutet, einen Me-chanismus für den gefahrlosen Abgang Baschar al-Assads zu ent-wickeln und in Damaskus durch-zusetzen sowie unter Wahrung der Interessen der jetzigen herrschen-den Minderheit eine neue politi-sche Spitze zu installieren. Oder Moskau versucht, den diplomati-schen Gewinn aus seiner oben be-schriebenen Unnachgiebigkeit zu „kapitalisieren“. Dieser dürfte jetzt in der Nähe des möglichen Maximalwerts liegen, weiter könnte sich die Lage zuunguns-ten Russlands entwickeln. Der Tagungsleiter der Syrienkon-ferenz in Ankara hatte recht. Die Ereignisse in Syrien sind es wert, in die Lehrbücher der internati-onalen Beziehungen einzugehen – als Beispiel für eine Prüfung, bei der allerdings nicht morali-sche Reife, sondern diplomatische Meisterschaft auf dem Prüfstand steht.

Fjodor Lukjanow ist Chef-redakteur von Russia in Global Affairs und renommierter Poli-tologe. In diesem Beitrag, der zuerst von der unabhängigen Internetzeitung Gazeta.ru ver-öffentlicht wurde, erklärt er russischen Lesern die Position der Russischen Föderation in der Syrienfrage.

Die Syrienkrise schafft ein Dilemma zwischen Moral und Geopolitik, zwischen

Prinzipien und Geostrategie. Sy-rien ist ein Lackmustest für alle Länder; die Geschichte wird sich daran erinnern, wer die Prüfung bestanden hat und wer nicht.“ Mit derart pathetischen Worten eröffnete der Tagungsleiter die Syrienkonferenz in Ankara. Zur Verwunderung der beiden russischen Vertreter konzen-trierte sich die Debatte sehr schnell auf einen ganz konkre-ten Aspekt: die russische Hal-tung in der Syrienfrage – und wie Moskau zum Einlenken ver-anlasst werden könnte. Die Liste der Diskussionsbeiträ-ge war lang. Anschuldigungen, Russlands Position sei zynisch, wechselten ab mit Zusagen, die russischen Interessen nach einem Machtwechsel zu berücksichti-gen; auf den Vorwurf der Kurz-sichtigkeit des Kremls folgte die Einschätzung, Moskau vertrete seine Sicht der Dinge höchst kon-sequent. Am Ende der Konfe-renz hatte sich ein Bild heraus-kristallisiert, über das man nur

staunen konnte. Wurde doch tat-sächlich behauptet, das einzige Hindernis auf dem Weg zu einer Beilegung des Konflikts sei Russ-land. Versuche der russischen Vertreter, die Aufmerksamkeit auf die anderen Probleme zu len-ken, ohne deren Lösung eine Be-friedung Syriens undenkbar sei, fanden keine Resonanz.Die während der letzten Zeit in-ternational immer stärker in den Fokus gerückte russische Linie in der Syrienfrage war offenbar erfolgreich. Nicht im Sinne der Krisenüberwindung, sondern im Hinblick auf das von Russland verfolgte Ziel. Ein egoistisches, aber gerechtfertigtes Ziel: den Partnern im Westen und in der arabischen Welt zu beweisen, dass sich ohne das Mittun Mos-kaus im Nahen Osten (und wo-anders) nichts lösen lässt. Die Ereignisse in Libyen im letz-ten Jahr haben den Eindruck erweckt, Russland gehe auf Abstand zu den Problemen im Nahen Osten und favorisiere eine Position des Sich-Heraushaltens. Dividenden hat das Moskau nicht eingebracht: Die siegreichen Auf-ständischen ignorierten die kom-merziellen Interessen Russlands, und das Land manövrierte sich ins Abseits. Libyen ist ein wichtiger Grund für die heutige kompromisslose Haltung gegenüber der Syrien-frage, die Außenminister Sergej Lawrow im Januar verkündete: Wir können nicht verhindern, dass irgendjemand Lust auf eine Intervention in Syrien verspürt, aber wir lassen nicht zu, dass so

Meinung

Syrienkrise: Raus aus dem diplomatischen Abseits

Moritz gathMannRUSSlAnD heUTe

kurz vor amtsende unterschrieb Medwedjew einen Präsidenten-erlass über die einrichtung eines öffentlich-rechtlichen kanals. seine unabhängigkeit wird von vielen angezweifelt.

Die Idee eines öffentlich-rechtli-chen Kanals hatte Dmitri Med-wedjew schon im vergangenen Sommer unterstützt, aber nach den Großdemonstrationen im De-zember musste es schnell gehen: Bis zum 1. März sollte eine Regie-rungskommission Vorschläge zu Finanzierung und personeller For-mierung erarbeiten. Medienex-perten jeder Couleur berieten die Kommission, darunter Michail Fedotow, Vorsitzender des Men-schenrechtsrats und Medienex-perte, der schon seit Anfang der 90er-Jahre an der Einrichtung eines solchen Kanals arbeitet.Am 17. April, knapp drei Wochen vor Amtsende, veröffentlichte Medwedjew einen Präsidentener-lass (Ukas), der viele Experten rat-los zurückließ: Am 1. Januar 2013 soll der Kanal nun auf Basis des schon bestehenden Armeesenders Swesda auf Sendung gehen. Um

Den Chefredakteur ernennt der Präsident

seine Unabhängigkeit zu wahren, hatten viele die Einrichtung einer Stiftung gefordert. Laut Ukas soll der Kanal jedoch zumindest in der ersten Zeit vom Staat finanziert werden. Schwerer noch wiegt die Tatsache, dass den Generaldirek-tor, gleichzeitig Chefredakteur des Senders, der Präsident ernennt. Fedotow zeigte sich dementspre-chend ernüchtert: „Die Ideen un-seres Rats spiegelt der Ukas nicht wider. Es ist nicht die beste Vari-ante, nur die praktischere.“

Die Syrienfrage ist ein Konflikt, bei dem die diplomatische Meisterschaft auf dem Prüfstand steht.

Die Regierungsentscheidung, sich beim Votum des UN-Sicherheits-rats über westliche Militäraktio-nen gegen Libyen der Stimme zu enthalten, hat dagegen einen an-deren Hintergrund. „Warum wurde eine Enthaltung beschlos-sen und kein Veto gegen die Re-solution? Weil es klar war, dass es aus ist mit Gaddafi und seinem System. Medwedjew sprach häu-fig mit ihm, und es gab keinen Zweifel an seiner Unfähigkeit, Lö-sungen zu finden“, erläutert ein

Mitglied der Libyenkommission. „Als auf dem Höhepunkt der Li-byenkrise die Frage aufkam, ob es sich lohne, die Fortschritte in den Beziehungen zu den USA für Tripolis zu opfern, wurde der Be-schluss gefasst, sich der Stimme zu enthalten.“ Die Tatsache, dass die Resolution dann auf nicht darin einbezogene Maßnahmen ausgedehnt wurde, sei aber einem Affront gleichgekommen. Wirtschaftlich haben die guten Beziehungen zu den USA eben-falls Früchte getragen: Russland ist der WTO beigetreten. Auch das kann Medwedjew für sich verbuchen. „Der WTO-Beitritt war ein Geschenk des Westens, ein Geschenk Obamas an Med-wedjew“, so der Politologe Niko-lai Slobin. „Außerdem wäre es politisch unklug gewesen, Mos-kau wieder durchfallen zu las-sen“, stimmt dem ein Kremlfunk-tionär zu.Die Präsidentenfreundschaft er-streckt sich indes nicht auf alle Sphären. Gegen Ende von Med-wedjews Amtszeit wurde klar, dass das Problem des Raketen-schirms in Europa nicht gelöst werden würde. Washington wies Medwedjews Lissabonner Initia-tive zurück. Auch Obamas An-kündigung im März in Seoul, nach den amerikanischen Präsident-schaftswahlen wieder größere Fle-xibilität zu zeigen, scheint wenig glaubwürdig. „Der US-Senat hat das Verbot zur Weitergabe sen-sibler Informationen über den Ra-ketenschild in den Gesetzesstand erhoben“, sagt ein hoher russischer Diplomat. „Die USA werden sol-che Informationen nicht einmal mit der NATO teilen.“Und wie geht es weiter im rus-sisch-amerikanischen Alltag? Mit dem üblichen Argwohn. In Kürze wird Wladimir Putin vielleicht auf einen neuen Präsidenten tref-fen – und seine Beziehung zu Ba-rack Obama kann man nicht als freundschaftlich bezeichnen.

PReS

SeB

ilD

ReU

TeRS/V

oSTo

CK-Ph

oTo

AFP/eA

STnew

S

Page 4: Russland HEUTE

4 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskauwirtschaft

wirtschafts- kalender

BildungsMessestudyworld 2012 11.-12. Mai, Berlin, Haus der russiscHen WissenscHaft und Kultur

Studenten und Nachwuchsforscherkönnen hier aus erster Hand Informa-tionen über ihre akademische Ausbil-dung an einer russischen Universität, Fördermöglichkeiten und Innovations-partnerschaften deutscher und russi-scher Institutionen erhalten.

studyworld2012.com ›

foruMchancen für den Mittel-stand in nordwestrussland16. Mai, HaMBurg, HandelsKaMMer

Hochrangige politische Vertreter aus Kaliningrad und Sankt Petersburg in-formieren über den Einstieg in den russischen Markt und dessen Beson-derheiten. Und deutsche Mittelständ-ler berichten darüber, welche Russ-land-Erfahrungen sie gemacht haben.

o-m-v.org ›

syMposiuMwie geht es weiter Mit deM euro? 25.-27. Mai, MosKau, HigHer scHool of econoMics

Die Vereinigung russischer und deut-scher Ökonomen (dialog e.V.) lädt Studenten und junge Berufstätige ein, mit Vertretern aus Wirtschaft und Po-litik über die Zukunft des Euro und die Schuldenkrise zu diskutieren.

dialog-ev.org ›

kontakteManagerfortBildungs-prograMM russland22. Mai-16. Juni, celle

Die Deutsche Gesellschaft für Interna-tionale Zusammenarbeit (GIZ) fördert auf dieser Kooperationsbörse für Ausrüstungen und Technologie die gezielte Kontaktanbahnung deutscher Unternehmer zu 40 russischen Führungskräften.

ixpos.de ›

lesen sie MeHr üBer die russiscHe WirtscHaft aufrussland-heute.de

aktuell

In vielen Ländern der Welt kämpft der russische Export mit Einfuhrbeschränkungen: 72 sol-cher Beschränkungen zählte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung. Dazu gehört ein Antidumpingzoll der EU von 24,1 Prozent auf Stahlrohre aus Per-wouralsk. Jährlich verlieren die Exporteure laut Ministerium da-durch etwa zwei Milliarden Euro. Der Eintritt Russlands in die WTO macht es den Produ-zenten nun möglich, derartige Zölle anzufechten.

Drei Programmierer mit russi-schen Wurzeln haben in Kana-da eine App entwickelt, die dem Facebook-Prinzip ein Schnipp-chen schlägt: „Pair“ ist ein Netz-werk für genau zwei Personen, etwa für zwei Verliebte. Auf dem Smartphone tauschen sie Bot-schaften, Bilder oder Videos. Der Gimmick: Drücken sie gleichzei-tig auf eine bestimmte Stelle des Bildschirms, vibriert das Tele-fon. Derzeit verhandeln die Jung-erfinder über eine Investition von 1,5 Millionen Dollar.

Zweieinhalb Monate vor Ende des Wirtschaftsjahres (30. Juni) hat der Export von Weizen schon den Rekord aus dem Jahr 2009/2010 gebrochen: Das Mos-kauer Forschungsinstitut für Agarmarktkonjunktur (IKAR) errechnete, dass bis Mitte April 18,5 Millionen Tonnen Weizen exportiert wurden. Insgesamt wird Russland laut IKAR 25 bis 26 Millionen Tonnen Getreide ausführen, doppelt so viel wie 2005/2006.

export – und was ihm im wege steht

pair – soziales netzwerk für zwei Verliebte

weizen – mehr ausfuhr denn je

interView natalJa KaspersKaJa

„der Markt fragt nicht nach deinem geschlecht“frau kasperskaja, das unterneh-men kaspersky lab hat im letz-ten jahr einen erlös von 617 Mil-lionen dollar verbucht. glauben sie, die firma stünde dort, wo sie heute steht, hätte es natalja kasperskaja nicht gegeben?Irgendetwas in der Art gäbe es bestimmt. Ich will Ihnen ein Bei-spiel nennen. Zeitgleich mit Jew-genij und mir startete ein ande-res russisches Softwareunterneh-men, Dr. Web, der Gründer war Igor Daniloff. Theoretisch könn-ten die beiden Firmen etwa gleich dastehen. Aber der Erlös von Kas-persky Lab ist etwa 30-mal höher. Igor hat es allein versucht. Das war sein Problem.

das heißt, ihm fehlte eine frau wie sie an seiner seite?Bei Jewgenij und mir passte es damals einfach perfekt zusam-men. Es gab eine Person für das Technische: Jewgenij war absolut verrückt, wenn es um die Quali-tät der Software ging. Ich küm-merte mich um den kommerziel-len Teil, um den Verkauf, das Marketing, die Promotion.

würden sie sagen, sie haben kaspersky lab gegründet? Ich würde sagen, mein Mann ent-wickelte eine Software, und ich habe die Firma registriert, die Pa-piere vorbereitet und ihm gehol-fen, das Produkt zu verkaufen.

ist es in der von Männern domi-nierten softwarebranche eher von Vorteil oder von nachteil, eine frau zu sein? Ein Vorteil fällt mir sofort ein. Ich nehme ziemlich oft an Versamm-lungen teil. Dort sind immer wahnsinnig viele Männer, alle in dunkelblauen Anzügen, alle sehen irgendwie gleich aus. Ich kann mich an die meisten nicht erin-nern. Aber sie erinnern sich immer an mich, weil ich die einzige Frau bin. Sie kommen auf mich zu und sagen: „Hallo Natalja, wir haben uns dann und dort getroffen.“ Ich sage: „Schön Sie zu sehen.“ Aber meistens habe ich keinen blassen Schimmer, wer das ist.

was bewundern sie vor allem an geschäftsmännern?Nicht nur eine Eigenschaft. Ein erfolgreicher Geschäftsmann ver-einigt vier Fähigkeiten. Er baut Netzwerke auf, er hat Interesse am Geldverdienen, er ist risi-

geBurtsort: moskau

alter: 46

profil: it-managerin

Frau muss wissen, wo ihre Talente liegen. Natalja Kasperskaja ist zwar studierte Maschinenbauerin und Mathematikerin, entdeckte aller-dings früh ihr Händchen fürs Ma-nagement. Gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann Jewgenij Kas-persky gründete sie Mitte der 90er-Jahre das Unternehmen Kaspersky Lab, heute eines der weltweit füh-renden Softwareunternehmen für Anti-Viren-Programme. Kasperska-ja ist Vorsitzende des Verwaltungs-rats und Generaldirektorin des Tochterunternehmens InfoWatch, das sich auf Datensicherheit in Unternehmen spezialisiert hat. Seit 15 Jahren mischt sie nun die män-nerdominierte Businesselite Russ-lands auf. Sie gehört zu den ein-flussreichsten und vermögendsten Frauen des Landes.

Biografie

kofreudig, also ein wenig aben-teuerlustig, und er kann ein er-folgreiches Team formen.

und welche dieser charakterei-genschaften haben sie? Natürlich verspüre ich einen ge-wissen Hunger auf das Risiko, so-lange es abschätzbar ist. Ich fahre Abfahrtsski und Snowboard. Mit dem Snowboarden habe ich erst vor drei Jahren begonnen, die Skier waren keine Herausforde-rung mehr. Ich lerne gern neue Leute kennen, kommuniziere aus-giebig mit ihnen, und wir haben hier bei InfoWatch ein großarti-ges Team. Was war das Letzte? Ach ja, das Geld. Natürlich, ich liebe Geld.

treffen sie entscheidungen eher aus dem Bauch heraus oder nach gründlicher analyse?Ich versuche immer, die Situati-on zu analysieren. Allerdings ist der Markt für Informationssicher-heit sehr jung – es gibt fast keine Analysen für die Regionen, in denen wir arbeiten.

also sind sie notgedrungen auf ihr Bauchgefühl angewiesen? Nein. Man kann Entscheidungen aufgrund von Emotionen treffen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Gefühle spielen eine Rolle

beim Design eines Buches. Solche Dinge mache ich übrigens sehr ungern. Es ist eine Frage des Ge-schmacks, und Geschmack sollte bei Entscheidungen keinen Ein-fluss haben. Bei allen anderen Din-gen sollte man so gut wie möglich analysieren, diskutieren, Schritt für Schritt vorgehen.

führen frauen ein unternehmen anders als Männer?Da gibt es bestimmt ein paar Un-terschiede. Frauen sind vielleicht weniger pragmatisch und emoti-onaler. Aber noch einmal: Auf der obersten Ebene zählen nur die Ge-setze des Business. Das Geschlecht spielt dann keine Rolle mehr. Der Markt fragt nicht: Bist du ein Mann oder eine Frau? Es kommt darauf an, voranzugehen, schnel-ler als alle anderen. Du musst stark sein, das ist alles.

das klingt nach einem spiel.Das ist es natürlich. Gerade jetzt investiere ich in fünf verschiede-ne Unternehmen im IT-Bereich. Ich mag es, Märkte zu analysie-ren, neue Märkte zu erobern, das Geschäft zu führen.

infowatch ist in russland Markt-führer. wie geht es weiter?InfoWatch hat in Russland einen Marktanteil von 60 Prozent, wir

könnten 70 Prozent erreichen, aber die Investitionen würden sich nicht lohnen. Hier sind wir wie in einem kleinen Teich. Ich möchte raus in den Ozean. Wir hatten einen guten Einstieg in die ara-bischen Märkte, wir fangen in In-dien an, in Deutschland haben wir eine Tochterfirma gegründet. Mit InfoWatch Marktführer in einem einzigen Land zu sein, das klingt für mich nicht mal ansatzweise nach einer Herausforderung.

Das gespräch führte diana laarz.

presseBild

pres

seB

ild

pHotoxpress

Page 5: Russland HEUTE

5Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau wirtschaft

du lächelst, ich suche nach dem sinn des lebens

interkulturelle kommunikation Wissenschaftler erklären Managern, warum wir so verschieden sind

Marina Borissowadeutsche Welle

wenn russen und deutsche verhandeln, sorgt etwa ein drittel der gesten für Miss-verständnisse. das belegen neue untersuchungen aus woronesch und halle.

Der größte Unterschied bei der in-terkulturellen Kommunikation liegt in der Mimik, besonders in der Art zu lächeln. Russen wird oft nachgesagt, sie lächelten sel-ten. „Weil dem russischen Lächeln schlicht und einfach eine wichti-ge Funktion fehlt, die es bei prak-tisch allen Völkern der Welt be-sitzt – die Funktion, Höflichkeit zu demonstrieren“, erklärt Iossif Sternin, Professor an der Univer-sität Woronesch. Der Hauptzweck des Lächelns bestehe darin, dem Menschen, dem es gilt, persönli-che Sympathie kundzutun. Ein russisches Lächeln kann nur auf-richtig sein.

russland denkt weiblichSternin hat ein Modell zur Be-schreibung von nationalem kom-munikativen Verhalten entwickelt. Während in der deutschen Men-talität Komponenten wie Indivi-dualismus, Unabhängigkeits- und Dominanzbestrebungen überwie-gen, ist die russische geprägt von persönlichen Beziehungen, dem Wunsch nach Kollektivität, Zu-sammenarbeit und Austausch, At-tribute, die gemeinhin eher dem weiblichen Prinzip zugeordnet werden. Beispielsweise treten Rus-sen im Gespräch dicht an den

Partner heran und scheuen auch vor einer Berührung nicht zurück: „Die russische Kultur ist eine Kontaktkultur, die deutsche hin-gegen setzt auf Distanz. Russen rücken bei einer Unterhaltung 30 bis 40 Zentimeter näher an ihr Gegenüber als Deutsche. Sie su-chen bewusst die nonverbale Kom-munikation und zögern nicht, den Gesprächspartner anzutippen oder ihm die Hand auf die Schul-ter zu legen“, so Sternin.„Für Russen ist diese Art des Aus-tauschs ein sehr wichtiger Teil ihrer Kultur“, sagt Hellmut Eckert von der Martin-Luther-Universi-tät Halle-Wittenberg, der gemein-sam mit Sternin die deutsche und russische Mentalität konfrontativ untersucht. Die Erkenntnisse der Sprachwissenschaftler basieren auf Beobachtungen, Umfragen und Fragebogen. Eckert demonstriert den Unter-schied an einem Beispiel: Wird ein Russe eingeladen, hängt seine Be-wertung der Gastfreundschaft un-mittelbar davon ab, wie interes-sant und lebendig sich die Unter-haltung mit dem Gastgeber gestaltet. In Deutschland stehen Äußerlichkeiten wie die Einrich-tung und die Qualität der Bewir-tung an erster Stelle.Beide Wissenschaftler merken an, dass Russen und Deutsche sogar den eigentlichen kommunikativen Austausch unterschiedlich verste-hen: Deutsche führen selbst eine freundschaftliche Unterhaltung weitgehend als Gesellschaftsge-spräch und sparen Themen aus. Tabuthemen wie Krankheit, Ein-

kommen oder Details aus der Pri-vatsphäre gibt es für Russen nicht. Sie sehen keinen Sinn im Small-talk und können ohne Weiteres bei der ersten Begegnung nach Gehalt, Privatleben oder gar dem Sinn des Lebens fragen.

das Private ist geschäftlichIm Arbeitsalltag trennen Deut-sche säuberlich ihre Kontakte nach privat und geschäftlich. Rus-sen halten Arbeit und Privatleben kaum auseinander. „Dort erwei-sen sich Privatbeziehungen im Ge-schäftsleben oft als besonders ef-fizient“, erläutert Sternin. Ein weiterer Unterschied besteht in der Einstellung zu Rechtspre-chung und Gesetz. Während Deut-

schen das Gesetz über alles geht, ist den Russen eher der Chef das Maß aller Dinge, der jedwede Di-rektive nach seiner Manier „hin-biegen“ kann. Werden in einem deutschen Team selbst Mitarbei-ter der mittleren Ebene in die Ent-scheidungsfindung einbezogen, orientieren sich Russen an den Vorgaben von oben. Deshalb ver-missen deutsche Chefs bei ihren russischen Mitarbeitern Eigen- initiative, während Deutsche über das autoritäre Gehabe russischer Vorgesetzter klagen. „Den russi-schen Vorgesetzten wiederum be-fremdet es, wenn die Mitarbeiter nicht genug Respekt vor seiner Stellung zeigen und zu eigenstän-dig sind“, verdeutlicht Sternin.

sogar die Zeit vergeht anders Bei den Deutschen ist die Zeit mo-nochrom und linear ausgerichtet. Jede Sache hat ihren Ort und ihre Stunde. Russen nehmen die Zeit polychrom wahr, deshalb können sie leicht von einer Aufgabe zur

Russen sehen keinen sinn im smalltalk und fragen lieber nach dem Gehalt – oder dem sinn des lebens.

der eine lächelt, der andere nicht: siemens-transportation-group-Präsident hans schabert und Chef der russischen eisenbahn Boris jakunin unterzeichnen abkommen.

MoritZ gathMannRussland heute

einen Monat lang ernährte sich der Beamte einer südrussischen stadt vom existenzminimum. und verlor fünf kilogramm.

Das Existenzexperimenteinkommen es reicht zum abnehmen

Steuererklärungen die tatsächli-chen Gehälter auszuweisen. In vie-len kleineren Unternehmen ist es üblich, offiziell nur ein geringes Gehalt zu zahlen, um Steuern zu sparen. Der Rest wird in Umschlä-gen bar überreicht.

„30. Tag: Frühstück – geröstete Brotscheiben, Tee; Mittagessen – Nudeln, zwei Piroggen; Abendes-sen – Rührei, Brot, Tee. Gesamt: 53 Rubel.“ So liest sich der letzte Eintrag im Twitter-Tagebuch von Dmitri Schertowski. Der 28-jäh-rige Leiter der Wirtschaftsabtei-lung eines Bezirks im Gebiet Kras-nodar versuchte, einen Monat lang mit 6444 Rubeln (etwa 160 Euro) auszukommen – so hoch liegt das offizielle Existenzminimum in dem Gebiet. Mit dem Ergebnis: Vom 19. März bis zum 18. April nahm Schertowski auf diese Weise über fünf Kilo ab. Damit wollte der Beamte nicht nur beweisen, dass es unmöglich ist, vom Existenzminimum zu leben, sondern auch die örtlichen Unter-nehmer dazu bewegen, in ihren

nächsten springen oder mehrere Dinge gleichzeitig erledigen. An-dererseits kommen Russen häufig zu spät. Ihre Sprache bietet viele Möglichkeiten, genaue Zeitbestim-mungen zu relativieren. „Die Russen besitzen eine ausge-prägte Kommunikationskultur, doch wir sollten ein wenig von der Alltagskultur der Deutschen ler-nen“, resümiert Sternin. Sein Kol-lege meint, die Deutschen täten gut daran, sich etwas abzuschau-en von der Warmherzigkeit der Russen, ihrer Gastfreundschaft und Aufrichtigkeit. Den Russen rät er, die Ernsthaftigkeit im Um-gang mit der Zeit und dem Gesetz zu übernehmen.

Das laufende Forschungsprojekt ist noch nicht veröffentlicht. Frühere Untersuchungen sind hier zu finden: H. Eckert; I. A. Sternin (Hrsg.): „Kontrastive Beschreibung der russischen und deutschen Sprache“. Halle, 1996. 138 S.

eckhard CordesOst-ausschuss deR

deutschen WiRtschaft

tausch noch einmal vorantreiben. Auch politisch hat ein Prozess hin zu mehr Pluralität und Demo- kratie begonnen. Der deutschen Wirtschaft wird mitunter Gleich-gültigkeit gegenüber einer auch politischen Modernisierung in Russland unterstellt. Doch das Ge-

genteil ist der Fall: Je pluraler eine Gesellschaft, desto eher sind gute und nachhaltige Lösungen zu er-warten. Das ist ganz im Sinne der Wirtschaft. So denke ich an die vie-len jungen Bürger, an die Unter-nehmensgründer und den sich langsam entwickelnden Mittel-stand. Sie sind es, die auf den Stra-ßen Moskaus und anderer Städte an ihre Grundrechte erinnert

Ob der beschlossene WTO-Beitritt Russlands, die An-näherung an die OECD

oder die sich seit den Duma- und Präsidentschaftswahlen stärker artikulierende soziale Mittel-schicht – Russland hat gezeigt, dass die wirtschaftlichen und po-litischen Rahmenbedingungen im Wandel begriffen sind.Die über 6000 deutschen Unter-nehmen haben in der Russischen Föderation in den letzten Jahren sehr gute Geschäfte gemacht. Heute sichert der Handel mit Russland rund 300 000 Arbeits-plätze in Deutschland. Russische Unternehmer haben auch in Deutschland investiert und damit Arbeitsplätze in deutschen Un-ternehmen geschaffen. Die bila-terale Handelsbilanz – zuletzt ca. 75 Milliarden – eilt von Rekord zu Rekord. Der WTO-Beitritt Russlands wird die Investitionen und den wirtschaftlichen Aus-

koluMne

ein bilaterales Bündnis für den Mittelstandhaben. Sie werden gebraucht, um die Modernisierung des Landes gegen eine schwerfällige und korruptionsanfällige Bürokratie durchzusetzen.Russland braucht ein Bündnis für den Mittelstand. Die neue Regie-rung sollte mit Vertretern der mit-telständischen Wirtschaft und der jungen Unternehmer einen Plan zur Förderung des freien Unter-nehmertums entwickeln. Wir sehen bei dieser Initiative die deutsche Wirtschaft in der Pflicht: Einer-seits gilt unser Mittelstand als vor-bildlich. Andererseits suchen un-sere Mittelständler händeringend Partner auf russischer Seite. Der Ost-Ausschuss wird Wladimir Putin und der neuen Regierung mit seiner Erfahrung zur Seite stehen und den deutschen Beitrag zu die-sem Bündnis koordinieren. Die Chancen für eine weitere Intensi-vierung der deutsch-russischen Be-ziehungen stehen gut.

Dr. Eckhard Cordes ist Vorsit- zender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

unsere mittelständischen unternehmen in deutschland suchen händeringend Partner auf russischer seite.

dmitri schertowski aß da, wo es am billigsten war: in der Mensa.

PRes

seB

ild

kOM

MeR

san

t

Page 6: Russland HEUTE

6 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskaudas thema

ÜBer die schMerz-grenze, unter die gÜrtellinie

An den FernsehFormAten verschiedener epochen

mAniFestiert sich russlAnds wechselnder humor

gesellschaft huMor

konstantin Miltschinrusskij reporter

in russland ist das lachen eine Möglichkeit, soziale unsinnig-keiten an die oberfläche zu bringen – und inzwischen hilft es sogar bei integration und individualisierungsprozessen.

In den 90er-Jahren war der Humor bis aufs Äußerste politisiert, als ob alles Lustige ausschließlich im politischen Leben passierte. Der Ton wurde durch das 1994 etablierte Format „Kukly“ (Puppen) des Senders NTW be-stimmt, einem Pendant zu „Hurra Deutschland“.Diese Politsatire trieb seine Pos-sen mit populären Filmen und Bü-chern, historischen Ereignissen und von Puppen verkörperten Per-sönlichkeiten – denen die russi-schen Spitzenpolitiker als Vorbild dienten. Die Sendungen waren zeitnah und verarbeiteten das po-litische Tagesgeschehen. Die Ein-schaltquoten betrugen bis zu 22 Prozent, und in der Presse wur-den fortan nicht nur echte Politi-ker diskutiert, sondern auch ihre Gummidoubles.

was ist russischer humor?Wenn du bestimmte Dinge nicht ändern kannst und stattdessen dein Verhältnis zu ihnen änderst. Lachen ist die beste Art des Um-gangs mit Zuständen, die schwer zu verkraften sind. Das war zu Sowjetzeiten so, und auch heute zeichnet uns aus, dass wir das Leben mit Humor nehmen.

das ausland meint russen eher als schwermütig zu kennen.Und bei allen möglichen Festivals werden Preise an russische Filme verliehen, die nicht im Gerings-ten komisch sind, aber ein Russ-land zeichnen, das trostlos und brutal ist. Die typische Handlung geht in etwa so: Eine einäugige Mutter verdingt sich als Prosti-tuierte, um ihre querschnittsge-lähmte Tochter zu ernähren. Ban-diten sind hinter ihr und dem Geld her, aber sie schafft es blutüber-

1999 begann eine neue Epoche. An die Stelle des urwüchsigen, toll-patschigen Jelzin trat ein Mann ohne Ecken und Kanten: Weder in Sprache noch in Aussehen und Verhalten ist Wladimir Putin cha-rakteristisch. Maxim Galkin, der populäre Fernsehmoderator und Parodist, meint: „Der Abgang Jel-zins war für viele Autoren ein Tiefschlag.“ Er selbst wurde da-durch berühmt, dass er diese Ni-sche entdeckte: Im Herbst 1999 trat er mit starrem Blick ans Mi-krofon, sprach gepresst, schüch-tern, den Hals nervös streckend, die einzigen Worte, die mit Putin assoziiert werden: „Guten … ähm … Abend.“ Galkin wurde über Nacht zum Star.

konsum statt Politik„Zur Jahrtausendwende hatten alle von der Politik die Schnauze voll“, meint Maxim Kononenko, Erfinder der Webseite vladimiro-vich.ru, auf der er in spaßhafter Form Putins Alltag beschreibt. „Die Menschen waren mit Kon-sum beschäftigt – zum Glück gab es dafür ausreichend Möglichkei-ten“, erinnert er sich.

Mit Kononenkos Webseite ent-stand ein neuer politischer Humor – nicht konkret politisch, sondern eher dem Alltag des Otto-Normal-Verbrauchers entsprechend. Poli-tik wurde zur Privatangelegen-heit der einfachen Leute. Gegen Mitte des neuen Jahrzehnts trat das Privatleben endgültig an die Stelle der Politik.

grobe zotenMit dem Vordringen des Alltags verlor der Humor seine politische Schärfe und sank unter die Gür-tellinie. Von Witzen über Genita-lien kamen die Comedians zu Gags über Fäkalien. Kultursoziologisch war es ein Rückschritt, gesell-schaftlich ein Fortschritt: Auf dem Bildschirm wurden nun früher verbotene Themen zugelassen. Dank dieser Grobheiten und Ver-stöße gegen überholte Tabus wurde die russische Fernsehshow „Co-medy Club“, vergleichbar mit „RTL Samstag Nacht“, zum er-folgreichsten Fernsehprojekt des Jahrzehnts, das den allgemeinen Niedergang des Massenge-schmacks im Bereich des Humors als Emanzipation des Publikums

interView semjon slepAkow

lachen ist die beste Art, mit dem leben zurechtzukommen

strömt gerade noch bis zur Apo-theke und kauft die lebenswich-tigen Medikamente. Das Publi-kum seufzt und sagt sich: Genau so haben wir uns Russland immer vorgestellt!

die leute kennen russland nicht genug?Absolut. Was sind das für Russen, über die im Ausland gelacht wird? Leute, die dort Immobilien kau-fen oder die sich in Hotels betrin-ken, das Mobiliar kurz und klein schlagen, Handtücher mitgehen lassen. Solchen Idioten, die sich nicht benehmen können, widmen wir uns übrigens auch in „Nascha Russia“. Aber das sind natürlich nicht „die“ Russen.Es geht uns heute besser als noch vor einigen Jahren, aber die Lage im Lande bleibt dennoch schwie-rig: Armut, Alkoholismus, Bil-dungsdefizite – all das gibt es. Das

erklärt auch die Fülle an TV-Hu-mor und die Nachfrage danach.

die vielen humoristischen sen-dungen deuten auf einen großen ablenkungsbedarf.Ja, wobei in Amerika oder Eng-land, wo der Standard wesentlich höher ist, nicht weniger Humor im Fernsehen läuft. Für solche Formate findet sich offenbar immer ein Sendeplatz, sofern sie gut gemacht sind. Humor ist ein-fach am leichtesten verdaulich.

wie beurteilen sie die Qualität der russischen comedy?Da hat sich in den letzten Jahren vieles getan. Wir haben von un-seren Kollegen im Ausland gelernt und greifen auf, was auch anders-wo im Trend liegt. Sitcoms wer-den in derselben Manier wie abendfüllende Spielfilme gedreht, mit aufwendiger Technik, hervor-

ragenden Schauspielern, nicht in den üblichen Studiodekorationen, sondern an wechselnden Schau-plätzen. Ich finde, dass man heute mit Vergnü-gen russi-sches Fernse-hen schauen kann.

worüber macht man in den Medien besser keine späße? Auf diese Frage antworte ich immer: Wenn du geistreich bist, kannst du über alles Witze rei-ßen. Natürlich sind politische Scherze mit scharfer Zunge nicht gern gesehen, oder besser: persön-liche Angriffe gegen Politiker. Ich habe allerdings nicht den Ein-druck, dass uns etwas vorgeschrie-ben ist. Eher wollen die Sender auf Nummer sicher gehen. In „Na-scha Russia“ wird ja auch die Po-litik aufs Korn genommen. Nur eben nicht auf breiter Front. Doch von Zensur zu sprechen und davon, dass politisch Unkorrek-tes aus der Sendung herausge-schnitten wird, ist Unsinn.

Das Gesrpäch führte tino künzel

betrachtete. Allerdings hatten die russischen Zuschauer diese Infla-tion der Frivolitäten bald satt. Anfang 2011 änderte der „Come-dy Club“ sein Image: Die hem-mungs-losen und zotigen Gags verschwanden – die Show wurde nun von Garik Martirosjan, dem manierlichsten aller Moderatoren, geführt.Doch seine Popularität hat der „Comedy Club“ bei Weitem nicht nur dem Fäkalhumor zu verdan-ken. Die Sendung setzte sich von den veralteten Teleshows der Neunziger dadurch ab, dass in einem kleinen Zuschauerraum

keine anonyme Masse saß, son-dern russische Celebrities, die die Zielscheibe der recht schlüpfrigen und spöttischen Gags bildeten. Das Lachen der Spießbürger war nunmehr eine Methode, Reichtum und Glamour zu erwerben und es an ihren Alltag „anzupassen“: An-stelle der Neuen Russen der Neun-zigerjahre trat die Selbstironie der Nullerjahre.

integration durch komikDer zunehmende Wohlstand führ-te in russischen Großstädten zu einem Zustrom von Migranten. Das Lohnniveau dort stieg um ein

Semjon Slepakow war Mannschaftska-pitän des „KWN“-Teams von Pjatigorsk, bis er 2004 in die „KWN“-Landesliga aufstieg und die Fernsehshow „Nascha Russia“ mitproduzierte. Heute lebt der Barde und Drehbuchautor in Moskau.

Biografie

geBurtsort: PjatiGorsk

alter: 32

Profil: stanD-uP-comeDian

pres

seb

ild

pho

tox

pres

s

Page 7: Russland HEUTE

7RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Das Thema

Der russische Humor erwächst aus dem Kollektiv – wie die Comedysen-dung „KWN“ zeigt: Der „Klub Wesjo-lych i Nachodtschiwych“ (Klub der Frohsinnigen und Findigen) ist ein Fernsehformat, bei dem Mannschaften aus acht bis zehn Personen auf der Bühne mit Gags, die sie sich spontan ausgedacht haben, gegeneinander antreten. Das Format wurde mit Auf-kommen des Fernsehens Ende der 50er-Jahre entwickelt und erlangte gigantische Popularität. „KWN“ ist Kaderschmiede für Nachwuchs-Come-dians. Qualifikationsturniere finden bis heute im ganzen Land statt.

FAKTEN

„KWN“

Hast du den Neuesten schon gehört?

ILJA LOKTJUSCHINRUSSLAND HEUTE

Im Witzeerzählen sind die Russen Weltmeister: Jahrzehn-telang verspotteten sie so das Regime und kommunizierten Tabuthemen. Heute nimmt der Humor andere Formen an.

„Generalsekretär Brewschnew empfängt Margaret Thatcher auf Staatsbesuch. Er faltet seine Rede auseinander und setzt an: ‚Verehr-te Indira Ghandi …‘ ‚Genosse Breschnew‘, zischt der Berater, ‚vor Ihnen steht Margaret Thatcher.‘ ‚Ich bin ja nicht blind‘, nuschelt der Generalsekretär zurück, ‚aber im Text steht Indira Ghandi.‘“ Das ist ein typischer Witz aus der Sowjetära, in dem der alters-schwache Generalsekretär aufs Korn genommen wird. Der Witz – zu Russisch „Anekdot“, von grie-chisch anékdoton für „nicht pu-bliziert“ abgeleitet – prägte wie der ewige Genosse Breschnew selbst jahrzehntelang die russi-sche Alltagskultur. Scharfsinni-ges Blödeln, Persi� ieren und zum Nachdenken bringen sind die Merkmale der Anekdote, die sich deutlich von ihrem deutschen Schmunzelpendant abhebt.

Die Nachricht als WitzKein Wunder: „Der mündliche Witz war die beste Form, Nach-richten zu vermitteln“, erklärt Jelena Schmeljowa, Witzeforsche-rin und Wissenschaftlerin am Institut für Russische Sprache der Akademie der Wissenschaften. Weil in der Sowjetunion sämtli-che Nachrichten ge� ltert und viele Themen tabuisiert waren, äußer-te das Volk seine Haltungen in Form von politischen Witzen: „Kennst du den schon?“, war eine gängige Begrüßungsfloskel wie „Lange nicht gesehen“ – und zwar querbeet durch alle Klassen der eigentlich klassenlosen Gesell-schaft. „Das Alleinstellungsmerk-mal der russischen Anekdote ist ihr hoher Status unter den Intel-lektuellen“, erklärt Schmeljowa. Während in Europa der Witz ein seichter Lacher für zwischendurch war, nahm er in Russland Formen der hohen intellektuellen Unter-haltung an. Und es ging längst nicht mehr nur um Politik.

So wurde in den 60ern die Witz-serie über Radio Jerewan popu-lär, eine � ktive Radiostation aus Armenien, die naive Anfragen von Hörern grotesk beantwortete. Das Thema „Sex“ etwa gingen die Mo-deratoren von Radio Jerewan so an: „Seit Kurzem träume ich in einer unbekannten Fremdspra-che, was soll ich tun? – Im Prin-zip nichts, oder aber Sie könnten mit einer Dolmetscherin schla-fen.“ In diesem Witz wird nicht nur die vermeintliche Überkom-petenz von höheren Organen – in diesem Fall Radio Jerewan – per-si� iert, sondern das in der Sow-jetunion aus der Öffentlichkeit verbannte Thema „Sexualität“.

Autor unbekanntWer sich die Witze ausgedacht hat, lässt sich nicht genau bestimmen: „Der Witz ist anonym“, sagt Schmeljowa. Im anspruchsvollen Witzereißen übte sich das ganze Land, Arbeiter und Bauern, Ka-barettisten und Intellektuelle – die Dichterin Anna Achmatowa beispielsweise war eine leiden-schaftliche Witzesammlerin.Der Wandel kam mit der Peres-trojka, als viele Tabus weg� elen und unzählige neue Themen in die Öffentlichkeit rückten. Auf einmal witzelte man über Blon-dinen, Computernerds, Junkies, Sex und die „Neuen Russen“ – neureiche Gauner und ihre ge-

schmacklose Welt der Status-symbole. „Plötzlich gab es viel zu viel zu lachen“, erklärt Schmel-jowa. Nach der prüden Sowjet-ära mit ihrer Zensur und gähnen-der Langeweile durften vor allem Medien schrill, bunt und lustig werden. Humor wurde zur Ar-beitsmethode der Journalisten – und überlagerte sich mit den Dop-peldeutigkeiten der alten Sowjet-witze. Ein Grund, warum man als Deutscher die Russen kaum versteht?

Unübersetzbares Erbe„Die gesellschaftlichen Codes, mit denen sich jeder Ausländer ohne-hin schwertut, multiplizierten sich mit unübersetzbarem Sowjeterbe – damit haben selbst junge Rus-sen zu kämpfen“, bestätigt Schmel-jowa. Etwa im Journalismus. Heute bemühen sich russische Re-dakteure um möglichst peppige Schlagzeilen, und sogar Qualitäts-zeitungen wie der Kommersant lockern ihre Berichte mit Allego-rien an Witzen, Komödien und Werbespots auf – laufen dabei aber häu� g auf. „Der Thesaurus der Russen entwickelt sich rasend, die Interessen und Trends wechseln immer schneller“, erklärt Schmel-jowa. Was ein 30-jähriger Redak-teur zum Brüllen � ndet, kann der 25-jährige Leser häu� g nicht ein-ordnen, weil er die Realien von vor zehn Jahren nicht mehr kennt: „Um heute eine Nachricht zu er-zählen, muss man sie nicht mehr in Witze umkodieren. Eine Nach-richt ist einfach nur noch eine Nachricht.“Mit anderen Worten: Qualitatives Witzeerzählen ist aus der Mode gekommen. Wer lachen will, schal-tet auf Comedy im Fernsehen oder schaut sich im Internet Photoshop-Parodien und Kurzvideos an. Witze werden weniger häufig mündlich vorgetragen, einen fes-ten Platz haben sie dagegen in Boulevardgazetten oder auf In-ternetforen. Die „nicht publizier-te“ Anekdote hat schriftliche Form angenommen – und ihre ursprüng-liche Scharfsinnigkeit eingebüßt. „Irgendwann sinken unsere Witze auf das gleiche Niveau wie die europäischen“, sagt die Witzefor-scherin. „Und ich finde das ein wenig schade.“

Lachen ist gesund: Dmitri Medwedjew in seiner Residenz mit „Comedy-Club“-Darstellern Igor Charlamow und Timur Batrutdinow

Der Komiker Nikolaj Kulikow setzt auf Individualismus.

Vielfaches im Vergleich zu den Einkommen der Bevölkerung im Kaukasus und in Mittelasien. Das spiegelte sich auch im Humor wider. Im Herbst 2006 ging die Fernsehshow „Nascha Russia“ (Unser Russland) an den Start. Helden und Idole der Show sind die zwei Figuren Rawschan und Dschamschut.Die beiden sind „Gastarbajter“, die vornehme Wohnungen der wohlhabenden Russen renovieren – ein selbstironischer Verweis auf den Renovierungshype Anfang der 90er-Jahre, als die Leute be-gannen, ihre Sowjetwohnungen auf westlichen Standard zu trim-men – ein Prozess, der bis heute anhält. Die Running Gags basieren auf ein und demselben Prinzip: Zwei nicht allzu gescheite Billigarbei-ter haben ihre Probleme mit der russischen Realität, da sie die Sprache kaum beherrschen und nicht verstehen, was ihnen ihr rus-sischer Bauleiter sagt. Sie packen ihre Frühstücksstullen auf einem teuren Flügel aus oder bemalen den LCD-Fernseher, als ihnen auf-getragen wird, das Zimmer zu streichen. Der kulturelle Kanon des grobschlächtigen russischen Bauleiters stößt auf den kulturel-len Kanon zweier unbeholfener Migranten aus Mittelasien. Der Gegensatz produziert Lacher am laufenden Band.Dieses Lachen bringt jene den Russen näher, die still und un-bemerkt auf ihren Baustellen ar-beiten: „Nascha Russia“ ist die wichtigste Quelle, aus der die Be-völkerung ihre Vorstellung über das Leben der Fremdarbeiter schöpft, wobei Rawschan und Dschamschut absolut positive, sympathische und sogar rühren-de Figuren sind.

Russische Stand-up-ComedyAllerdings lässt die Popularität von „Nascha Russia“ bereits nach, und nun sind es die Einzelkämp-fer-Comedians, die angesagt sind. „Du wirst in Russland immer zur Teamarbeit erzogen“, sagt Niko-

laj Kulikow. „Du kommst zum ‚KWN‘, wenn du 14 bis 15 Jahre alt bist, und dein Team beginnt, dich zu formen. Dir wird gesagt, welche Gags etwas taugen und welche nicht. Du kannst deine ei-genen Gags nicht ausprobieren, weil deine Kameraden dir erklä-ren: ,Wir kennen diese Halle, wir kennen das Publikum – glaub uns, das kommt hier nicht an!‘“Kulikow gehört bereits zur neuen Generation der Comedians. Er tritt als Solist auf. Er scherzt über sein Privatleben – über das komplizier-te Verhältnis zu seinem Vater, darüber, wie er Silvester zusam-men mit seiner Freundin deren Asthmaanfall übersteht. Die Zu-schauer lachen.Kulikows Stärke liegt in seiner Ehrlichkeit. Die russische Stand-up-Comedy der letzten Jahre stellt keinen Abklatsch westlicher For-mate dar, sondern ist eine voll-kommen neuartige Erscheinung. Sie ist weniger ein Genre, als ein Fertigungsrezept für Humor, den alle verstehen, der aber von einer konkreten Person stammt und nicht von einer Institution. Und dieser in den letzten Jahren in Russland aufgekommene und auf Autoren bezogene Ansatz ist ein positiver Trend. In allen Berei-chen, nicht nur im Humor. Im Humor ist er einfach nur leichter zu spüren.

Goldener Pott für Glamourgirls

Die beiden tadschikischen Fremd-arbeiter Rawschan und Dscham-schut, Helden aus der Comedy-serie „Nascha Russia“, treiben den russischen Bauleiter in jeder Folge aufs Neue in den Wahnsinn. In diesem Fall sollten sie ein gol-denes Klosett in der Wohnung des Glamourgirls Ksenija Sobt-schak installieren. Stattdessen aber haben sie einen Teil des Goldes eingeschmolzen – und Dschamschut daraus ein neues Gebiss gebastelt.

PRES

SEB

ILD

ITA

R-T

ASS

ITA

R-T

ASS

Page 8: Russland HEUTE

8 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUGesellschaft

Umwelt Bei Murmansk entsteht ein Entsorgungszentrum für ausrangierte Schiffe der Nordmeerflotte

DIANA LAARZFÜR RUSSLAND HEUTE

Mit deutscher Technologie und Geld aus Berlin wird auf der Kola-Halbinsel bei Murmansk die atomare Nordmeerflotte beerdigt. 2014 soll das Projekt abgeschlossen werden.

Detlef Mietann kann sich noch sehr gut erinnern, wie das war, im warmen deutschen Herbst 2003. Da landete er zum ersten Mal in Murmansk, 250 Kilometer über dem Polarkreis. Schnee-sturm. Minus 15 Grad. Auf dem Weg in die Saida-Bucht sah er Hügel, Felsen, Ruinen von Bara-cken. Vor der Küste dümpelten um die 50 rostige U-Boote, von denen niemand zu sagen wagte, wie sehr sie radioaktiv strahlen. Es koste-te selbst einen Experten wie Mie-tann viel Fantasie, sich vorzustel-len, dass man diese trostlose Ge-gend umkrempeln könnte. Und trotzdem haben sie es getan.

Reaktoren in ContainernDie Kola-Halbinsel im Norden Russlands, Standort der Nord-meer� otte, ist weltweit die Regi-on mit der höchsten Konzentra-tion von Atomreaktoren. Viele von ihnen sind Altlasten, notdürftig gesichert, vergessen. Doch in der Saida-Bucht tut sich was. Ge-rade ist der Rohbau einer über 10 000 Quadratmeter großen Halle fertig geworden. Drinnen laufen schon die Kräne an Schienen an der Decke. Nebenan lagern 47 zy-linderförmige Container, jeder groß wie ein Einfamilienhaus, auf einer dicken Betonplatte. Das bleibt übrig, wenn ein Atom-U-Boot abgewrackt wird: ein Teil des Rumpfes, die Reaktorsektion, jede beinhaltet im Schnitt zwei Reaktorhüllen.

Es dauert noch Jahrzehnte, bis die Radioaktivität so weit abgeklun-gen ist, dass Menschen die Sekti-onen von Hand zerlegen können. Bis dahin liegen sie auf einem U-Boot-Friedhof, der mit deut-schen Geldern � nanziert wurde. Mietann leitet das Projekt auf deutscher Seite. Zuletzt hat er in der Saida-Bucht ermutigende Be-obachtungen gemacht: Möwen, Wildenten und Robben. Die Natur erobert sich Erde zurück, die als verloren galt.2003 schlossen das deutsche Wirt-schafts- und das russische Atom-energieministerium ein Abkom-men. Der Inhalt: Deutschland hilft Russland bei der Entsorgung der stillgelegten Nordmeer� otte. Rus-sische und deutsche Firmen bauen das Lager für die Reaktorsektio-nen, einen Dockanleger, Straßen und Wachtürme, sie holen Schiffs-wracks aus der Saida-Bucht und rüsten die Nerpa-Werft techno-logisch auf. Kurz: Deutschland liefert die nötige Infrastruktur, Russland entsorgt die radioakti-ven Abfälle. Projektmittel aus Ber-lin: 600 Millionen Euro. Das deutsch-russische Abkommen gehört zu einer Initiative der G8-Staaten, die 2002 beschlossen, 20 Milliarden Dollar bereitzustel-len, um die atomaren Altlasten des Kalten Krieges zu beseitigen. Es ist ein Abrüstungsprojekt, das unter anderem verhindern soll, dass radioaktives Material in die Hände von Terroristen fällt oder in die Umwelt gerät.Diese Gefahr war in Russland be-sonders hoch: Über 200 Atom-U-Boote soll die Sowjetmarine besessen haben. Als die Sowjet-union zusammenbrach, ver� el die Flotte, die U-Boote wurden zu tickenden Zeitbomben. Ein Trans-portschiff mit radioaktivem Ab-

Eine Flotte für den NordatlantikDie russische Nordflotte (auch Rot-banner-Nordflotte genannt) wurde im Jahr 1933 aufgestellt und kam erst-mals im Winterkrieg gegen Finnland (1939/40) zum Einsatz. Im Kalten Krieg wurde sie zur wichtigsten und größten russischen Flotte ausgebaut: Ihre Schiffe sollten im Kriegsfall die US Navy im Nordatlantik bekämpfen. Ab Ende der 50er-Jahre baute die Sowjetunion hier ihre Atom-U-Boot-Flotte auf. Trotz der Abrüstung nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Nordflotte auch heute der stärkste Verband der russischen Marine. Hauptstützpunkt ist die Stadt Sewero-morsk, daneben verfügt sie über sechs weitere Basen und Werften.

3�500�000�000Rubel, etwa 90 Millionen Euro, sind im russischen Budget bis zum Jahr 2020 alljährlich für die Entsorgung des nukle-aren Erbes der Marine eingeplant.

100U-Boot-Sektionen sind noch für die Lagerung in der Saida-Bucht bei Murmansk vorgesehen.

ZAHLEN

Das russische Bergungsboot „Transschelf“ bringt zwei ausrangierte Atom-U-Boote zur Abwrackung nach Murmansk (oben), ihre Reaktorsektionen werden im Lager in der Saida-Bucht (links) eingebettet.

Letzte Ruhestätte für Atommüll

fall sank mit voller Ladung, Ser-viceschiffe wurden mit Absicht versenkt, in den Häfen rosteten die U-Boote. Vor der Arktis-Insel Nowaja Semlja sollen 20 000 Con-tainer mit radioaktivem Abfall auf dem Meeresgrund liegen. Etwa 100 U-Boot-Sektionen sind noch für die Lagerung in der Saida-

Bucht vorgesehen. Sie liegen an den Piers der Saida-Bucht, in der nahen Nerpa-Werft oder in ande-ren Buchten der Kola-Halbinsel. Von den 600 Millionen Euro, die Deutschland einst versprochen hat, sind inzwischen rund 440 Mil-lionen Euro ausgegeben. Auf deut-

scher Seite leiten die Energiewer-ke Nord (EWN) das Projekt: EWN sammelte bei der Stilllegung der Kernkraftwerke Greifswald-Lub-min und Rheinsberg Erfahrun-gen. Für den Auftrag in Russland dienten die Projekte als Blaupau-se, mussten jedoch angepasst wer-den. In der Saida-Bucht herrscht sechs Monate im Jahr Winter mit Temperaturen bis zu minus 40 Grad.

Neues EntsorgungszentrumDie Errichtung des Langzeitla-gers für die Reaktorsektionen ist abgeschlossen. Nun beschäftigen sich Mietann und seine Kollegen vom Moskauer Kurtschatow-In-stitut für Kernforschung mit einer neuen Aufgabe. Bis Ende 2014 soll in der Bucht ein Entsorgungszen-trum für radioaktive Abfälle ent-stehen. Alle strahlenden Materi-alien, die bei der Stilllegung der Flotte anfallen, können dann in unmittelbarer Nähe des Zwi-schenlagers zerschnitten, dekon-taminiert und verpackt werden. Bis zur Fertigstellung der neuen Zerlegehalle ist die Nerpa-Werft der einzige Ort, an dem die Re-aktorsektionen zur Lagerung vor-bereitet werden können.Das ist einer der Schwachpunkte in der Entsorgungskette. Die Werft hat laut Mietann genügend Ka-pazität, um zwölf U-Boote im Jahr abzuwracken, in der Tat sind es aber nur sieben pro Jahr. Der Umbau eines einzelnen U-Bootes kostet viel Geld, etwa vier bis fünf Millionen Euro. Der russische

Staat gibt pro Jahr über die Atom-agentur Rosatom 3,5 Milliarden Rubel (90 Millionen Euro) für die Entsorgung des nuklearen Erbes der Marine aus – nach Meinung der westlichen Partner viel zu wenig: Ab und an � nanzieren des-halb auch Länder wie Norwegen und Italien ein Projekt.Die Agentur habe den Entsor-gungsauftrag angenommen, er-klärt ein Rosatom-Sprecher, weil diese Arbeit, für die ursprünglich das Verteidigungsministerium zu-ständig war, nur träge voranging. „Außerdem ist dieser Müll ein gemeinsames Erbe des Kalten Krieges, es müssen alle mit anpa-cken – Russen wie Europäer.“ Deutschland hat bislang die Kon-servierung von 20 Reaktorsekti-onen bezahlt. „Die Technologie ist inzwischen bekannt, das ist Ar-beit vom Fließband“, sagt Mietann, „da soll Russland sich jetzt mal strecken.“ Detlef Mietann ist 58 Jahre alt. Er selbst sagt, er sei im Kernkraft-werk Lubmin groß geworden. Vor 30 Jahren, als er zum ersten Mal in unmmittelbarer Nähe eines Kernreaktors stand, hatte er noch großen Respekt vor der Strahlung. Diese Furcht ist dem Wissen ge-wichen. Und dem Vertrauen in die eingehaltenen Grenzwerte. In der Saida-Bucht sind sie schon seit mehreren Jahren unterschritten. Neulich hat Detlef Mietann den Robben beim Tauchen zugesehen. 2003, in jenem kalten russischen Herbst, wäre das noch undenk-bar gewesen.

Als die Sowjetunion zusammenbrach, verfiel auch die Flotte. Die U-Boote wurden zu tickenden Zeitbomben.

PRESSEB

ILD

© WITALIJ ANKOW_RIA NOVOSTI

© M

OC

HA

I FO

MIS

CH

OW

_RIA

NO

VO

STI

Page 9: Russland HEUTE

9RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Reisen

Hier könnte eine Anzeige stehen.

Ihre.Anzeigenannahme

+7 495 775 31 [email protected]

russland-heute.de/abo

Newsletter

Entdecken Sie Russland von einer neuen Seite

Jede Woche die besten Geschichten. Kostenlos auf

www.german.ruvr.ru

hört…

Die Frequenzen finden Sie auf

Radio

Stimme Russlands

Buntes Russland:Das Bild des Tages

auf Facebook

www.facebook.com/RusslandHeute

Abenteuer Die Republik Adygeja bietet den bedrohten Bergwisenten Zuflucht – und Wanderern faszinierende Natur

JEWGENIJ PROLYGINRUSSLAND HEUTE

Nein, der Kaukasus ist nicht nur Krisenregion: Im Westen herrscht Frieden, und die vielfältige Natur der kleinen Republik Adygeja lädt dazu ein, entdeckt zu werden.

Wanderer in den Bergen Adyge-jas erleben ein Wechselbad der Vegetationszonen: Gletscher, kan-tige Gipfel und Geröllfelder ganz oben, dicht bewachsene subalpi-ne Wiesen mit Dutzenden ver-schiedenen Blumenarten, dann dichte Nordmanntannen- und Kastanienwälder – und auf der anderen Seite der Berge das Schwarze Meer mit seinem sub-tropischen Klima. Der Westkaukasus ist vielfältig. Und man kann es einen großen Glücksfall nennen, dass die UNESCO im Jahr 1999 ein 300 000 Hektar großes Gebiet zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt hat. Der Grund dafür sind zum einen die über 4000 P� anzenar-ten, die sich hier � nden lassen. Ein anderer ist die faszinierende Tier-welt. Zum Symbol ist ein bis zu drei Meter langer und eine Tonne schwerer Koloss mit braunem, zot-teligen Fell geworden: das kau-kasische Bergwisent.Dass dieses schützenswert ist, erkannte 1888 schon Zar Alexan-der III.: Die gerade erst entdeck-ten und doch vom Aussterben be-drohten Bergwisente hatten es ihm angetan, und zu ihrem Schutz be-rief er sogar einen österreichischen Förster in den Kaukasus. In den Wirren von Revolution und Bür-gerkrieg landete das letzte Wisent jedoch 1927 im Kochtopf, aber zum großen Glück europäischer Zoo-logen hatte auf der fernen Boit-zenburg bei Berlin der Stier „Kau-kasus“ überlebt. Nikolaus II. hatte ihn 1908 dem Naturforscher Carl Hagenbeck überlassen. Bis zu sei-nem Ableben zeugte jener „Kau-kasus“ sieben Kälber, die 1940 in ihre Heimat zurückgebracht wur-den. Mitte der 80er-Jahre grasten im Schatten des Gebirges wieder 1500 Exemplare, doch Gorbat-schows Perestroika ließ den Hun-ger der Wilderer wachsen: Um das Jahr 2000 waren nur noch 135 Tiere am Leben. Inzwischen ist

Fahrten ab drei Kilometer an, der Canyon des steinigen Gebirgs� us-ses kann aber auf 17 Kilometern befahren werden – und bietet meh-rere Stellen mit der höchsten Schwierigkeitsstufe. Wer es gern etwas trockener und gemütlicher hat, sollte mit dem Mountainbike in Richtung der bis zu 3200 Meter hohen Berge auf-brechen oder einfach seine Wan-derschuhe schnüren. Zwar gibt es auch eintägige Touren, etwa auf dem Plateau „Lagonaki“, doch um wirklich unberührte Natur zu � n-den, muss man schon mehrere Tage einplanen. Besonders reiz-voll ist eine Wanderung durch den Naturpark „Bolschoi Tchatsch“ oder die berühmte 30er-Tour vor-bei an den gewaltigen Bergen Fischt und Oschten zum Schwar-zen Meer. Teilweise muss man sich mit den Pfaden der Wildtiere und Berghüter begnügen, weshalb es empfehlenswert ist, einen örtli-chen Bergführer mitzunehmen.Für Lauffaule gibt es eine Alter-native der besonderen Art zu Wan-derschuh und schwerem Rucksack: das Pferd. In mehreren Tagen geht es über Bergkämme nach Dago-mys am Schwarzen Meer oder Krasnaja Poljana – wo 2014 die Olympischen Spiele statt� nden.

Action für Aktivurlauber: In Adygeja kann man Mountainbiken, Wild-wasserfahren oder in freier Natur seltene Vogelarten beobachten.

Westkaukasus: auf der Suche nach Adlern und Adrenalin

� oß und untergeschnallten Auto-schläuchen „bezwungen“. In den letzten Jahren hat sich Adygeja zu einem der wichtigsten Rafting-gebiete Russlands entwickelt: Ver-anstalter bieten für Anfänger

die Zahl wieder auf 550 angewach-sen. Damit jene Wisente, aber auch Braunbären, Steinadler und Stein-böcke, nicht erneut Wilderern zum Opfer fallen, unterstützt der deut-sche Naturschutzbund (NABU)

den Nationalpark bei der Entwick-lung des Ökotourismus.Wer Nervenkitzel sucht, kann auf dem Belaja Reka raften gehen. Der Weiße Fluss wurde erstmals in den 60er-Jahren mit einem Holz-

Anreise Über Moskau mit dem Flug-zeug nach Krasnodar, von dort mit dem Taxi nach

Majkop, Adygejas Hauptstadt, oder direkt in den Naturpark. Reiseveran-stalter bieten üblicherweise einen Transfer ab Krasnodar an. Wer über die Berge zum Schwarzen Meer wan-dert, kann vom Flughafen Sotschi/Adler zurückfliegen (z.B. mit den Aus-trian Airlines nach Wien).

UnterkunftAuf dem Weg zum Lagonaki-Plateau bietet das „Gornoje Nastrojenie“ eine großartige

Aussichtsplattform. Eine Übersicht der Unterkünfte in der Gegend findet sich auf www.lagonaki.ru. Die Hotels sind meist einfach, aber sauber. Im Natur-schutzgebiet selbst übernachtet man in Holzhütten. Wunderschön gelegen ist die Schutzhütte „Fischt“ am Fuße des gleichnamigen Berges.

Essen & Trinken Der Kaukasus ist bekannt für seine ausgezeichnete Küche: Besonders gut genießen las-

sen sich Schaschlik, Dolma, frische To-maten, Kräuter und ein Gläschen Wodka an der frischen Luft. Ein äu-ßerst idyllischer Ort ist ein Restaurant an der Straße von Maikop zum Pla-teau Lagonaki: Hier sitzt man in klei-nen, hölzernen Hütten, rundherum die ersten Zweitausender des Kaukasus.

Schulz Aktiv Reisen (www.schulz-aktiv-reisen.de) bietet im Juli Trekking-Touren zum Fischt/Oschten (und weiter zum Schwarzen Meer) sowie zum Großen Tchatsch an. Unter www.nabu.de/downloads/inter-national/Adygea_ITB.pdf kann man ei-nen Prospekt der NABU zu Adygeja herunterladen.

INFO

PRESSEBILD (4)

Page 10: Russland HEUTE

10 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUMeinung

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail [email protected]

Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow;Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa;Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 FriedrichshafenCopyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehaltenAufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion

Sagen Sie uns die Meinung: [email protected]

Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht

die Meinung der Redaktion dar.

Der Ulenspiegel

ZEITZEUGE

Die meisten Deutschen ken-nen das, im Ausland als Nazis angesprochen zu

werden. Bei mir passierte es in Frankreich, Anfang der Siebzi-ger. In England gehört German Bashing zur Folklore, selbst Schweizer und Italiener schwin-gen bisweilen die Nazikeule. Wie die große Mehrheit der Deut-schen lehne ich den Nazionalso-zialismus ab und verurteile den Zweiten Weltkrieg. Aber bei allen Bekenntnissen, dieses Ka-pitel niemals zu vergessen: Manchmal wünsche ich mir schon, ich würde etwas seltener daran erinnert. Vor allem aus dem Ausland. Viele Deutsche blicken in diesen Tagen mit Erstaunen auf Russ-land. „Die können es auch nicht lassen, berauschen sich an Sie-gesparaden.“ So oder ähnlich knurrt manch deutscher Beob-achter, wenn er die Bilder von den Feiern zum „Tag des Sie-ges“ am 9. Mai sieht. Aber wer glaubt, die Erinnerung sei nur von oben verordnet, der irrt. Und eines schwingt bestimmt nicht mit bei der Festtagsfreude: Hass gegen die Deutschen. Wer sich länger in Russland auf-hält, wird zwei Dinge bemerken: Das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer ist noch sehr lebendig, und zwar nicht nur auf staatlicher Ebene, auch in den Familien. Und die Auseinandersetzung mit der Ver-gangenheit wird nicht dazu missbraucht, die Bundesrepu-blik anzufeinden. Im Gegenteil, man versichert Deutschen stets: „Du kannst nichts dafür ...“In Deutschland jedoch ist wenig Verständnis für den ehemaligen Kriegsgegner zu spüren. Man er-innert an Vergewaltigungen durch Rotarmisten, die deutsche Teilung und feiert lieber die Amerikaner als die „einzigen wahren Sieger“. In Russland erzählt man die Ge-schichte dieser Tragödie anders als im Westen. Es geht mir nicht darum, ob diese Sichtweise rich-tiger ist als die uns vertraute. Was uns nicht schaden könnte, wären mehr Wissen und Einfüh-lungsvermögen. Was trug die Sowjetunion zum Sieg über Hit-lerdeutschland bei? Was muss-ten Russen und andere Sowjet-völker ertragen? Warum ist ihnen das Gedenken so wichtig? Sich damit auseinanderzusetzen, ist ergiebiger, als sich die x-te Hol-lywood-Kriegsklamotte reinzu-ziehen – mit vielen doofen deut-schen Knallchargen.

Der Autor ist Experte für rus-sisch-deutsche Spiegelungen.

REFLEKTIERT

Gedenken ohne Hass

RUSSISCH LIGHT MIT EINEM SCHUSS ALTES FEINDBILD

RuthWyneken

THEATEREXPERTIN

Kürzlich erzählte mir ein Ber-liner Taxifahrer von einem US-Amerikaner, der darauf

beharrte, auf der ganzen Welt in seinem leichten, bequemen Sport-dress joggen zu gehen. So auch in Sibirien, bei minus 40 Grad, ohne Kopfbedeckung. Er kam mit er-frorenen Ohren zurück, die am-putiert werden mussten. Schuld war natürlich das „Russen-Hoch“, was denn sonst. Oh, Fernsehmoderator Jörg Tha-deusz hätte dem zugestimmt, be-kannte er sich doch anlässlich der klirrenden Kälte, die Berlin im Januar heimsuchte, in einer Zei-tungskolumne zu seinen Vorur-teilen: „Die Kälte erklärt doch dieses Land. Literaten, die sich mit Aussicht auf kahle Birken in depressive Senken bibberten. Überall unerfüllte Liebe …“ Und so weiter. Die Russen seien jedenfalls auf ewig vor Herrn Thadeusz sicher. Ironie? Nicht ganz gelungen. Ste-reotypen können ja durchaus eine kommunikative Brücke bilden, um andere Kulturen etwas näherzu- bringen oder die eigene heraus-zustellen, doch sollte man sie sehr behutsam einsetzen, sonst bleibt ein unguter Nachgeschmack. Der Korrespondent Boris Tuma-now klagte jüngst in dieser Zei-tung über seine Kollegen: „Der Westen sieht Russland durch die Klischeebrille, ob wohlwollend, negativ oder neutral, aber eben klischeehaft. Hauptsache, es er-fordert keine größeren kognitiven Anstrengungen.“ Werfen wir einen Blick auf die je-weilige Kulturszene. Es gibt deut-sche Theater, da geht es nicht um Kaviar, Balalajka oder so ausge-fallene Phänomene wie das „Rus-sen-Hoch“: Wodka saufende und „druuuschba“ (Freundschaft) stammelnde Sentimentale, die auf Teufel komm raus alle abküssen wollen, reichen aus, um Russen zu charakterisieren. Noch viel po-pulärer aber sind böse Buben, die im Film und bei PC-Spielen Kon-junktur haben, mit hartem Ak-zent „Dawaj, dawaj“ herausquet-schen und eine Knarre in der Hand halten. Ach – mit Wehmut denkt man da an die Tschechow-Inszenierungen der frühen Berliner Schaubühne, deren Sorgfalt sich nicht nur in der Aussprache der Namen, son-dern noch am feinsten Gesang zeigte – und ohne Klischees, aber voll Poesie, eine „russische Welt“ auf die Bühne zauberten. Doch wie werden Deutsche auf russischen Bühnen dargestellt? Keinen Deut besser! Wie oft bin ich erschrocken zusammenge-

zuckt, wenn Deutsche durch selbstzufriedene Fettwänste oder kleinliche, geizige Bürger verkör-pert wurden, die in hartem, krat-zigen Tonfall knarzten.Und im Kino? Jedes russische Kind kennt die Wendungen „Chände choch“ oder „Gitler kaput“. Sie stammen aus Nachkriegs� lmen und wurden von deutschen Fa-schisten mit dickem Akzent ver-breitet. Ausgerechnet aber der populärsten russischen Nach-kriegsserie „17 Augenblicke des Frühlings“ von 1973 verdanken wir ein differenzierteres Bild: Der Held, SS-Standartenführer Max Otto von Stierlitz ist ein sowjeti-scher Spion, der einen gebildeten deutschen Adligen in hohen Na-zikreisen mimt. Ansonsten existierten in russi-schen Köpfen deutsche Faschis-ten einerseits und deutsche Kul-tur andererseits sorgfältig ge-trennt voneinander. Heinrich Böll erst schlug mit seiner Literatur

eine versöhnende Brücke nach Russland, über die Wunden des Zweiten Weltkriegs hinweg – dem kollektiven Trauma unserer bei-der Nationen. Kürzlich aber las ich zwei neue russische Drehbücher und war tief berührt. Da steht die unmögliche Liebe zwischen einem deutschen Soldaten und einer russischen Frau während der Wehrmachts-offensive bei Kursk im Mittel-punkt. Im anderen Buch werden Schicksale traumatisierter deut-scher Soldaten mit denen ihrer russischen Vorgänger in Afgha-nistan verknüpft – eine neue Art von Gemeinschaft, die aus unge-wohnter Perspektive gezeichnet wird. Das macht Hoffnung. Im deutschen Fernsehen aber wur-den unlängst wieder Zerrbilder aufgetischt, dass sich die Balken bogen. Der zweiteilige ARD-Thril-ler „Russisch Roulette“ strotzt vor Unwahrheiten. Ganz zu schwei-gen von den dämlichen Klischees, mit denen die Polizei gezeigt wird oder der allmächtige und sexbe-sessene Oligarch, der immerhin so überzeichnet ist, dass man ihn als Parodie versteht. Kann sich die ARD denn keine Fachberatung leisten? Aber es kommt ja nicht auf Wahrhaftig-keit an. Wie hätte man es denn gerne? Russisch light mit einem Schuss altes Feindbild zum bes-seren Konsumieren? Was bewirkt man mit solchen Zerrbildern, die alte Vorurteile zementieren und neue schaffen? Der polnische Schriftsteller An-drzej Szczypiorski sagte einmal treffend: „Der bessere Mensch ist der Ursprung allen Übels.“ Lei-der trifft man immer wieder

Deutsche, die – das Gefühl der ei-genen Überlegenheit fein unter dem Mantel des Gutmenschen ver-borgen – sehr genau zu wissen meinen, was Russland eigentlich braucht, sich aber weder mit rus-sischer Geschichte noch der ganz anderen Sozialisation auseinan-dersetzen; Besserwisser, die hier und da in dicke Fettnäpfchen tap-sen und es dann nicht einmal merken! Da lob ich mir die neue Verfil-mung vom „Faust“. Regisseur Ale-xander Sokurow hat darin so ganz nebenbei in der mittelalterlichen deutschen Enge ein paar gegen-seitige Klischees auf die Schippe genommen: Eine Kutsche fährt durch den Wald, sie ist auf dem Weg nach Paris, dem traditionel-len Mekka der Russen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Faust steigt mit Mephisto ein – und hält sich prustend die Nase zu: Im Wagen sitzt ein ungewaschener Russe. Mephisto wiederum äußert sich en passant zur deutschen Spra-che, sie sei ja wirklich fast eine Zumutung. Russlands Dichtergenie Alexan-der Puschkin re� ektierte einst, dass Russlands Steppen und Sümpfe den Mongolensturm an der Schwelle Europas zum Ste-hen gebracht und damit die euro-päische Aufklärung gerettet hät-ten, „aber“, schrieb er, „Europa war, was Russland betrifft, eben-so ignorant wie undankbar.“ Wie wär’s, wenn wir diese Ignoranz mal fallen ließen und etwas ge-nauer hinschauten?

Ruth Wyneken schreibt über Literatur und Theater. Sie lebte viele Jahre in Sankt Petersburg.

Der Thriller „Russisch Roulette“, ein Zweiteiler, den die ARD im Januar ausstrahlte, strotzt vor dämlichen Klischees.

Ausgerechnet der populärsten russischen Nachkriegsserie von 1973 verdanken wir ein differenzierteres Bild.

Humor 2.0: Im Kreativwettbewerb gestaltete der Blogger partizan74 die Karte eines Rollenspiels um. Seine Bärenkavalerie nimmt die typischen Russlandstereotypen im Westen aufs Korn

NIK

OLA

I DIC

HTJ

AR

JEN

KO

Page 11: Russland HEUTE

11RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Feuilleton

KULTUR-KALENDER

FESTMUSEUMSFEST8. MAI, BERLIN-KARLSHORST,DEUTSCH-RUSSISCHES MUSEUM

Vor 67 Jahren wurde in Berlin-Karlshorst die Kapitulation unter-zeichnet. Wie jedes Jahr lädt das Museum am 8. Mai zu Gedenken, Lesung und zum Feiern. Abends spielen Trio Scho und die Bolsche-wistische Kurkapelle Rot-Schwarz auf.

museum-karlshorst.de ›

KONFERENZDER LANGE ABSCHIED VOM TOTALITÄREN ERBE 11.-12. MAI, EICHSTÄTT, KATHOLISCHE UNIVERSITÄT EICHSTÄTT-INGOLSTADT

Die deutsche Vergangenheitsbewälti-gung nach 1945 gilt trotz aller Mängel als vorbildhaft. Warum Polen und Russen „ihr“ totalitäres Erbe ganz an-ders aufarbeiten, darüber diskutieren Historiker auf dieser Tagung.

ku.de/forschungseinr/zimos/tagung/ ›

AUSSTELLUNGBAUMEISTER DER REVOLUTION – SOWJETISCHE KUNST UND ARCHITEKTUR 1915-1935 BIS 9. JULI, BERLIN, MARTIN-GROPIUS-BAU

In den 20ern blühte in der Sowjetuni-on die avantgardistische Architektur – und geriet dann in Vergessenheit. Illustriert wird die Schau mit Bildern von Richard Pare, der seit 1993 die Überreste dieser Zeit dokumentiert.

berlinerfestspiele.de ›

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUFRUSSLAND-HEUTE.DE

empfiehlt

KINO

Allein auf weiter FlurDer Spion, der sie linkte

Kultserie Ein russischer Geheimagent spielt Nazischergen gegeneinander aus

KARSTEN PACKEISERFÜR RUSSLAND HEUTE

Jedes Jahr, wenn ganz Russland am 9. Mai den „Tag des Sieges“ feiert, steht das Fernsehpro-gramm schon lange fest: die nächste Wiederholung von „17 Augenblicke des Frühlings“.

Keine andere sowjetische Fern-sehserie ist selbst vier Jahrzehn-te nach der Erstausstrahlung auch nur annähernd so populär wie der Zwölfteiler, der die Abenteuer eines russischen Agenten im Früh-jahr 1945 erzählt. „Ein echter Arier. Nordischer, entschlossener Charakter“, heißt es in der ma-kellosen Kaderakte des SS-Stan-dartenführers Max Otto von Stier-litz. Dass Stierlitz in Wirklichkeit Maxim Issajew heißt und im Dienst des Kremls steht, ahnen die Nazis zunächst noch nicht.

SS-Mann im Dienst des KremlsDie Handlung der Serie basiert teils auf historischen Ereignissen. Ein Roman von Julian Semjonow diente als Vorlage: Als das Dritte Reich im Frühjahr 1945 in den letzten Zügen liegt und in Berlin bereits der Artilleriedonner von den Kämpfen an der Oder zu hören ist, erfüllt Issajew alias Stierlitz eine heikle Aufgabe. Er soll her-aus� nden, wer in Hitlers Umfeld Geheimverhandlungen mit den Westalliierten begonnen hat, und verhindern, dass das Dritte Reich sich mit Briten und Amerikanern auf einen Separatfrieden einigt.

Mit Joachim Król, der in „Wir können auch anders“ und in „Zugvögel ... Einmal nach Inari“ schon wunderbar skurrile Typen mit lakonischem Humor spielte, hat sich Minu Barati, Drehbuch-autorin und Produzentin von „Ausgerechnet Sibirien“, genau den Richtigen ausgewählt, um die Rolle des pedantischen Mat-thias Bleuel, Logistiker eines Modeversandhandels aus Lever-kusen, zu verkörpern.Der Film ist eine anrührende, zauberhaft poetische Erzählung, die auf Michael Ebmeyers Roman „Der Neuling“ basiert und vor-wiegend mit russischen Schau-spielern besetzt ist. Koprodu-zenten sind Skady Lis („Alles auf Zucker“) und der vielfach ausgezeichnete russische Film-unternehmer Sergey Selyanov („Der Mongole“).Król, alias Bleuel, reist mit Dau-nenmantel, Desinfektionsmittel und Pfefferspray gerüstet nach Kemerowo in Südsibirien, um die dortige Firmen� liale com-putermäßig auf Vordermann zu bringen. Doch ohne jede Sprach-kenntnis bleibt er schon in Nowosibirsk stecken. Sein Wei-ter� ug wird gestrichen. Wie ein Deus ex machina er-scheint sein ehemaliger Schul-freund (Armin Rohde) und hilft ihm aus der Patsche. Was als Ge-schäftsreise begann, wird zum Abenteuer. Denn im fernen Sibirien, dessen Schönheit in großformatigem CinemaScope erst zur Wirkung kommt, ver-fällt unser Handlungsreisender dem betörenden Gesang Saja-nas (Yulya Men), die den linki-schen Fremden durch ihre Warmherzigkeit in einen begeis-terungsfähigen Menschen ver-wandelt, der in diesem Land eine neue Heimat � ndet.

Angelika Kettelhack

Regie: Ralf Huettner. Ab dem 10. Mai im Kino

Der SS-Mann im Dienste des Kremls spielt dazu verschiedene Nazigrößen geschickt gegenei-nander aus. In den 70er-Jahren war „17 Au-genblicke des Frühlings“ eine der wenigen ausländischen Filmpro-duktionen, die über den Krieg er-zählen, die Deutschen aber nicht als anonyme Feinde und die Na-ziführer nicht als eindimensiona-le, brutale Monster darstellen. Re-gisseurin Tatjana Liosnowa zeich-nete ein genaues Bild jedes einzelnen Charakters mit all sei-nen seelischen Abgründen. Auch die deutschen Hitler-Gegner wer-den in der Serie gewürdigt, und zwar keineswegs – wie bei einer Produktion aus der UdSSR zu ver-muten wäre – nur in Gestalt von

Kommunisten. Als Vorzeigewi-derstandskämpfer steht dem sowjetischen Agenten ausgerech-net ein mutiger Pastor zur Seite.

Kein russischer James BondSchon bei der Erstaufführung 1973 waren die Straßen Moskaus wie leergefegt. Egal, ob das schwarz-weiße Original oder eine umstrittene, nachträglich entstan-dene Farbversion der Serie gezeigt wird: Bis heute schalten Millio-nen Menschen ein. Vom DDR-Fernsehen der Vorwen-dezeit abgesehen, ist die Serie den-noch nie in Deutschland gezeigt worden. Das mag daran liegen, dass Stierlitz eben kein russischer James Bond ist. Obwohl Oberst Issajew seine Frau vor Jahren in

der Sowjetunion zurücklassen musste, leistet er sich noch nicht einmal eine Geliebte. Die Serie setzt auf Anspruch statt Action: Es gibt keine wilden Verfolgungs-jagden, Schießereien oder Explo-sionen, wie sie in westlichen Agen-ten� lmen zum P� ichtprogramm gehören würden, stattdessen immer wieder lange Besprechun-gen in den Dienstzimmern des Spi-onagechefs Walter Schellenberg oder des Chefs der Sicherheits-polizei Ernst Kaltenbrunner, in denen die Nazibonzen – hinter schweren Fenstervorhängen – die Zeit nach dem Untergang planen.

Geschickt kommuniziertMehrfach steht Stierlitz kurz vor der Enttarnung, aber immer im letzten Augenblick kann sich der sowjetische Meisteragent mit ge-schickten Ausreden retten. Auch die vielen minutenlangen Nahauf-nahmen des schweigenden Hel-den, in denen lediglich die Stim-me von Hintergrunderzähler E� m Kopeljan zu hören ist, mindern die Spannung nicht. Auch heute noch stockt den Russen jedes Mal der Atem an jener Stelle, als Gestapochef Müller Verdacht ge-schöpft hat, dass sein Vertrauter ein falsches Spiel spielen könnte, und dem sowjetischen Agenten die legendären Worte nachruft: „Und Sie, Stierlitz, bitte ich, noch zu bleiben.“ Kremlchef Wladimir Putin, einst selbst für den KGB an der un-sichtbaren Front tätig, überreich-te dem Hauptdarsteller Wjatsches-law Tichonow zum 75. Geburts-tag den Verdienstorden um das Vaterland. Die noch größere Aus-zeichnung für Tichonow, der 2009 im Alter von 81 Jahren starb, ist aber vielleicht, dass Stierlitz durch unzählige Anekdoten und ge� ü-gelte Worte zur Legende gewor-den ist.

Ein Standartenführer als Witzfi gurDer Volksmund hat Hunderte von Wit-zen über Agent Stierlitz erdacht, ob-wohl die Serie an sich alles andere als komisch ist. Typisch für viele Stierlitz-Witze sind unübersetzbare Wortspiele. Andere machen sich sowohl darüber lustig, dass die Nazis Stierlitz nicht enttarnen können, als auch darüber, dass der Meisteragent der Sowjets sich wenig konspirativ verhält: „Die Lage in Berlin war so schlimm geworden, dass sich selbst in der Reichskanzlei lange Schlangen bildeten, wenn dort Wurst verkauft wurde“, heißt es in einem ty-

pischen Witz. „Alle warteten gedul-dig, allein Stierlitz drängelte sich jedes Mal grob an der Schlange vorbei, was die Gestapoleute unheimlich aufregte. Sie konnten noch nicht wissen, dass Helden der Sowjetunion immer außer der Reihe bedient werden.“ Auch die kühle, geniale Kombinati-onsgabe des Geheimagenten wird von den Russen gerne ins Groteske gesteigert, zum Beispiel so: Gestapo-chef Müller schaute aus dem Fenster und sah, wie Stierlitz eilig aus der Ge-heimpolizeizentrale fortlief. „Wohin geht er bloß?“, dachte Müller. „Das

geht dich einen feuchten Dreck an“, dachte Stierlitz zurück. Allerdings müssen die Russen auch über die historischen Fehler in der echten Serie schmunzeln. Und von denen gibt es eine ganze Reihe. So stammen nicht nur die sanitären Anlagen und die Wanduhren in der Gestapozentrale sowie die Motorräder der Nazis erkennbar aus sowjetischer Produktion. Auch hört der Hauptdar-steller im Autoradio ausgerechnet den lange nach Kriegsende aufge-nommenen Edith-Piaf-Chanson „Milord“. Für die echten Fans machen derlei kleinere Missgeschicke die „17 Augenblicke des Frühlings“ allerdings eher noch sympathischer.

„Und Sie, Stierlitz, bitte ich noch zu bleiben.“: Noch immer stockt russischen Zuschauern der Atem, wenn Gestapochef Müller (Leonid Bronewoj) Verdacht gegen Stierlitz (Wjatscheslaw Tichonow) schöpft.

© R

IA N

OV

OSTI

Page 12: Russland HEUTE

12 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPorträt

Thema des Monats – Fußball-EM 2012 6. Juni 2012Was die russische National-Elf in der Ukraine zeigen will

MICHAEL C. HERMANNFÜR RUSSLAND HEUTE

In Moskau geboren, in Freiburg und Stuttgart aufgewachsen, glänzt der Urenkel des Dissidenten Lew Kopelew heute auf Kleinkunstbühnen mit russisch-deutscher Realsatire.

Die Gitarre hängt lässig über der Schulter, die Lippen sind ganz nah am Mikro, die Finger sausen ra-send schnell über das Minimisch-pult, aus einem Büchlein rezitiert er handschriftlich geschriebene Texte – ein paar Akkorde, zuge-spielte Audioclips, zwischendrin der Rücktritt von Wulff im Ori-ginalton. Alles muss passen. Alles ist auf den Bruchteil einer Sekun-de abgestimmt.„Der einzige nichttrinkende Russe der Welt ist zwar in Moskau ge-boren, aber er ist die größte Kar-toffel, die du dir vorstellen kannst. Sauber, politisch korrekt, enga-giert und an Fernreisen interes-siert“, so stellt Nikita Gorbunov sich im Internet vor.Das, was der 28-Jährige auf der Bühne macht, ist schwer zu beschreiben. Er ist ein russisch-deutscher Tontechnik-Hörspiel-HipHop-Rapper-Poetry-Slam-Liedermacher aus Stuttgart und aus Moskau. Seine Themen: Alles, was junge Leute und ihn beschäf-tigt. In seinen Stücken fügt er zu-sammen, was de� nitiv nicht zu-sammengehört. An nicht wenigen Stellen seiner Show würde im öf-fentlich-rechtlichen Fernsehen ein

„Ich bin die größte Kartoffel, die man sich vorstellen kann“

Kabarett Ein russisch-deutscher Poetry-Slammer macht Integrationskabarett für jugendliche Migranten

diskreter Piepton bei 800 Hertz zu hören sein. Provokationen des Publikums sind ein Markenzei-chen des Moskowiters: „Ich bin doch nur un� ätig. Ich habe Spaß an Schimpfwörtern. Manchmal rutscht mir so ein Wort wie … raus.“ Wieder ein Piepton bei 800 Hertz. „Aber ich � nde nicht, dass ich Grenzen überschreite.“Gelacht wird bei Gorbunovs Auf-tritten viel. Mancher Zuschauer schweigt aber bis zuletzt, ist irri-tiert, versucht zu verstehen, was da auf der Bühne eigentlich vor sich geht, was das eigentlich ist, was Gorbunov macht. Ob man Russe sein muss, um den auf Deutsch vorgetragenen Humor des Künstlers zu verstehen?Da ist zum Beispiel die Geschich-te von Frau Pfeifer. Sie wohnt am Stuttgarter Feuersee, ist schon ziemlich alt, schrullig, ohne Fa-milie und Freunde. Der demogra-� sche Wandel lässt grüßen, der P� egenotstand auch. In Gorbu-novs Geschichte beschäftigt Frau Pfeifer einen P� egeroboter. „Sie sitzen nun schon anderthalb Stun-den in Ihrem Rollstuhl, Frau Pfei-fer“, sagt der P� egeroboter mit blecherner vorproduzierter Com-puterstimme. „Sie müssen einen Spaziergang machen, Frau Pfei-fer.“ Die Geschichte ist surreal und mit einer großen Portion schwarzem Humor gespickt. Auch als die alte Dame schließlich tot aus dem Haus getragen wird, wie-derholt der Roboter hartnäckig sein Kommando: „Sie haben sich

wandert. Warum? „Weil alle ge-gangen sind.“ Noch am Flugha-fen dachte der kleine Nikita, es gehe in den Urlaub. Das Urlaubs-ziel wurde zur neuen Heimat, Aachen, Freiburg und Stuttgart zu Stationen seiner Familie. Brü-che in der Biogra� e gehören auch dazu. „Meine Leute waren nicht gerade systemkonform“, sagt Gor-bunov: „Aber ich glaube nicht, dass sich so etwas vererbt.“Deutsch spricht er absolut akzent-frei, Russisch auch nicht schlech-ter. Manchmal fällt ihm ein russisches Wort nicht ein, im Rus-sischen gibt es ja sehr viel mehr Wörter als im Deutschen. Was wäre, wenn er seine Show auf Russisch machen würde? „Ich denke, Humor ist universell. Ver-gleiche zwischen deutschem, eng-lischem und russischem Humor sind unpassende Gedankenscha-blonen“, sagt der gelernte Tontech-niker. Auch mit dem Begriff der Mentalität, der gerade in Russ-land so oft bemüht wird, kann er nur wenig anfangen, mit Fragen nach seiner Ethnie oder Identität schon gar nicht. Cogito ergo sum Gorbunov.

Zu Hause humorlos„Zu Hause bin ich übrigens ziem-lich humorlos“, sagt der Vater einer dreijährigen Tochter, der seine Brötchen hauptsächlich in der Po-etry-Slam-Szene und Jugendkul-turarbeit verdient. Er kämpft um Gelder aus öffentlichen Program-men, zum Beispiel für seine Pro-jekte mit jungen Migranten an

Stuttgarter Schulen. „Wie die Pro-gramme alle heißen“, lacht er, „das ist eh schon Kabarett: ‚Literatur 2.0‘, ‚Les.bar‘, ‚Bleib-am-Ball‘. Ich bin ein Freier-Träger-Apparat-schik“, neudeutsch: Fundraiser. Zur Frage nach seinen Hobbys, nach seinen Leidenschaften jen-seits seiner Minihörspiel-Poetry-Slam-Nummer: „Ich mach sonst nichts. Es tut mir leid, dass ich so lebe“, antwortet er lachend. Und mal wieder ist sein Humor für den Deutschen ohne russisches Genom nicht so ganz begrei� ich. Echt wolle er sein, nicht so wie manch andere Kabarettisten: „Die müssen zum Teil ein zu großes Pu-blikum bedienen. Da machen die nur seichten Humor und spielen eine Kunst� gur. Ich will authen-tisch sein.“ Auch oder gerade be-sonders, wenn er nur vor ein paar Dutzend Menschen spielt. Die ganz große Publicity, das große Geld, das ist nicht das, was Gorbunov antreibt. Die erste CD spielt er ge-rade erst ein, auf Facebook hat er noch keine Fanseite und ans Te-lefon geht kein Manager, sondern er selbst. Etwa zehn Auftritte pro Monat macht er, eine kleine Fan-gemeinde reist ihm hinterher. Und einen guten Namen in der Szene hat er sowieso. Die Größe der Bühne spielt keine Rolle. „Ich mach es auch gerne auf der Couch“, sagt er. Und lacht.

Prof. Dr. Michael C. Hermann ist Journalist und Medien-wissenschaftler. Er lebt in Stuttgart.

Die Termine der süddeutschen Mini-tournee von Nikita Gorbunov:

TÜBINGEN2. Mai, 20.00 Uhr, Café Haag – Lese-bühne Kopfgeburt, Am Haagtor 1

STUTTGART 10. Mai, 20.00 Uhr, Club Theater (ehemaliges Renitenztheater), Hospitalstraße 10

12. Juni, 20.00 Uhr, Vorpremiere von Nikitas Show „Gorbunov & Kienzler“, Club Zwölfzehn, Paulinen-straße 45

Nikitas Auftritte

Nikita Gorbunov, Urenkel des Regime-kritikers Lew Kopelew, wird in Moskau geboren und 1990 über Köln, Frei-burg, Aachen, Sindelfingen und Ess-lingen nach Stuttgart gespült. Nach Abitur und Zivildienst Studium zum Tontechniker. Seine ersten Zeilen

BIOGRAFIE

BERUF: KÜNSTLER

ALTER: 28

GEBOREN IN: MOSKAU

bringt er als Rapper aufs Papier, bis ihn die Poetry-Slam-Szene in ihren Bann zieht. Der Vater einer dreijähri-gen Tochter macht im Verein „Aus-drucksreich“ Jugendarbeit und spielt in den Ensembles der Esslinger Show „Höhen & Tiefen“ und auf der Tübin-ger Lesebühne Kopfgeburt. Gorbunov war für das Goethe-Institut in Weiß-russland und in der Ukraine auf Poe-try-Slams, zuletzt 2011 auf einer Tour entlang der Wolga.

nun schon 83,5 Stunden nicht be-wegt. Sie müssen einen Spazier-gang machen, Frau Pfeifer.“ Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

„Weil alle gegangen sind“Nikita Olegowitsch Gorbunov: ge-boren 1983 in Moskau, Urenkel des aus der Sowjetunion ausge-bürgerten und 1997 in Köln ver-storbenen Regimekritikers Lew Kopelew, Nachfahre des Malers Igor Grabar, im Alter von sieben Jahren nach Deutschland ausge-

Wodurch unterscheidet sich der rus-sische Humor vom deutschen?Bei zwei Völkern von 80 und 140 Millio-nen Menschen von „einem“ Humor zu sprechen, ist schon an sich unfreiwillig komisch. Die wichtigsten Unterschiede sind natürlich die Referenzen, die vielen

kleinen Codes und Wahrheiten, auf die sich Scherze beziehen. Es ist ziemlich schwer, einem Russen auf der Gefühls-ebene zu vermitteln, was es heißt, sich aus einer unangenehmen Situation „herauszuwulffen“. Und dann gibt es da einfach sprachliche Unterschiede. Ich kann das russische Wort „Oblom“ nicht gut übersetzen. Können Sie das?Nur beschreiben: eine sehr emotional erlebte Enttäuschung. Worüber kön-nen Russen und Deutsche überhaupt nicht lachen, und worüber würden sie gemeinsam losprusten?Ich glaube, Russen würden keine Poin-ten darüber verstehen, dass es in den 90ern besser war als jetzt. Die Zeit von 1998 bis heute empfinden viele Deut-sche als unglaubliche Reihe von Beleidi-gungen und „notwendigen“ Zumutun-

INTERVIEW

Wenn deutsche Russen sich herauswulffengen (Hartz IV, Afghanistan, Bankenret-tung), während viele Russen unsere „unbesorgten“ 90er als düstere Horror-vergangenheit vor Augen haben (Cha-os, Tschetschenien-Krieg, Staatspleite). Im Gegenzug würden viele Deutsche in einigen russischen Frauen- und Schwu-lenwitzen nur kindische Albernheiten sehen. Da gibt es in Russland vereinzelt noch komische Ansichten. Herzlich lachen können beide wohl über Face-book und über Amerikaner. Wenn Sie den Humor nach Ländern ordnen könnten, was wären Ihre TOP 3?1. Japan. Die humorseitig weit unter-schätzte Heimat des Absurden und der naiven Blödelei. 2. Schweiz. Wer es da aushält, muss Humor haben. 3. Bronze für Russland und Deutschland.

FELI

X K

AES

TLE

(2)