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Schaeffer (Hrsg.) Bewältigung chronischer Krankheit

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Schaeffer (Hrsg.)Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf

Verlag Hans HuberProgrammbereich Gesundheit

Wissenschaftlicher Beirat:Felix Gutzwiller, ZürichManfred Haubrock, OsnabrückKlaus Hurrelmann, BielefeldPetra Kolip, BremenHorst Noack, GrazDoris Schaeffer, Bielefeld

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Weitere Informationen über unsere Neuerscheinungen fi nden Sie im Internet unter:www.verlag-hanshuber.com

Corbin / StraussWeiterleben lernenVerlauf und Bewältigung chronischer Krankheit2., Aufl . 2004. ISBN 978-3-456-84018-5

Morof LubkinChronisch KrankseinImplikationen und Interventionen für Pfl ege- und Gesundheitsberufe2002. ISBN 978-3-456-83349-1

FrankeModelle von Gesundheit und Krankheit2006. ISBN 978-3-456-84353-7

Kuhlmey / Schaeffer (Hrsg.)Alter, Gesundheit und Krankheit2008. ISBN 978-3-456-84573-9

Hollederer / Brand (Hrsg.)Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Krankheit2006. ISBN 978-3-456-84332-2

Hurrelmann / Kolip (Hrsg.)Geschlecht, Gesundheit und KrankheitMänner und Frauen im Vergleich2002. ISBN 978-3-456-83691-1

SchaefferDer Patient als NutzerKrankheitsbewältigung und Versorgungsnutzung im Verlauf chronischer Krankheit2004. ISBN 978-3-456-84116-8

Schaeffer / Schmidt-Kaehler (Hrsg.)Lehrbuch Patientenberatung2006. ISBN 978-3-456-84368-1

Schaeffer / Ewers (Hrsg.)Ambulant vor stationärPerspektiven für eine integrierte ambulante Pfl ege Schwerkranker2002. ISBN 978-3-456-83662-1

Ewers / Schaeffer (Hrsg.)Case Management in Theorie und Praxis2. Aufl . 2005. ISBN 978-3-456-84272-1

Ewers / Schaeffer (Hrsg.)Am Ende des LebensVersorgung und Pfl ege von Menschen in der letzten Lebensphase2005. ISBN 978-3-456-84203-5

Schaeffer D. / Müller-Mundt G. (Hrsg.)Qualitative Gesundheits- und Pfl egeforschung2002. ISBN 978-3-456-83890-8

Wedding / Pientka / Höffken / Strauß (Hrsg.)Grundwissen Medizin des Alterns und des alten Menschen2007. ISBN 978-3-456-84226-4

Kruse / Martin (Hrsg.)Enzyklopädie der Gerontologie2004. ISBN 978-3-456-83108-4

KlessmannWenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleibenDie Doppelbotschaft der Altersdemenz6., Aufl . 2006. ISBN 978-3-456-84364-3

Bücher aus verwandten Sachgebieten

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Doris Schaeffer

Herausgeberin

Bewältigung chronischer Krankheitim Lebenslauf

Verlag Hans Huber

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Lektorat: Dr. Klaus ReinhardtBearbeitung und Druckvorstufe: Sandra JansenHerstellung: Daniel BergerUmschlaggestaltung: Claude Borer, BaselDruck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, KemptenPrinted in Germany

Bibliographische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen oder Warenbezeichnungen in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.

Anregungen und Zuschriften bitte an:Verlag Hans HuberLektorat Medizin/GesundheitLänggass-Strasse 76CH-3000 Bern 9Tel: 0041 (0)31 300 4500Fax: 0041 (0)31 300 [email protected]

1. Aufl age 2009© 2009 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernISBN 978-3-456-84726-9

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Inhalt

Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf – Einleitung............................... 7

Status Quo der Theoriediskussion

Bewältigung chronischer Erkrankung – Status Quo der Theoriediskussion Doris Schaeffer......................................................................................................... 15

Interaktionstheoretische Perspektive

Das Trajektkonzept Juliet Corbin, Bruno Hildenbrand, Doris Schaeffer.................................................. 55

Chronische Krankheit als biografischer Bruch Michael Bury............................................................................................................ 75

Transitionen im Krankheitsverlauf Klaus Wingenfeld ..................................................................................................... 91

Abschied von der Patientenrolle? Bewältigungshandeln im Verlauf chronischer Krankheit Doris Schaeffer, Martin Moers ............................................................................... 111

Die „Bewältigung“ chronischer Krankheit in der Familie – Resilienz und professionelles Handeln Bruno Hildenbrand ................................................................................................. 133

Stresstheoretische Perspektive

Chronische Krankheit – der Beitrag der Stresstheorien Christel Salewski .................................................................................................... 159

Coping – Anthropologische Überlegungen zur Auseinandersetzung des Menschen mit Aufgaben und Belastungen Andreas Kruse ........................................................................................................ 179

Subjektive Krankheitstheorien Toni Faltermaier, Anna Levke Brütt ...................................................................... 207

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Soziale Unterstützung und soziale Netzwerke als Ressource der Krankheitsbewältigung Nina Knoll, Silke Burkert ....................................................................................... 223

Sozialstrukturelle Perspektive

Sozialer Wandel und die Bewältigung chronischer Erkrankungen aus individualisierungstheoretischer Perspektive Bernhard Borgetto .................................................................................................. 247

Der ungleichheitstheoretische Zugang Ullrich Bauer .......................................................................................................... 263

Lebenslaufperspektive

Gesundheit und Krankheit im Lebenslauf Klaus Hurrelmann .................................................................................................. 283

Chronische Erkrankungen und Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter Claudia Peter, Matthias Richter.............................................................................. 297

Chronische Erkrankungen im Erwachsenenalter – Geschlechtsspezifische Aspekte Gesine Grande ........................................................................................................ 321

Chronische Erkrankungen und Migration Oliver Razum, Patrick Brzoska .............................................................................. 341

Chronische Krankheit in der Lebensphase Alter Adelheid Kuhlmey.................................................................................................. 357

Autorenverzeichnis................................................................................................. 369

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Einleitung 7

Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf – Einleitung

Doris Schaeffer

Warum noch ein Buch zu chronischer Krankheit und damit zu einem Thema, das schon so lange Gegenstand der Auseinandersetzungen im Gesundheitswesen ist? Schließlich ist der Wandel des Krankheitspanoramas ebenso wie die demografische Alterung schon seit den 1960er Jahren unübersehbar und wird seither diskutiert – lange Zeit zögerlich, inzwischen aber auf relativ breiter gesellschaftlicher Basis. Doch obschon das Thema nicht neu ist, sprechen mehrere Gesichtspunkte dafür, ihm weiterhin und auch neu Beachtung zu schenken: • Allem anderen voran gehören dazu die epidemiologischen Fakten. Nach wie vor

steigt der Anteil chronischer Krankheiten. Allein in Deutschland leiden inzwi-schen 44 % der gesetzlich Versicherten und 36,5 % der privat Versicherten un-ter einer chronischen Erkrankung (KBV 2006). Ähnlich die Ergebnisse des Telefon-Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts. Hier geben 41 % der weiblichen und 35 % der männlichen Befragten an, unter einer chronischen Krankheit zu leiden (Ellert et al. 2006; RKI 2006). Die Mehrheit der Erkrankten befindet sich in den Spätphasen des Lebenslaufs, doch darf nicht übersehen werden, dass chronische Krankheiten Menschen in jedem Lebensalter erfassen und fortan über die gesamte Lebensspanne begleiten.

• Ein Großteil der Kosten im Gesundheitswesen entfällt auf chronische Krankhei-ten, weil sie langfristig behandelt und versorgt werden müssen und darüber hin-aus mehrdimensionale Versorgungsmaßnahmen benötigen. Chronische Krank-heiten sind aber auch deshalb kostenintensiv, weil das Gesundheitswesen trotz zahlreicher Reformbemühungen nicht hinreichend an die Besonderheiten dieser Krankheiten angepasst ist, wie zahlreiche Studien und Expertenberichte in den letzten Jahren stets neu gezeigt haben (Badura/Iseringhausen 2005; BMFSFJ 2001; Hurrelmann 2006; Schaeffer et al. 2004; Schauder et al. 2006; Schwartz et al. 2003; SVR 2001, 2003, 2007). Anpassungsdefizite zeigen sich im Bereich der Prävention, doch ebenso der Versorgung. Sie werden hier etwa in der Kon-zentration auf somatische Probleme und unzureichenden Berücksichtigung der lebensweltlichen Bedingungen chronisch Erkrankter sichtbar und zeigen sich außerdem in dem Organisations- und Professionsseparatismus sowie dem Man-gel an Flexibilität, Koordination und Kooperation im hiesigen Gesund-heitswesen und nicht zuletzt in der mangelnden Patienten- und Nutzerorien-

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tierung (ebenda). Die bestehenden Versorgungsdefizite zu beheben, gehört da-her nach wie vor zu den großen Herausforderungen im Gesundheitswesen.

• Doch ist diese Forderung leichter angemahnt als realisiert. Denn Gestalt und Verlauf vieler chronischer Krankheiten haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und damit den alten Anpassungsherausforderungen neue zur Seite gestellt. So haben sich bei vielen chronischen Krankheiten infolge des medizinischen Fortschritts die Behandlungsmöglichkeiten erweitert und damit einhergehend die Verlaufsdauern deutlich verlängert. Beeindruckende Beispiele dafür sind etwa HIV/Aids oder Mukoviszidose. Lag die Lebenserwartung von Kindern mit Mukoviszidose 1938 bei ca. sechs Monaten, so liegt das mediane Überlebensalter heute bei etwa 30 Jahren (Davis 2006); bei Kindern, die im 21. Jahrhundert geboren wurden, liegt es mittlerweile bei 40 bis hin zu über 50 Jahren (Dodge et al. 2007; Durieu/Nove Josserand 2008). Mukoviszidose und Aids sind kein Sonderfall. Insgesamt sind heute bei etlichen chronischen Krankheiten 20- bis 30-jährige Verlaufsdauern keine Seltenheit mehr. Für die Erkrankten bedeutet dies, dass sie länger mit chronischer Krankheit (über-)leben und dabei oft nicht nur an Jahren, sondern über weite Strecken auch an Auto-nomie gewonnen haben. Aber: Sie müssen auch lange Zeit mit chronischer Krankheit und ihren Konsequenzen leben, diese in ihr Leben integrieren und ihren Lebenslauf darauf abstellen. Zugleich müssen sie damit leben, dass Folge-erscheinungen wie Multimorbidität, Überlagerung von Krankheits- und Thera-piefolgen, Funktionseinschränkungen und auch Pflegebedürftigkeit ebenfalls zu den vertrauten Phänomenen geworden sind. Dieser Gestaltwandel und die aus ihm rührenden Anpassungsherausforderungen für das Gesundheitswesen und auch die Erkrankten werden noch viel zu selten diskutiert und allein dies ist Grund genug dafür, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen.

• Hinzu gesellt sich eine in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu beo-bachtende Schieflage. Es hat zunächst etliche Jahre gedauert, bis chronischen Krankheiten hinreichend Aufmerksamkeit in der Forschung geschenkt wurde. Mittlerweile aber wurde viel an Forschung angestoßen, so dass heute eine breite Forschungslandschaft existiert. Sie ist allerdings – wie auch die Versorgung – sehr medizinlastig und stark auf einzelne Krankheiten und somatische Krank-heitsaspekte konzentriert (SVR 2001)1. Medizinlastigkeit bzw. eine expertokra-tische Herangehensweise kennzeichnet die Forschung aber auch in anderer Hin-sicht, denn nach wie vor fehlt es an einer hinreichend ausgeprägten patienten- oder nutzerorientierten Forschung. Ganz in diesem Sinn hat Conrad bereits An-fang der 1990er Jahre kritisiert, dass die Forschung über chronische Krankheit vorrangig der Outsiderperspektive verhaftet ist und sie der Insiderperspektive – der Problemsicht und Situation der Erkrankten – viel zu wenig Aufmerksamkeit

1 Seit einigen Jahren werden in Deutschland zwar vermehrt andere gesundheitswissenschaftliche

Disziplinen in ihren Forschungsaktivitäten gefördert, etwa Public Health, die Rehabilitationswissen-schaften oder Pflegewissenschaft. Für viele andere Gesundheitsprofessionen, beispielsweise die Phy-siotherapie, Ergotherapie oder die Logopädie, die sich hierzulande erst jetzt zu akademisieren begon-nen haben, steht dies noch aus und insgesamt steht das Fördervolumen für die nicht-medizinische Forschung in keinem Verhältnis zu ihrer Relevanz.

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Einleitung 9

widmet (Conrad 1990). International hat sich dies längst verändert. Vor allem im englischen Sprachraum ist inzwischen eine breite Forschungstradition ent-standen, die sich der Situation, dem Erleben und der „patient’s perspective“ auf chronische Erkrankung und den mit ihr einhergehenden Konsequenzen auf sub-jektiver Ebene widmet (Übersicht Coulter/Fitzpatrick 2000; Lawton 2003; Pierret 2003; Thorne/Paterson 2000; Thorne et al. 2002). In Deutschland entwi-ckelt sich diese Tradition nur zögerlich. Wie wichtig es ist, sie auszubauen, sei ausdrücklich betont, denn es sind die Patienten bzw. die Erkrankten, die faktisch die eigentliche Bewältigungsarbeit zu leisten haben und die mit der Erkrankung leben müssen.

• Eine Schieflage ist aber auch in anderer Hinsicht zu verzeichnen, denn die meis-ten der zahlreich entstandenen Studien verharren auf der rein empirischen Ebe-ne, ohne die gewonnenen Erkenntnisse theoretisch fruchtbar zu machen (Pierret 2003; Schaeffer/Moers 2008; Thorne et al. 2002). In der Folge ist mittlerweile ein Theoriedefizit entstanden. Das ist umso bedauerlicher, als in den 1970/80er Jahren bereits eine intensive sozial- und gesundheitswissenschaftliche Theorie-debatte geführt und zahlreiche wichtige Theorieansätze vorgelegt wurden. Doch nach relativ kurzer Zeit der Blüte verebbte der Theoriediskurs über chronische Krankheit. Den Theoriediskurs neu zu beleben, gehört daher mittlerweile zu einer der drängenden wissenschaftlichen Herausforderungen.

Eben hier ist der Anknüpfungspunkt für das vorliegende Buch, dessen Intention darin besteht, das inzwischen bestehende Theoriedefizit anzugehen. Versucht wird, die vorliegenden aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen stammenden Theorieansätze zur Bewältigung chronischer Erkrankung aus systematischer Per-spektive zu erörtern, sie auf ihre Verknüpfungsmöglichkeiten hin zu betrachten und zu einer theoretischen Bestandsaufnahme zu gelangen. Dabei werden sowohl seit längerem existente wie auch neuere Theorieansätze aufgegriffen.

Zwei Besonderheiten kennzeichnen das Buch: Mit der Fokussierung auf die Bewältigung chronischer Krankheit wird gezielt auf die sich auf subjektiver Ebene stellenden Anpassungs- und Handlungserfordernisse und damit – um noch einmal die von Conrad (1990) in die Diskussion eingebrachten Termini aufzugreifen – auf die Insiderperspektive abgehoben. Anders formuliert, Theorien zur Genese und Ätiologie chronischer Krankheit und auch neuerlich an Bedeutung gewinnende biogenetische Ansätze beispielsweise zum Zusammenhang von genetischen Disposi-tionen, Lebensstilfaktoren und sozialen Determinanten (ex. Ilkilic et al. 2007), fin-den sich nicht in diesem Buch, sondern ausschließlich solche, die sich auf die mit chronischen Krankheiten verbundenen Probleme und Herausforderungen für die Erkrankten und ihr soziales Umfeld konzentrieren. Ganz in diesem Sinn wird meist der Terminus Erkrankung verwendet und damit zwischen Krankheit und Erkrankung unterschieden – ähnlich wie in der englischsprachigen Debatte zwischen disease und illness differenziert wird. Während der Krankheitsbegriff auf somatische und phy-siologische Krankheitsaspekte und somit auf objektive Parameter – Normwerte und Funktionsgrößen – zielt und für die Außenperspektive steht, bezeichnet Erkrankung die subjektive Performanz oder das subjektive Erleben von Krankheit (Charmaz

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2000)2. So können sich Menschen beispielsweise als krank erleben und fühlen, ob-schon sie an biomedizinischen Maßstäben gemessen nicht krank sind und umge-kehrt. Dabei ist ihr Krankheitserleben immer auch durch ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext geprägt.

Zum anderen wird mit der Lebenslaufperspektive ein besonderer, aus theoreti-scher Sicht indes nahe liegender Akzent gesetzt. Denn eine ganze Reihe der vorlie-genden und besonders der frühen Theorieansätze ist eng mit der Lebenslaufdebatte verknüpft, so beispielsweise das von Strauss u. a. entwickelte Trajektkonzept, eben-so seine Unterströmungen wie etwa das Transitionskonzept, bei dem diese Nähe besonders hervorsticht. Ähnliches kann auch für das Stress- bzw. Copingkonzept und einige seiner Ausdifferenzierungen geltend gemacht werden.

Der Lebenslaufperspektive kommt aber auch deshalb zusehends Relevanz für die theoretische Debatte zu, weil chronische Krankheiten aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit wie auch der Ausdehnung der Verlaufsdauern für die Erkrankten zu oft jahrelangen konstanten, aber keineswegs kalkulierbaren Begleitern ihres weiteren Lebens wer-den. Welche Konsequenzen damit für die Gestaltung der Biografie einhergehen, wurde zu Beginn der Theoriedebatte thematisiert, ist aber heute kaum noch Gegen-stand von Auseinandersetzungen, ebenso wenig die Frage, was dies angesichts der voranschreitenden Erosion herkömmlicher Muster des Lebenslaufs und der wach-senden Unsicherheit der Lebenslaufgestaltung bedeutet.

Hinzu kommt, dass chronische Krankheiten keineswegs – wie in der öffentlichen Diskussion suggeriert – nur im höheren Alter das Krankheitsspektrum bestimmen, sondern Menschen in allen Phasen des Lebenslaufs ergreifen, sich aber im Kindes- und Jugendalter anders darstellen als im Erwachsenenalter oder im höheren Lebens-alter. Auch die (Langzeit-)folgen chronischer Krankheit, Kumulationseffekte und Risikoverkettungen unterscheiden sich je nach Position im Lebenslauf (Ben-Shlomo/Kuh 2002; Hurrelmann 2006). So kann chronische Krankheit im frühen Kindesalter Entwicklungsverzögerungen oder -störungen nach sich ziehen, die die Bildungschancen beeinträchtigen und beides minimiert wiederum die Krankheits-bewältigungsressourcen. Ähnlich auch das Erleben und die Bewältigung chronischer Erkrankung. Sie variieren ebenfalls je nach Lebensphase: nehmen sich etwa bei Jugendlichen und damit in frühen Phasen des Lebenslaufs anders aus als in späten Phasen, also bei älteren Menschen, und stellen sich bei erwachsenen Frauen wieder anders dar als bei Männern oder aber bei Menschen mit Migrationshintergrund. Zugleich werden chronische Erkrankungen von Menschen aus unteren sozialen Schichten und mit geringem sozialen und kulturellen Kapital anders erlebt und be-antwortet als von Menschen aus höheren sozialen Schichten. Auch diese lebenspha-senspezifischen und sozialen Unterschiede, die in der Theoriedebatte über chroni-sche Krankheiten bislang eher selten systematisch betrachtet wurden, sollen mit der Akzentsetzung auf die Lebenslaufperspektive zum Thema erhoben werden.

2 Streng genommen muss von diesen beiden Begriffen noch „sickness“, Kranksein, unterschieden

werden – ein Begriff, der auf soziale und gesellschaftliche Aspekte, die mit der Übernahme der Rolle als Kranker verbunden sind, zielen.

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Einleitung 11

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Zunächst erfolgt der Versuch, einen Über-blick über Verlauf und Charakterisierung des zurückliegenden Theoriediskurses zu geben. Anschließend werden die drei wichtigsten Theorieströmungen mit ihren jeweiligen Ausdifferenzierungen diskutiert, wobei soweit möglich auf die Lebens-laufdebatte Bezug genommen wird.

Im zweiten Teil steht – umgekehrt – die Lebenslaufperspektive im Mittelpunkt. Auch dieser Teil beginnt mit einer Erörterung des Verlaufs und Status Quo der vor-nehmlich in den Sozialwissenschaften geführten Diskussion, die ähnlich wie die Theoriedebatte über chronische Erkrankungen in Deutschland in den 1980er Jahren einen ersten Höhepunkt hatte. Das Thema Gesundheit bzw. Krankheit spielte in ihr allerdings eine eher periphere Rolle (Hurrelmann/Schaeffer 2006) und gewinnt erst neuerlich durch die erstarkende Lebenslaufepidemiologie wieder an Bedeutung. Die anschließenden Beiträge befassen sich mit einzelnen Lebensphasen bzw. Bevölke-rungsgruppen, beginnen jeweils mit einer Charakterisierung der epidemiologischen und sozialen Situation und setzen dann mit theoretischen Überlegungen, die auf die lebensphasenspezifischen Besonderheiten der Bewältigungserfordernisse bei chroni-schen Erkrankungen zielen, fort. In der Summe erhält der Leser somit ein umfassen-des Bild über die theoretischen Zugänge zur Bewältigung chronischer Erkrankung im Lebenslauf – auch über die ausstehenden und künftig anzugehenden Herausfor-derungen.

Literatur

Badura B, Iseringhausen O (Hg.) (2005): Wege aus der Krise der Versorgungsintegration. Beiträge aus der Versorgungsforschung. Bern: Huber

Ben-Shlomo Y, Kuh D (2002): A life course approach to chronic disease epidemiology: conceptual models, empirical challenges and interdisciplinary perspectives. International Journal of Epidemio-logy 31, Nr. 2, 285-293

BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001): Alter und Gesellschaft. Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesdruck-sache 14/5130). Berlin: Deutscher Bundestag

Charmaz K (2000): Experiencing Chronic Illness. In: Albrecht G, Scrimshaw S (Hg.): Handbook of Social Studies in Health and Medicine. London: Sage, 277-292

Conrad P (1990): Qualitative research on chronic illness: a commentary on method and conceptual development. Social Science and Medicine 30, Nr. 11, 1257-1263

Coulter A, Fitzpatrick R (2000): The patient's perspective regarding appropriate health care. In: Albrecht G, Fitzpatrick R, Scrimshaw S (Hg.): The Handbook of Social Studies in Health and Medicine. London: Sage, 454-464

Davis PB (2006): Cystic fibrosis since 1938. American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 173, Nr. 5, 475-482

Durieu I, Nove Josserand R (2008): La mucoviscidose en 2008. La Revue de Médecine Interne. doi:10.1016/j.revmed.2007.12.020

Dodge JA, Lewis PA, Stanton M, Wilsher J (2007): Cystic fibrosis mortality and survival in the UK. European Respiratory Journal 29, Nr. 3, 522-526

Ellert W, Wirz J, Ziese T – Robert Koch-Institut (Gesundheitsberichterstattung des Bundes) (2006): Telefonischer Gesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (2. Welle). Deskriptiver Ergebnis-bericht. Berlin

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Hurrelmann K (2006): Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. 6., völlig überarbeitete Auflage. Weinheim: Juventa

Hurrelmann K, Schaeffer D (2006): Lebenslauf und Gesundheit. Public Health Forum 14, Nr. 50, 4-6 Ilkilic I, Wolf M, Paul W (2007): Schöne neue Welt der Prävention? Zu Voraussetzungen und Reichweite

von Public Health Genetics. Das Gesundheitswesen 69, Nr. 2, 53-62 KBV – Kassenärztliche Bundesvereinigung (2006): Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundes-

vereinigung. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Mannheim Lawton J (2003): Lay experiences of health and illness: past research and future agendas. Sociology of

Health and Illness 25, Nr. 3, 23-40 Pierret J (2003): The Illness Experience: State of Knowledge and Perspectives for Research. Sociology of

Health and Illness 25, Nr. 3, 4-22 RKI – Robert Koch-Institut (2006): Gesundheit in Deutschland. Berlin: RKI Schaeffer D, Moers M (2008): Überlebensstrategien – ein Phasenmodell zum Charakter des Bewälti-

gungshandelns chronisch Erkrankter. Pflege & Gesellschaft 13, Nr. 1, 6-31 Schaeffer D, Moers M, Rosenbrock R (Hg.) (2004): Public Health und Pflege. Zwei neue gesundheitswis-

senschaftliche Disziplinen. 2. Auflage. Berlin: sigma Schauder P, Berthold H, Eckel H, Ollenschläger G (Hg.) (2006): Zukunft sichern: Senkung der Zahl

chronisch Kranker. Verwirklichung einer realistischen Utopie. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag Schwartz FW, Badura B, Leidl R, Raspe H, Siegrist J (Hg.) (2003): Das Public Health Buch. Gesundheit

und Gesundheitswesen. 2. Auflage. München: Urban & Schwarzenberg SVR – Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001): Bedarfsgerechtig-

keit und Wirtschaftlichkeit. Band III: Über-, Unter- und Fehlversorgung. Baden-Baden: Nomos SVR – Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2003): Finanzierung,

Nutzerorientierung und Qualität. Band I: Finanzierung und Nutzerorientierung. Baden-Baden: Nomos

SVR – Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2007): Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Gutachten. Berlin

Thorne S, Paterson BL (2000): Two Decades of Insider Research: What We Know and Don't Know About Chronic Illness Experience. Annual Review of Nursing Research 18, 3-25

Thorne S, Paterson BL, Acorn S, Canam C, Joachim G, Jillings C (2002): Chronic illness experience: Insights from a qualitative meta-study. Qualitative Health Research 12, Nr. 4, 437-452