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Reisestipendium der
Heinz-Schwarzkopf-Stiftung fur Junges Europa
fur eine Reise nach Spanien und Marokko
September 2005
”Schotten dicht“ auf der europaischen Arche Noah?
Die spanische Außengrenze als Anlegesteg der Union
Eine Bestandsaufnahme
Von Niklas Schenck
Karlsruher Straße 74
69126 Heidelberg
Tel: +49-6221-338276
Mob: +49-163-2665927
Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Ein Reisestipendium der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung
Die Straße von Gibraltar und die Zau-
Abb. 1: Grenzzaun von Ceuta; El Paıs, 29.9.05
ne um die Exklaven Ceuta und Melil-
la sind unlangst in den offentlichen Fo-
kus geruckt als Pforten nach Europa, als
Bootssteg zur europaischen Arche Noah.
Jedes Jahr versuchen tausende Immigran-
ten aus Marokko und Algerien, aus Gha-
na, Sierra Leone, Liberia und anderen
afrikanischen Staaten, in denen Armut,
AIDS und Burgerkriege das tagliche Bild
beherrschen, mit dem Schritt nach Eu-
ropa ihrer Not zu entkommen. Spanien
kann viele von ihnen gut gebrauchen, weil
sie jung sind und bereit, hart zu arbeiten, wahrend die spanische Gesellschaft immer alter wird.
Nicht jeder jedoch kann diese mit einem der steilsten Einkommensgefalle der Welt verbundene
Grenze uberwinden und ins vermeintliche Paradies ubersiedeln. Wer illegal ins Land kommt,
als”Heimlicher“, als
”Clandestino“, der wird anonymisiert und aus dem kollektiven Gewissen
verbannt, was Gesellschaft und Behorden ein hartes Vorgehen erleichtert.
Welche Vorgaben macht die Europaische Uni-
Abb. 2: Die EU - ein sinkendes Schiff?
on? Gibt sie den Bewachern am Steg der
Arche das Kommando zum Ablegen auf ei-
gene Faust? Schotten dicht? Oder setzt sich
das Bewusstsein durch, dass alle, Afrikaner
und Europaer, im selben Boot sitzen? Mit
Unterstutzung der Heinz-Schwarzkopf Stif-
tung fur Junges Europa hat Niklas Schenck
auf einer Reise nach Sudspanien und Ma-
rokko versucht, Antworten auf diese und an-
dere Fragen zu finden.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Manu Chao...
Solo voy con mi pena
Sola va mi condena
Correr es mi destino
Para burlar la ley
Perdido en el corazon
De la grande babylon
Me dicen el clandestino
Por no llevar papel
Pa’ una ciudad del norte
Yo me fui a trabajar
Mi vida la deje
Entre Ceuta y Gibraltar
Soy una raya en el mar
Fantasma de la ciudad
Mi vida va prohibida
Dice la autoridad
Mano negra clandestina (...)
Argelino clandestino, Nigeriano clandestino
Africano clandestino, mano negra ilegal
Me llaman el desaparecido
Que cuando llega ya se ha ido (...)
Yo llevo en el alma un camino
Destinado a nunca llegar
Cuando me buscan nunca estoy
Cuando me encuentran yo no soy
El que esta enfrente porque ya
Me fui corriendo mas alla
Me dicen el desaparecido
Fantasma que nunca esta
Me dicen el desagradecido
Pero esa no es la verdad (...)
...Clandestino
Ich bin allein mit meinem Leid
Allein mit meinem Schicksal
Ich bin verdammt immer zu rennen
Um dem Gesetz zu entkommen
Verloren im Herzen
des großen Babylon
Sie nennen mich den Heimlichen
Weil ich keine Papiere habe
Ich ging in eine Stadt im Norden
Um zu arbeiten
Mein Leben ließ ich zuruck
Zwischen Ceuta und Gibraltar
Ich bin eine Spur auf dem Meer
Ein Gespenst in der Stadt
Mein Leben ist verboten
So sagt es das Gesetz
Schwarze Hand im Verborgenen (...)
Algerier - heimlich, Nigerianer stets versteckt
Afrikaner - clandestino, schwarze Hande illegal
Sie nennen mich den Verschwundenen
Der, wenn er ankommt, schon wieder weg ist
Ich trage in meiner Seele einen Weg
Verdammt, niemals anzukommen
Wenn sie mich suchen, bin ich nie da
Wenn sie mich finden bin ich nicht der
Der vor ihnen steht denn schon
Bin ich weiter gerannt
Sie nennen mich den Verschwundenen
Das Gespenst das nie da ist
Sie nennen mich den Undankbaren
Aber das ist nicht wahr
Manu Chao, Clandestino (1998).
2
Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Was fuhlt ein Clandestino?
Der Wind blast stark, als ich aus der Kabine
Abb. 3: Schiffbruch: Absolute Verzweiflung gegen
zweifelhafte Hoffnung eingetauscht.
in Richtung Bug blicke. So stark, dass die
Windsurfer nur mit Muhe ihre Segel unter
Kontrolle halten konnen, hier in Tarifa, der
”Windhauptstadt Europas“. Selbst bei ma-
ßiger Sicht wie heute Morgen lasst sich an
diesem sudlichsten Zipfel Andalusiens das
Rif-Gebirge in Marokko erkennen. Ich stehe
wenige Meter neben turkisfarbenenen Wel-
lenbrechern, deren Kamme von den Wind-
boen zerfurcht werden, in einem verfallenen
Boot am Strand. Auf ihm hatten im vorletz-
ten Sommer acht afrikanische Einwanderer
die rettende Kuste erreicht, als ihr Gefahrt
bereits zu sinken drohte. Der Wind hat das Wrack mit Sand bedeckt, so dass der Bug inzwi-
schen komplett versunken ist. Wie schon einige Tage zuvor, bei der Uberfahrt von Marokko
nach Spanien, spure ich auch diesmal nicht, was ich mir erhofft hatte. Ich wollte endlich wissen,
was es fur die Clandestinos in der Straße von Gibraltar bedeutet, als illegale Einwanderer auf
gefahrlichen Routen ihren Weg in die Europaische Union zu suchen. Auf der Fahre war gerade
die Sonne untergegangen, und dutzende Touristen mit ihren Digitalkameras im Anschlag hat-
ten die Vorstellung der halsbrecherischen Uberfahrt in baufalligen Booten schlicht zu abwegig
erscheinen lassen. So war das Leid der Immigranten mir weiterhin nur logisch nachvollziehbar
geblieben, und ich hatte mich dafur geschamt, ihre Verzweiflung nicht selbst spuren zu konnen.
Sollte ich diese Not nicht wenigstens erlebt haben, um sie angemessen beschreiben zu konnen?
Oder ist innere Distanz sogar notig, um ein akkurates Bild von der Situation der Immigranten
am Rande der Europaischen Union liefern zu konnen? Nachdenklich lausche ich in den Wind
hinaus. Nichts. Ich gahne kopfschuttelnd, enttauscht.
Dann geschieht etwas Uberraschendes: Der Wind blast so stark um meinen beim Gahnen weit
geoffneten Mund, dass ein Pfeifton entsteht. Erstaunt versuche ich den Ton zu halten, dann
fuhre ich langsam die Lippen zusammen und wieder auseinander. Es klingt wie eine Sirene. Und
plotzlich ist das Gefuhl da, plotzlich kommen die Erinnerungen an die hinter mir liegende Reise
wieder. Sie fugen sich zu einem Bild zusammen, und auch die erschopften Immigranten sehe ich
jetzt vor mir, wie sie bei ihrer Landung die Kuste erreichten. Ein Polizeiwagen hatte sie bereits
an der Kuste erwartet und mit Blaulicht und Sirene in Empfang genommen, so wie der Wagen
der Guardia Civil, der an meinem ersten Abend in Spanien mit quietschenden Reifen am Strand
von Zahara de los Atunes vorgefahren war. Vor meinem inneren Auge huschen die Menschen
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
vorbei, denen ich in den letzten Wochen begegnet bin. Sie alle sind Teil desselben Bildes, zu dem
sich die Informationen jetzt endlich zusammenfugen, die unzahligen Statistiken, Anekdoten und
Fotos, die vertraulichen Erzahlungen und hitzigen Diskussionen.
Noch einmal sehe ich Youssef Boutkhannte, einen marokkanischen Gastarbeiter in Tunesien. Er
hatte mir von seiner Sehnsucht nach einem anderen Leben erzahlt - endlich wollte er sich von
den Fesseln seiner patriarchalischen Erziehung befreien; weil er taglich mit westlichen Touristen
verkehrt und seine Ideale aus dem illegal empfangenen Satellitenfernsehen ableitet, ist er sicher,
seine Freiheit in Europa zu finden.”Ich will leben. Und selbst entscheiden durfen“, hatte er ge-
sagt, und”Houria“ als sein Ziel genannt. Das ist das arabische Wort fur Freiheit.
Pa´ una ciudad del norte, yo me fui a trabajar. Wahrend ich diese Zeile aus dem Liedtext von
Manu Chao zwischen meinen Lippen hin- und herschiebe, weil sie mir mehr Gefuhl gibt fur die
Sehnsucht, von der Youssef mir erzahlt hatte, wird seine Silhouette durch Maria Bris Portillo
abgelost, die zuletzt in einem SOS Kinderdorf in Granada gearbeitet hatte. Dort leben viele
marokkanische Kinder, deren Eltern ohne sie abgeschoben wurden. Ich stelle mir vor, wie sie in
dem Clown-Kostum ausgesehen haben muss, als sie fruher mit christlichen und muslimischen
Kindern in den Straßen von Ceuta arbeitete.
Dort leben die Mitglieder von vier Religionsgemein-
Abb. 4: Bris Portillo: Als Straßenclown
fur Integration gearbeitet.
schaften friedlich nebeneinander, doch wenigstens bei
den Kindern wollte Bris Portillo sich neben Multikultu-
ralismus auch fur echte Integration einsetzen, erarbei-
tete Sketche mit ihnen und brachte sie beim Puppen-
theater zusammen. Kurz sehe ich Mohammed Al Geli-
um, dessen sehnsuchtige geistige Landkarte von Spani-
en die eines jeden Spaniers an Genauigkeit ubertrifft;
der taglich mit spanischen Freunden in den Bergen des
Rif wandert, die Markte durchstreift oder mit ihnen an
die Kuste nach Asilah fahrt - dessen Augen allerdings
wassrig werden, wenn er von dem Reisepass redet, den
er so gerne hatte.
Zwischendrin immer wieder die feuerrote Mahne von Mabel Carlos, die ich nur wenige Stun-
den zuvor in einer Bar in Tarifa zum Interview getroffen habe. 2002 horte sie desillusioniert
bei”Algeciras Acoge“ auf, einer Nicht-Regierungsorganisation (NGO), die Immigranten helfen
will, legalen Status zu erreichen und Arbeit zu finden. Den Erfolg spanischer NGOs sieht Mabel
heute zunehmend kritischer. Mit immer hektischeren Handbewegungen hatte sie im Gesprach
die”fatale Sprache“ der Medien im Umgang mit Immigranten angeprangert.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Und sie hatte mir das spanische Wort”Ningunear“ erklart,
Abb. 5: Ningunear:”Die Presse
macht Niemande aus ihnen.“
das”Zum Niemand machen“ bedeutet. Gepragt hat es der
uruguayische Journalist und Historiker Eduardo Galeano,
der mit seinen Werken gegen das kollektive historische Ver-
gessen ankampft. Auch mir waren im Verlauf meiner Recher-
che Verallgemeinerungen begegnet, durch die Immigranten
in den Medien und im spanischen Sprachgebrauch zu anony-
men Teilen einer schwammigen Masse umgeformt werden.
Noch einer taucht wiederholt auf in diesen Serien verschwom-
mener Gesichter und verwobener Erinnerungen. Es ist Nico-
las Sarkozy, der franzosische Innenminister. Was hatte ihn dazu gebracht, gleich mehrere Artikel
in der spanischen Tagespresse zur Erlauterung seiner Immigrationspolitik zu verfassen? Er wech-
selt sich ab mit einem seiner Kritiker: Sandro Mezzadra, Professor fur Politik an der Universitat
Bologna, der die Idee der Transitlager fur Asylbewerber verurteilt und sich fur eine Erleichterung
des Legalisierungsprozesses stark macht.”Weil wir sonst eine europaische Apartheid erleben wer-
den“, wie er erklart,”wenn sich immer mehr Menschen gezwungen sehen, ein Leben ohne Papiere
und mit hochstens illegaler Arbeit zu akzeptieren.“
Und naturlich die Bilder aus Ceuta und Melil-
Abb. 6: Clandestinos im Auffanglager: Unge-
wisse Zukunft; El Paıs, 30.9.05
la, die mich so verwirren. Warum flimmern nun
plotzlich Berichte von der Problematik in Sudspa-
nien uber jeden europaischen Bildschirm? Schon
seit langem kommen laut einer Statistik der CIA
jahrlich rund 40.000 Immigranten nach Spanien.
Wie passt die Darstellung als”plotzliche Invasi-
on“ also zu den 1000 Afrikanern, die mit einem
Ansturm auf die Zaune versuchen, europaisches
Territorium zu erreichen und endlich am Ziel ih-
rer verzweifelten Reise anzukommen? Sie haben
sich lediglich, wie so oft in den letzten Jahren, mit einer neuen Methode zum Uberqueren der
Grenze an die hochtechnologisierten Sicherheitsvorkehrungen angepasst, die eine Passage der
Straße von Gibraltar in Booten immer schwerer machen. Die Frage drangt sich auf, ob tausend
Immigranten wirklich eine”Lawine“ darstellen, ein unerwartetes, neues und in seinen Ausmaßen
beispielloses Phanomen. Oder ob sie einfach die jungste Auspragung eines im”Off“ der Berichter-
stattung stattfindenden Prozesses sind, der bereits Jahre anhalt: Menschen aus den afrikanischen
Staaten sudlich der Sahara sind verzweifelt genug, um fur den Weg in eine bessere Zukunft ihr
Leben zu riskieren. Konnte es sich also um Stimmungsmache handeln, bei der diese neue Variante
der Grenzuberquerung als Invasion dargestellt wird, um strengere Gesetze und eine radikalere
Auslegung der Asylvorschriften zu rechtfertigen? Ich blinzle. Fur ein Urteil ware es zu fruh.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Sarkozy braucht Spanien...
Anfang September 2005 schrieb Nicolas Sarkozy, ehr-
Abb. 7: Sarkozy; Le monde, 13.7.05
geiziger franzosischer Innenminister und selbst Sohn
einer Griechin und eines Ungarn, in Spaniens großter
Tageszeitung El Paıs einen sechsspaltigen Kommentar
uber Immigrationspolitik. Er stellte darin klar, dass er
im staatsphilosophischen Diskurs um Immigration nie
die Position einer”Festung Europa“ vertreten habe,
die in Spanien als”Null Immigration“ bezeichnet wird.
Auch die extreme Forderung der Gegenseite, eine to-
tale Offnung der EU-Grenzen fur Zuwanderung, lehne
er selbstverstandlich ab:”Eine große Nation wie unse-
re muss offen sein fur die Bereicherung und Erneue-
rung, die Zuwanderung mit sich bringt, aber innerhalb
kontrollierter Schranken.“ Weiter zeigte sich Sarkozy
verargert uber die seiner Meinung nach populistische
Darstellung, dass Zuwanderung per se ein wichtiges Element fur den Umgang mit dem demo-
graphischen Defizit sei. So wird der hypothetische Bevolkerungsruckgang bezeichnet, der in den
postindustriellen Staaten Europas wie Frankreich, Spanien und Deutschland ohne den Zuwande-
rungsuberschuss entstehen wurde. Sarkozy betonte, dass das demographische Defizit in seinem
Land von steigender Lebenserwartung abhangig sei, nicht von sinkenden Geburtenzahlen. Somit
steigerten Immigranten lediglich die Zahl der Einwohner mit Rentenanspruch in der Zukunft,
ohne jedoch die Finanzierungslucke im Rentensystem zu verringern.”Da sind ein verspateter
Renteneintritt und die Schaffung neuer Arbeitsplatze effektivere Maßnahmen“, urteilte Sarko-
zy, und ging zur Erklarung seines Systems von”Zuwanderungsquoten“ uber: Den Bedurfnissen
des Arbeitsmarktes angepasst sollten gezielt Immigranten nach Frankreich gelenkt werden, die
unterbesetzte Sektoren der franzosischen Wirtschaft entlasten konnten.”Denn dann zahlen sie
auch gleich in die Sozialsysteme mit ein, anstatt wie bisher erst monatelang selbst Sozialhilfe
zu beziehen, bevor sie einen Job finden oder sich eine Existenz aufbauen.“ Zuletzt sprach sich
Sarkozy fur die Ausweitung der Abkommen mit den Entsendelandern der Zuwanderer aus: Sie
sollten bei der Rekrutierung der benotigten Arbeitskrafte behilflich sein und außerdem Ruckfuh-
rungsabkommen unterzeichnen, die Frankreich eine leichtere Abschiebung illegaler Einwanderer
ermoglichen.
Alles Maßnahmen, die in Europa bereits seit langerem kontrovers diskutiert werden. Ebenso wie
die Transitlager, zuerst von Tony Blair und spater auch vom deutschen Innenminister Otto Schily
vorgeschlagen, die in den nordafrikanischen Maghreb-Staaten Libyen, Tunesien, Algerien, Ma-
rokko und Mauretanien installiert werden sollten, um Asylantrage auf EU-fremdem Territorium
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
zu prufen und gegebenenfalls abzulehnen. Oder wie der kostspielige Ausbau von Radarsystemen,
Soldatenpatrouillen und Grenzzaunen an Spaniens Sudgrenze. Nichts Neues also von Sarkozy?
Was bezweckte er dann, als er seine Meinung der spanischen Offentlichkeit prasentierte?
Fur Spanien ist Zuwanderung ein noch jun-
Abb. 8: Spanien: Fruher selbst Entsendeland.
ges Phanomen. Auch nach der Franco-Diktatur
war das Land lange selbst eine Quelle von
Emigration. Erst Anfang der 90er Jahre er-
reichte der Wandel vom Aus- zum Zuwande-
rungsland das offentliche Bewusstsein. Die
neuen Entsendelander waren nun dem Kauf-
kraftgefalle folgend konzentrisch weiter”au-
ßen“ zu finden. Im Fall Spaniens bedeutete
dies Immigration aus Nordafrika und Sud-
amerika, inzwischen erganzt durch beacht-
liche Zahlen nordeuropaischer Zuwanderer,
die ihren Alterswohnsitz im”Florida Euro-
pas“ suchen. Wie viele konservative Politi-
ker in der EU hatte Nicolas Sarkozy die Zuwanderungspolitik der sozialistischen spanischen
Regierung unter Jose Luis Rodriguez Zapatero argwohnisch verfolgt. Besonders eine von Zapa-
tero durchgefuhrte Kampagne zur Legalisierung bereits illegal in Spanien lebender Immigranten
hatte dazu gefuhrt, dass Sarkozy sich um die Zukunft seiner Zuwanderunspolitik sorgte. Schließ-
lich stellt Frankreich seit dem EU-Beitritt Spaniens 1986 nicht mehr die Außengrenzen der Union
dar und ist wegen der im Schengen-Abkommen als offen festgeschriebenen europaischen Innen-
grenzen auf die Kooperation mit den spanischen Nachbarn am Rande Europas angewiesen.
... und die EU auch
Zapateros Amnestiekampagne sorgte nicht nur bei Sarkozy fur Stirnrunzeln. Viele konservative
Politiker in Europa befurchteten, die Aussicht auf legalen Status konnte einen”efecto llamada“,
d.h. eine Sogwirkung auf potentielle weitere Zuwanderer haben. Schon eimal, namlich vor seinem
EU-Beitritt, hatte Spanien erst unter dem Druck der EU strengere Richtlinien fur die Einreise
aus Nicht-EU-Staaten eingefuhrt.
Weil Nicolas Sarkozy also seine Moglichkeiten schwinden sah, die Immigration im Sinne der von
ihm geforderten Kontrolle zu beeinflussen, wandte er sich an die spanische Offentlichkeit, um
seine Ansichten zu erlautern. Auch weil das spanische Volk seine zunehmende Politisierung unter
Beweis gestellt hatte, als es nach den Madrider Attentaten vom 11. Marz 2004 die rechtskonser-
vative Regierung von Jose-Marıa Aznar abwahlte und Jose Zapatero das Vertrauen aussprach.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Sarkozys Ziel muss es gewesen sein, den Vorwurf
Abb. 9: Thema Zuwanderung: Welche Kon-
zepte hat die Europaische Union?
zu entkraften, dass in der EU kaum griffige Kon-
zepte fur eine umfassende Losung der Zuwande-
rungsproblematik in Sicht seien. Drei Tage spa-
ter las man in El Paıs, dass neben den bereits
praktizierten Quotenregelungen, die von vorne-
herein nur den als okonomisch”wunschenswert“
betrachteten Auslandern den Weg in die Euro-
paische Union ebnen, noch auf anderem Wege
die Zuwanderung gebremst werden soll: Spanien
und Frankreich verpflichteten sich, Marokko mit
einem gemeinsamen Finanzpaket zu unterstutzen, um durch wirtschaftliche Entwicklung des
Maghreb-Staates den Druck auf die europaischen Grenzen zu mindern.
Mabel Carlos wird wutend, wenn sie von solchen Versprechen hort. Nachdem sie mehrere Jah-
re als Freiwillige fur die NGO”Algeciras Acoge“ am sudlichsten Zipfel Andalusiens gearbeitet
hatte, gab die 53-Jahrige dort 2002 frustriert und desillusioniert auf:”Weil wir vom Geld der
Regierung und den damit verbundenen Bedingungen an unsere Arbeitsweise abhangig waren,
konnten wir nie frei vorgehen und Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, so Carlos. Und das sei bei den
Finanzspritzen fur Entwicklungslander und Immigranten nicht anders. Langst hatten in Spanien
Strukturen entstehen konnen, in denen sich die im Land ansassigen Einwanderer selbst orga-
nisieren und fur ihre Interessen eintreten konnten. Algeciras Acoge will Einwanderer bei den
Antragen auf Legalitat, bei der Jobsuche und der Eingliederung in die Gesellschaft untersutzen.
Doch mitnichten, so Carlos:”Die ganze Struktur ist so vorgegeben, dass man den Unternehmer-
geist dieser dynamischen Menschen bricht. Wir vermitteln ihnen ein Gefuhl der Ohnmacht und
Abhangigkeit.“
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
”Den NGOs sind die Hande gebunden“
Auch seit ihrem Ausscheiden bei der Nicht-Regie-
Abb. 10: Dauerbrenner Immigration:
Langst kein marginales Phanomen mehr.
rungsorganisation (NGO)”Acoge“ verfolgt die Irin
mit der feuerroten Haarpracht die nordafrikanische
Zuwanderung aufmerksam. Die verscharften Geset-
ze der Regierung Aznar, nach denen Spanier sich
strafbar machen, wenn sie in Not geratenen Immi-
granten helfen, statt die Polizei zu informieren, be-
obachtete Carlos mit wachsender Sorge; ein Freund,
der fur die”Comision Espanola de Ayuda al Refu-
giado“ arbeitete, die Immigranten nach der Ankunft
in Booten uber ihre Rechte informieren sollte, durfte
seine Arbeit nie aufnehmen. Und noch etwas ande-
res macht Carlos Sorgen:”Die Sprache der Medien,
aber auch das Auftreten mancher NGOs und der
kirchlichen Organisationen haben bewirkt, dass Im-
migranten hier in Spanien zunehmend uber einen
Kamm geschert werden.“ Wenn Manu Chao singt,
dass die Clandestinos ihr Leben zwischen Ceuta und
Gibraltar lassen, dann meint er nicht die hunderten
Immigranten, die jahrlich in der Straße von Gibraltar bei dem Versuch sterben, in schrecklich
ungeeigneten Booten nach Europa zu gelangen. Sondern er meint die, die es geschafft haben.
Und die dennoch ihr Leben zuruckgelassen haben. Ihre Identitat. Und genau die meint auch
Mabel Carlos. Zum Beispiel den 22-jahrigen liberianischen Politikstudenten, dessen Tagebuch
sie im Internet beim”Colectivo Frontera Sur“ gefunden hat.
Mi vida la deje entre Ceuta y Gibraltar...
Er schreibt dort:”Ich bin doch nur eine Ware, an der jeder Geld verdient. Nicht nur die Grenz-
beamten und Schleuser, auch die NGOs, angeblich gerade unabhangig vom Staat. Die benutzen
unsere Leichen und zerzausten Gesichter, um Subventionen zu beantragen. Seit ich unterwegs
bin, hat mich niemand mehr als Person wahrgenommen.“ Genau davor warnt Mabel Carlos:”Die-
se Menschen werden nie einfach als Menschen dargestellt, sondern immer als ein anonymisierter
Durchschnitt aller Einwanderer, als Kriminelle, als Illegale. Das ist gefahrlich, besonders in einer
Welt, die so viel Wert auf Individualismus legt.“ Denn naturlich sind restriktive Gesetze leichter
umzusetzen, wenn man nicht von konkreten Einzelschicksalen ausgeht, dem Leben der Zuwan-
derer kein Gesicht gibt. So werden die schwarzen Immigranten in der spanischen Presse meist
als”Subsaharianos“ bezeichnet, selten wird dieses
”sudlich der Sahara“ geographisch prazisiert.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Ningunear ist das Wort, mit dem Mabel Carlos diesen Iden-
Abb. 11: Immigranten in Spanien:
Ankommen bleibt eine Illusion.
titatsverlust an der Grenze zu Europa beschreibt. Es heißt
”Zum Niemand machen.“ Und es heißt außerdem, dass die
Immigranten meist unerwahnt bleiben, so dass die Offent-
lichkeit von ihnen nur erfahrt, wenn es opportun scheint.
Dessen ist sich Carlos sicher, die taglich die Blogs verschie-
dener Hilfsorganisationen im Internet durchforstet, wo Akti-
visten ihre Erfahrungen direkt beschreiben. Denn sie hat ei-
ne krasse Diskrepanz festgestellt zwischen dem Ausmaß der
Zuwanderung und der Gewichtung der Medienberichte. So
suchte sie in den großen Tageszeitungen vergeblich nach den
ersten Meldungen uber Misshandlungen durch die marokkanische Polizei in den provisorischen
Lagern der Immigranten in spe. Die hatten sich in den Waldern vor Ceuta und Melilla eingerich-
tet, den beiden autonomen spanischen Stadten in Marokko. Erst nach massivem Druck durch
die renommierte Organisation”Arzte ohne Grenzen“ erfuhr die Offentlichkeit von den Berichten,
die Mabel Carlos in den Blogs langst gelesen hatte.
Als dann einige tausend Immigranten versuchten, uber
Abb. 12: Melilla: Erste Hilfe vom Roten
Kreuz; Agence France Press
die Grenzzaune in Melilla und Ceuta zu klettern, da
bekam die vermeintliche”Bedrohung“ plotzlich ein Ge-
sicht und konnte in den Medien als”Lawine“ oder
”In-
vasion“ dargestellt werden. Dabei ist es nur eine andere
Form der Immigration, angepasst an die erneut ver-
scharften Kontrollen des Meerweges. Eine medienwirk-
same Form gleichwohl, weil die Immigranten vor dem
kollektiven Gewissen der Welt fur kurze Zeit wieder ein
Gesicht bekommen. Alejandro J. Rodrıguez Carrion,
Professor fur internationales offentliches Recht in Malaga, schreibt in El Paıs:”Die massiven
Eintritte in Melilla sind nur ein kleiner Prozentsatz der Immigranten, die alljahrlich unsere Kus-
ten erreichen.“ Im Jahr 2003 wurden allein in der Straße von Gibraltar 15.985 illegale Einwanderer
abgefangen, und die Zahl derjenigen, die es versuchten, muss entsprechend hoher gelegen haben.
Hinzu kommt die wachsende Gruppe der Afrikaner, die aus dem Suden Marokkos die lange und
gefahrliche Uberfahrt auf die kanarischen Inseln wagen - als Reaktion auf immer treffsicherere
Uberwachungssysteme in der Straße von Gibraltar.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Una raya en el mar:”Der Ansturm in Melilla ist nur ein kleiner Prozentsatz“
Mabel Carlos erzahlt, dass die Anzahl tag-
Abb. 13:”Mi vida va prohibida, dice la autoridad“:
Wovon Manu Chao singt, konnen Illegale in Me-
lilla ein Lied singen; El Paıs, 29.9.05
lich aufgegriffener Afrikaner in den Pateras,
den fur eine sichere Uberfahrt viel zu klei-
nen Booten, durch die selektive Berichter-
stattung lange Zeit niemandem bewusst ge-
wesen sei. Das anderte sich erst, als der An-
dalusier Jose-Luis Tirado in dem Dokumen-
tarfilm”Breitengrad 36“ die taglichen Abfang-
Aktionen der Polizei mit der Kamera beglei-
tete.
Werden Immigranten von der Polizei aufge-
griffen, beginnt damit fur sie oft erst der ei-
gentliche Spießrutenlauf. Vom Hafen in Ta-
rifa beispielsweise werden sie in die Polizei-
station auf der Isla de Palomas gebracht,
wo sie unter einem kleinen Leuchtturm erstmals verhort werden. Ziel ist dabei, wie auch spater,
die eindeutige Feststellung ihres Heimtlandes, um eine schnelle Abschiebung zu ermoglichen.
Nach polizeilicher Registrierung und Abnahme der Fingerabdrucke werden die”Neuen“ in die
Internierungslager in Tarifa oder Algeciras gebracht, wenn sie zur Umgehung der strengen Zu-
wanderungsgesetze ihre Herkunft verschleiern konnten. Dort treffen sie auch auf diejenigen, die
es geschafft haben, aus den CETIs in Ceuta und Melilla auf das Festland verlegt zu werden. Das
sind die”Centros de Estancia Temporal de Inmigrantes“, was
”Temporares Aufenthaltszentrum
fur Immigranten“ bedeutet. Bezeichnenderweise wurden diese Lager nach dem Ansturm auf die
Grenzzaune in der spanischen Presse als”Centros de Estacionamiento“ bezeichnet, was ein
”Par-
ken“ der Immigranten, ein Wegschließen, impliziert.
”Sind sie einmal in den Internierungslagern, muss innerhalb von 40 Tagen ihre Nationalitat fest-
gestellt werden, wenn die Behorden sie abschieben wollen“, erklart Manuel Lancha, der als Anwalt
in Algeciras Immigranten uber ihre Rechte informiert.”Und selbst dann geht es nur, wenn die
Herkunftslander ein Ruckfuhrungsabkommen mit Spanien unterzeichnet haben.“ Dazu wird von
Seiten der spanischen Regierung enormer Druck ausgeubt - wogegen sich die Herkunftslander
jedoch wehren, weil das Geld, das die Immigranten nach Hause schicken, oft den großten Anteil
ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) darstellt. Uber vier Milliarden Euro schicken die afrikani-
schen Migranten jahrlich in die Heimat. Weltweit sind es 150 Milliarden, rund 10% des BIP der
Bundesrepublik Deutschland.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Correr es mi destino, para burlar la ley - der Spießrutenlauf beginnt spater
”Kann die Herkunft der Immigranten innerhalb der Frist von 40 Tagen nicht ermittelt werden,
bekommen sie einen Ausweisungsbescheid, der aber in aller Regel nicht vollstreckbar ist“, so
Lancha weiter. Damit bewegen sie sich fortan zwischen zwei Welten, konnen einzig auf dem
”parallelen Arbeitsmarkt“ Geld verdienen. Weder haben sie eine soziale Absicherung noch legale
Vertrage. Sie leben fortan als Fantasma de la ciudad, als Gespenst der Stadt, wie Manu Chao die
illegalisierten Zuwanderer nennt, die”schon nicht mehr da sind, wenn man sie sucht.“ Jetzt mus-
sen sie hoffen, politisches Asyl zu erhalten oder bei einer erneuten Legalisierungskampagne Gluck
zu haben. Dafur wiederum ware ein Arbeitsvertrag unerlasslich, so dass bei der letzten Aktion
im April 2005 rund 800.000 der 1,7 Millionen insgesamt in Spanien lebenden Illegalen keine echte
Chance auf den Wechsel in die legale Gesellschaft hatten. Sandro Mezzadra, Politikprofessor an
der Universitat Bologna, fordert daher vehement die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen
auch an Immigranten, die keinen Arbeitsvertrag vorweisen konnen:”Wir zwangen diese Men-
schen in eine Parallelgesellschaft: Sie werden nicht abgeschoben, eine Existenz durfen sie sich
aber auch nicht aufbauen. Das ist nichts anderes als eine europaische Apartheid.“
Außer aus Sudamerika sind die meisten Clan-
Abb. 14: Aspiranten in Chefchaouen: Viele Tee-
nager sind mit Perspektivlosigkeit konfrontiert.
destinos aus Marokko. Besonders in Andalu-
sien, Katalonien und der Hauptstadt Madrid
siedeln sich viele an; in jungster Zeit kommen
immer mehr Afrikaner aus Landern sudlich
der Sahara. Fast jeder Spanier kann von sei-
nen eigenen Erfahrungen mit der Immigrati-
on berichten, und die wachsende Politisierung
der Bevolkerung ist neben dem Terrorismus
vor allem mit dem Thema der Zuwanderung
verknupft.”Fruher war es eine Seltenheit, in
der U-Bahn Fremde zu treffen“, erzahlt Mi-
guel Salgado Subiza aus Madrid,”heute sind
es meist weit uber 50% der Nutzer.“ Anfangs
habe es noch Graffiti und eine rechtsradikale Bewegung gegeben, in denen sich die Skepsis der
Bevolkerung manifestierte.”Doch inzwischen haben erstaunlich viele das immense Potential der
Zuwanderung erkannt“, so Subiza. Die peruanische Haushalterin seiner Familie war anfangs sehr
skeptisch, als Miguels Vater ihr helfen wollte, im Rahmen der Legalisierungskampagne Anfang
2005 ihre Papiere in Ordnung zu bringen. Obwohl sie einen Vertrag vorweisen konnte und auch
die weiteren Bedingungen erfullte, furchtete sie den Kontakt mit den spanischen Behorden - und
weil sie wegen der Steuerzahlungen als legal Beschaftigte monatlich 30 Euro weniger verdiente,
hatte sie anfangs die Legalisierung am liebsten ruckgangig gemacht.
12
Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Als Salgado Subiza am Morgen des 11. Marz 2004
Abb. 15: Karikatur:”Das Afrika nordlich der
Sahara“ in Anspielung auf den Kulturenmix
im neuen Europa, El Paıs, 26.9.05
von den Anschlagen in seiner Heimatstadt erfuhr,
war einer seiner ersten Gedanken der an die vielen
Immigranten, die in der Hauptstadt lebten.”Ich
dachte, dass es jetzt eine Welle von Fremdenhass
geben wurde und war wirklich besorgt“, so Subi-
za. Doch in Wirklichkeit war die Anspannung in
Madrid wesentlich großer, solange Politiker noch
die baskische Terrorgruppe ETA fur die Anschla-
ge verantwortlich machten.”Und spater richtete
sich unser aller Zorn eher auf Ministerprasident
Jose Maria Aznar, der kurz vor den Wahlen wich-
tige Informationen uber die wahren Hintergrunde
der Attentate verschleiert hatte.“ Bei den folgen-
den Großdemonstrationen seien die Burger der Hauptstadt eher enger zusammengeruckt, wie
Subiza damals erleichtert beobachtete.
Abschiebelager fur Kinder?
Neben dem fantasma de la ciudad von Manu Chao geis-
Abb. 16: Abschiebelager fur Kinder:
Wer junger ist als 14, darf bleiben.
tert noch ein anderes Gespenst durch die Stadte Spa-
niens, in denen viele Zuwanderer leben. Das Gespenst
von den Lagern fur Minderjahrige namlich, das in Spa-
nien derzeit kontrovers diskutiert wird. Maria Bris Por-
tillo hat dieses Gespenst oft gesehen: In den Augen der
Jugendlichen, die sie in einem SOS-Kinderdorf in Gra-
nada betreut.”Wer junger als 14 Jahre ist, der wird
ohne seine Eltern nicht abgeschoben“, erklart sie.”Und
das wissen die Schleuser, so dass sie Eltern und Kinder
voneinander trennen, um zumindest den Kindern eine
bessere Zukunft in Europa zu ermoglichen.“ Naturlich
weiß die spanische Regierung das auch. Deshalb will sie jetzt ein Abschiebelager fur Kinder in
Marokko finanzieren, um die Anreize fur verzweifelte Eltern abzuschwachen: Die Kinder wurden
ohne weitere Uberprufung sofort auf marokkanischen Boden zuruckgebracht.”Das wurde sie de-
moralisieren“, hofft der Prasident von Melilla, Juan Jose Imbroda. Dass Spanien die angemessene
Behandlung der Abgeschobenen nicht garantieren kann, erfuhr die Welt, als die in den Waldern
vor Melilla wartenden Afrikaner von der marokkanischen Polizei ohne Wasser oder Essen in der
Wuste Algeriens abgesetzt wurden.”Da gab es bei euch in Deutschland einmal eine ahnliche
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Sache“, erinnert sich die bestens informierte Sozialarbeiterin Bris Portillo:”Deutschland konnte
Einwanderer aus Osteuropa ohne langwierige Uberprufung der Papiere nach Polen zuruckbrin-
gen. Ob sie von dort nicht in die Ukraine weiter verladen wurden, wohin Deutschland selbst sie
nicht abgeschoben hatte, das war nicht immer klar.“
Internierungslager fur Minderjahrige einzurichten, das findet
Abb. 17: Kinderlager:”Ihre
Moral noch weiter gebrochen.“
Bris Portillo”kurzsichtig und verantwortungslos.“ Es zeige nur,
wie weit verbreitet die Einstellung”aus den Augen, aus dem
Sinn“ tatsachlich sei. Da werde außerdem klar, dass Immigra-
tion weit mehr Gebiete umfasse als Geographie, Politik oder
Wirtschaft allein. Schließlich sei auch Psychologie ein entschei-
dendes Instrument:”Mit diesen Lagern wird ihre Moral wieder
ein Stuck weiter gebrochen, wird ihnen wieder das Existenz-
recht abgesprochen“, argert sie sich.”Dabei sind das Leute, die
bereit sind, alles anzupacken, sich abzurackern.“ Selbst die SOS-
Kinder wurden zwar mit großem Erfolg in die spanische Gesellschaft entlassen, doch ihre Traume
seien dabei haufig engen Scheuklappen gewichen. Ihre Willenskraft und der fur einen gelungenen
Beitrag zum Wohl der westeuropaischen Gesellschaft so wichtige Unternehmergeist werden den
Immigranten schnell ausgetrieben.
Haufig sind es die Zuwanderer, die fur die spanische Wirt-
Abb. 18: Kultureller Reichtum:
”Das Potential erkannt.“
schaft unerlassliche Jobs verrichten. Als das Stadtchen Lepe
in der Provinz Huelva Anfang unseres Jahrzehnts die Kon-
trollen der Arbeitserlaubnisse intensivierte, verrotteten ton-
nenweise ungeerntete Erdbeeren, weil keine Einheimischen
bereit waren, die Arbeitsbedingungen und niedrige Bezah-
lung auf den Feldern zu akzeptieren. Ahnlich werden auch
die Ernten im Raum Almerıa und die besonders harte Ar-
beit in den gluhend heißen Gewachshausern in derselben Ge-
gend inzwischen zum Großteil nur noch von Immigranten
ubernommen. Entsprechend sind in Spanien kaum populis-
tische Stimmen zu vernehmen, die Einwanderern die Schuld
fur Arbeitslosigkeit geben, wie das in Deutschland bisweilen
versucht wird.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Sie haben Gesichter...
Einer, der auszog, um bei der Ernte in Spanien zu helfen, ist
Abb. 19: Mahnend: Einzelne
werden kaum wahrgenommen.
Abdel Aziz, ein Berg von einem Mann, der mit seiner Fami-
lie inzwischen wieder in Asilah wohnt.”Ich bin auf der Lade-
flache eines LKWs zwischen Teppichen und Kleidungsstucken
nach Spanien gelangt und wollte bei der Ernte oder als Ho-
telbediensteter gutes Geld verdienen.“ Schließlich sind die fur
spanische Verhaltnisse extrem niedrigen Lohne fur viele Ma-
rokkaner Gold wert: Das kaufkraftbereinigte Jahreseinkommen
in Spanien liegt rund sechsmal hoher als das in Marokko. Die
spanisch-marokkanische Grenze weist damit eines der großten
Rentengefalle der Welt auf - nicht umsonst wird die Straße von Gibraltar auch als der”Rio
Grande Europas“ bezeichnet. Außerdem liegt in Marokko das Durchschnittsalter der Bevol-
kerung rund 16 Jahre unter dem in Spanien, die Anzahl der Kinder unter 15 Jahren ist im
Maghreb-Staat mehr als doppelt so hoch. Kein Wunder also, dass sogar trotz des großen infor-
mellen Dienstleistungssektors die Arbeitslosigkeit in Marokko die spanische deutlich ubersteigt:
Das Wirtschaftswachstum kann mit dem der Bevolkerung nicht annahernd Schritt halten. Wah-
rend die spanische Bevolkerungspyramide am Ubergang von der Urne zur Pilzform steht und
damit derselben Versorgungslucke entgegengeht wie andere westeuropaische Staaten, wird in der
marokkanischen Pyramide die Basis immer breiter. Daran lasst sich der Zuwachs an Kleinkindern
ablesen, die auf einen bereits uberfullten Arbeitsmarkt nachstromen. Das erklart in Ansatzen
die wirtschaftlichen Faktoren, die viele bewegen, nach Europa uberzusiedeln, sei es legal oder
ohne Papiere.
Fur Abdel Aziz endete das Abenteuer Spanien mit Erniedrigung. Heute arbeitet er wieder mit
Touristen in seiner marokkanischen Heimat, verdient sein tagliches Brot selbst und lebt im ei-
genen Haus, ohne standig auf der Hut sein zu mussen. Er ist uberzeugt:”Ich war einfach nicht
verzweifelt genug, um standig unter freiem Himmel zu schlafen, immer wegzurennen und keinerlei
Sicherheit zu haben.“ Auch das gibt es also. Mitlaufer und solche, die gar nicht aus tiefster Ver-
zweiflung den Sprung in die EU versuchen wollen, sondern schlicht interessiert sind, wie es sich
auf der anderen Seite der Grenze zum Nachbarland lebt - ahnlich den meisten Europaern eben.
Naturlich gibt es das. Doch im alltaglichen Prozess der Anonymisierung vergisst man schnell -
dann wird jedem Immigranten die gleiche Lebensgeschichte angedichtet und der Einzelne kaum
noch wahrgenommen.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Ein Einzelner wie Mohammed Al Gelium. Zehn seiner bisher 21 Lebens-
Abb. 20: Mohammed
Al Gelium:”Eine
Existenz aufbauen.“
jahre hat er mit Drogengeschaften verbracht. Von seinem siebten bis
zum 17. Wiegenfest, anfangs als unauffalliger Kurier mit einem Ruck-
sack voller Haschich, spater mit noch gefahrlicheren Auftragen. Dann
besuchte er seinen Onkel in Malaga, dienstlich sozusagen. Mit dem Geld
aus dem Drogenhandel war es nicht schwierig, einen Reisepass zu be-
kommen. Doch als Mohammed sah, wie schnell sein Onkel nach der
Enttarnung seiner Machenschaften tief absturzte, da schwor er der Lust
auf das schnelle Geld ab.”Ich will nach Spanien, nach Europa. Aber
dann will ich auch bleiben konnen und mir eine Existenz aufbauen“,
erklart er den Schritt. Seither hat er so viele Spanier kennengelernt, die
in seinem Dorf Chefchaouen im Rif-Gebirge Halt machten, dass er seine
Dienste als Fremdenfuhrer gar nicht mehr auf der Straße anbietet.
Zu ihm kommt nur, wer seine Telefonnummer schon im
Abb. 21: Umweltverschmutzung:
”Wenn ich an die Zukunft denke...“
Gepack hat. Und wer mit ihm zu Abend isst, wird von
mindestens drei Handy-Kurznachrichten aus Spanien un-
terbrochen. Mohammed hat Freunde in jeder spanischen
Provinz und eine innere Landkarte der iberischen Halb-
insel, wie die wenigsten Spanier sie verinnerlicht haben.
Wie ein Schwamm saugt er die Namen und Beschreibun-
gen aller Orte auf und stellt Fragen ohne Unterlass. Ist er
denn in Chefchaouen nicht besonders gut dran? Taglich
kann er mit seinen auslandischen Freunden in die Berge,
ist in der Natur, und verdient so viel, dass er hervorsticht
unter den einheimischen Kameraden.
Sicher gehe es ihm gut, druckst er herum, doch er wol-
Abb. 22:”...hier kann ich mich nicht
weiterentwickeln“
le eben selbst wahlen durfen und nicht immer die Halfte
seines Geldes an Polizisten abgeben, die ihren Anteil am
Geschaft fordern.”Um den Moment mache ich mir we-
nig Sorgen. Aber wenn ich an die Zukunft denke - hier
kann ich mich nicht weiterentwickeln.“ Er wird unterbro-
chen vom Muezzin, der die Burger per Mikrofon an ihre
Gebetspflicht erinnert. Zum Abschied an diesem Abend
schlagt Mohammed mit der rechten Hand ein - mit der-
selben beruhrt er dann sein Herz, voller Respekt fur seinen
neuen Freund.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
”Stell Dir nur vor! Weggehen zu konnen...“
Was mussten Burger afrikanischer Staaten tun, um einen
Abb. 23: Auf dem Weg in die Moderne.
Pass fur die legale Einreise nach Spanien zu bekom-
men? Einen dieser Passe, mit denen Touristen in dem
Buch”Welcome to Paradise“ den Autor Mahi Binebine
in Rage bringen:”Was wollten diese Fremden, die in
unserer Armut herumstocherten? Ich hatte bereitwil-
lig noch mit der armseligsten dieser Figuren den Platz
getauscht.“ Vertraumt ruft er seinem Cousin Reda zu:
”Stell Dir nur vor! Weggehen zu konnen...“
In der Theorie muss der Antragsteller eine Einladung
vorweisen, eine Hotelreservierung und ein Ruckflug-
ticket, zuletzt einen Kontoauszug, der ausreichendes Guthaben belegt. Die meisten dieser Papiere
sind auch gefalscht erhaltlich, und die Antrage konnen aufgrund ihrer schieren Masse kaum mehr
als stichprobenhaft gepruft werden. Daher hangt die Visa-Vergabe bisweilen nur von der Laune
des Konsulatsbeamten ab. Und doch scheint die illegale Einreise fur viele die einzige Option,
aus Angst vor den Behorden oder weil die Tagesform des Sachbearbeiters ungunstig ausfiel. In
der Praxis ist die so genannte”Harraga“ weiter verbreitet, bei der die illegalen Immigranten
lange vor der marokkanisch-spanischen Grenze samtliche Papiere verbrennen, die ihre Herkunft
dokumentieren. Das ist der erste Schritt der Anonymisierung und zugleich notig, um nicht nach
der Ankunft in Spanien unverzuglich abgeschoben zu werden.
Quoten wenden den Fokus von den Herkunftslandern ab
Spanien hat mit 16 Landern Ruckfuhrungsabkommen
Abb. 24: Spanische Entwicklungshilfe:
Druck in Entsendegebieten lindern.
geschlossen. Sechs davon liegen in Afrika, und weitere
sollen folgen. Mit okonomischer Kooperation lockt das
Land die afrikanischen Regierungen, auf einen Teil der
von den Emigranten heimgeschickten Devisen zu ver-
zichten, die meist einen Großteil des Inlandsproduktes
ausmachen. Mit zusatzlichen Quotenkontingenten lasst
sich die Peitsche der Abschiebung mit dem Zuckerbrot
eines Teilersatzes verbinden. Doch gerade die Quoten
fur den spanischen Arbeitsmarkt, nach denen die Zu-
wanderer in wunschenswerte und solche, die schon in
ihrer Heimat eine Abfuhr bekommen sollen, unterteilt
werden - gerade sie zeigen in symptomatischer Form, warum der Immigrationsdruck auf die Eu-
ropaische Union bisher kaum gemindert werden konnte: Der Fokus liegt auf den okonomischen
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Bedurfnissen der Union, und die Situation in den Entsendelandern wird bereitwillig ausgeblen-
det. Es interessiert, wer die Quoten erfullen kann - wer jedoch dem Selektionsprozess zum Opfer
fallt, der kann aus dem kollektiven Gewissen zumindest solange verbannt werden, bis er sich am
Grenzzaun von Melilla die Hande zerschneidet.
Um tatsachlich nur die der okonomischen Notwendig-
Abb. 25: Gerberei, Arbeit im Schmutz:
Im Laufschritt das Weite suchen.
keit angepasste Zuwanderung zu gestatten, zugleich aber
den Druck der illegal Einlass Suchenden zu mindern,
musste der Blick dorthin wandern, woher immer mehr
der Immigranten stammen: Ins Afrika von Hunger, Bur-
gerkrieg und AIDS, nach Sierra Leone, Liberia und
Ghana, nach Senegal und Burkina Faso. Dem spani-
schen Ministerprasidenten Jose Luis Rodriguez Zapa-
tero wird wegen seiner Legalisierungskampagne eine
Sogwirkung angekreidet, verstarkt durch hochglanzen-
de TV-Bilder eines vermeintlichen europaischen Alltags
auf vergoldeten Straßen. Doch die konnte uber mehr als
3500 Kilometer und quer durch die großte Wuste der Welt ihre Distanzwirkung kaum entfalten,
wenn nicht in den Landern selbst Grund genug bestunde, im Laufschritt das Weite zu suchen.
Wer mehrere Jahre großter Entbehrungen, der Erniedrigung durch Polizei und der standigen Un-
gewissheit zweifelhafter Erfolgsaussichten auf sich nimmt, um irgendwann vor den Toren Melillas
oder Ceutas eine Leiter aus Holz und Stofffetzen zusammenzubauen, der ist nicht aus Fernweh
unterwegs. Wie Abdel Aziz aus Asilah mir bestatigt hatte, der”schlicht nicht verzweifelt genug“
gewesen war, um diese Verluste an Lebensjahren zu ertragen.
Statt Zaun rauf bald Subventionen runter?
Die Erhohung der Grenzzaune in Ceuta und Melilla von drei
Abb. 26: Coca-Cola-Pferd: Ab-
hangigkeiten in Kauf genommen.
auf sechs Meter und die Installation von Uberwachungsan-
lagen, Kameras und weiteren Kraften der Guardia Civil soll
die spanische Regierung uber 170 Millionen Euro kosten. Die
Europaische Union bezuschusste zwischen 2002 und 2004 die
Entwicklung des technisch aufwandigen Kontrollsystems SI-
VE, das sich auf Satelliten, Radars und Infrarotgerate stutzt,
mit 103 Millionen Euro. Die gleiche Summe wurde fur den
Ausbau bis 2008 zugesichert. Und nach dem Ansturm auf
die Zaune der beiden Exklaven sagte die Union 40 Millionen
Euro fur die Ausbildung des marokkanischen Grenzschutzes
zu.”Schotten dicht“ also? Normalerweise ist das die Vorgabe fur ein sinkendes Schiff, um die Zeit
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
bis zum Untergang zu verlangern. Doch nehmen wir nicht eher fur uns in Anspruch, als Arche
Noah des 21. Jahrhunderts gerade einen zukunftsfahigen Ausbau zu durchlaufen? War es bei den
jungsten Erweiterungen der Europaischen Union nicht das Ziel, einen prachtvollen Dampfer zu
konstruieren?
Deswegen machen andere Konzepte die Runde: Statt”Zaune rauf“ soll die Formel
”Subventionen
runter“ zum Ausdruck bringen, wie der Auswanderungsdruck in den Herkunftsgebieten afrikani-
scher Immigranten gelindert werden kann. Denn hohere Zaune werden auch in Zukunft hochstens
bewirken, dass die Illegalen noch mehr Risiko eingehen und noch unmenschlichere Behandlung
von Seiten der Schleuser ertragen mussen - schließlich steigt mit erhohtem Risiko auch der Preis.
Zaune stoppen die Zuwanderung genausowenig wie Friedhofsmauern die Menschen vom Sterben
abhalten. In diesem Sinne hatte Jose Manuel Barroso, Prasident der EU-Kommission, seinem
afrikanischen Pendant Alpha Oumar Konare versichert, dass er sich fur einen konstruktiveren
Dialog mit Afrika einsetzen werde, denn, so Barroso:”Es geht nicht nur um unsere Werte wie
Solidaritat oder Großzugigkeit, es geht auch um unsere Interessen.“ Weil die langfristige Wirt-
schaftslage Europas auch vom Ertragsgefalle zu den Nachbarstaaten abhangt, stimmte Konare
ihm zu und warnte vor selektiver Einwanderungspolitik, die bewirken konnte, dass das”wert-
vollste geistige Potential Afrikas“ abgeschopft wird.
Die Ideen, wie eine effektivere und umfassendere Investition in die Zukunft Afrikas und damit
auch Europas aussehen konnte, sind vielfaltig. Aus Frankreich stammt der Vorschlag, Flugtickets
zugunsten afrikanischer Entwicklungsprogramme zu besteuern. Dadurch wurde unsere privile-
gierte Reisefahigkeit denen zu Gute kommen, die davon derzeit noch weit entfernt sind. Der
Wiener Migrationsforscher Michael Jandl schlagt den Verkauf befristeter Visa vor, die ahnlich
teuer sein sollen wie die illegale Einreise mit Schleppern. Die Einnahmen sollen zu gleichen Tei-
len fur Entwicklungsprojekte im Herkunftsland und die Sozialversicherung in Europa verwendet
werden, außerdem fur eine Kaution, die nach Ruckkehr in die Heimat ausbezahlt wird.
Die EU hat bereits beschlossen, die Entwicklungshilfe bis
Abb. 27: Zapateros Allianz der
Zivilisationen muss glaubwurdiger
werden.
2010 auf 0,56 und bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonatio-
naleinkommens zu steigern. Damit die von Spaniens Minis-
terprasident Zapatero ausgerufene Allianz der Zivilisationen
jedoch glaubwurdig wird, fehlt derzeit noch die Zusage eines
betrachtlichen Abbaus der Agrarsubventionen. Noch lasst
sich leicht ein fur alle Europaer relevanter Kreislauf postulie-
ren: Die Subventionierung europaischer Agrarprodukte und
das Abladen von Uberschussproduktion in Afrika zu Dum-
pingpreisen erzeugen den Auswanderungsdruck, der fur den
enormen Zustrom an jungen Afrikanern in die EU sorgt. Mit
schrittweisem Subventionsabbau wurden die zu großen Teilen
von der Landwirtschaft abhangigen Okonomien Afrikas zunehmend auf eigene Beine gestellt und
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
auch der innerafrikanische Handel konnte endlich wachsen. Nur so kann die Versorgung mit dem
rapiden Bevolkerungswachstum Schritt halten, und nur so konnen die”verhinderten Akteure“
Afrikas ihre dringendsten Probleme bald wieder selbst angehen - sei es das ungebremste Bevolke-
rungswachstum, die seuchenartige Ausbreitung von AIDS oder die oft minimalen Bildungsmog-
lichkeiten als Grundlage zukunftiger Entwicklung. Die Verantwortung, den afrikanischen Staaten
wieder auf eigene Fuße zuruckzuhelfen, erwachst aus den politischen und finanziellen Abhangig-
keiten, die westliche Staaten in Zeiten von Kolonialisierung und Industrialisierung zumindest in
Kauf genommen, wenn nicht gezielt entwickelt haben - denn erst diese Abhangigkeiten haben
aus materieller Armut etwas gemacht, das viel schlimmer ist: Elend.
”Ich wollte leben, das war Alles.“
Nach vier Wochen in Spanien und Marok-
Abb. 28: Sagt mir, warum liebt ihr die Freiheit?
ko stehe ich also hier am Strand von Tari-
fa in einem verfallenen Boot, und sehe das
Spiel der Wellen nur mit halber Aufmerk-
samkeit. Ich denke noch einmal an Yous-
sef Boutkhannte. Der hatte in Marokko ei-
ne Ausbildung und sogar einen Job als Au-
tomechaniker. Doch das war ihm nicht ge-
nug. Taglich flimmerte die glanzende Welt
spanischer Daily Soaps vor seinen Augen,
standig begegneten ihm Touristen, die sich
frei in seiner Welt bewegen durften. Warum
sollte ihm nicht das gleiche Recht zustehen?
Warum sollte er nicht frei sein?”Ich wollte leben, das war alles“, zuckt er mit den Schultern,
”und ich wollte mich nicht mehr bevormunden lassen, sondern selbst entscheiden wie die Ju-
gendlichen in Europa.“ Also schaffte er es irgendwie nach Malaga und von dort nach Frankreich,
wo er sich wegen seiner gebrochenen Kenntnisse in Franzosisch besser verstandigen konnte. In
Italien arbeitete er fur den Sicherheitsdienst in einem Fußballstadion und gelangte schließlich
nach Suditalien, von wo er nach Tunesien ubersetzte. Immer noch auf der Suche nach”Houria“,
nach Freiheit. Alles mit einer gebrochenen Nase:”Das war mein erster Befreiungsversuch, in Ma-
rokko“, grinst er,”weil ich meine Rechte einforderte, bekam ich mit einem Polizeistock Prugel.“
Ich hatte ihm von der kleinen Welle im Ozean erzahlt, die manchmal auf der großen Welle des
Systems surft, um nicht zu viel Kraft zu verlieren, und die sich dann immer wieder selbstandig
macht, um nie ganzlich verschluckt zu werden. Er hatte gelachelt. Das Ende hatte er schon gar
nicht mehr gehort, weil er ein Lied im Radio mitsummte.”Dites-moi, pourquoi vous aimez la
liberte?“ -”Sagt mir, warum liebt ihr die Freiheit?“
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Quellen
Neben den unzahligen informellen Gesprachen in Bussen, Cafes, auf Fahren und in Warteschlan-
gen habe ich einige ausfuhrliche Interviews in Spanien, Marokko, Tunesien und Deutschland
gefuhrt. Wegen der brisanten Situation in Ceuta und Melilla habe ich die Recherchen und In-
terviews per Internet, e-mail und Telefon von zu Hause aus auch nach der Reise noch fortgesetzt.
Interviewpartner:
1. Youssef Boutkhannte, Marokkaner, der in Italien, Spanien und Tunesien als Gastarbeiter
gelebt hatte.
2. Mohammed Al Gelium, Marokkaner im Bergdorf Chefchaouen, der nach Spanien will.
3. Abdel Aziz, Marokkaner in Asilah, der aus Neugier mehrere Monate illegal in Spanien lebte
und nach eigener Aussage”nicht verzweifelt genug war, die Demutigung eines versteckten
Lebens zu ertragen.“
4. Mabel Carlos, vor 20 Jahren nach Spanien emigrierte Irin, die lange in der NGO”Algeciras
Acoge“ arbeitete.
5. Maria Bris Portillo, Sozialarbeiterin in der NGO”SOS-Kinderdorfer“, die vorher als Clown
in den Straßen von Ceuta in einem Integrationsprojekt tatig war.
6. Miguel Salgado Subiza, Spanier, der mir ausfuhrlich seine personlichen Erfahrungen mit
dem Thema Immigration und den Attentaten in seiner Heimatstadt Madrid im Marz 2004
schilderte.
7. Miriam Sanchez, die in einem”Centro de Primera Acogida“ in Madrid arbeitet, einer der
Acoge-Organisation ahnlichen Einrichtung.
8. Cody Selby, bei dem ich zehn Tage wohnen durfte und der wegen seiner Arbeit als Journalist
selbst viele weitere Gesprachspartner empfehlen oder vermitteln konnte.
9. Marie Liden, die eine TV-Dokumentation uber Roma in Rumanien gedreht hatte und mich
erinnerte, die Recherche nicht zu sehr ausufern zu lassen, ein Thema im Auge zu behalten
und mit der Strukturierung der Arbeit nicht zu lange zu warten.
10. Manuel Lancha, spanischer Anwalt in Algeciras, der versucht, Immigranten uber ihre Rech-
te gegenuber den Behorden zu informieren.
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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck
Weiterhin las ich taglich die spanischen Zeitungen El Paıs und EuropaSur aus Tarifa, sowie
spater die Nachrichten aus FAZ, ZEIT und Tagesschau, als es zur mediengerechten Eskalation
der Situation in Ceuta und Melilla kam. Das Buch”Welcome to Paradise“ vom marokkanischen
Autor Mahi Bihebine gab mir einen bewegenden Eindruck von den personlichen Geschichten der
Clandestinos, die so oft weg-anonymisiert werden. Auch”Gesichter der Erde“ von dem Heidelber-
ger Geographie-Professor Horst Eichler war ein treuer Begleiter und gab vielfaltige Denkanstoße,
was die Forderung wirtschaftlicher Entwicklung in den Entsendegebieten der Zuwanderer anbe-
langt.”The age of migration“ von Stephen Castles/ Mark J. Miller sowie
”Derecho a la fuga“ von
Sandro Mezzadra erlaubten Einblicke in die wissenschaftlichen Konzepte rund um das Thema
Migration, Globalisierung und Grenzdialoge.”Asylum and Migration policies in the European
Union“ von Steffen Angenendt (Hrsg.) erweiterte dabei den Blickwinkel um die EU-Perspektive.
Die Internet-Blogs vom”Colectivo Frontera Sur“ und des
”Red de dos orillas“ halfen, die
”News
behind the news“ von einer alltaglicheren Warte aus zu betrachten, und das internet-basierte
CIA World Factbook ermoglichte die einheitliche Auswahl der Zahlen zu Bevolkerung, Wirt-
schaft und Bildung in Spanien, Marokko und Deutschland sowie der EU.
Soweit nicht anderweitig markiert, sind alle Fotos eigene Aufnahmen von meiner Reise.
(a) Lekture...
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Route
Ich verbrachte insgesamt 20 Tage in Spanien und 10 Tage in Marokko. Nach vier Tagen am
Ankunfstort Jerez de la Frontera und in Zahara de los Atunes wurde ich beim Trampen von zwei
der o.g. Interviewpartner mitgenommen und durfte 10 Tage bei ihnen in Vejer de la Frontera
wohnen. Von dort aus erwanderte ich die Kuste zwischen Tarifa und Algeciras sowie die zwischen
Tarifa und der Playa de Bolonia, bekannt fur die Vielzahl an Fluchtlingsbooten, die dort anlegen
und bisweilen stranden. Außerdem fuhrte ich mehrere Interviews in Tarifa, Algeciras und Vejer,
die ich erst vor Ort arrangierte. Nach der Uberfahrt von Algeciras nach Ceuta ließ ich mir von
Maria Bris Portillo die spanische Exklave zeigen und sprach ausfuhrlich mit ihr. In Chefchaouen
im Norden des Landes verbrachte ich vier Tage mit Mohammed Al Gelium, der durch seinen
taglichen Kontakt mit Touristen viele interessante Ansichten zum Thema Immigration entwi-
ckelt hat. Eine Rundreise bis in die Sahara im Suden und nach Essaouira an der Kuste brachte
mich zuruck in die marokkanische Hauptstadt Rabat. Im Hotel Afrika verbrachte ich die Nacht
auf dem Dach mit Immigranten aus Ghana auf ihrem Weg nach Norden - auch auf dem fol-
genden Straßenabschnitt bis Asilah und schließlich Tanger bemerkte ich die enorme Anzahl der
in nordlicher Richtung wandernden Menschen. Weil inzwischen die Zaune in Melilla und Ceuta
besturmt worden waren, blieb ich nach der Fahrquerung noch einmal funf Tage in Tarifa und
Vejer de la Frontera, wo ich viele Hintergrunde erfuhr, die mir in den Tageszeitungen verborgen
geblieben waren. Den Ruckflug trat ich erneut von Jerez de la Frontera nach Frankfurt an.
(b) Quelle: Encarta World Atlas 2005, Microsoft Corporation
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