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§ 6: Schadensrecht
I. Grundgedanken und Grundbegriffe
• Das Schadensrecht regelt den Inhalt von Schadens-ersatzansprüchen, deren Bestehen es voraussetzt.
• Schadensersatzansprüche können verschiedene Funktionen haben:
– Primär dienen sie dem Ersatz von eingetretenen Schäden und sind so Ausdruck der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa).
– Immer stärker wird der präventive Zweck von
Schadensersatzansprüchen betont: Durch die
Drohung belastender Ansprüche soll ein bestimmtes
Verhalten erzwungen werden.
– In den USA verbreitet sind außerdem sog. punitive
damages, die der Bestrafung des Täters dienen.
• Traditionell steht die Ersatz- oder Ausgleichsfunktion
des Schadensersatzes im deutschen Recht ganz im
Vordergrund.
• Hieraus folgt der Grundsatz der Totalreparation:
Der Schädiger hat den gesamten Schaden zu ersetzen, den er zurechenbar verursacht hat.
• Die Höhe des Schadensersatzes ist deshalb grund-
sätzlich unabhängig von der Art des Verschuldens.
• Der Schädiger hat grundsätzlich auch Schäden zu
ersetzen, die oder deren Höhe er nicht vorhersehen konnte.
• Andererseits soll der Schädiger auch nur den Schaden
ausgleichen. Der Geschädigte soll durch den
Schadensersatzanspruch nicht bereichert werden.
a. Der „natürliche Schadensbegriff“ des BGB:
Jede unfreiwillige Einbuße an materiellen oder immateriellen Gütern und Interessen.
Unterscheide: Aufwendungen: freiwillige Vermögensopfer.
• Zum ersatzfähigen Schaden werden aber auch
erforderliche Aufwendungen gerechnet, die der
Geschädigte zur Abwendung oder Minderung eines
drohenden Schaden tätigt.
• Der natürliche Schadensbegriff wird in Ausnahmefällen
normativ korrigiert:
– Manche natürliche Schäden sollen nicht ersetzt
werden („Kind als Schaden“, sehr strittig)
Fall (nach BGHZ 76, 249):
Die M hatte bereits drei Kinder geboren. Die letzte
Geburt war sehr schwierig gewesen, und es bestand
die Gefahr noch größerer Komplikationen bei einer
weiteren Schwangerschaft. Aus diesem Grund
wandte M sich an den Arzt A, um sich sterilisieren
zu lassen. A führte die Operation aber fahrlässig
fehlerhaft durch, so dass M nicht sterilisiert wurde.
In der Folgezeit wurde M wieder schwanger und
gebar die K. Nun verlangt M von A Ersatz aller
Kosten, die ihr im Hinblick auf die Aufzucht der K
entstehen. Zurecht?
a. Der „natürliche Schadensbegriff“ des BGB:
Jede unfreiwillige Einbuße an materiellen oder immateriellen Gütern und Interessen.
Unterscheide: Aufwendungen: freiwillige Vermögensopfer.
• Zum ersatzfähigen Schaden werden aber auch
erforderliche Aufwendungen gerechnet, die der
Geschädigte zur Abwendung oder Minderung eines
drohenden Schaden tätigt.
• Der natürliche Schadensbegriff wird in Ausnahmefällen
normativ korrigiert:
– Manche natürliche Schäden sollen nicht ersetzt
werden („Kind als Schaden“, sehr strittig)
– In manchen Fällen ist das Vermögen zwar nicht
gemindert, aber es gibt dennoch einen Anspruch
(z.B.: Versicherung hat Schaden ausgeglichen).
b. Vermögens- und Nichtvermögensschäden
• Ob und inwieweit ein Schaden vorliegt, ermittelt man, indem man den gegenwärtigen Zustand mit dem Zustand vergleicht, der ohne das schaden-stiftende Ereignis bestünde.
• Soweit möglich, muss der letztere Zustand gemäß
§ 249 I BGB in natura hergestellt werden
(Naturalrestitution).
• Ist eine Herstellung in natura nicht möglich, kann nur
Geldersatz geleistet werden.
• Ergibt die Schadensermittlung eine Differenz im Vermögen des Geschädigten, ist diese Differenz
grundsätzlich als Vermögensschaden zu ersetzen.
Beispiel: Ein Oldtimer im Wert von 100.000 € verbrennt.
• Manche Schädigungen bilden sich nicht im Vermögen
des Geschädigten ab, man spricht auch von
immateriellen Schäden.
Beispiele:B tritt den A vor das Schienbein, so dass A einen
Bluterguss erleidet und zwei Wochen starke Schmerzen
hat. C überfährt fahrlässig den geliebten 13jährigen
sterbenskranken Hund der D, die deshalb sehr trauert.
• Für Nichtvermögens- oder auch immaterielle Schäden kann eine Geldentschädigung gemäß § 253 I BGB nur ausnahmsweise in den gesetzlich ausdrücklich
vorgesehenen Fällen verlangt werden.
• Die Abgrenzung zwischen Vermögens- und Nichtver-mögensschäden ist vielfach schwierig, weil umstritten
ist, welche Positionen sich wie im Vermögen abbilden.
c. Positives und negatives Interesse
Bei vertraglichen Schuldverhältnissen kommen häufig zwei Vergleichspositionen ohne das schädigende Ereignis in
Betracht. Der Geschädigte könnte so gestellt werden,
− wie er ohne den Vertrag gestanden hätte (negatives oder Vertrauensinteresse).
− wie er bei ordnungsgemäßer Durchführung des Vertrags gestanden hätte (positives oder Erfüllungsinteresse).
Beispiel:A hat dem B sein Ferienhaus in Griechenland für 100.000 €
verkauft. B hat selbst bereits einen weiteren Käufer K, der
für das Haus 120.000 Euro bietet. Als B und K vor Ort
eintreffen, erfahren sie, dass das Haus bereits vor einigen
Jahren bei einem Waldbrand abgebrannt ist.
II. Verursachung und Zurechnung des Schadens
1. Grundideen
• Ersatzfähig sollten nach Ansicht des Gesetzgebers nur Schäden sein, für die das Handeln des Schädigers kausal war.
• Bloße Kausalität kann aber häufig nicht genügen, um die
Menge ersatzfähiger Schäden ausreichend zu begrenzen:
Beispiel:Autofahrer A übersieht beim Abbiegen fahrlässig den
Radfahrer R und fährt ihn um. R wird durch den Unfall
leicht verletzt und muss deshalb im Krankenhaus behandelt
werden. Auf dem Weg zum Krankenhaus trifft ein Blitz den
Krankenwagen, und R erleidet schwere Verbrennungen.
• Durch normative Kriterien neben bloßer Kausalität wird eine sonst uferlose Haftung angemessen beschränkt.
2. Naturwissenschaftliche Kausalität
• Im Ausgangspunkt werden gleichwohl grundsätzlich
alle naturwissenschaftlich ermittelten Verursachungs-
beiträge gleichgewichtet (Äquivalenztheorie).
• Es gilt die conditio sine qua non-Formel: Die
Handlung kann nicht hinweggedacht werden, ohne
dass der Erfolg entfiele. Bei Unterlassungen kann die
pflichtgemäße Handlung nicht hinzugedacht werden,
ohne dass der Erfolg entfiele.
• Probleme gibt es vor allem in den Fällen konkurrie-render Kausalität und bei Gremienentscheidungen.
Beispiel:Der Aufsichtsrat A, der aus 7 Personen besteht,
beschließt mit 5 gegen 2 Stimmen. War das Ja des
Mitglieds M kausal für den Beschluss?
3. Objektive Zurechnung
Naturwissenschaftliche Kausalität bildet nur den
Ausgangspunkt und bedarf normativer Korrekturen. Man sagt, dass ein Schaden dem Schädiger auch
„objektiv“ (dh. normativ) zurechenbar sein muss.
a. Adäquanztheorie
Wichtiger Ansatz zur Beschränkung der Haftungsfolgen:
• Alle Ursachen sind irrelevant, die nur unter höchst
ungewöhnlichen, auch für einen optimalen
Betrachter unvorhersehbaren Umständen geeignet
sind, den Schaden herbeizuführen.
Probleme:
• Was kann der optimale Betrachter?
• Was, wenn die verletzte Pflicht gerade den ungewöhnlichen Schaden verhindern sollte?
Beispiel:Da es nur noch drei Blaubären auf der Welt gibt, ist ein
internationales Artenschutzabkommen für sie geschlos-
sen worden. Insbesondere ein chemischer Stoff darf
nicht mehr verwendet werden, der nur für Blaubären
tödlich ist. X kümmert sich nicht um das Verbot und ver-
wendet den Stoff trotzdem. Durch einen unglücklichen
Zufall kommen die drei Bären mit dem Stoff des X in Kon-
takt. Ist X das Aussterben der Blaubären zurechenbar?
b. Schutzzweck der Norm
• Nur solche Schäden sind zurechenbar, vor deren Eintritt die verletzte Pflicht schützen sollte.
• Der Schutzzweck muss stets durch Auslegung des Ge-
setzes oder des Vertrags konkret bestimmt werden.
Beispiel (nach OLG Frankfurt BeckRS 2011, 14474):
T hat für seine Hochzeit einen großen Saal von V gemie-
tet, der 600 Gäste fassen soll. Eine Woche vor der Feier
teilt V dem T mit, dass er sich bei der Größe des Saals
leider verschätzt habe. Tatsächlich passten nur 400
Personen hinein. T kann so kurzfristig keinen anderen
Saal mehr finden und muss 200 Gäste ausladen. Nun
verlangt er 8000 € Schadensersatz von V, weil die Gäste
im Schnitt 40 € Geschenke gemacht hätten. Zurecht?
Kriterien zur Bestimmung des Schutzzwecks:
• Inwieweit haben die Autoren der Norm das verletzte Interesse bei Erstellung der Norm vor Augen gehabt?
• Inwieweit ist die Norm zum Schutz des verletzten
Interesses ein verhältnismäßiges Mittel?
4. Hypothetische Kausalität
• Wenn der Schädiger einen Schaden verursacht hat,
wendet er u.U. ein, dass der Schaden auch ohne sein Verhalten eingetreten wäre, dass es also eine
„Reserveursache“ gegeben hätte.
• Inwieweit Reserveursachen beachtlich sind, ergibt
sich aus Sinn und Zweck der jeweiligen Pflicht.
• Wenn die Reserveursache bereits in dem verletzten
Objekt „schlummerte“, soll sie beachtlich sein.
Beispiel:Bei einem Arbeitsunfall wird A so schwer verletzt, dass
er fortan berufsunfähig ist. Allerdings stellt sich bei den
ärztlichen Untersuchungen heraus, dass A an einer
besonderen Krankheit leidet und seinen Beruf sowieso
in kurzer Zeit hätte aufgeben müssen.
• Grundsätzlich beachtlich soll der Einwand eines rechtmäßigen Alternativverhaltens sein: Hier hätte der Schädiger den Schaden auch auf andere, rechtmäßige Weise herbeiführen können.
• Es ist aber stets zu überlegen, ob die Berufung auf das Alternativverhalten durch die pflichtbegrün-dende Norm gerade ausgeschlossen sein soll.
Beispiel:Der Patient P begibt sich zu einer Routineuntersuchung zu dem Arzt A. Bei der Untersuchung entdeckt der A einen kleinen Tumor. Ohne sich groß um P‘sZustimmung zu kümmern, betäubt A den P und operiert ihn sogleich. Dabei kommt es zu einer Komplikation. Als P wiedererwacht Schadensersatz von A verlangt, wendet A ein, dass P bei Aufklärung über die Risiken der Operation zugestimmt hätte. Zurecht?
5. Vorteilsausgleichung
• Infolge des schädigenden Ereignisses können dem
Geschädigten auch Vorteile entstanden sein. Dann
ist zu prüfen, ob diese Vorteile bei der Berechnung des Schadens einzubeziehen sind.
Beispiel:Der Hauseigentümer H hat den Klempner K mit
Schweißarbeiten an seinem Dach beauftragt. Weil K
notwendige Sicherungen nicht vornimmt, kommt es
zum Brand des Dachstuhls und dann des ganzen
Hauses. Der Schaden des H wird allerdings zum Großteil
durch seine Brandschutzversicherung getragen. Kann K
gegenüber dem Schadensersatzverlangen des H
einwenden, dass er wegen der Versicherungsleistung
gar keinen Schaden hätte?
• Da der Geschädigte durch das schädigende Ereignis
unter Einbezug des Schadensersatzes insgesamt nicht
besser gestellt werden soll (Bereicherungsverbot),
müssten Vorteile grundsätzlich anzurechnen sein.
• Eine Anrechnung kommt aber nicht in Frage, wenn Wertungen der Rechtsordnung ihr entgegen stehen.
• Wenn ein Übergang des Schadensersatzanspruchs auf
einen Dritten gesetzlich vorgesehen ist, kommt eine
Anrechnung der Leistung des Dritten an den
Geschädigten nicht in Betracht.
Beispiel: Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse, auf die ein
etwaiger Anspruch nach § 116 SGB X übergeht.
• Eigenleistungen des Geschädigten, zu denen er nicht verpflichtet war, werden ebenfalls nicht angerechnet.
6. Haftungsbegründende und -ausfüllende Kausalität
• Manche Normen setzen in ihrem Tatbestand u.a. die
kausal verursachte Verletzung eines Rechtsguts
voraus. Als Rechtsfolge ist der Ersatz aller Schäden
vorgesehen, die kausal auf der Verletzung des
Rechtsguts beruhen.
• Hier ist die Kausalität an zwei Stellen zu prüfen:
Unterscheide:
• Haftungsbegründende Kausalität zwischen
Handlung und Rechtsgutsverletzung
• Haftungsausfüllende Kausalität zwischen
Rechtsgutsverletzung und Schaden
HandlungRechtsguts-
verletzungSchaden
Beispiel:A wollte im Lebensmittelgeschäft des G einkaufen.
Zwar hatte G ordnungsgemäß alle Bananenschalen
aufgesammelt, aber leider die Salatblätter übersehen,
so dass A darauf ausrutschen und sich so das Bein
brechen konnte. Auf dem Weg ins Krankenhaus geriet
der A transportierende Krankenwagen in einen Unfall,
bei dem A noch zusätzlich ein Schleudertrauma erlitt.
Die Operation im Krankenhaus verlief dann ohne
Komplikationen, aber während der anschließenden
Beobachtungszeit im Krankenhaus zog sich A einen
multiresistenten Erreger zu, erkrankte schwer und fiel
so mehrere Wochen bei der Arbeit aus. Nun verlangt A
von G Ersatz aller ihrer Schäden. Zurecht?
Literaturhinweise:
• Armbrüster, Grundfälle zum Schadensrecht, JuS
2007, 411-418, 508-512
• Keilmann, Oft unterschätzt: Allgemeines
Schadensrecht, JA 2005, 700-703
• Mohr, Berechnung des Schadens nach der
Differenzhypothese, Jura 2010, 327-339
• Mohr, Zurechnung von mittelbaren
Verletzungsfolgeschäden, Jura 2010, 567-578
• Unterreitmeier, Der Kahnfall gestern und heute -
ein Klassiker des Schadensrecht, JA 2012, 418-430