1
Tages-Anzeiger – Mittwoch, 14. Dezember 2011 31 Kultur & Gesellschaft Von Bettina Weber DRS 3 feiert sich mit der Aktion «Jeder Rappen zählt» gerade wieder selbst. Und wie immer in der Vorweihnachtszeit er- reichen einen von allen möglichen Orga- nisationen Bettelbriefe, in denen mit Fotos von traurigen Kinderaugen auf das Elend in dieser Welt aufmerksam ge- macht werden will. Und es fliesst, das Geld. Wenigstens einmal im Jahr will der Mensch Gutes tun und sein Gewissen be- ruhigen, weil da so gehungert und ge- storben wird anderswo in der Welt, wäh- rend wir hier im Überfluss leben. Dabei ist ja die Entwicklungshilfe längst nicht mehr unumstritten. Bücher wie «Wir ret- ten die Welt zu Tode» vom ehemaligen Weltbank-Ökonomen William Easterley oder «Dead Aid» von der in Sambia ge- borenen Ökonomin Dambisa Moyo kriti- sieren die Spendenwut aus dem Westen, die in den meisten Fällen kontraproduk- tiv, naiv oder gar unnütz sei. Ohne Pomp, dafür wirkungsvoll Die französische Entwicklungsökono- min Esther Duflo – 2008 vom «Econo- mist» zu den acht einflussreichsten Öko- nomen der Welt gewählt – brachte es im «Magazin» unlängst auf den Punkt: «Alle, die etwas Gutes tun möchten, wollen irgendwo ein Schulhaus finan- zieren. Dabei kommt es wirklich nicht auf das Gebäude an.» Kinder, führte sie aus, könnten überall unterrichtet wer- den, auch im Freien, die Infrastruktur sei dabei zweitrangig. Entscheidend sei, dass die Kinder überhaupt zur Schule gingen. Und das, so konnte nachgewie- sen werden, tun sie dann, wenn sie ge- sund sind, zum Beispiel, wenn sie ent- wurmt worden sind. Etwas so Banales ist wesentlich wirkungsvoller als ein Schulhaus, das mit viel Pomp einge- weiht werden kann. Einen ähnlich pragmatischen Ansatz verfolgt eine kleine, kaum bekannte NGO, die Vétérinaires Sans Frontières Suisse (VSF-Suisse). Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: VSF-Suisse rückt nicht in die Dritte Welt aus, um dort Strassenhunde zu retten oder gratis Kastrationen durchzuführen. VSF-Suisse ist überhaupt keine Tier- schutzorganisation, sondern engagiert sich in der humanitären Hilfe und in der Entwicklungszusammenarbeit. Der An- satz lautet schlicht, aber einleuchtend: «Gesunde Tiere – gesunde Menschen». Der Slogan stammt von Peter Rüsch, ehemaliger Professor an der Vetsuisse- Fakultät der Uni Zürich und später bei Bund und Kanton Zürich im öffentlichen Veterinärdienst tätig. Er hatte bis zu sei- ner Pensionierung vor einem Jahr kaum mit Entwicklungshilfe zu tun. Natürlich, er spendete hin und wieder, und einmal ging es bei einer Doktorarbeit um die Sterblichkeit bei Kamelfohlen in Kenia, aber das war es auch schon. Und jetzt steckt er da mitten drin. Rüsch übernahm im April als Delegier- ter des Vorstandes von VSF-Suisse in- terimistisch die Geschäftsleitung des finanziell angeschlagenen Vereins. Es klafft ein beachtliches Loch von einer halben Million Franken in der Kasse – al- lerdings nicht, wie Rüsch betont, weil Geld veruntreut worden sei. Die Haupt- gründe seien Währungsverluste, man- gelnde interne Kommunikation und feh- lende Kontrollmechanismen, vor allem auf Projektebene. Rüsch ist angetreten, den Verein finanziell und strukturell zu sanieren. Es gilt in erster Linie die Schul- den zu tilgen, Eigenkapital aufzubauen und wirksame Kontrollmechanismen einzuführen. Tätig ist der Verein zurzeit in sechs Ländern Afrikas: in Mali, Togo, Somalia, Kenia, dem Südsudan und der Demokra- tischen Republik Kongo. «Was wir tun», sagt Rüsch, «ist ganz einfach: Wir wollen den Menschen über ihre Nutztiere hel- fen. Wenn es den Tieren gut geht, geht es auch den Menschen gut.» Angesichts der Tatsache, dass welt- weit schätzungsweise eine Milliarde Menschen direkt von Nutztieren abhän- gig ist, wird deutlich, dass der so simpel klingende Ansatz bestechend ist. Es soll, so erklärt Rüsch, die Nahrungskette aus- gehend von den Nutztieren im Sinn von «de l’étable à la table» (vom Stall auf den Tisch) aufgezeigt und optimiert werden. So, dass die Menschen ein Auskommen haben und selbstständig für sich und ihre Familien sorgen können. VSF-Suisse impft oder entwurmt und bildet vor Ort Frauen und Männer zu Laientierärzten aus, die Krankheitssymptome erkennen und sie mit wirksamen und verfügbaren Mitteln behandeln können – kranke Tiere bedeuten Verlust. Genauso hilfreich ist das Aufklären über die Fortpflanzung und die Hygiene für den Fortbestand der Herde. Ein- fachste Sauberkeitsregeln sind nicht nur entscheidend, was die Haltbarkeit von Fleisch und Milch betrifft, sondern auch in Bezug auf seuchenhaft verlaufende Tierkrankheiten und Zoonosen, also Krankheiten, die sich vom Tier auf den Menschen übertragen, wie beispiels- weise die Tollwut oder die Vogelgrippe. Mitunter scheitert eine erfolgreiche Tier- haltung auch am traditionellen Denken. Es gilt in Afrika als Statussymbol, eine möglichst grosse Herde zu haben. So wirken sich aber Futter- und Wasser- knappheit, die sich in den letzten Jahren wegen immer häufiger auftretender Dür- reperioden verschärft haben, verhee- rend aus, denn oft verendet deswegen bis die Hälfte der Tiere. Ihre Milch kann nicht mehr genutzt werden, ihr Fleisch weder gegessen noch verkauft. VSF- Suisse überzeugt die Bauern deshalb, ihre Herden zu verkleinern. Damit wer- den die Überlebenschancen der verblei- benden Tiere erhöht, mit dem Erlös las- sen sich Esswaren kaufen, oder es wird das Schulgeld für die Kinder bezahlt. Das Fleisch wiederum ernährt ganze Familien, denen auch erklärt wird, was sie beachten müssen, um die geschlach- teten Tiere optimal zu lagern und zu konservieren. Ziegen für Kindersoldaten Manchmal sind es auch äussere Um- stände, die zu widersinnigen Situatio- nen führen, wie zum Beispiel in Mali: Da leben mehr Rinder, Ziegen und Schafe als Menschen. Und obwohl dabei Milch produziert wird, wird die lokale Milch kaum konsumiert und verarbeitet. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird hauptsäch- lich Milchpulver importiert – vor allem aus Ländern, die Milch im Überschuss produzieren. Und weil deren Export subventioniert wird, kommt das Pulver viel zu teuer auf den Markt. Seit man den in Mali ansässigen Nutztierhaltern ge- zeigt hat, wie Milch verarbeitet und vor allem wie sie ohne Qualitätseinbusse gelagert werden kann (unter anderem mit alten Milchkannen aus der Schweiz), hat die tägliche Annahme von Milch in den Molkereien um ein Drittel zugenom- men, und die Milchhändler nehmen fünfmal mehr ein als zuvor. Die viel zi- tierte Hilfe zur Selbsthilfe. Und mitunter arbeitet man nach demselben Prinzip, das die eingangs er- wähnte Entwicklungsökonomin Esther Duflo für vielversprechend hält: über Anreize. Zum Beispiel bei der Integra- tion von ehemaligen Kindersoldaten im Kongo und im Südsudan. Die Buben und Mädchen sind meist schwer traumati- siert und werden nach ihrer Rückkehr von ihren Verwandten verstossen. VSF- Suisse setzt sich dafür ein, dass diese heimatlosen Kinder in verlässliche Pfle- gefamilien kommen – als Gegenleistung erhalten die Familien Ziegen und eine Ausbildung, damit sie auch wissen, wie diese zu halten sind. Duflo berichtet, dass in einem Projekt in Indien die Impfrate der Kinder um 38 Prozent ge- steigert werden konnte, weil man den Eltern pro geimpftes Kind ein Kilo Lin- sen schenkte. So erfreulich und anerkannt die Arbeit von VSF-Suisse vor Ort ist, so sehr bereitet Peter Rüsch das Minus in der Kasse und die damit verbundene knappe Liquidität Sorgen – beides hat bei den bisherigen Geldgebern die Glaubwürdigkeit des Vereins erschüt- tert. Trotzdem hofft Rüsch, dass die bis- her anerkannte Arbeit im Feld und die immer noch bestehenden und erfolg- reich geknüpften Netzwerke in den er- wähnten Ländern erhalten werden kön- nen und vor allem: dass die Geldgeber wieder Vertrauen fassen. Erste wichtige Schritte zur Sanierung sind getan. Ende Jahr läuft sein Mandat aus, eine Nachfol- gerin ist bereits bestimmt. Peter Rüsch ist zuversichtlich. www.vsf-suisse.ch Schweizer Tierärzte engagieren sich für das Wohl der Menschen Nicht sehr bekannt, aber effektiv: Die Entwicklungshilfeorganisation Vétérinaires Sans Frontières Suisse. Ich (noch jung) nage sehr daran, dass die Ärzte unheilbaren Krebs diagnosti- ziert haben, und es ist sehr unklar, wie viel Zeit mir noch bleibt. Dieses Nagen hat natürlich viele Komponenten: Ich habe Angst vor dem Sterben; ich bin genervt und traurig, dass ich sterben muss, während meine gleichaltrigen Freunde das Leben zuallermeist ge- niessen können; ich weiss nicht, wie ich mit den Tagen umgehen soll, wenn mir jegliche Kraft fehlt. Ich bin bereits in Psychoanalyse und verblüfft, wie selbstsicher mein Therapeut ist, dass er mich auch in diese Sterbezeit hinein begleiten kann. Wie sehen Sie das, würden Sie es sich auch «einfach so» zutrauen, jemanden psychoanalytisch in den Tod hinein zu begleiten? S. E. Lieber Herr E. Nein, selbstsicher wäre ich nicht. (Aber vielleicht würde auch ich mir Mühe geben, wenigstens den Eindruck zu er- wecken, um Sie nicht mit meiner Un- sicherheit zu belasten.) Wie Sie vielleicht aus anderen Äusserungen an dieser Stelle wissen, stehe ich mit dem Tod auf Kriegsfuss. (Was dem Tod ziemlich egal sein dürfte – ich fürchte, ich bin ihm so recht wie jeder andere.) Die Noncha- lance, mit der davon gesprochen wird, dass wir alle sterben müssten und der Tod etwas ganz Natürliches sei, geht mir gegen den Strich. Desgleichen die Re- densart vom Recht auf ein Sterben in Würde (d. i. die Pflicht, die Krankenkasse auf seine letzten Tage nicht mehr unnö- tig zu strapazieren) und der euphemisti- sche Begriff der Sterbe-«Begleitung» («Ach, Sie sterben? Wissen Sie was, da begleite ich Sie doch ein Stück in den Tod hinein, da wollte ich sowieso mal wieder hin»). Und da ich schon mal beim Verflu- chen bin, schliesse ich den Normierungs- blödsinn der kübler-rossschen Sterbe- phasen gleich noch in meine Verdamm- nis mit ein. («Nein, Herr Schneider, zu- erst kommt das Verleugnen und dann die Resignation – nicht umgekehrt.») Der langen Vorbemerkung kurzer Sinn: Ich eigne mich ganz schlecht dazu, ent- spannt und sine ira et studio über Sterben und Tod zu reden. (Ich bin als Kind mit einer sterbenden Mutter aufgewachsen – meine Allergien, was diese Themen an- geht, sind immerhin solide biografisch fundiert.) Aber zuhören, was einer über sein Sterben erzählt, neben all dem ande- ren, was er erzählt und was eigentlich mit dem Sterben nichts zu tun hat, und nun doch durch den näher rückenden Tod in ein ganz besonderes Licht getaucht ist, und dazu auch meinerseits etwas sagen, so wie man es halt (nicht nur) in einer Psy- choanalyse macht: Das traute ich mir schon zu. Nicht zur eigenen «spirituellen Bereicherung» (noch ein Reizwort), son- dern weil ich es dem andern schuldig bin und weil man ja doch nicht schweigen muss und kann, selbst wenn man nichts Endgültiges zu sagen hat. Da wollte und würde ich nicht kneifen – vielleicht meint Ihr Psychoanalytiker ja etwas Ähnliches, wenn er so vermeintlich selbstsicher da- von spricht, Sie nicht im Stich zu lassen. Kann der Therapeut einen ins Sterben begleiten? Leser fragen Peter Schneider Der Psychoanalytiker beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch Lieder zum Lesen Liedtexte in deutscher Sprache haben den Nachteil, dass wir sie verstehen. In diesem Band mit 33 Texten und Kom- mentaren von ebenso vielen Autoren werden sie zum Vergnügen – die, die man gerne versteht, von Georg Kreisler bis Blumfeld. Und auch Schlagerpeinlichkei- ten wie der Text zu «Rohr im Wind» von Hannes Wader, der von Wenzel Storch ins Absurde analysiert wird. (cf) Erik Waechtler/Simon Bunke (Hrsg.): Lyrix. Lies mein Lied. 33⅓ Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte. Orange Press, Freiburg 2011. 256 S., ca. 29 Fr. Buchtipp Eine Ziegenherde in Kenia. Vétérinaires Sans Frontières überzeugt die Bauern davon, ihre Herden zu verkleinern – das erhöht die Überlebenschancen der Tiere. Foto: Thomas Martin In Mali leben mehr Rinder, Ziegen und Schafe als Menschen. Trotzdem wird Milchpulver importiert.

Schweizer Tierärzte engagieren sich für das Wohl der Menschen

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Artikel von Bettina Weber erschienen im Tagesanzeiger vom 14. Dezember 2011

Citation preview

Page 1: Schweizer Tierärzte engagieren sich für das Wohl der Menschen

Tages-Anzeiger – Mittwoch, 14. Dezember 2011 31

Kultur & Gesellschaft

Von Bettina Weber DRS 3 feiert sich mit der Aktion «Jeder Rappen zählt» gerade wieder selbst. Und wie immer in der Vorweihnachtszeit er-reichen einen von allen möglichen Orga-nisationen Bettelbriefe, in denen mit Fotos von traurigen Kinderaugen auf das Elend in dieser Welt aufmerksam ge-macht werden will. Und es fliesst, das Geld. Wenigstens einmal im Jahr will der Mensch Gutes tun und sein Gewissen be-ruhigen, weil da so gehungert und ge-storben wird anderswo in der Welt, wäh-rend wir hier im Überfluss leben. Dabei ist ja die Entwicklungshilfe längst nicht mehr unumstritten. Bücher wie «Wir ret-ten die Welt zu Tode» vom ehemaligen Weltbank-Ökonomen William Easterley oder «Dead Aid» von der in Sambia ge-borenen Ökonomin Dambisa Moyo kriti-sieren die Spendenwut aus dem Westen, die in den meisten Fällen kontraproduk-tiv, naiv oder gar unnütz sei.

Ohne Pomp, dafür wirkungsvollDie französische Entwicklungsökono-min Esther Duflo – 2008 vom «Econo-mist» zu den acht einflussreichsten Öko-nomen der Welt gewählt – brachte es im «Magazin» unlängst auf den Punkt: «Alle, die etwas Gutes tun möchten, wollen irgendwo ein Schulhaus finan-zieren. Dabei kommt es wirklich nicht auf das Gebäude an.» Kinder, führte sie aus, könnten überall unterrichtet wer-den, auch im Freien, die Infrastruktur sei dabei zweitrangig. Entscheidend sei, dass die Kinder überhaupt zur Schule gingen. Und das, so konnte nachgewie-sen werden, tun sie dann, wenn sie ge-sund sind, zum Beispiel, wenn sie ent-wurmt worden sind. Etwas so Banales ist wesentlich wirkungsvoller als ein Schulhaus, das mit viel Pomp einge-weiht werden kann.

Einen ähnlich pragmatischen Ansatz verfolgt eine kleine, kaum bekannte NGO, die Vétérinaires Sans Frontières Suisse (VSF-Suisse). Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: VSF-Suisse rückt nicht in die Dritte Welt aus, um dort Strassenhunde zu retten oder gratis Kastrationen durchzuführen. VSF-Suisse ist überhaupt keine Tier-schutzorganisation, sondern engagiert sich in der humanitären Hilfe und in der

Entwicklungszusammenarbeit. Der An-satz lautet schlicht, aber einleuchtend: «Gesunde Tiere – gesunde Menschen».

Der Slogan stammt von Peter Rüsch, ehemaliger Professor an der Vetsuisse- Fakultät der Uni Zürich und später bei Bund und Kanton Zürich im öffentlichen Veterinärdienst tätig. Er hatte bis zu sei-ner Pensionierung vor einem Jahr kaum mit Entwicklungshilfe zu tun. Natürlich, er spendete hin und wieder, und einmal ging es bei einer Doktorarbeit um die Sterblichkeit bei Kamelfohlen in Kenia, aber das war es auch schon.

Und jetzt steckt er da mitten drin. Rüsch übernahm im April als Delegier-ter des Vorstandes von VSF-Suisse in-terimistisch die Geschäftsleitung des finanziell angeschlagenen Vereins. Es klafft ein beachtliches Loch von einer halben Million Franken in der Kasse – al-lerdings nicht, wie Rüsch betont, weil Geld veruntreut worden sei. Die Haupt-gründe seien Währungsverluste, man-gelnde interne Kommunikation und feh-lende Kontrollmechanismen, vor allem auf Projektebene. Rüsch ist angetreten, den Verein finanziell und strukturell zu sanieren. Es gilt in erster Linie die Schul-den zu tilgen, Eigenkapital aufzubauen und wirksame Kontrollmechanismen einzuführen.

Tätig ist der Verein zurzeit in sechs Ländern Afrikas: in Mali, Togo, Somalia, Kenia, dem Südsudan und der Demokra-tischen Republik Kongo. «Was wir tun», sagt Rüsch, «ist ganz einfach: Wir wollen den Menschen über ihre Nutztiere hel-fen. Wenn es den Tieren gut geht, geht es auch den Menschen gut.»

Angesichts der Tatsache, dass welt-weit schätzungsweise eine Milliarde Menschen direkt von Nutztieren abhän-gig ist, wird deutlich, dass der so simpel klingende Ansatz bestechend ist. Es soll, so erklärt Rüsch, die Nahrungskette aus-gehend von den Nutztieren im Sinn von «de l’étable à la table» (vom Stall auf den Tisch) aufgezeigt und optimiert werden. So, dass die Menschen ein Auskommen haben und selbstständig für sich und ihre Familien sorgen können. VSF-Suisse impft oder entwurmt und bildet vor Ort Frauen und Männer zu Laientierärzten aus, die Krankheitssymptome erkennen und sie mit wirksamen und verfügbaren

Mitteln behandeln können – kranke Tiere bedeuten Verlust.

Genauso hilfreich ist das Aufklären über die Fortpflanzung und die Hygiene für den Fortbestand der Herde. Ein-fachste Sauberkeitsregeln sind nicht nur entscheidend, was die Haltbarkeit von Fleisch und Milch betrifft, sondern auch in Bezug auf seuchenhaft verlaufende Tierkrankheiten und Zoonosen, also Krankheiten, die sich vom Tier auf den Menschen übertragen, wie beispiels-weise die Tollwut oder die Vogelgrippe.

Mitunter scheitert eine erfolgreiche Tier-haltung auch am traditionellen Denken. Es gilt in Afrika als Statussymbol, eine möglichst grosse Herde zu haben. So wirken sich aber Futter- und Wasser-knappheit, die sich in den letzten Jahren wegen immer häufiger auftretender Dür-reperioden verschärft haben, verhee-rend aus, denn oft verendet deswegen bis die Hälfte der Tiere. Ihre Milch kann nicht mehr genutzt werden, ihr Fleisch weder gegessen noch verkauft. VSF-Suisse überzeugt die Bauern deshalb, ihre Herden zu verkleinern. Damit wer-den die Überlebenschancen der verblei-benden Tiere erhöht, mit dem Erlös las-sen sich Esswaren kaufen, oder es wird das Schulgeld für die Kinder bezahlt. Das Fleisch wiederum ernährt ganze Familien, denen auch erklärt wird, was sie beachten müssen, um die geschlach-teten Tiere optimal zu lagern und zu konservieren.

Ziegen für Kindersoldaten Manchmal sind es auch äussere Um-stände, die zu widersinnigen Situatio-nen führen, wie zum Beispiel in Mali: Da leben mehr Rinder, Ziegen und Schafe als Menschen. Und obwohl dabei Milch produziert wird, wird die lokale Milch kaum konsumiert und verarbeitet. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird hauptsäch-

lich Milchpulver importiert – vor allem aus Ländern, die Milch im Überschuss produzieren. Und weil deren Export subventioniert wird, kommt das Pulver viel zu teuer auf den Markt. Seit man den in Mali ansässigen Nutztierhaltern ge-zeigt hat, wie Milch verarbeitet und vor allem wie sie ohne Qualitätseinbusse gelagert werden kann (unter anderem mit alten Milchkannen aus der Schweiz), hat die tägliche Annahme von Milch in den Molkereien um ein Drittel zugenom-men, und die Milchhändler nehmen fünfmal mehr ein als zuvor. Die viel zi-tierte Hilfe zur Selbsthilfe.

Und mitunter arbeitet man nach demselben Prinzip, das die eingangs er-wähnte Entwicklungsökonomin Esther Duflo für vielversprechend hält: über Anreize. Zum Beispiel bei der Integra-tion von ehemaligen Kindersoldaten im Kongo und im Südsudan. Die Buben und Mädchen sind meist schwer traumati-siert und werden nach ihrer Rückkehr von ihren Verwandten verstossen. VSF-Suisse setzt sich dafür ein, dass diese heimatlosen Kinder in verlässliche Pfle-gefamilien kommen – als Gegenleistung erhalten die Familien Ziegen und eine Ausbildung, damit sie auch wissen, wie diese zu halten sind. Duflo berichtet, dass in einem Projekt in Indien die Impfrate der Kinder um 38 Prozent ge-steigert werden konnte, weil man den Eltern pro geimpftes Kind ein Kilo Lin-sen schenkte.

So erfreulich und anerkannt die Arbeit von VSF-Suisse vor Ort ist, so sehr bereitet Peter Rüsch das Minus in der Kasse und die damit verbundene knappe Liquidität Sorgen – beides hat bei den bisherigen Geldgebern die Glaubwürdigkeit des Vereins erschüt-tert. Trotzdem hofft Rüsch, dass die bis-her anerkannte Arbeit im Feld und die immer noch bestehenden und erfolg-reich geknüpften Netzwerke in den er-wähnten Ländern erhalten werden kön-nen und vor allem: dass die Geldgeber wieder Vertrauen fassen. Erste wichtige Schritte zur Sanierung sind getan. Ende Jahr läuft sein Mandat aus, eine Nachfol-gerin ist bereits bestimmt. Peter Rüsch ist zuversichtlich.

www.vsf-suisse.ch

Schweizer Tierärzte engagieren sich für das Wohl der Menschen Nicht sehr bekannt, aber effektiv: Die Entwicklungshilfeorganisation Vétérinaires Sans Frontières Suisse.

Ich (noch jung) nage sehr daran, dass die Ärzte unheilbaren Krebs diagnosti-ziert haben, und es ist sehr unklar, wie viel Zeit mir noch bleibt. Dieses Nagen hat natürlich viele Komponenten: Ich habe Angst vor dem Sterben; ich bin genervt und traurig, dass ich sterben muss, während meine gleichaltrigen Freunde das Leben zuallermeist ge-niessen können; ich weiss nicht, wie ich mit den Tagen umgehen soll, wenn mir jegliche Kraft fehlt. Ich bin bereits in Psychoanalyse und verblüfft, wie selbstsicher mein Therapeut ist, dass er mich auch in diese Sterbezeit hinein begleiten kann. Wie sehen Sie das, würden Sie es sich auch «einfach so» zutrauen, jemanden psychoanalytisch in den Tod hinein zu begleiten?

S. E. Lieber Herr E.Nein, selbstsicher wäre ich nicht. (Aber vielleicht würde auch ich mir Mühe geben, wenigstens den Eindruck zu er-wecken, um Sie nicht mit meiner Un-sicherheit zu belasten.) Wie Sie vielleicht aus anderen Äusserungen an dieser Stelle wissen, stehe ich mit dem Tod auf Kriegsfuss. (Was dem Tod ziemlich egal sein dürfte – ich fürchte, ich bin ihm so recht wie jeder andere.) Die Noncha-lance, mit der davon gesprochen wird, dass wir alle sterben müssten und der Tod etwas ganz Natürliches sei, geht mir gegen den Strich. Desgleichen die Re-densart vom Recht auf ein Sterben in Würde (d. i. die Pflicht, die Krankenkasse auf seine letzten Tage nicht mehr unnö-tig zu strapazieren) und der euphemisti-sche Begriff der Sterbe-«Begleitung» («Ach, Sie sterben? Wissen Sie was, da begleite ich Sie doch ein Stück in den Tod hinein, da wollte ich sowieso mal wieder hin»). Und da ich schon mal beim Verflu-chen bin, schliesse ich den Normierungs-blödsinn der kübler-rossschen Sterbe-phasen gleich noch in meine Verdamm-nis mit ein. («Nein, Herr Schneider, zu-erst kommt das Verleugnen und dann die Resignation – nicht umgekehrt.»)

Der langen Vorbemerkung kurzer Sinn: Ich eigne mich ganz schlecht dazu, ent-spannt und sine ira et studio über Sterben und Tod zu reden. (Ich bin als Kind mit einer sterbenden Mutter aufgewachsen – meine Allergien, was diese Themen an-geht, sind immerhin solide biografisch fundiert.) Aber zuhören, was einer über sein Sterben erzählt, neben all dem ande-ren, was er erzählt und was eigentlich mit dem Sterben nichts zu tun hat, und nun

doch durch den näher rückenden Tod in ein ganz besonderes Licht getaucht ist, und dazu auch meinerseits etwas sagen, so wie man es halt (nicht nur) in einer Psy-choanalyse macht: Das traute ich mir schon zu. Nicht zur eigenen «spirituellen Bereicherung» (noch ein Reizwort), son-dern weil ich es dem andern schuldig bin und weil man ja doch nicht schweigen muss und kann, selbst wenn man nichts Endgültiges zu sagen hat. Da wollte und würde ich nicht kneifen – vielleicht meint Ihr Psychoanalytiker ja etwas Ähnliches, wenn er so vermeintlich selbstsicher da-von spricht, Sie nicht im Stich zu lassen.

Kann der Therapeut einen ins Sterben begleiten?

Leser fragen

Peter SchneiderDer Psychoanalytiker beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an [email protected]

Lieder zum LesenLiedtexte in deutscher Sprache haben den Nachteil, dass wir sie verstehen. In diesem Band mit 33 Texten und Kom-mentaren von ebenso vielen Autoren werden sie zum Vergnügen – die, die man gerne versteht, von Georg Kreisler bis Blumfeld. Und auch Schlagerpeinlichkei-ten wie der Text zu «Rohr im Wind» von Hannes Wader, der von Wenzel Storch ins Absurde analysiert wird. (cf)

Erik Waechtler/Simon Bunke (Hrsg.): Lyrix. Lies mein Lied. 33⅓ Wahrheiten über deutschsprachige Songtexte. Orange Press, Freiburg 2011. 256 S., ca. 29 Fr.

Buchtipp

Eine Ziegenherde in Kenia. Vétérinaires Sans Frontières überzeugt die Bauern davon, ihre Herden zu verkleinern – das erhöht die Überlebenschancen der Tiere. Foto: Thomas Martin

In Mali leben mehr Rinder, Ziegen und Schafe als Menschen. Trotzdem wird Milchpulver importiert.