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6. ZPR-SYMPOSIUM DER BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER VOM 15. BIS 17. MÄRZ 2012 IN POTSDAM n VORWORT Hansjörg Staehle n AUFSÄTZE Thomas Kehren Verfahrensmanagement nach der ZPO – Gestaltungsmöglichkeiten und Förderungsanreize Ingo Saenger Verfahrensmanagement im Zivilprozess – Gestaltungsmöglichkeiten und Anreize Thomas Pfeiffer Der Vorschlag der Kommission zur Reform der Brüssel I - VO Björn Retzlaff/Bernhard von Kiedrowski Prozessuale Waffengleichheit durch Partei- vernehmung BRAK MIT TEILUNGEN SONDERDRUCK

SONDERDRUCK 6. ZPR-SYMPOSIUM DER VORWORT … · Replik und Duplik sind – dafür spricht jede Erfahrung – unbedingt erfor-derlich, damit bis zur Verhandlung ein komplettes Bild

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6. ZPR-SYMPOSIUM DERBUNDESRECHTSANWALTSKAMMERVOM 15. BIS 17. MÄRZ 2012 IN POTSDAM

n VORWORTHansjörg Staehle

n AUFSÄTZEThomas KehrenVerfahrensmanagement nach der ZPO –Gestaltungsmöglichkeiten und FörderungsanreizeIngo SaengerVerfahrensmanagement im Zivilprozess –Gestaltungsmöglichkeiten und AnreizeThomas PfeifferDer Vorschlag der Kommission zur Reform derBrüssel I - VOBjörn Retzlaff/Bernhard von KiedrowskiProzessuale Waffengleichheit durch Partei-vernehmung

BRAKMITTEILUNGEN

SONDERDRUCK

INHALT

VORWORT

Hansjörg Staehle 2

AUFSÄTZE

Thomas KehrenVerfahrensmanagement nach der ZPO – Gestaltungsmöglichkeiten und Förderungsanreize 3

Ingo SaengerVerfahrensmanagement im Zivilprozess – Gestaltungsmöglichkeiten und Anreize 9

Thomas PfeifferDer Vorschlag der Kommission zur Reform der Brüssel I - VO 24

Björn Retzlaff/Bernhard von KiedrowskiProzessuale Waffengleichheit durch Parteivernehmung 31

INHALT | BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK

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VORWORTAlle zwei Jahre findet das ZPR-Symposion der BRAKstatt, im Frühjahr 2012 haben wir das sechste dieserArt in Potsdam durchgeführt. Federführend war erneutder Ausschuss ZPO/GVG der BRAK, dem ich an dieserStelle im Namen des Präsidiums herzlich dafür dankenmöchte. Das ZPR-Symposium hat sich über die Jahrehinweg zu einem intensiven Austausch von Fachleutendes Zivilprozessrechtes entwickelt. Die Veranstaltungversammelt regelmäßig Hochschullehrer, Richter undRechtsanwälte sowie Vertreter des Bundesjustizminis-teriums die diese Gelegenheit nutzen, um über aktuellerechtspolitische oder auch praktische Probleme des Zi-vilprozesses zu diskutieren.

Sofern es die Referenten gestattet haben, sind in die-sem Sonderheft der BRAK-Mitteilungen die jeweiligenBeiträge des 6. ZPR-Symposions veröffentlicht. So stell-te beispielsweise der Heidelberger Professor Dr. Tho-mas Pfeiffer den damaligen Entwurf zur Reform derBrüssel I –Verordnung vor; wenige Wochen danach– im Dezember 2012 – wurde die neue Verordnungdann vom Europäischen Parlament verabschiedet undgilt im Wesentlichen ab dem 10.1.2015.

Mit der Verfahrensbeschleunigung befassen sich einer-seits der Vorsitzende Richter am LG Frankfurt ThomasKehren und andererseits Prof. Dr. Ingo Saenger ausMünster in ihrem jeweiligen Aufsatz zum Verfahrens-management nach der ZPO. Beide untersuchen, wel-che Gestaltungsmöglichkeiten und Förderungsanreizees für Richter und Prozessbeteiligte gibt.Ein anwaltlich-richterliches Gemeinschaftswerk ist derBeitrag des Vorsitzenden Richters am KG Björn Retz-laff und Rechtsanwalt Dr. Bernhard von Kiedrowski.Sie befassen sich mit einer Entscheidung des EGMRzur prozessualen Waffengleichheit im Zivilverfahren.Die Autoren untersuchen Umfang und Pflicht der sichaus der Entscheidung ergebenden und über die ZPO hi-naus gehende gerichtliche Pflicht zur Parteianhörungoder -vernehmung.Das nächste ZPR-Symposion wird im Herbst 2014stattfinden und ebenfalls wieder zahlreiche interessan-te aktuelle Fragestellungen behandeln.

Berlin, im April 2014Hansjörg Staehle,Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer

BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK | VORWORT

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BRAKMITTEILUNGEN

SONDERDRUCK

INFORMATIONEN ZU BERUFSRECHT UND BERUFSPOLITIK

AUFSÄTZEVERFAHRENSMANAGEMENT NACH DER ZPO – GESTALTUNGS-MÖGLICHKEITEN UND FÖRDERUNGSANREIZEVORSITZENDER RICHTER AM LG FRANKFURT AM MAIN THOMAS KEHREN

Wie lange dauert ein Zivilprozess? – 6 bis 8 Wochen,wenn es nach der ZPO geht. Nach Eingang der Kla-geschrift ist diese unverzüglich zuzustellen (§ 271ZPO). Zwischen der Zustellung und dem Termin zurmündlichen Verhandlung muss ein Zeitraum von min-destens 2 Wochen liegen (§ 274 ZPO). Neues Vorbrin-gen muss dem Gegner, in diesem Fall dem Beklagten,spätestens eine Woche vor dem Termin vorliegen unddie Gegenerklärung des Klägers muss dem Beklagtenspätestens 3 Tage vor dem Termin zugehen (§ 132ZPO). 3 Wochen nach der mündlichen Verhandlungsoll der Verkündungstermin sein (§ 310 ZPO). Fassenwir diese Zeiträume zusammen, sind wir bei 6 bis 8,unter Einrechnung von Bearbeitungs- und Postlaufzei-ten bei maximal 10 Wochen, also 31/2 Monaten.

Tatsächlich aber dauert ein Zivilrechtsstreit beim LGFrankfurt am Main durchschnittlich knapp 10 Monateund bei Beendigung durch streitiges Urteil knapp 14Monate, was minimal unter dem Durchschnitt allerhessischen Landgerichte liegt.

I. ZIEL DES VERFAHRENSMANAGEMENTS

Wenn es heute bei unserem Thema um die Frage geht,wie ein Zivilprozess zu managen ist, dann kann dasnur bedeuten, dem von der ZPO vorgegebenen Ziel,also einem kurzen Rechtsstreit, möglichst nahe zukommen, ohne allerdings kurzen Prozess zu machen.

Die ZPO ist und bleibt der äußere Rahmen für alledenkbaren Maßnahmen, und dieser Rahmen ist ziem-lich eng. Im amtsgerichtlichen Verfahren gibt es gewis-se weitergehende Freiheiten der Verfahrensgestaltung.Die verantwortliche Handhabung dieser Freiheiten er-scheint mitunter zweifelhaft, wenn man manche dazuergangene Entscheidung des BVerfG liest.

Welches sind die hauptsächlichen Hindernisse, diedem Erreichen dieses Ziels entgegenstehen?

Es sind Schriftsatzfristen, Terminsbestimmung und – sokurios sich das im Moment anhören mag – vorzeitigeErledigung.

1. ÄUSSERES MANAGEMENTDas betrifft das äußere Management, also das, wasdie Parteien und die Parteivertreter vom Zivilprozessmitbekommen. Daneben gibt es noch das interne Ma-nagement der richterlichen Arbeit. Das soll dann im2. Teil meines Beitrags behandelt werden.

Beginnen wir also mit dem äußeren Management. Diein der ZPO enthaltenen Fristen von 2 Wochen sindheutzutage völlig unrealistisch. Selbst Fristen von 4Wochen werden regelmäßig – und damit haben wirden ersten Verzögerungsgrund – mit Fristverlänge-rungsanträgen beantwortet.

a) SCHRIFTSATZFRISTENUm nicht eine uferlose Ausbreitung zuzulassen, bedarfes hier also einer gewissen Steuerung der Länge derSchriftsatzfristen. Meistens lässt sich bereits anhandder Klageschrift erkennen, ob es sich um ein besondersumfangreiches Verfahren handeln wird, bei dem dieüblicherweise anzuordnende Frist, die ich mit 4 Wo-chen ansetze, nicht ausreicht. Wenn ich eine Kla-geschrift von 100 oder gar 200 Seiten auf den Tischbekomme, dann weiß ich, dass die Beklagtenseitemehr als 4 Wochen braucht, um darauf zu erwidern.Also werde ich in diesen Fällen eine entsprechend lan-ge Frist setzen.

Mit dem Austausch von Klage und Klageerwiderung istes aber im Regelfall nicht getan. Replik und Dupliksind – dafür spricht jede Erfahrung – unbedingt erfor-derlich, damit bis zur Verhandlung ein komplettes Bilddes Sachverhalts vorgetragen ist.

b) VERFAHRENSKALENDERIch habe mir seit Jahren zur Gewohnheit gemacht, die-se vier Schriftsätze vor jeder mündlichen Verhandlungeinzuholen und dafür jeweils schon mit der Terminsver-fügung entsprechende Fristen zu setzen. Ich nenne das„Verfahrenskalender“, in dem also eine Klageerwide-rungsfrist, bemessen nach einer Anzahl von Wochennach der Zustellung, und daran anschließend schonReplik- und Duplikfristen bestimmt sind.

Beispiel:„Bitte beachten Sie aus Gründen der Prozessöko-nomie unbedingt folgenden

Verfahrenskalender:

Die Klägerin kann, sofern eine Klageerwiderung ein-gereicht werden wird, eine weitere schriftsätzlicheStellungnahme bis zum

TT.MM.JJJJ

abgeben; die Beklagte sodann noch einmal bis zum

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KEHREN, VERFAHRENSMANAGEMENT NACH DER ZPO

TT.MM.JJJJerwidern.“

Gleichzeitig mache ich in meiner Terminsverfügung da-rauf aufmerksam, dass ich im Hinblick auf diesen Ver-fahrenskalender Fristverlängerungen nur in Ausnahme-fällen zulassen werde und auch dann nur, wenn derGegner zustimmt, und dass es selbst in diesen Fällenzu einer Verschiebung des Termins auf das dannnächst bereite Datum kommen kann.

Beispiel:„Im Hinblick auf diesen Verfahrenskalender könnenFristverlängerungen nur in besonderen Ausnahme-fällen gewährt werden, sofern der/die beantragen-de Rechtsanwalt/Rechtsanwältin das Einverständnisder Gegenseite anwaltlich versichert. Auch in einemsolchen Fall kann jede Veränderung zur Verschie-bung des Verhandlungstermins nach hinten an diedann jeweils bereiteste Stelle führen.“

Diese Regelung ist vor dem Hintergrund der höchst-richterlichen Rechtsprechung allerdings nicht durch-zuhalten. Wenn mit einigermaßen guter Begründungdie Verlängerung einer Schriftsatzfrist beantragt wird,kann ich die schon aus Gründen des rechtlichen Ge-hörs und im Hinblick auf den angeblichen Anspruchauf eine erste Verlängerung gar nicht ablehnen. Aller-dings – und die Freiheit nehme ich mir – verschiebeich dann regelmäßig den Termin nach hinten.

In meiner Verfügung klingt das so:

Beispiel:„… hat sich leider auch in diesem Rechtsstreit ge-zeigt, dass die vom Gericht beabsichtigte zügige Be-arbeitung anhand eines Verfahrenskalenders mitüblicherweise ausreichend gestaffelten Fristen alsnicht durchführbar erwiesen hat. Der auf der Grund-lage obergerichtlicher Rechtsprechung trotz ent-gegenstehender Ankündigung nicht abzulehnendeAntrag des Prozessbevollmächtigten … auf Verlän-gerung der gesetzten Fristen führt jetzt zu der fürdiesen Fall angekündigten Konsequenz der Termins-verlegung.Der Termin am … wird aus den vorstehenden Grün-den verlegt auf…“

Das kann allerdings zu Ungerechtigkeiten führen.Wenn nämlich die Beklagtenseite diejenige ist, diepartout eine Fristverlängerung haben will, dann kanndahinter auch eine Verzögerungstaktik liegen, der ichdann zum Erfolg verhelfen würde. Deshalb gilt die qua-si automatische Verlängerung nach hinten regelmäßignur in Fällen, in denen der Klägervertreter sich nicht andie vorgegebenen Fristen halten zu müssen glaubt.

Gerade letzte Woche aber wurde ich von einem Be-klagtenvertreter „ausgetrickst“. Er hat sich die Abfolgeder Fristen ganz genau angesehen und ein paar Wo-

chen „Luft“ entdeckt. Genau dazu passend begehrteer eine Fristverlängerung mit dem gleichzeitigen Vor-schlag, die weiteren Fristen so zu verlängern, dass sierechtzeitig vor dem Termin ausliefen. Er hat mein Sys-tem durchschaut.

In diesen Zusammenhang kommt es aber auch daraufan, dass ein Fristverlängerungsantrag mit einer trag-fähigen Begründung versehen ist. Die gängigste ist na-türlich die Arbeitsüberlastung und die anderen termin-gebundenen Arbeiten. Seit Jahren – und das werde ichauch in Zukunft tun – verkneife ich mir die Antwort,dass in diesem Fall das Mandat eben nicht übernom-men werden darf. Das wird schon aus kollegialenGründen niemals so in einer Verfügung stehen. Zweifel-haft erscheint mir aber immer der Hinweis der Partei-vertreter, zu einer Verzögerung in der Erledigung desRechtsstreits käme es nicht, weil der Termin ja erst in2 Monaten ist. Dabei wird häufig übersehen – unddas ist wieder eine Frage des Managements – wasder Richter denn in der Zwischenzeit zu tun gedenkt.Das ist dann eine Frage des internen Managements.

c) BESTIMMUNG DES TERMINSDas zweite Element zur Organisation eines möglichstschnellen Rechtsstreits, ist die Bestimmung des Ter-mins. Ich bin nach wie vor in der Lage und sehe auch,dass dies bei vielen anderen Kammern des Land-gerichts in Frankfurt am Main der Fall ist, neu einge-hende Klagen in einem Abstand von 3 1/2 bis 4 Mona-ten zu terminieren. Viel schneller kann es schon des-halb nicht gehen, weil in diese Zeit ja 3 weitereSchriftsatzfristen einzurechnen sind. Die können alsoschon nicht mehr jeweils 4 Wochen betragen, sonderndie nachfolgenden Schriftsatzfristen für Replik undDuplik werden meist auf nur noch 3 Wochen fest-gesetzt. Ob und wie lange eine – wie ich finde – so zü-gige Terminierung erfolgen kann, hängt natürlich vomUmfang des Arbeitsanfalls ab. Dieser fällt von Jahr zuJahr anders aus und lässt sich durch den einzelnenRichter auch nicht ansatzweise steuern.

Übrigens, da ich zum ersten Mal einen Richter in männ-licher Form erwähnt habe: zur Geschlechterneutralität.Ich spreche hier weitgehend von meinem Managementund meiner Erfahrung, weshalb häufig der Richter er-wähnt wird, unter dem ich also mich verstehe. Ansons-ten meine ich immer eine Richterperson, angesichts ei-ner Frauenquote von 59 % beim Landgericht Frankfurtam Main kann das auch gar nicht anders sein.

d) VORZEITIGE ERLEDIGUNGEin weiterer Umstand, der der schnellen Erledigung ei-nes Rechtsstreits entgegensteht, ist – so kurios sichdas anhören mag – die vorzeitige Erledigung. Es ist einvon mir seit einiger Zeit zu beobachtendes Phänomen,dass ungefähr 14 bis 10 Tage vor dem Termin zurmündlichen Verhandlung Mitteilungen kommen, dassdie Parteien sich verglichen haben oder dass sie in aus-sichtsreichen Vergleichsverhandlungen stehen und des-halb den Termin verschoben haben wollen. Es kommen

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KEHREN, VERFAHRENSMANAGEMENT NACH DER ZPO

Klagerücknahmen, vermutlich auch auf der Grundlageeines außergerichtlichen Vergleichs, der mir nicht mit-geteilt wird. Es kommen, wenn auch selten, Anerkennt-nisse. Das sind natürlich alles Erledigungen des einenRechtsstreits, aber alle diese Sachen waren vorher aufeinen Terminstag terminiert und fallen nunmehr weg.Die Ladungsfrist beträgt 2 Wochen, so dass es über-haupt nicht möglich ist, andere Sachen auf die jetztfrei gewordenen Termine zu setzen. Es kommt wirklichnicht selten vor, dass Termine, die vorher mit 8 Sachenrandvoll waren, tatsächlich nur noch mit 4 oder 5 Sa-chen durchgeführt werden. Gerade wenn es Kammer-termine sind, muss ich mich oftmals gegenüber denHandelsrichtern quasi dafür entschuldigen, dass wir soviel Leerlauf zwischen den einzelnen Sachen haben.

Mitunter schreibe ich in Verfügungen, dass genau die-se Situation vermieden werden soll, weil die wertvolleRessource Recht dadurch entwertet wird. Es kommtgar nicht so selten vor, dass ich bei einer derartigenEntwicklung gerade einige Tage vorher jemandem mit-teilen musste, dass ich seinem Wunsch auf eine schnel-lere Terminierung einfach nicht entsprechen kann, weilkeine Termine frei sind. Im Sinne eines zügigeren Ma-nagements anderer Prozesse wäre es schlicht erforder-lich, dass Parteien und Parteivertreter sich nicht erstunter dem Druck eines Termins noch einmal der Ange-legenheit annehmen, denn nur so ist ja zu erklären,dass so kurz vor dem Termin Erledigungen ohne Ein-schaltung des Gerichts erfolgen.

2. INTERNES MANAGEMENTDas nächste Element, das wir zur Erreichung einesschnellen Rechtsstreits brauchen, ist die mündlicheVerhandlung. Das bezieht sich jetzt auf die Organisati-on der richterlichen Arbeit, also das interne Manage-ment des Verfahrens.

a) FRÜHER ERSTER TERMINZur internen richterlichen Verfahrensorganisation ge-hört bereits bei der Terminierung die Entscheidung,wie das Verfahren gestaltet werden soll. Die ZPO gibtbekanntlich zwei Möglichkeiten an die Hand: den sogenannten frühen ersten Termin oder das schriftlicheVorverfahren. Jüngere Kollegen, dass sehe ich aus Ak-ten, die mir von den Zivilkammern überwiesen werden,scheinen zunehmend das schriftliche Vorverfahren vor-zuziehen. Ich dagegen bevorzuge den frühen erstenTermin, wobei ich nicht verkenne, dass mein Systemder vorherigen Anordnung von drei Schriftsatzfristeneinem schriftlichen Vorverfahren nahe kommt.

Die ZPO erwartet im schriftlichen Vorverfahren im An-schluss an den Austausch der Schriftsätze eine richter-liche Bearbeitung zur Vorbereitung des einzigenHaupttermins. Das heißt, spätestens am Ende desSchriftsatzwechsels steht die richterliche Bearbeitungmit im Regelfall einem Beweis-, einem Hinweis- oder ei-nem Auflagenbeschluss. Aber gerade in den Fällen, indenen dann ein vorterminlicher Beweisbeschluss er-geht, muss das nicht unbedingt förderlich sein, denn

bis dahin bestand keine Gelegenheit, den Rechtsstreitund die Sicht des Gerichts darauf in Rede und Gegen-rede mit den Parteien und ihren Vertretern zu erörtern.Diese Diskussion des Falls in Rede und Gegenrede istdoch die Würze jedes Rechtsstreits. In nicht wenigenFällen führt der Austausch von Argumenten dochauch zu einer Erledigung ohne die an sich erforderlicheBeweisaufnahme. Deshalb vermeide ich möglichst dasschriftliche Vorverfahren, wenn ich erwarte, dass es zueinem tatsächlich streitigen Verfahren kommt.

Ich weiß aber, dass Kolleginnen und Kollegen dieserZwickmühle schlicht dadurch entkommen, dass sienach dem Austausch der Schriftsätze eine „mündlicheVerhandlung“ anberaumen, die dann eigentlich ein frü-her erster Termin ist, verfahrensrechtlich aber einHaupttermin sein sollte.

Ich erinnere daran, dass die Entscheidung über diesebeiden Formen der Verfahrensgestaltung bereits beiEingang der Klageschrift und bei der dann anstehen-den Terminierung erfolgen muss. Ich achte deshalb inder Klageschrift auf Hinweise darauf, ob die Beklag-tenseite sich bisher verteidigt hat und wie. Gibt es be-reits eine vorgerichtliche Korrespondenz mit einemRechtsanwalt auf Beklagtenseite, werde ich niemalsdas schriftliche Vorverfahren einleiten. Denn der vonmir gesehene einzige Vorteil des schriftlichen Vorver-fahrens liegt darin, bei Fehlen der Verteidigungsanzei-ge nach nur 2 Wochen ein Versäumnisurteil erlassenzu können. Wenn ich aber weiß, dass es dazu nichtkommen wird, tritt das ein, was mir nicht vorteilhaft er-scheint, nämlich der Austausch von Schriftsätzen, indenen – und da habe ich jedes Verständnis für die An-waltschaft – zu jedem und allem, was die Gegenseitegesagt hat, entsprechend vorgetragen werden muss,um nachher nicht in die Gefahr zu geraten, dass einemunsubstantiierter oder fehlender Vortrag vorgeworfenwird. Nach meinem Dafürhalten bläht das schriftlicheVorverfahren die Akten nur unnötig auf, die heute so-wieso umfangreicher sind als früher.

Im Gegensatz dazu hat der frühe erste Termin den Vor-teil, dass in einem überschaubaren Zeitraum auf derGrundlage eines regelmäßig vollständig vorgetragenenSachverhalts das Gericht seine Sicht der Dinge mit denParteivertretern erörtern kann und auf dieser Basisdann mit einer gewissen Struktur in die Bearbeitungdes Rechtsstreits durch alle Beteiligten eintreten kann.

Aus diesem Grund ordne ich auch niemals routine-mäßig das persönliche Erscheinen der Parteien im frü-hen ersten Termin an, wissend, dass andere Kollegenso vorgehen. Mir kommt es darauf an, in dem frühenersten Termin einem vielleicht noch länger laufendenRechtsstreit durch meine erste Beurteilung der Sach-und Rechtslage eine Struktur zu geben, auf die sichdie Parteivertreter einstellen können. Oftmals ist es jagerade so, dass zunächst irgendwelche Vorfragenoder Grundfragen zu klären sind, bevor man danneventuell in die Untersuchung der Höhe eines Anspru-ches oder weiterführender Ansprüche kommt. DieseDiskussion führe ich gerne mit den Prozessbevollmäch-

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tigten alleine, denn Anwältinnen und Anwälte treten inAnwesenheit ihrer Mandanten anders auf als wenn dieDiskussion nur unter Juristen geführt wird.

Die von Kolleginnen und Kollegen vertretene andereDenkschule geht davon aus, dass es für einen Ver-gleichsabschluss förderlich ist, wenn die Partei anwe-send ist und sich sofort entscheiden kann, bzw. muss.Das ist ein erwägenswerter Gedanke. In der Tat kannbei Anwesenheit der Partei ein Vergleich sogleich be-standskräftig geschlossen werden. Dabei bin ich abervorsichtig; Vergleiche befrieden nach meiner Erfahrungauch und gerade in eigenen Angelegenheiten nicht au-tomatisch, sondern nur, wenn sie nach reiflicher Über-legung und Abwägung des Für und Wider geschlossenwerden und beiden Seiten wehtun. Ich bin deshalbauch stets bereit, einer anwesenden Partei einen Wi-derrufsvorbehalt einzuräumen. Terminologisch ist dasnatürlich falsch, denn der Vergleich und auch die Ver-einbarung eines Widerrufvorbehalts ist Bestandteildes zwischen den Parteien autonom geschlossenenVergleichsvertrags.

b) INHALT DER AKTENFür das interne Verfahrensmanagement des Gerichtsist es ungemein wichtig, sich auf den Sachverhalt unddie Rechtslage einzustellen und den Parteien soweitwie möglich auch vor dem Termin bereits den einenoder anderen Hinweis zu geben. Das wiederum setztvoraus, dass der Inhalt der Akten in jedem Stadiumdes Verfahrens in allen Einzelheiten bekannt ist.

Das klingt als Anspruch sehr schön, ist aber in der Pra-xis – und das bedaure ich – kaum oder gar nichtdurchzuführen. Wenn Schriftsätze eingehen, die heut-zutage nicht selten zwischen 50 und 100 Seiten langsind, ist es mir einfach zeitlich nicht möglich, dieseSchriftsätze aktuell und intensiv durchzulesen, zu stu-dieren und dann vielleicht auch noch gleich in den Vor-trag der anderen Schriftsätze einzuordnen, die mirdann ja nicht mehr in jeder Einzelheit präsent sind.Das heißt: das interne Verfahrensmanagement des Ge-richtes läuft darauf hinaus, den kompletten Akten-inhalt erst bei der Vorbereitung des jeweiligen Terminsim Einzelnen zur Kenntnis zu nehmen. Beim aktuellenEingang wird der Schriftsatz von mir nur auf der Suchenach eventuellen Sach- oder Verfahrensanträgen über-flogen, auf die eventuell sofort zu reagieren ist.

Meine Empfehlung daraus an die hier versammelte An-waltschaft: „Verstecken“ Sie derartige Anträge nicht ir-gendwo im Fließtext oder im hinteren Teil eines Schrift-satzes, jedenfalls nicht ohne deutlichen Hinweis aufdem Deckblatt oder der ersten Seite.

Überhaupt zum Umfang von Schriftsätzen. Ich habesoeben von Schriftsätzen zwischen 50 und 100 Seitengesprochen, das ist heute überhaupt keine Seltenheitmehr. Beim Landgericht in Frankfurt klagt regelmäßigein Personalvermittlungsunternehmen, dessen Anwältesehr ausschweifende aber dennoch intensive Schriftsät-ze verfassen, vermutlich teilweise bestehend aus Text-bausteinen, die aber selbst bei Forderungen von 6

oder 7.000 Euro selten unter 40 Seiten sind. Schriftsät-ze zwischen 100 und 300 Seiten sind auch keine rie-sengroßen Ausnahmen mehr. Über die sicher vielfälti-gen Gründe dafür will ich hier nicht spekulieren, abernatürlich versucht der jeweilige Gegner, diese Zahlmöglichst auch zu erreichen oder gar zu überschreiten.Akteninhalte von 200, 300 auch 500 Blatt vor der ers-ten mündlichen Verhandlung sind heute keine großeSeltenheit mehr. Dabei will ich hier gar nicht daraufeingehen, dass vor einigen Monaten bei mir ein Schrift-satz im Umfang von 13.000 Seiten eingegangen ist,der allerdings zum großen Teil aus Daten besteht undzu dem natürlich erst mal die Gegenseite Stellung neh-men muss, denn der Vorteil der richterlichen Bearbei-tung ist ja, dass sie sich nur mit den streitigen Umstän-den befassen muss.

c) MÜNDLICHE VERHANDLUNGUnbedingtes Muss einer jeden mündlichen Verhand-lung ist, auch wenn die Akten noch so dick sind, diegründliche Vorbereitung des Richters. Das muss beider Zeitplanung berücksichtigt werden. Die Akten-kenntnis ist ungemein wichtig, damit Parteien und Par-teivertreter erkennen, dass der Richter sich in der Ma-terie auskennt. Nur dass wird auch dazu führen, dassernsthaft in der Sache diskutiert werden kann. Das wie-derum ist erste Voraussetzung dafür, dass es über-haupt zu einer vergleichsweisen Regelung kommenkann. Sie alle kennen wahrscheinlich die Vorschläge ei-nes Vergleichs 50:50. Das ist im Allgemeinen derschlechteste aller denkbaren Vorschläge, es sei denner ist unter Darlegung der beiderseitigen Prozessrisi-ken substantiell aus der Sache heraus begründet.Dann kann sogar ein derartiger Vorschlag zum Erfolgführen.

Dank der seit einigen Jahren bestehenden bundeswei-ten Postulationsfähigkeit geschieht es heute fast nichtmehr, dass Terminvertreter auftreten, die sich in derAkte und im Rechtsstreit nicht auskennen. Ich bedaurezwar immer wieder Anwältinnen und Anwälte, die we-gen einer Verhandlung von 20 oder 30 Minuten querdurch die Bundesrepublik reisen müssen, kann aberaus Sicht des Gerichts nur sagen, dass diese Entwick-lung sehr positiv ist, denn es lassen sich dann wirklichernsthafte Gespräche führen.

d) GÜTETERMINSeit einigen Jahren schreibt die ZPO auch im normalenZivilprozess den Gütetermin vor, der seine gute Berech-tigung im Arbeitsgerichtsverfahren hatte und hat, deraber nach meiner Einschätzung vor allen Dingen imRechtsstreit vor einer Kammer für Handelssachen indieser Form nichts zu suchen hat. Bevor Kaufleute vorGericht ziehen, hat es regelmäßig Versuche gegeben,den Konflikt anders zu lösen. Schon fast routinemäßigheißt es deshalb oft in Schriftsätzen, eine Güteverhand-lung sei aussichtslos. Das nehme ich generell an.

Die ZPO verlangt an anderer Stelle (§ 287 Abs. 1 ZPO),dass das Gericht in jeder Lage des Rechtsstreits auf

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eine vergleichsweise Erledigung hinwirkt und das tueich auch in nahezu jedem einzelnen Termin, so dass je-der meiner Termine quasi auch ein Gütetermin ist.Was ich allerdings nicht anberaume und was auchnicht aus den Protokollen ersichtlich ist, dass ich ersteinen Gütetermin durchführe und wenn der scheitert,in die mündliche Verhandlung des Rechtsstreits eintre-te. Ich müsste dann dasselbe sagen wie zuvor im „Gü-tetermin“.

e) TERMIN DER VERKÜNDUNGKommt es nicht zu einer vergleichsweisen Regelung imTermin, ist eine Entscheidung in einem möglichst na-hen Termin zu verkünden. Die der ZPO vorschwebendeFrist von 3 Wochen ist – und da wollen wir ehrlich sein– aufgrund der Infrastruktur der Justizverwaltungschlicht nicht einzuhalten. Ich kenne Kolleginnen undKollegen, die warten 3 Wochen, bis sie das Protokollihrer mündlichen Verhandlung wieder aus demSchreibdienst bekommen. Für meinen Teil, der ich Vor-sitzender einer Kammer für Handelssachen bin, mussich in die benötigte Bearbeitungszeit immer noch min-destens eine Woche zum Einholen der Unterschriftender Handelsrichter einrechnen. Das sind äußere Zwän-ge, auf die ein Richter auch keinerlei Einfluss hat, dassind Vorgaben der Justizverwaltung, denen wir uns an-passen müssen.

f) BEWEISBESCHLÜSSE, BEWEISMITTEL, ZEUGENWenn es nicht zu einer Endentscheidung durch Urteilkommt, sondern Zwischenentscheidungen, wie im Re-gelfall Beweisbeschlüsse, zu erlassen sind, stellt sichneben der ohnehin zu fordernden gründlichen relati-onstechnisch basierten Arbeit die Frage nach den Be-weismitteln. Mitunter wird, gerade auch in Bausachen,eine große Anzahl von Zeugen zu einem bestimmtenThema benannt. Hier wünschte ich mir manchmal dieMöglichkeit einer Art Verfahrenskonferenz, bei der mitden Parteivertretern die Anzahl der Zeugen und derenAuswahl nach Relevanz festgelegt werden. Mituntermache ich das einseitig, indem ich anordne, „zu-nächst“ sollen die und die Zeugen vernommen werden.Wenn ich Glück habe, verzichten die Parteien dannnach der Beweisaufnahme auf die weiteren benanntenZeugen.

Richterlicher Augenschein ist ein Beweismittel, vondem eigentlich viel zu wenig Gebrauch gemacht wird.Nach den 3 oder 4 Ausflügen außerhalb des Gerichtszur Verhandlung vor Ort, an die ich mich erinnere,war ich mir immer sicher, ein besseres Verständnisfür den Sachverhalt gewonnen zu haben. Leider ist dieZeit dafür selten vorhanden.

g) SACHVERSTÄNDIGENach Zeugen ist der Sachverständige das am meisteneingesetzte Beweismittel. Den richtigen zu finden, istoft nicht so einfach, denn er soll kompetent sein undtrotz der recht schlechten Bezahlung durch die Gerich-te schnell arbeiten. Die telefonische Ansprache des

Sachverständigen und die anschließende Übersendungdes Beweisbeschlusses per E-Mail haben gerade erstkürzlich dazu geführt, dass ich von einem zum anderenweiter verwiesen wurde, bis ich den dafür wirklich kom-petenten gefunden habe. Sich einfach auf die rudimen-tären Fachgebietsbezeichnungen in den einschlägigenSachverständigenverzeichnissen zu verlassen, ist meistnicht hilfreich.

Die Aufforderung an die meistens sachverständigenParteien, geeignete Sachverständige zu benennen, en-det leider grundsätzlich damit, dass die Gegenseiteder Bestellung einer so benannten Person widerspricht.Erfolgreicher kann es da schon sein, wenn der nicht all-wissende Richter die Parteien fragt, auf welchem Fach-gebiet oder Fachgebieten die sachverständige Beurtei-lung eigentlich zu erfolgen hat und ob es Verbändeoder Organisationen gibt, die geeignete Sachverstän-dige benennen können. So kann man sich als Richterdie Sachkunde mindestens einer der Parteien zunutzemachen.

Das geschieht auch in Konferenzen mit Sachverständi-gen, die sich als überaus positiv für den weiteren Ver-lauf des Rechtsstreits herausgestellt haben. In der Be-sprechung des Inhalts und Umfangs des Beweisthe-mas, um dieses überhaupt erst exakt definieren zukönnen, wird das Verständnis der meist technischenZusammenhänge auch für den Richter erweitert unddie Relevanz mancher der eben auch (nur) von Juristenformulierten Beweisanträge sieht danach mitunterganz anders aus.

h) AUSBLEIBEN VON ZEUGENEin weiteres Problem, das der zügigen Erledigung ei-nes Rechtsstreites entgegenstehen kann, ist das Aus-bleiben von Zeugen. Natürlich sieht die ZPO für dieseFälle vor, dass Ordnungsgeld verhängt werden kannund sie auch in die Kosten ihrer Säumnis verurteilt wer-den können. Nun ist es natürlich sehr einfach, einenachträgliche Entschuldigung anzubringen, der gefolgtwerden muss. Dazu schwebt mir ein anhängiges Ver-fahren vor, bei dem ein Zeuge sich schon dreimal mitnachgereichten ärztlichen Attesten entschuldigt hat.Da eine kommissarische Vernehmung wegen derGleichbehandlung mit anderen Zeugen nicht in Be-tracht kommt, habe ich nunmehr mit Einverständnisder Parteien eine Vernehmung per Video-Konferenz indie Wege geleitet. Ich habe persönlich mit dem Zeugentelefoniert – auch das ist eine Möglichkeit des Verfah-rensmanagements – und er hat eingewilligt, in derNähe seines Wohnorts zu einer Videokonferenzschal-tung zu erscheinen. Ich hoffe also, dass dieses Verfah-ren demnächst nach dieser letzten Zeugenvernehmungentscheidungsreif sein wird.

i) VIDEO-KONFERENZÜberhaupt ist die Video-Konferenz eine Möglichkeit,Verzögerungen gering zu halten. Sicherlich ist dieDurchführung einer solchen Verhandlung, bei der einerder beteiligten Anwälte und die Partei per Video zuge-

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KEHREN, VERFAHRENSMANAGEMENT NACH DER ZPO

schaltet werden gewöhnungsbedürftig. Es ist eben et-was anderes, wenn man quasi mit einem Fernsehgerätspricht als mit einer Person. Ich habe aber auch schonZeugen per Video-Konferenz vernommen und findenicht, dass das die Erkenntnismöglichkeit des Gerichtsirgendwie nachhaltig beeinträchtigt oder negativ be-einflusst.

Kürzlich saßen zwei Rechtsanwälte aus der Küstenregi-on Deutschlands vor mir in einem Fall, der in Wismarspielt. Der eine meinte dabei, ob wir das nicht vielleichtauch anders hätten organisieren können, vielleicht perVideo. Darauf habe ich ihm gesagt, er möchte sichdoch bitte meine Terminsverfügung in seiner Akte anse-hen und dort den folgenden letzten Absatz lesen:

Beispiel:„HINWEIS FÜR AUSWÄRTIGE PARTEIVERTRETER:Beim Landgericht Frankfurt am Main bestehtgrundsätzlich die Möglichkeit, die Verhandlunggem. § 128a ZPO im Wege der Bild- und Tonüber-tragung durchzuführen. Die Standorte von entspre-chenden Gegenstellen bei Gerichten in Deutschlandsind im Justizportal des Bundes und der Länder(www.justiz.de) feststellbar. Eine derartige Video-konferenzschaltung setzt organisatorische Maßnah-men hier wie auch an der Gegenstelle voraus. Umdiese einzuleiten, bedarf es einer Anregung einesProzessbevollmächtigten und dem Einverständnisder Gegenseite. Die Organisation würde sodannvon hier übernommen, wobei es keine Garantie gibt,dass die Durchführung überhaupt oder zum ge-wünschten Termin möglich sein wird.Aus technischen Gründen ist derzeit eine Dreier-Kon-ferenz nicht möglich, falls beide Parteivertreter aus-wärtig geschäftsansässig sind. In diesem Fall be-dürfte es der Absprache, wer per Videokonferenzder Verhandlung hier vor Ort zugeschaltet wird.“

Mir schwebt außerdem ein weiterer noch anhängigerProzess vor, bei dem es um sehr viel Geld geht undbei der drei Jahre nach Beginn des Rechtsstreits nochimmer über die Aktivlegitimation der Kläger gestrittenwird, die nicht in der Lage waren, belastbare Bank-bescheinigungen über die Inhaberschaft bestimmterWertpapiere vorzulegen. Die Richtigkeit der vorgeleg-ten Unterlagen muss deshalb entsprechend dem Be-weisantritt per Zeugenbeweis überprüft werden, wobeibedauerlicherweise die infrage kommenden Zeugen inUSA, in England und in Kanada wohnen. Währenddie Zeugin aus den USA und der Zeuge aus Englandbereit waren, zum Prozessgericht nach Frankfurt zukommen, ist es die Zeugin aus Kanada nicht. Die Mög-lichkeit einer konsularischen Vernehmung ist – um daszu vereinfachen – von der Beklagtenseite unmöglichgemacht worden. Die Vernehmung durch einen kana-dischen Richter entspricht nicht der Handhabung desbetreffenden kanadischen Bundesstaats, der sich inso-weit nicht an das Deutsch-Britische Rechtshilfeabkom-men hält, was der deutschen Regierung seit Jahren be-

kannt ist. Die Möglichkeit einer Video-Konferenz-Ver-nehmung ist nach derzeit noch geltendem Recht andie Zustimmung der Parteien gebunden. Die Beklagten-seite hat diese Zustimmung verweigert. Die letzte Mög-lichkeit habe ich in meinem Angebot gesehen, selbstnach Kanada zu reisen, um die Zeugin zu vernehmen.Aber das stößt auf diplomatische Schwierigkeiten, istjedenfalls ein Neuversuch, etwas was keinem der betei-ligten Behörden bisher bekannt ist. Es steht also in denSternen, ob das überhaupt machbar ist.

II. FÖRDERUNGSANREIZE

Thema meines Vortrages ist auch, welche Förderungs-anreize es für Verfahrensbeteiligte und Richter gibt.

Gehen wir von dem Normalfall aus, dass die Klägersei-te großes Interesse an einer zügigen Durchführung desVerfahrens hat, dann wird sie versuchen, alle Hinder-nisse, die entstehen können und auf die sie Einflusshat, zu beseitigen. Gehen wir weiter davon aus, dasses Fälle gibt, in denen die Beklagtenseite ein Interessedaran hat, dass das Verfahren nicht so zügig beendetwird. Da gibt es eine Fülle von Möglichkeiten der Ver-zögerung. Viele von ihnen sind hier bereits angespro-chen worden. Dagegen gibt es für das Gericht nur be-grenzte Gegenmittel. Die ZPO geht eher von einem ko-operativ geführten Rechtsstreit aus und nicht voneinem konfrontativ gesteuerten Kurs. Der Anreiz fürdie beklagte Partei, wenn sie diese Interessen hat, isteben das Erreichen einer Verzögerung. Das kann imEinzelfall so weit gehen, dass Krankheiten, auch vonRechtsanwälten in einer Art und Weise geltend ge-macht werden, die Zweifel an der Ernsthaftigkeit we-cken. Wenn das Gericht dann, gestützt auf umfangrei-che BGH-Rechtsprechung, meint, die Säumnis sei nichtunverschuldet, das OLG die Sache aber anders sieht,dann kommt die Sache wegen eines Verfahrensfehlerswieder zurück und wir haben eine wunderbar eingetre-tene Verzögerung. Auch dies ein Fall, den ich vor ge-raumer Zeit erlebt habe.

Welche Anreize gibt es für den Richter? Gehen wir da-von aus, dass kein materieller Anreiz im Sinne einer Be-stechung gemeint ist. Ein bundesweit bekannter Straf-verteidiger mit Sitz in Frankfurt hat dazu einmal ge-sagt, die einzige Berufsgruppe, von der er sicherannimmt, dass sie nicht bestechlich ist, ist die derdeutschen Richter und Richterinnen.

Also welche anderen Anreize kann es geben? Statistik?Es wird natürlich oft kolportiert, dass Gerichtspräsiden-ten nichts anders tun, als ständig in die Erledigungs-zahlen ihrer Richterinnen und Richter zu schauen. Esgibt zu viele Gerichte in Deutschland, als dass ich da-rüber pauschal etwas sagen könnte. Vom LandgerichtFrankfurt am Main weiß ich es aus früheren Jahren,als ich für den Präsidenten gearbeitet habe, und ausdem, was mir der Präsidialrichter dieser Tage auf An-frage gesagt hat, dass die Statistik der Erledigungenalleine kein Kriterium für irgendetwas ist, wenn es um

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KEHREN, VERFAHRENSMANAGEMENT NACH DER ZPO

eine Richterperson geht, also speziell um die Frage derBeförderung. Ob der Bestand hoch – also schlecht –, obdie Erledigungszahl hoch – also gut – ist, ist für sichallein wenig aussagekräftig. Viel wichtiger ist es, in wel-chem zeitlichen Abstand terminiert, mit welcher Ent-scheidungsfreude und damit zügig gearbeitet wird undwie die inhaltliche Qualität der Arbeit ausfällt, wozusich mitunter eine Frage an das Rechtsmittelgerichtlohnt.Es gibt einfach Rechtsstreitigkeiten, die lange dauern,ohne dass der Richter das wirklich beeinflussen kann.Ich habe einmal ein Verfahren von einer anderen Kam-mer geerbt, das bereits drei Jahre anhängig war, indem bereits zwei andere Vorsitzende gearbeitet hat-ten, das im Zeitpunkt der Übergabe bei einem Sachver-ständigen lag und ich zwei Jahre mit zwei Mal fest-gesetzten Ordnungsgeldern und der Androhung einerStrafanzeige wegen Aktenunterdrückung brauchte, be-vor ich überhaupt die Akte wieder unbearbeitet vomSachverständigen zurück bekommen habe. Ich habedann eine weitere Beweisaufnahme mit Zeugen durch-

geführt und wollte danach wiederum das Sachverstän-digengutachten einholen. Nach dann ziemlich genauacht Jahren Verfahrensdauer haben die Parteien ent-nervt aufgegeben. Das ist natürlich absolut kein Ruh-mesblatt für die Justiz, ich war an der Verzögerungam wenigsten beteiligt, aber natürlich hat sie meineStatistik verhagelt.

Was also bleibt als Anreiz für den Richter? Ich denke,die Führung zügiger Rechtsstreite, die strukturiertdurchgeführt werden und zu einer Entscheidung kom-men, die nach allen Seiten vertretbar sind und somitkeinen kurzen Prozess darstellen, wird sich schlicht he-rumsprechen. Wenn das bei einem Richter/einer Rich-terin die Regel ist, wird das Ansehen dieser Richterin/dieses Richters innerhalb der Richterschaft, innerhalbder Anwaltschaft und natürlich auch bei den – trotzrichterlicher Unabhängigkeit vorhandenen – „Vor-gesetzten“ steigen. Aber ein gutes Gefühl und Zufrie-denheit ob der erbrachten Leistung ist für viele Anreizgenug, um genau diese Tätigkeit weiter auszuüben.

VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESSGESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN UND ANREIZE

PROF. INGO SAENGER*

I. EINFÜHRUNG

Verfahrensmanagement und Prozessleitung, auf § 136sowie verschiedene andere Vorschriften der Zivilpro-zessordnung gegründet, sind in allen Jurisdiktionen be-deutsam. Ein wichtiger Grund hierfür liegt auf derHand: Kosten!1 Verfahrensmanagement soll den Ge-richtsprozess optimieren. Aber was heißt „optimieren“?Die Ressourcen des Staates sollen ebenso wie die derParteien geschont werden. Gleichwohl muss dem Jus-tizgewährungsanspruch und damit der GerechtigkeitGenüge getan werden. Also orientieren sich sämtlicheProzessordnungen an dem Ziel, höchste Qualität desVerfahrens in kürzester Zeit zu gewährleisten – unddas zu den niedrigsten Kosten.2 Letzteres ist überspitztgesagt auch der einzige Grund, warum ein Gesetz-

geber überhaupt reagiert.3 Diese „Weisheit“ ließe sichsicher auch im deutschen Schrifttum finden, ist aberdem englischen entnommen – die Erkenntnis ist alsouniversal.

Aus Gründen der Kostenersparnis werden zuweilen tra-ditionelle Prinzipien aufgegeben oder modifiziert. Ver-fahrensmanagement ist ein gutes Beispiel. Der deut-sche Zivilprozess ist traditionell durch einen starkenRichter geprägt, dem ganz unterschiedliche Möglich-keiten offen stehen, den Gang des Verfahrens zu be-stimmen. Dies ist aber nur bis zu einer bestimmtenGrenze möglich. Angesichts des Beibringungsgrund-satzes hat der Richter nur begrenzte Möglichkeiten,selbst Tatsachen zu beschaffen. Gleichwohl hat der Ge-setzgeber nach und nach die Tür für ein investigativesHerangehen geöffnet.4 Ein solcher Widerstreit zwi-schen einem „sozialen“ Zivilprozess, in dem der Richtereine starke Stellung hat, und einem (nur) in die Handder Parteien gelegten Prozess, der sich am Verhand-lungsgrundsatz orientiert, wobei in diesem Zusammen-

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* Der Verfasser ist Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Gesell-schaftsrecht sowie Direktor des Instituts für Internationales Wirtschaftsrecht ander Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Daneben war er von 1999 bis2006 als Richter am OLG Hamm tätig. Dem Beitrag liegt das Manuskript einesanlässlich des 6. ZPR-Symposions der Bundesrechtsanwaltskammer am 16.3.2012in Potsdam gehaltenen Vortrags zugrunde. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

1 Vgl. auch Storskrubb, Civil Procedure and EU Law: A Policy Area Uncovered(2008), S. 285 f.

2 Flanders, Case management in federal courts: some controversies and some re-sults, 4 Justice System Journal (1978), 147, 149.

3 Zuckerman/Cranston (Hrsg.), Reform of Civil Procedure, Essays on ‚Access to Jus-tice‘ (1995), S.V.

4 Bereits 1988 hob Gottwald, Aktive Richter – Managerial Judges. Zur Richter-macht im amerikanischen und deutschen Zivilprozess, in: Institute of ComparativeLaw Waseda University (Hrsg.), Law in east and west (1988), S. 705, die zuneh-menden Aufgaben des Richters bei der Informationsbeschaffung hervor.

hang der Begriff der sporting theory of justice Verwen-dung findet,5 lässt sich auch in anderen Rechtsordnun-gen beobachten. So ist das amerikanische System tra-ditionell von letzterem geprägt – zwei „moderne Gla-diatoren“ im unerbittlichen Kampf unter den Augeneines nur beobachtenden „Ringrichters“.6 Hiervon istdas britische Recht aber schon vor geraumer Zeit ab-gerückt.7 Ausschlaggebend dafür war Lord Woolf's „In-terim Report“,8 in dem ganz grundsätzlich eine Über-tragung der Verantwortung für die Verfahrensgestal-tung von den Parteien und ihren Vertretern auf dasGericht empfohlen wurde. Mit den 1998 reformiertenCivil Procedure Rules (CPR) kam es zum Paradigmen-wechsel. Dahinter steht die Idee eines Verfahrens-managements, das die Möglichkeit eröffnet, den Streitauf frühestmöglicher Stufe beizulegen. Aber auch inden Vereinigten Staaten – wo case management vorallem von Rule 16 der Federal Rules of Civil Procedure(Fed. R.Civ.P.) bestimmt wird, die seit ihrem Inkrafttre-ten 1934 nur in 1983 und 1993 ergänzt bzw. erweitertwurde9 – diskutiert man eine erhebliche Ausweitungdes gerichtlichen Einflusses. Ungeachtet des Ringensum das Prinzip ist bemerkenswert, wie unabhängigdie Richter in den verschiedenen Ländern doch aufdie gesetzgeberischen Ideen reagieren und auf welcheWeise sie von Neuregelungen Gebrauch machen.10

Verfahrensmanagement ist auch gewiss kein neuesThema für das ZPR-Symposion. Auf dessen Tagesord-nung standen bereits die Effektivität des Rechtsschut-zes (3. Symposion 2005) und die Bedeutung der münd-lichen Verhandlung (5. Symposion 2009) ebenso wiedas weite Feld der Mediation (5. Symposion 2007, zu-gleich Gegenstand von Zivilprozessrechtslehrertagung2008 und Verhandlungen des 67. Deutschen Juristen-tages 2008). Hinzuweisen ist auch auf das XI. Trave-münder Symposium zur ökonomischen Analyse desRechts 2008, das der ökonomischen Analyse des Ver-fahrensrechts gewidmet war.11 Die Untersuchungenu.a. von Prütting12 zu der Frage, ob gesetzgeberischeMaßnahmen zur Beschleunigung von Gerichtsverfah-

ren positive Effekte gezeitigt haben, brachten indeskein positives Ergebnis. Entsprechendes gilt für andereinteressante Untersuchungsgegenstände, wie den Aus-wirkungen der Altersstruktur der Richter in Bezug aufProduktivität und „Fehlerquote“ von Gerichtsentschei-dungen. Überzeugt haben mich auch nicht die For-schungen zu Nutzen und Kosten der Justiz aus volks-wirtschaftlicher Sicht – schon die Vorfrage, welches„Gut“ im Justizsektor „hergestellt“ werde,13 befremdet.

Zweifellos ist das Thema wichtig und sind praktische Lö-sungen nach wie vor gefragt. Indes ist vieles bereits ge-sagt – wenn auch vielleicht nicht von jedem. Das machtes den Referenten nicht einfach. Dennoch sollen einigeneue Facetten zur Diskussion beigesteuert werden. Umdas Pferd einmal von hinten aufzuzäumen und das Cre-do vorwegzunehmen: Es ist wohl nicht so, dass das imZivilprozessrecht angelegte Verfahrensmanagement un-zulänglich und grundlegend reformbedürftig wäre. Jün-gere Gesetzesänderungen haben jedenfalls nicht zudurchgreifenden Veränderungen geführt. Ich sehe Dis-kussionsbedarf vor allem in Bezug auf die Art und Wei-se der Anwendung des vorhandenen Instrumentariumsdurch die Gerichte sowie die „Infrastruktur“ der Justiz.

Kommen wir zu den „Anreizen“: Für wen eigentlich –für den Richter bzw. den Staat oder für die Parteien?Am Ende ist immer Geld entscheidend. Zwar ist derRichter nicht der „Hüter der Staatskasse“.14 Aber inder überlangen Dauer einer bürgerlich-rechtlichenStreitigkeit kann eine Verletzung des Grundrechts aufeffektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m.dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG lie-gen.15 Bekanntlich wird bei überlangen Verfahren heu-te eine Entschädigung gewährt.16 Das hat für denStaat sicherlich „Anreizwirkung“ und soll – wie zu hö-ren ist – auch bis hinauf zu den höchsten Gerichten„Druck“ aufgebaut haben.

Auch ungeachtet dessen obliegt es dem Staat, Mittelder Allgemeinheit ebenso wie die der Prozessbeteilig-ten zu schonen. Indes müssen jedenfalls die Kostenaufgebracht werden, die nötig sind, um den Justizge-währungsanspruch zu verwirklichen. Dies kann in derprivaten Gerichtsbarkeit und teilweise auch in derstaatlichen anderer Jurisdiktionen anders gesehen wer-den; im deutschen Zivilprozess haben wir aber dasSpannungsverhältnis von Gerechtigkeits- und Effizienz-erwägungen auszuloten.17 Ohne Zweifel sollte die ZPO-Reform von 2002 nicht nur der Qualitätsverbesserung,sondern auch der Effizienzsteigerung dienen.18 Voraus-

BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK | AUFSÄTZE

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5 Schlosser, Die lange deutsche Reise in die prozessuale Moderne, JZ 1991, 599,603; Wagner, Entwicklungstendenzen und Forschungsperspektiven im Zivilpro-zess- und Insolvenzrecht, ZEuP 2008, 6, 22.

6 Vgl. dazu etwa Sherman, 48 S. TX. L. REV. 683 (2007) und Burke, aja.ncsc.dni.us/courtrv/cr40-2/CR40-2Burke.pdf (zuletzt besucht am 8.2.2014).

7 Von entscheidender Bedeutung war Lord Woolf's Interim Report (Access to Justi-ce: Interim Report to the Lord Chancellor on the civil justice system in Englandand Wales, 1995, S. 52), der für den Zivilprozess eine grundlegende Verlagerungder Verantwortung für das Verfahrensmanagement von den Prozessparteien undderen Beratern hin zu den Gerichten empfahl.

8 Access to Justice: Interim Report to the Lord Chancellor on the civil justice systemin England and Wales, 1995, S. 52.

9 Wright/Kane, Law of federal courts, 6th Aufl. (2002), S. 684; vgl. auch Shapiro,Federal Rule 16: a look at the theory and practice of rulemaking, 137 U. Pa. L.Rev. 1969 (1989).

10 S. etwa zum deutschen Recht Nassall, Zehn Jahre ZPO-Reform vor dem BGH,NJW 2012, 113, 116 („Wandel in Kontinuität“).

11 Die Beiträge vereinigt der Tagungsband Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), ÖkonomischeAnalyse des Verfahrensrechts, Beiträge zum XI. Travemünder Symposium zurökonomischen Analyse des Rechts (26. bis 29.3.2008), 2009.

12 Basierend auf der rechtstatsächlichen Untersuchung Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchung zu den Auswirkungen der Reformdes Zivilprozessrechts auf die gerichtliche Praxis – Evaluation der ZPO-Reform,2006.

13 Kirchner, Kosten und Nutzen der Justiz aus volkswirtschaftlicher Sicht, a.a.O.(Fn. 11), S. 85, 87.

14 Thielmann, Richter als Hüter der Staatskasse?, ZRP 2005, 123, freilich mit Blickauf Strafverfahren.

15 BVerfGE 82, 126, 155; 93, 99, 107 und der Beschl. v. 2.12.2011 – 1 BvR 314/11,DB 2012, 337.

16 Seit Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts-verfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren v. 24.11.2011 am 3.12.2011(BGBl. I S. 2302).

17 Dazu auch Duve/Sattler, Der Kampf ums Recht im Jahr 2030. Die Zukunft pri-vatrechtlicher Rechtsverfolgung – und was sie für Anwälte bedeutet, AnwBl. 2012,2, 5.

18 RegE, BT-Drucks. 14/4722, S. 1.

setzung für eine Steigerung des Effizienzgrades ist je-doch, dass mit geringerem Aufwand dasselbe Ergebniserreicht wird.19 Hält die Reform dieser „Nagelprobe“stand?

Maßnahmen der Kostenreduktion waren beispielswei-se die Einführung des originär zuständigen Einzelrich-ters beim Landgericht (§ 348, § 348a ZPO) und die Be-schränkung der zweiten Tatsacheninstanz nach § 529ZPO.20 Auf den ersten Blick mag die Rechnung schein-bar aufgehen: Werden Kollegialgerichte und Instanzenreduziert, kommt es zu einer unmittelbaren Einspa-rung. Das gilt aber nur, wenn man Berufungen, Rechts-oder gar Verfassungsbeschwerden mit den entspre-chenden Verlagerungen an andere Gerichte als „Kolla-teralschäden“ außer Betracht lässt – vom Schaden fürdas Ansehen des Rechtssystems ganz abgesehen.Überspitzt gesagt: Es dürfte eher unwahrscheinlichsein, dass im Einzelfall das für eine messbare Effizienz-steigerung erforderliche selbe Ergebnis erzielt werdenkann, wenn man aus strukturellen Kosteneinsparungs-gründen einen frisch examinierten Einzelrichter ein-setzt, der seine Erfahrung nicht in einem Kollegialge-richt sammelt, sondern sich „einsam“ im eigenen De-zernat im Wege des learning by doing ein training onthe job verordnen lässt.21 Angesichts dessen wirdman an solche Strukturänderungen – zuweilen sogaroffen als „Qualitätsabbau“ kritisiert22 – keine allzu gro-ßen Erwartungen stellen können. Wir müssen uns alsodem „Fein-Tuning“ des Verfahrens zuwenden, also derFrage, welches Instrumentarium Richtern und Parteienbzw. deren Anwälten an die Hand zu geben ist.

II. INSTRUMENTARIUM

Trotz hektischer gesetzgeberischer Aktivitäten in dervergangenen Zeit,23 sind die Koordinaten doch ins-gesamt behutsam geändert worden. Obwohl der Pro-zess durch den Verhandlungs- und Beibringungsgrund-satz24 geprägt ist und die Beibringung von Tatsachenund Beweisen den Parteien obliegt,25 hat der Richterihnen wo nötig zu helfen und Beweise zu erheben, wo-hingegen die Parteien Beweismittel beizubringen ha-

ben.26 Der Richter bestimmt das förmliche Verfahren.27

Er leitet die Parteien durch das Verfahren und ist bis zueinem bestimmten Punkt auch verantwortlich, dassTatsachen aufgedeckt werden. Dabei steht nicht alleindie Verfahrensbeschleunigung im Vordergrund. Viel-mehr sollen die Parteien in die Lage versetzt werden,ihre prozessualen Rechte in angemessener Weise aus-zuüben. So gesehen ist die Prozessleitung als Gegen-gewicht zur Parteiherrschaft zu verstehen.28

Aber was bedeutet Prozessleitung im Einzelnen? DerRichter trägt die Verantwortung für ein konzentriertesund beschleunigtes aber gleichwohl gründliches Ver-fahren.29 Stürner30 spricht in diesem Zusammenhangvon dem modernen Modell einer richterlich vorbereite-ten Hauptverhandlung. Kennzeichnend ist, dass dierichterlichen Befugnisse ganz weitgehend in seinem Er-messen stehen. Dies wird insbesondere an der Vor-schrift über die Bestimmung der Verfahrensweise deut-lich. § 272 Abs. 2 ZPO knüpft die Entscheidung, ob derRichter einen frühen ersten Termin zur mündlichen Ver-handlung bestimmt oder ein schriftliches Vorverfahrenveranlasst, an keine Bedingung.31 Indes ist die Vor-schrift über die Leitung der mündlichen Verhandlungdes § 136 ZPO sehr knapp gefasst. Im Wesentlichenist nur geregelt, dass der Vorsitzende Richter in derVerhandlung das Wort erteilt und Sorge zu tragenhat, dass die Sache erschöpfend erörtert und mög-lichst ohne Unterbrechung zu Ende geführt wird.

Von zentraler Bedeutung ist demgegenüber § 139ZPO.32 Diese Vorschrift normiert die Frage- und Hin-weispflichten des Gerichts. Entsprechende Pflichten be-stehen nach § 278 Abs. 2 Satz 2 ZPO auch in einer dermündlichen Verhandlung vorausgehenden Gütever-handlung. Allein die Zweckrichtung ist eine andere.Geht es bei § 139 ZPO in erster Linie um die effektiveRechtsschutzgewährung, ist § 278 ZPO auf die gütli-che Beilegung des Streits gerichtet.33 GerichtlicheMaßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts werdenkonkret in §§ 141–144 ZPO beschrieben (Anordnungpersönlichen Erscheinens, der Urkundenvorlegung, Ak-tenübermittlung oder Augenscheinseinnahme). Hierzuzählen auch die Maßnahmen, die das Gericht nach§ 273 ZPO zur Vorbereitung des Termins erlässt, undebenfalls der Erlass von Beweisbeschlüssen (§ 359ZPO).

AUFSÄTZE | BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK

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19 Bruns, Der Zivilprozess zwischen Rechtsschutzgewährleistung und Effizienz, ZZP124 (2011), 29.

20 Darauf weisen auch Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2, 5 hin.21 Wohl ebenfalls kritisch hinsichtlich der Effizienzgewinne durch die Abschaffungdes Kammerprinzips Bruns, ZZP 124 (2011), 29, 37 f. Zu der Problematik des Ein-satzes von unerfahrenen Richtern insbesondere auch Wächter, Die Tatsachen-instanz in großen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach der ZPO-Reform, ZZP 119(2006), 393, 403 f.

22 Wächter, ZZP 119 (2006), 393, 396. Vgl. dazu auch Bruns, ZZP 124 (2011), 29,37 f.

23 Die Entwicklung zwischen 1995 und 2005 thematisiert Hess, Effektiver Rechts-schutz vor deutschen Gerichten aus deutscher und vergleichender Sicht, in: Gott-wald (Hrsg.), Effektivität des Rechtsschutzes vor staatlichen und privaten Gerich-ten (2006), S. 121, 127 ff.

24 Vgl. Rauscher, MüKo-ZPO, 4. Aufl. 2013, Einl., Rdnr. 306 ff.; Saenger, Hk-ZPO,5. Aufl. 2013, Einf., Rdnr. 66 ff.; Musielak, Musielak, ZPO, 10. Aufl. 2013, Einl.,Rdnr. 37 ff.; Greger, Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, vor § 128, Rdnr. 10 ff.; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl. 2005, vor § 128, Rdnr. 146 ff.; Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 3. Aufl. 1994, Einl., Rdnr. 78 ff.

25 Stein/Jonas/Leipold (o. Fn. 24), vor § 128, Rdnr. 186.

26 Leipold, Limiting Costs for Better Access to Justice – The German Experience, in:Zuckerman/Cranston (o. Fn. 3), S. 265, 266.

27 Seit 2002 ist § 139 ZPO an das gesamte Gericht, § 273 Abs. 2 ZPO nur an denVorsitzenden Richter gerichtet. Dies erklärt sich damit, dass der VorsitzendeRichter der mündlichen Verhandlung vorsitzt, aber einzelne Verfahrensschrittedem Berichterstatter überlassen sein können, vgl. Stein/Jonas/Leipold (o. Fn. 24),§ 139, Rdnr. 96.

28 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), vor § 128, Rdnr. 18 f.29 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), vor § 128, Rdnr. 186.30 Stürner, Parteiherrschaft versus Richtermacht. Materielle Prozessleitung undSachverhaltsaufklärung im Spannungsfeld zwischen Verhandlungsmaxime und Ef-fizienz, ZZP 123 (2010), 147.

31 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 20.32 Umfassend dazu M. Koch, Die richterliche Prozessförderungspflicht nach demZPO-Reformgesetz, 2003.

33 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 16.

SAENGER, VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESS

Insgesamt ist dieser Bereich stark durch die Gerichts-praxis geprägt.34 Wie groß der Spielraum ist, habenzuletzt die Initiativen zur gerichtlichen Mediation ge-zeigt. Auf diesen Gesichtspunkt soll hier aber nicht ein-gegangen werden. Das alles war Gegenstand umfang-reicher kontroverser Diskussion35 und bleibt es wohlauch über den Abschluss des Gesetzgebungsverfah-rens hinaus.36 Jedenfalls dürfte die Position des Güte-richters gestärkt worden sein.37 Nun aber zu verschie-denen Einzelfragen.

1. VORBEREITUNG DES TERMINS (§ 273 ZPO)Die Vorschrift über die umfassende und rechtzeitigeVorbereitung der Verhandlung stellt ein Instrumentfür den Richter zur planvollen Beschaffung des ent-scheidungserheblichen Prozessstoffes dar. Damit wirddie Pflicht des Gerichts zur materiellen Prozessleitungkonkretisiert.38 Ob und welche Maßnahmen erforder-lich sind, richtet sich indes nach der Verfahrenslageund der Zumutbarkeit gerichtlichen Eingreifens.39 Inso-weit besteht ein weites Ermessen des Gerichts. SeineSchranke findet die Prozessvorbereitung im Verhand-lungsgrundsatz, wonach nur solche Vorbereitungsmaß-nahmen zulässig sein können, die im Vorbringen derParteien eine Grundlage finden.40

In Betracht kommt auch die Vorbereitung der Beweis-erhebung. Damit wird die Klärung bestimmter Streit-punkte durch einzelne Beweismittel bezweckt, nichtaber die Herbeiführung einer umfangreichen Beweis-aufnahme mit dem Ziel, die säumige Partei davor zuschützen, dass ihr verspätetes Vorbringen unberück-sichtigt bleibt.41 Im Einzelnen kann nach § 273 Abs. 2ZPO weiterer Parteivortrag zur Ergänzung und Erläute-rung veranlasst werden (§ 273 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).42

Die Möglichkeit des Ersuchens um amtliche Auskunftnach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gibt indes keine Ermäch-tigung zu Amtsermittlungen. Entsprechende Maßnah-men sind nur zulässig, wenn eine Partei sich auf denfraglichen Vorgang bezogen hat.43 Nach § 273 Abs. 2Nr. 5 ZPO kann unter den Voraussetzungen von § 144Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO die Vorlegung von Augen-scheins- oder Begutachtungsobjekten angeordnet wer-den, nicht aber Augenschein oder Begutachtung

selbst, da es sich dabei nicht mehr nur um die Vor-bereitung, sondern bereits um eine Beweisaufnahmehandelt.44

2. GÜTEVERHANDLUNG (§ 278 ABS. 2 ZPO)Dem case management zuzurechnen ist ebenfalls diesich aus § 278 ZPO ergebende Pflicht45 des Gerichts,in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beile-gung des Rechtsstreits oder einzelner Streitpunkte be-dacht zu sein. Deshalb hat der mündlichen Verhand-lung regelmäßig eine Güteverhandlung zum Zweckeder gütlichen Beilegung des Rechtsstreits vorauszuge-hen. Insoweit steht dem Richter ebenfalls ein sehr wei-tes Ermessen zu. Nach § 278 Abs. 2 ZPO kann er zumeinen auf den Güteversuch verzichten, wenn diesernach seiner Einschätzung „erkennbar aussichtslos“ er-scheint. Maßgeblich ist dabei allein die subjektiveÜberzeugung des Gerichts.46 Zum anderen steht derAblauf der Güteverhandlung im freien Ermessen desGerichts, das den Sach- und Streitstand mit den Partei-en unter freier Würdigung aller Umstände zu erörternund, soweit erforderlich, Fragen zu stellen hat. Nach§ 278 Abs. 5 ZPO kann das Gericht die Parteien fürdie Güteverhandlung vor einen Güterichter verweisen.Schließlich ermöglicht § 278 Abs. 6 ZPO den außerge-richtlichen Abschluss eines Prozessvergleichs, indemdas Gericht einen schriftlichen Vergleichsvorschlagmachen kann, den die Parteien durch Schriftsatz ge-genüber dem Gericht annehmen können, so dass ernicht im Güteverfahren oder in der streitigen Verhand-lung vereinbart und beurkundet werden muss.47

Der Richter ist also verpflichtet zunächst zu prüfen, obsich die Möglichkeit einer gütlichen Streitbeilegungbietet. Die gütliche Streitbeilegung als solche wirderst zur Pflicht, wenn sie im Einzelfall zweckmäßig undvor allem aussichtsreich erscheint. Maßgeblich für dieZweckmäßigkeit der gütlichen Streitbeilegung als Alter-native zum streitigen Urteil ist neben der Kosten-ersparnis und der Verfahrensbeschleunigung auch dieGeeignetheit zur Wiederherstellung des Rechtsfrie-dens. Deshalb können nicht allein prozessökonomischeGründe ausschlaggebend sein, sondern ist auch dasKonfliktpotenzial zu erfassen und bei der Vorgehens-weise zu berücksichtigen.48

3. RICHTERLICHE HINWEISPFLICHT (§ 139 ZPO)In jeder Lage des Prozesses besteht eine richterlicheFrage- und Hinweispflicht, in der mündlichen Verhand-lung ebenso wie bereits bei deren Vorbereitung.49 Hier-

BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK | AUFSÄTZE

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34 Sozusagen zum „Idealbild“ vgl. H. Schneider, Casemangement – Optionen bei derVerfahrensgestaltung im Zivilprozess, SchlHA 2007, 49.

35 Dazu nur Henssler/Deckenbrock, Das neue Mediationsgesetz: Mediation ist undbleibt Anwaltssache!, DB 2012, 159 und Prütting, Das neue Mediationsgesetz:Konsensuale Streitbeilegung mit Überraschungen, AnwBl. 2012, 204.

36 Vgl. nur den Regierungsentwurf, BT-Drucks. 17/5335, die Vorlage des Rechtsaus-schusses, BT-Drucks. 17/8058 und die verzweifelten Initiativen, auch an einer ge-richtsinternen Mediation festzuhalten.

37 Prütting, AnwBl. 2012, 204, 206 f., 208.38 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 1; Greger, Zöller, (o. Fn. 24), § 273,Rdnr. 1.

39 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 4; Foerste, Musielak, (o. Fn. 24), § 273,Rdnr. 2.

40 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 5; Foerste, Musielak, (o. Fn. 24), § 273,Rdnr. 3.

41 BGH, NJW 1980, 1102, 1103; Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 8.42 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 11; Foerste, Musielak, (o. Fn. 24),§ 273, Rdnr. 10.

43 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 12; Greger, Zöller, (o. Fn. 24), § 273,Rdnr. 7

44 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 273, Rdnr. 16; Greger, Zöller, (o. Fn. 24), § 273,Rdnr. 13.

45 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 278, Rdnr. 3; Foerste, Musielak, (o. Fn. 24), § 278,Rdnr. 15.

46 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 278, Rdnr. 10; Prütting, MüKo-ZPO (o. Fn. 24),§ 278, Rdnr. 18.

47 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 278, Rdnr. 21; Greger, Zöller, (o. Fn. 24), § 278,Rdnr. 34.

48 Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 278, Rdnr. 3; Greger, Zöller, (o. Fn. 24), § 278,Rdnr. 1.

49 Zum Ganzen auch Schumann, Die absolute Pflicht zum richterlichen Hinweis(§ 139 Abs. 2 ZPO), in: FS Leipold (2009), 175 ff.

SAENGER, VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESS

bei handelt es sich um eine Amtspflicht des Gerichts.Ein Beurteilungsspielraum besteht allenfalls im Hin-blick darauf, auf welche Weise das Gericht seinerPflicht zur Klärung des Sach- und Streitverhältnissesnachkommt.50 Die Zulässigkeit der aktiven Mitwirkungdes Gerichts bei der Klärung des Sach- und Streitver-hältnisses wird allein von der Neutralitätspflicht unddem Grundsatz der Gleichbehandlung begrenzt.51

Maßgeblich für die Pflicht zur Erteilung von Hinweisenist der materiell-rechtliche Standpunkt des Gerichts.52

Indem die Parteien über den rechtlichen Rahmen einervoraussichtlichen Entscheidung informiert werden,werden sie zugleich vor unnötigen Aktivitäten der Tat-sachen- und Beweisermittlung bewahrt, was die Effi-zienz des Verfahrens verstärkt.53

Erörterung i.S.v. § 139 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist ein „offe-nes Rechtsgespräch“,54 also die allseitige Aussprachezwischen Gericht und Parteien in tatsächlicher undrechtlicher Beziehung. Fragen sind zu stellen, wennZweifel hinsichtlich des Parteivorbringens bestehen.55

Hinweise sind zu geben, wenn Tatsachenvortrag, Be-weisangebote oder Anträge fehlen, unvollständig, wi-dersprüchlich oder unklar sind.56 Weil das Gerichtnach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO darauf hinzuwirkenhat, dass sich die Parteien rechtzeitig und vollständigüber alle erheblichen Tatsachen erklären, ist ein Hin-weis auf eine nicht hinreichend substantiierte Darstel-lung erforderlich, ebenso der Hinweis auf die Unschlüs-sigkeit der Klage.57 In Bezug auf seine Rechtsauffas-sung hat das Gericht auf alle Gesichtspunktehinzuweisen, die nach seiner Auffassung für die Ent-scheidung von Bedeutung sind.58 Es muss den Parteiendie Gelegenheit geben, ihren Rechtsstandpunkt zuerörtern.59 Das erfordert nicht nur das Verbot vonÜberraschungsentscheidungen (§ 139 Abs. 2 ZPO),sondern gebietet auch der Grundsatz der Gewährungrechtlichen Gehörs (§ 128 ZPO).60 Indes braucht dasGericht nicht offenzulegen, welchen Rechtsstandpunktes selbst vertritt.61

Auch ist das Gericht verpflichtet, darauf hinzuwirken,dass sachdienliche Anträge gestellt und Beweismittelbezeichnet werden. Das Gericht hat deshalb auf einenfehlenden Beweisantrag hinzuweisen, was insbesonde-re bei Verkennung der Beweislast gilt.62 Nach § 139Abs. 2 ZPO ist auf die entscheidungserheblichen Ge-sichtspunkte hinzuweisen, damit es nicht zu Über-raschungsentscheidungen kommt. Für das Gericht ent-

scheidungserhebliche Gesichtspunkte müssen deshalbangesprochen werden, wenn eine Partei dies erkenn-bar übersehen oder für unerheblich gehalten hat oderdas Gericht diesen Gesichtspunkt anders beurteilt alsbeide Parteien.63

4. GERICHTLICHE INFORMATIONSBESCHAFFUNG UNDBEIBRINGUNGSGRUNDSATZ – URKUNDENVORLEGUNG(§ 142 ZPO) UND VORLAGE VON AUGENSCHEINS-GEGENSTÄNDEN (§ 144 ZPO)Ausgehend vom Beibringungs- bzw. Verhandlungs-grundsatz darf das Gericht seiner Entscheidung nurtatsächlichen Prozessstoff zugrunde legen, der vonden Parteien in den Prozess eingeführt wurde.64 EineBeweiserhebung soll das Gericht nur anordnen kön-nen, wenn zumindest eine Partei dies beantragt.65

Dies erklärt sich daraus, dass der Zivilprozess derDurchsetzung privater Rechte dient und deshalb ohneweiteres darauf vertraut werden kann, dass die Partei-en die ihnen günstigen Tatsachen auch vortragen wer-den. Das findet in der Privatautonomie seine materiell-rechtliche Parallele.66 Die Parteien allein bestimmendas Verfahren und es besteht grundsätzlich kein öf-fentliches Interesse an der Ermittlung von der streiti-gen Privatrechtsbeziehung zugrunde liegenden Tatsa-chen.

Es stellt sich aber die Frage nach der Reichweite desBeibringungsgrundsatzes: Wer muss wann was darle-gen und gar Beweis antreten? Wie verhält es sich,wenn die darzulegenden Tatsachen nicht zugänglichsind? Und unter prozesstaktischen Gesichtspunkten:Welche Informationen können zunächst zurückgehal-ten werden, ohne dass, wenn sie aufgrund prozessua-len Verhaltens des Gegners Relevanz gewinnen, diePräklusion hindert, sie nachzuschieben?67 Der Richtersoll nach traditioneller Lesart jedenfalls nicht Herr desVerfahrens sein und sich im äußersten Fall – was dieTatsachengrundlage angeht – sogar von den Parteienan der Nase herumführen lassen müssen. Dass diesnicht die Effektivität des Rechtsschutzes fördert, ist hin-länglich bekannt.

Die Kritik wird von Greger nur neu formuliert, wenn erdem BGH anlastet, auf einem Standpunkt des „Nicht-offenbarens“ zu beharren,68 und fordert, der deutscheZivilprozess müsse grundlegend – eine FormulierungStürners69 aufnehmend – vom prozessdarwinistischenGedankengut des 19. Jahrhunderts befreit werdenund Anschluss an ein von Rationalismus geprägtes,der modernen Informationsgesellschaft entsprechen-

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50 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 27.51 BGH, NJW 2004, 164; Stein/Jonas/Leipold (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 20; Wöst-mann, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 1.

52 BGH, NJW 1991, 704.53 Stürner, ZZP 123 (2010), 147, 154.54 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 19.55 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 22, 24.56 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 18, 22, 24, 35; Wöstmann, Hk-ZPO,(o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 2.

57 BGH, MDR 2004, 468.58 BVerfGE 98, 218, 263; Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 19.59 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 19.60 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 19, 58.61 Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 19.62 Wöstmann, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 5.

63 Wöstmann, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 139, Rdnr. 6.64 BVerfG, Beschl. v. 11.10.1994 – 1 BvR 1398/93, NJW 1995, 40; BGH, Urt. v.13.3.1997 – I ZR 215/94, NJW 1998, 156, 159.

65 BVerfG, Beschl. v. 29.12.1993 – 2 BvR 65/93, NJW 1994, 1210, 1211.66 Spickhoff, Richterliche Aufklärungspflicht und materielles Recht (1999), S. 23.67 S. zu diesem Gesichtspunkt auch Geipel/Geisler/Nill, Präklusion versus Prozess-taktik, ZAP 2007, 139.

68 Greger, Veränderungen und Entwicklungen des Beweisrechts im deutschen Zivil-prozess, BRAK-Mitt. 2005, 150, 155.

69 Stürner, Zur allgemeinen Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei imZivilprozess, ZZP 104 (1991), 208, 216.

des Konfliktmanagement finden, wenn er nicht interna-tional und insbesondere im Vergleich zur Schieds-gerichtsbarkeit ins Hintertreffen geraten wolle.70 Ver-wiesen wird auf das amerikanische Prinzip der wech-selseitigen Offenlegung aller prozessrelevantenInformationen, die im französischen System statuiertenallgemeinen Mitwirkungspflichten der Parteien ohneRücksicht auf die Beweislast, den in Österreich an dieStelle der Verhandlungsmaxime getretenen und Koope-rationsmodell genannten abgeschwächten Unter-suchungsgrundsatz sowie auf die vom englischen Rich-ter gesteuerte gegenseitige Information der Parteien.Letztlich müssten die Parteien auf den Austausch allerprozessrelevanten Informationen zur Förderung dereinvernehmlichen Streitbeilegung hinwirken, was aber– wie von Stürner,71 Gottwald72 und Schlosser73 längstgefordert – ein Eingreifen des Gesetzgebers erforder-lich mache. Insoweit scheint sich inzwischen einiges inBewegung zu befinden, auch wenn ein stimmiges Kon-zept der Neuorientierung noch nicht erkennbar ist.

Das Zivilprozessreformgesetz (ZPO-RG)74 hat Erweite-rungen im Rahmen der Anordnung der Vorlegung in§ 142 und § 144 ZPO gebracht. Diese können im Rah-men der Vorschriften über die Prozessleitung mit Blickauf die Beibringungslast als „Einbruchstellen“ in dastradierte System gewertet werden. Sowohl die Partei-herrschaft als auch der Beibringungsgrundsatz habenan Bedeutung verloren.75 Leipold spricht zu Recht von„tiefgreifenden Veränderungen“76 in Bezug auf dasVerhältnis von Parteiherrschaft und Richtermacht. Seitder Neuregelung von § 142, § 144 ZPO sind die Ge-richte ermächtigt, auch gegen deren Willen Urkundenund andere Erkenntnismittel von einer Partei oder Drit-ten herauszuverlangen. Damit ist der Schutz entfallen,interne Papiere im Prozess präsentieren zu müssen.77

Der alte Grundsatz, wonach keine Prozesspartei gehal-ten ist, dem Gegner für dessen Prozesssieg das Materi-al zu verschaffen, über das er nicht von sich aus ver-fügt,78 gilt wohl nicht mehr. Letztlich lassen sich zweiWege beschreiten: Zum einen kommt die Anordnungder Vorlegung von bei den Parteien oder Dritten be-findlichen Urkunden oder Augenscheinsgegenständenvon Amts wegen nach § 142, § 144 ZPO in Betracht.Die Anordnung der Vorlegung von Urkunden oder Au-genscheinsgegenständen durch Dritte kann zum ande-ren aber auch auf einen entsprechenden Antrag(§ 428 und § 371 Abs. 2 ZPO) einer Partei hin nach§ 142, § 144 ZPO angeordnet werden. Es handelt

sich dann um einen echten Beweisantrag i.S.v.§§ 428ff. bzw. §§ 371ff. ZPO.

a) PROZESSLEITENDE ANORDNUNG DER VORLEGUNGVON AMTS WEGENVor der Neuregelung konnte nur die Vorlage gegen-über der Partei angeordnet werden, die sich auf die inihren Händen befindlichen Urkunden bezogen hatte.Im Besitz des Gegners befindliche Urkunden konntenvom Beweisführer nur im Wege des Urkundenbeweisesund auch nur bei Bestehen eines materiell-rechtlichenHerausgabeanspruches eingeführt werden (§§ 420–423 ZPO), bei Besitz Dritter bedurfte es sogar einer ge-sonderten Herausgabeklage (§ 429 ZPO). Allerdingsvermochte das Gericht bereits nach früherem Rechtdie Einnahme des Augenscheins sowie die Begutach-tung durch Sachverständige unabhängig von einemBeweisantritt von Amts wegen anzuordnen (§ 144Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die gerichtliche Anordnungskom-petenz wurde aber mit § 144 Abs. 1 Satz 2 ZPO überdie passive Duldung der Augenscheinnahme auf dieVorlegung von Augenscheinsobjekten durch die Parteioder einen Dritten erweitert.79

Wie verträgt sich dies mit dem Beibringungsgrund-satz? Die gesetzgeberische Motivation ist rasch er-gründet – freilich ohne dass sich daraus Rückschlüsseauf ein Gesamtkonzept ziehen ließen. Das Gericht solldie Möglichkeit haben, sich im Interesse der Sachauf-klärung möglichst früh einen umfassenden Überblicküber den dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sach-verhalt zu verschaffen.80 Es handelt sich also um eineMaßnahme materieller Prozessleitung, die keinen An-trag voraussetzt. Sie soll nur der Aufklärung des vor-getragenen Prozessstoffes und nicht der Ausforschungdienen.81 Die Grenzen einer solchen Verstärkung dermateriellen Prozessleitung des Richters, dem es in ers-ter Linie ermöglicht werden soll, sich von einer schriftli-chen Unterlage, auf die eine Partei ihr Vorbringenstützt, eine unmittelbare Anschauung zu verschaffen,82

lassen sich aber schwer ziehen.

aa) Einigermaßen konkret sind nur die ersten beidenVoraussetzungen:83 Adressat der Anordnung kann nureine Partei bzw. ein Dritter sein, in dessen Besitz sichdie Urkunde bzw. der Augenscheinsgegenstand befin-det. Erforderlich ist zweitens die Bezugnahme auf dieUrkunde durch eine Partei.84 Die Anforderungen andie Bezugnahme sind indes nicht zu überspannen.85

Diese kann in der mündlichen Verhandlung oder sogarunbewusst in einem vorbereitenden Schriftsatz nebst

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70 Greger, BRAK-Mitt. 2005, 150, 154.71 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976.72 Gottwald, Gutachten zum 61. Deutschen Juristentag 1996, S. A 15 ff.73 Schlosser, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1991, Rdnr. 426 ff.; ders.„ JZ 1991, 599.74 Gesetz zur Reform des Zivilprozesses v. 27.7.2001, BGBl. I S. 1887.75 OLG Frankfurt, Beschl. v. 17.12.2004 – 13 W 98/04, OLGR 2005, 594, Rdnr. 6.76 Leipold, Die gerichtliche Anordnung der Urkundenvorlage im reformierten deut-schen Zivilprozess, FS Gerhardt (2004), S. 563.

77 Ausnahmen galten bereits zuvor im Unterhaltsprozess (§ 643 ZPO) sowie imHandelsrecht (§ 102, § 258 HGB).

78 So BGH, Urt. v. 11.6.1990 – II ZR 159/89, NJW 1990, 3151; Wagner, Urkun-denedition durch Prozessparteien – Auskunftspflicht und Weigerungsrechte, JZ2007, 706.

79 BT-Drucks. 14/4722 S. 86.80 BT-Drucks. 14/4722 S. 78 f.81 BGH, Urt. v. 14.6.2007 – VII ZR 230/06, NJW-RR 2007, 1393, 1394; Wöstmann,Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 142, Rdnr. 1.

82 Greger, Zwischen Mediation und Inquisition – Neue Wege der Informations-beschaffung im Zivilprozess, DStR 2005, 479, 482.

83 Nach Greger, DStR 2005, 479, 482 ff.84 Auch durch die beweispflichtige Partei, BGH, Urt. v. 26.6.2007 – XI ZR 277/05,NJW 2007, 2989, 2991.

85 Gruber/Kießling, Die Vorlagepflichten der §§ 142 ff. ZPO nach der Reform 2002,ZZP 116 (2003), 305, 308; Laumen, Zur Pflicht der nicht beweisbelasteten Parteizur Vorlegung von Urkunden, BGH-Report 2007, 984.

Anlagen erfolgen.86 Nur die Vorlage von Augen-scheins- und Begutachtungsobjekten nach § 144Abs. 1 Satz 2 ZPO kann auch ohne Bezugnahme ange-ordnet werden.87

bb) Alles weitere ist recht vage: Drittens soll es der hin-reichenden Substantiierung bei der Bezugnahme be-dürfen.88 Vorausgesetzt wird, dass sich dem Vorbrin-gen der Parteien die Existenz einer Urkunde mit einembestimmten, entscheidungserheblichen Inhalt entneh-men lässt. Es bedarf eines schlüssigen, auf konkreteTatsachen bezogenen Vortrags einer Partei.89 Ausrei-chend ist der ausdrückliche oder aber auch nur konklu-dente Hinweis auf eine Urkunde.90 Hier wird das Pro-blem der Abgrenzung – oder sollte man besser sagen:die Unmöglichkeit der Abgrenzung – von der unzuläs-sigen Ausforschung offensichtlich.91

Zwar ist man sich einig, dass das Ausforschungsver-bot92 mit der Neuregelung keine Einschränkung erfah-ren, also keine „pre-trial discovery of documents“ ame-rikanischen Vorbilds eingeführt werden sollte.93 Dortist eine Partei selbst dann zur Vorlage von Dokumen-ten verpflichtet, wenn die Gegenpartei weder Kenntnisvon der Existenz noch des Inhalts dieser Dokumentehat.94 Hingegen setzt das deutsche Recht einen schlüs-sigen Vortrag und demzufolge Kenntnisse voraus. Wiekonkret dieser Vortrag aber sein muss, ist keineswegsgeklärt. Denn dem Wortlaut des § 142 ZPO unterfallenauch Urkunden, von denen der Beweisführer keineKenntnis hat, deren Vorhandensein sich aber vermutenlässt, weil sie regelmäßig existieren.95 Dies belegt,dass die Grenze zwischen willkürlichem Behauptenund der berechtigten Annahme von der Existenz einerUrkunde durchaus verwischen kann.

cc) Ebenso unklar stellt sich die weitere Voraussetzungder sachgerechten Ermessensausübung des Richtersdar. Von welchen Interessen er sich leiten lassen muss,um sich einen umfassenden Überblick über den Sach-verhalt zu verschaffen, ist offen. Einerseits wird er sichGedanken über die Effizienz des Verfahrens machen.Ein straff durchgeführtes weil gut vorbereitetes Verfah-ren mag sowohl im Interesse des Gerichts wie auchder Partei liegen, die so früher zu ihrem Termin und da-

mit zu ihrem Recht kommt. Im Interesse beider Partei-en eines Rechtsstreits muss dies aber nicht zwingendsein. Dies lässt sich mit zahlreichen Verfahren belegen,die allein aus Gründen des Hinauszögerns bzw. derVerschleppung einer endgültigen Klärung geführt wer-den.

Die maßgeblichen Interessen sind aus Sicht der Partei-en vielmehr der auf der einen Seite bestehendeWunsch nach Aufklärung und das auf der anderen Sei-te bestehende Geheimhaltungsbedürfnis. Aber wie solldie Abwägung vorgenommen werden? Die Vorlagen-anordnung dient nicht Beweiszwecken.96 Auf die Ver-teilung der Darlegungs- und Beweislast sowie das Be-stehen materiell-rechtlicher Herausgabeansprüchekann es deshalb nicht ankommen.97 Die Kriterien fürdie Ermessensentscheidung sind also offen. Hier hilftauch nicht der Hinweis darauf, dass sich die prozess-leitende Entscheidung vom Aufwand und Nutzen derVorlage sowie dem voraussichtlichen Erkenntnis-gewinn unter Berücksichtigung schutzwürdiger Ver-traulichkeitsinteressen bzw. „Geheimbereichen“ leitenlassen müsse.98 Die Unzulänglichkeit der gerichtlichenErmächtigung zu prozessleitenden Maßnahmen wirdvollends deutlich, wenn es um die Voraussetzungenfür eine Anordnung gegenüber Dritten geht. Insoweitbesteht Einigkeit, dass es im Allgemeinen bei einemDritten noch weniger als bei einer Partei zu rechtfer-tigen sein wird, die Herausgabe interner Papiere anzu-ordnen, um dem Gericht die Prozessführung zu erleich-tern99 – ohne dass klar wäre, wann dies denn tatsäch-lich der Fall sein könnte.100

dd) Schließlich können auch die Konsequenzen einersolchen Anordnung Fragen aufwerfen. Gegenüber denParteien ist die Vorlage nicht erzwingbar. Die Weige-rung kann sich aber prozessual nachteilig auswirken.Eine nicht rechtzeitige Vorlage kann zur Präklusion füh-ren (§ 296 Abs. 1, § 273 Abs. 2 Nr. 5 ZPO) und auchim Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt wer-den (§ 286 Abs. 1 ZPO).101 Gegenüber Dritten lässtsich die Vorlagepflicht zwar zwangsweise durchsetzen.Diese können sich ihr aber – nicht nur bei Bestehen ei-nes Zeugnisverweigerungsrechts – bei Unzumutbarkeitentziehen. Wo die Grenze der Unzumutbarkeit liegt, istaber offen. Teilweise wird sie bejaht, wenn das Heraus-suchen von Unterlagen mit erheblichem, gesetzlich

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86 Greger, Zöller, (o. Fn. 24), § 142, Rdnr. 2; Wöstmann, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 142,Rdnr. 4.

87 Greger, DStR 2005, 479, 482.88 OLG Stuttgart, Urt. v. 30.5.2007 – 20 U 12/06, ZIP 2007, 1210, 1216; Stadler,Musielak, (o. Fn. 24), § 142, Rdnr. 3 und 7; Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24),§ 142, Rdnr. 9.

89 BGH, Urt. v. 26.6.2007 – XI ZR 277/0517, NJW 2007, 2989, Rdnr. 20.90 Wöstmann, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 142, Rdnr. 4.91 Dies kritisiert auch Leipold, FS Gerhardt, S. 563, 573.92 Dazu Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 284, Rdnr. 47.93 BGH, Urt. v. 14.6.2007 – VII ZR 230/06, NJW-RR 2007, 1393, 1394. Vgl. auchBT-Drucks. 14/6036, S. 120 (dort im Übrigen auch zur Ablehnung von Rechts-hilfeersuchen, die ein pre-trial discovery of documents-Verfahren zum Gegenstandhaben). S. ferner Greger, DStR 2005, 479, 482 und Zekoll/Bolt, Die Pflicht zurVorlage von Urkunden im Zivilprozess – Amerikanische Verhältnisse in Deutsch-land?, NJW 2002, 3129, 3133 f.

94 Lüpke/Müller, „Pre-Trial Discovery of Documents“ und § 142 ZPO – ein troja-nisches Pferd im neuen Zivilprozessrecht?, NZI 2002, 588, 589; zu der disclosureenglischen Rechts siehe nur Andrews, English Civil Procedure, Fundamentals ofthe New Civil Justice System, 2003, Rdnr. 26.

95 Lüpke/Müller, NZI 2002, 588, 589.

96 Ebenso Greger, DStR 2005, 479, 483.97 Anders aber wohl Greger, DStR 2005, 479, 483.98 BGH, Urt. v. 26.6.2007 – XI ZR 277/0517, NJW 2007, 2989, Rdnr. 20, unterHinweis auf BT-Drucks. 14/6036, S. 120; OLG Stuttgart, Urt. v. 30.5.2007 – 20 U12/06, ZIP 2007, 1210, Rdnr. 74; OLG München, Urt. v. 9.11.2006 – 1 U2742/06, OLGR München 2007, 158, Rdnr. 22. S. auch Greger, DStR 2005, 479,483, der allerdings auch auf die Darlegungs- und Beweislast abstellt.

99 Greger, DStR 2005, 479, 483.100 BGH, Urt. v. 1.8.2006 – X ZR 114/03, NJW-RR 2007, 106, Rdnr. 37: „Die Reich-

weite dieser Bestimmung ist in der Rechtsprechung allerdings noch nicht ab-schließend geklärt.“

101 Darüber hinaus verweist bereits die Gesetzesbegründung auf § 427 ZPO (BT-Drucks. 14/4722 S. 78). Indes setzt die Vorschrift voraus, dass eine Vorlegungs-pflicht besteht (§ 422 ZPO) oder aber der Vorlegungspflichtige selbst auf dieUrkunde Bezug genommen hat (§ 423 ZPO), vgl. Greger, DStR 2005, 479, 482.Bezüglich der Augenscheinseinnahme wird in der Gesetzesbegründung (a.a.O.)auf die Folgen des § 371 Abs. 3 ZPO verwiesen.

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nicht abgegoltenen Aufwand verbunden ist, ebenso beieiner massiven Störung des eigenen Geschäfts-betriebs.102 Andere heben hervor, dass Unzumutbar-keit schon anzunehmen sei, wenn Informationen überAngelegenheiten des Dritten offenbart würden, die die-ser nicht preiszugeben bereit sei – freilich soweit nichtbereits eine materielle Verpflichtung des Dritten zurVorlage bestehe.103 Vertraulichkeitsinteressen sollenindes nicht zu berücksichtigen sein, weil diese abschlie-ßend durch die Bestimmungen des Zeugnisverweige-rungsrechts geschützt würden.104

b) ANORDNUNG DER VORLEGUNG AUFGRUND(BEWEIS-) ANTRAGSDie Anordnung der Vorlegung von Urkunden oder Au-genscheinsgegenständen durch Dritte kann schließlichauch auf einen entsprechenden Antrag einer Partei hinnach § 142, § 144 ZPO angeordnet werden. Es han-delt sich dann um einen echten Beweisantrag i.S.v.§§ 428ff. ZPO.105 Denn mit dem ZPO-RG wurde § 428ZPO dahingehend ergänzt, dass dem Beweisführer, dersich zum Beweis auf eine im Besitz eines Dritten be-findliche Urkunde beruft, unabhängig vom Bestehen ei-nes materiell-rechtlichen Anspruchs die Möglichkeiteingeräumt wird, den Beweis auch dadurch anzutre-ten, dass er den Erlass einer gerichtlichen Anordnungnach § 142 bzw. § 144 ZPO beantragt. Diesem mussdas Gericht entsprechen, wenn es davon überzeugtist, dass die Urkunde sich im Besitz des Dritten befin-det, die durch die Vorlegung der Urkunde zu beweisen-de Tatsache erheblich ist und der Inhalt der Urkundezum Beweis dieser Tatsache geeignet erscheint.106 DieDurchsetzbarkeit beurteilt sich wiederum nach den be-sonderen Voraussetzungen des § 142 Abs. 2 ZPO,nämlich Zumutbarkeit und Nichtbestehen von Zeugnis-verweigerungsrechten. Entsprechendes gilt nach § 371Abs. 2 ZPO für die Vorlage von Augenscheinsobjekten.Tatsächlich ist das herkömmliche Verfahren nach§§ 428ff. bzw. §§ 371 ff. ZPO umständlicher, so dassangeraten wird, in der Praxis auch unabhängig von ei-nem Antrag des Beweisführers eine Anordnung nach§ 142 bzw. § 144 ZPO vorzuziehen.107 Aber auch da-mit ist die Frage, wann sich das Gericht nach pflicht-gemäßem Ermessen zu einer solchen Anordnungdurchringen muss, ebenso wenig beantwortet wie die,wann einem Dritten eine Vorlage bzw. Duldung derAugenscheinseinnahme oder Begutachtung unzumut-bar und er hierzu deshalb nicht verpflichtet ist (§ 142Abs. 2, § 144 Abs. 2 ZPO).108

c) KONSEQUENZENZu Recht hat Greger109 auf die fließenden Übergängezur Ausforschung und zur Amtsaufklärung hingewie-sen und ebenso wie Prütting110 hervorgehoben, dassman darauf bedacht sein muss, mit unserem Prozess-verständnis nicht zu vereinbarende – nach dem gesetz-geberischen Instrumentarium aber mögliche111 – Er-gebnisse zu vermeiden. Auch Leipold stellt zutreffendfest, dass eine Kursänderung und die Möglichkeit derAnnäherung an die discovery des US-amerikanischenRechts allein von der Auslegung der Bestimmungenabhängt.112 Die ursprüngliche Intention, die Befugnis-se des Richters „nur behutsam“ zu erweitern113 bzw.ihm ein Mittel zur Erhellung bzw. Ergänzung eines be-reits vorhandenen aber lückenhaften unbestrittenenVortrags an die Hand zu geben,114 bleibt nur ein„frommer Wunsch“. Es ist inzwischen wohl überwie-gend anerkannt, dass der Normzweck der § 142,§ 144 ZPO nicht nur im Erschließen von Informations-quellen für das Gericht zum besseren Verständnis desProzessstoffs, sondern auch im Bereitstellen von Be-weismitteln besteht.115 Schlosser spricht gar von „einer(vernünftigen) Ausforschungsmöglichkeit“.116 Fälle, indenen dies relevant werden kann, lassen sich leichtvorstellen. Man denke nur an Geschäfte, bei denenein Gläubiger seine Forderungen regelmäßig zu Zwe-cken der Refinanzierung abtritt. Wer wollte einen Rich-ter, der sich ein „umfassendes Bild“ vom Sachverhaltmachen will, davon abhalten, die Vorlegung einer dieRückabtretung belegenden Urkunde – die existierenmag, aber vom Gläubiger aufgrund unglücklicher Um-stände nicht aufgefunden wird – selbst dann anzuord-nen, wenn der Schuldner die Tatsache der Rückabtre-tung nicht bezweifelt und deshalb (bislang) auch nichtbestritten hat. Kann der Kläger in einem solchen Fallzur weiteren Substantiierung verpflichtet sein und da-mit der Grundsatz aufgegeben werden, dass sich derUmfang der Substantiierungslast nach der Einlassungdes Gegners richtet?117

Rechtstatsächliche Untersuchungen118 haben belegt,dass das durchaus vorhandene Potenzial der Regelun-

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102 Greger, DStR 2005, 479, 483.103 Leipold, FS Gerhardt, S. 563, 577 unter Hinweis auf OLG Saarbrücken, Urt. v.

30.4.2003 – 1 U 682/02, NJOZ 2004, 598, 599.104 Greger, DStR 2005, 479, 483.105 Leipold, FS Gerhardt, S. 563, 575 f.; missverständlich spricht dagegen das OLG

Frankfurt, Beschl. v. 17.12.2004 – 13 W 98/04, OLGR 2005, 594, Rdnr. 7 voneiner „bloßen Anregung“.

106 BT-Drucks. 14/4722 S. 92.107 Eichele, Hk-ZPO, (o. Fn. 24), § 429, Rdnr. 3.108 Auf den zweiten Ausnahmefall der Berechtigung zur Zeugnisverweigerung, der

sich nach den bewährten Maßstäben der §§ 383 – 385 ZPO beurteilt, brauchtnicht eingegangen zu werden. S. zur verweigerten Urkundenvorlegung durch ei-

nen Dritten bei Erleichterung von Prozessen gegen den Dritten BGH, Beschl. v.26.10.2006 – III ZB 2/06, NJW 2007, 155.

109 Greger, DStR 2005, 479, 484.110 Prütting, Discovery im deutschen Zivilprozess?, AnwBl. 2008, 153, 158, der in

Bezug auf § 142 ZPO ebenso wie Lang, Die Urkundenvorlagepflichten der Ge-genpartei gem. § 142 Abs. 1 Satz 1 ZPO (2007), S. 100 ff., eine enge Auslegungbefürwortet.

111 So auch Lüpke/Müller, NZI 2002, 588, 589.112 Leipold, FS Gerhardt, S. 563, 577, 585.113 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036,

S. 120 f.114 Gruber/Kießling, ZZP 116 (2003), 305, 333.115 BGH, Beschl. v. 26.10.2006 – III ZB 2/06, NJW 2007, 155, Rdnr. 5 m. Anm. M.

Huber, LMK 2007, 220846. Hiergegen aber Gruber/Kießling, ZZP 116 (2003),305, 311 ff. und kritisch ebenfalls Leipold, FS Gerhardt, S. 563, 567.

116 Schlosser, Zugang der Prozessparteien zu den Informationsquellen, JZ 2003, 427,428.

117 BGH, Urt. v. 20.5.1996 – II ZR 301/95, NJW-RR 1996, 1211; BGH, Urt. v. 23.4.1991 – X ZR 77/89, NJW 1991, 2707, 2709; Saenger, Hk-ZPO, (o. Fn. 24),§ 286, Rdnr. 89.

118 Siehe dazu Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, (o. Fn. 12), 2006, S. 112 f.;vgl. auch Stackmann, Richterliche Anordnungen versus Parteiherrschaft im Zivil-

SAENGER, VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESS

gen zur gezielten Ermittlung gegnerischer Kenntnissesowie von Schwächen und Stärken der jeweiligenRechtsposition sehr zurückhaltend genutzt wird. Zwarwar mehr als die Hälfte der befragten Richter der Mei-nung, dass die Möglichkeit zu gerichtlichen Anordnun-gen nach § 142, § 144 ZPO zu einer verbessertenSachaufklärung beiträgt, weil damit eine „breitere Ent-scheidungsgrundlage“ für das Gericht geschaffen wer-de. Wen angesichts dessen Befürchtungen beschlei-chen, dass der Beibringungsgrundsatz an Bedeutungverliert, den werden die Erkenntnisse über die Hand-habung des Instrumentariums in der Praxis beruhigen:Etwa ein Drittel der Richter haben Vorlageanordnun-gen gegenüber der Gegenpartei noch nie getroffen,knapp zwei Drittel nur selten. Häufig machen hiervonnur 5 % der Richter bei den Amtsgerichten und 7 %bei den Landgerichten Gebrauch. Anordnungen gegen-über Dritten sind noch seltener: Bis zu 70 % der Rich-ter haben solche Anordnungen noch nie getroffen.Häufig machen hiervon nur 2 % der Richter Gebrauch,wobei diese Zurückhaltung damit begründet wird, dassmehr als drei Viertel der Richter keine Effizienzsteige-rungen aufgrund der erweiterten Möglichkeiten zur Ur-kundenvorlage erkennen.119

Letztlich liegt es also in Händen der Gerichte, die seitder Neuregelung erweiterten Kompetenzen entspre-chend dem ihnen zustehenden Ermessen zu nutzen.Zwar sind die berichteten Entscheidungen, die in ihremKern die Reichweite der § 142 und § 144 ZPO betref-fen, nach wie vor noch überschaubar.120 Inzwischen er-scheinen die Äußerungen aber selbstbewusster121 undwird auch Bestrebungen zur Einschränkung des An-wendungsbereichs von § 142 ZPO – wonach dem Geg-ner der beweispflichtigen Partei nach § 142 Abs. 1Satz 1 ZPO die Vorlegung von Urkunden nicht vonAmts wegen, sondern zur Vermeidung von Wertungs-widersprüchen nur unter den Voraussetzungen der§ 422, § 423 ZPO aufgegeben werden können soll122

– deutlich entgegengetreten.123 Vor diesem Hinter-grund stellt sich letztlich die Frage, ob es – ungeachtet

möglicher Erleichterungen im Beweisverfahren – einerso umfassenden Ermächtigung zu prozessleitendenVorlegungsanordnungen überhaupt bedarf. Eine sol-che vermochte bislang nur zur Führung von Handels-büchern verpflichtete Kaufleute auf der Grundlagevon § 258 Abs. 1 HGB zu erfassen – einer Vorschrift,deren Existenz häufig keine Berücksichtigung findet. Inwelchem Verhältnis die Neuregelung hierzu steht, istvöllig offen. Würde von § 142 und § 144 ZPO extensivGebrauch gemacht, wäre der Beibringungsgrundsatztatsächlich obsolet. Mit dem Erfordernis eines Aus-gleichs struktureller Informationsdefizite lässt sichdies jedenfalls allein nicht rechtfertigen.Festzuhalten ist, dass im deutschen Recht das Verhält-nis von Richtermacht und Parteiherrschaft nach derNeuregelung der § 142, § 144 ZPO offen bleibt. Esfehlt eine klare gesetzgeberische Entscheidung füroder gegen die Beibehaltung des Beibringungsgrund-satzes in dem bislang verstandenen Sinne. Dies führtzu einer unterschiedlichen Praxis der Gerichte in Bezugauf die prozessleitende Informationsbeschaffung. Diesallein ist nicht zu beanstanden, wird den Richterndoch auch schon bislang ein weites Ermessen zuge-standen. Zu befürchten ist aber, dass sich die Aus-übung des richterlichen Ermessens weniger an demzu entscheidenden Sachverhalt als vielmehr an einemunterschiedlichen Verständnis der Norm orientiert.124

Denn die Regelungen sind so weit gefasst, dass sie die-ser Gefahr nicht entgegenzuwirken vermögen.

5. VERGLEICHENDE BETRACHTUNG125

Soweit der – zugegebenermaßen holzschnittartige –Überblick über das Instrumentarium des Verfahrens-managements im deutschen Zivilprozess. Wie sieht esin anderen Jurisdiktionen aus und welche Anregungenfinden sich dort? Vorweg eine salvatorische Klausel:Eine vergleichende Betrachtung birgt immer Risiken.Zum einen ist die Auswahl begrenzt und besteht bei ei-ner Darstellung im Überblick stets die Gefahr der Ver-allgemeinerung. Beschränkt man sich, wie hier, auf dieUSA und Großbritannien, kann man bereits nicht voneinem anglo-amerikanischen Recht oder common law-System im Vergleich zum civil law-System sprechen.Denn trotz derselben Wurzeln haben sich die Rechts-ordnungen erheblich voneinander entfernt.

a) VEREINIGTES KÖNIGREICHDie bereits angesprochenen Civil Procedure Rules1998126 nehmen sich insbesondere mit Blick auf dieRolle des Richters im englischen Prozess geradezu re-

AUFSÄTZE | BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK

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prozess?, NJW 2007, 3521, der konstatiert, dass § 142 Abs. 1 ZPO in der Auf-satzliteratur ein stärkeres Echo gefunden habe als in Gerichtsentscheidungen.

119 Auch Schmude, Veränderungen und Entwicklungen des Beweisrechts im deut-schen Zivilprozess, BRAK-Mitt. 2005, 155, 156 f., hebt die „fehlende“ praktischeBedeutung hervor.

120 Für § 142 ZPO wurden noch zum Zeitpunkt des ZPR-Symposiums der BRAK An-fang 2012 im Juris-System weniger als fünf BGH-Entscheidungen bzw. zehnOLG-Entscheidungen verzeichnet, noch geringer war die Ausbeute zu § 144 ZPO.Dies alles hat sich inzwischen durchaus, wenn aber auch nicht besonders nach-haltig, zum Besseren gewendet.

121 Auf eine Vielzahl einschlägiger jüngerer Urteile weist auch Siegmann, Die Be-weisführung durch „gegnerische“ Urkunden, AnwBl. 2008, 160, 161 hin. Dabeisind nur selten deutliche Worte zu vernehmen, etwa wenn der BGH, Beschl. v.26.10.2006 – III ZB 2/06, NJW 2007, 155, 156 hervorhebt, dass ein Dritter sei-ne vermögensrechtlichen Interessen nicht denen der beweisführenden Partei un-terordnen muss und selbst Prozessparteien grundsätzlich nicht gehalten sind,dem Gegner für seinen Prozess das Material zu verschaffen, über das er nichtschon von sich aus verfügt.

122 So OLG Frankfurt, Urt. v. 18.10.2006 – 1 U 19/0, OLG-Report 2007, 466; Lei-pold, FS Gerhardt, S. 563, 577, 583 f.; Stein/Jonas/Leipold, (o. Fn. 24), § 142,Rdnr. 21. Hierzu tendiert auch Lang, (o. Fn. 110), S. 195.

123 BGH, Urt. v. 26.6.2007 – XI ZR 277/05, NJW 2007, 2989, Rdnr. 20 = BGH-Re-port 2007, 984 m. Anm. Laumen; vgl. auch BGH, Beschl. v. 26.10.2006 – III ZB2/06, NJW 2007, 155.

124 Dies scheint man auch dem Resümee von Nassall, NJW 2012, 113, 118 f., etwaS. 116 („Wandel in Kontinuität“) entnehmen zu können.

125 Vgl. hierzu teilweise bereits Saenger, Case Management in Germany, PeterGottwald (Hrsg.), Litigation in England and Germany – Legal Professional Ser-vices, Key Features and Funding, Bielefeld: Gieseking, 2010 (Veröffentlichungender Wissenschaftlichen Vereinigung für internationales Verfahrensrecht, Band19), S. 15.

126 Ein Überblick zur overriding objective findet sich bei Zuckerman on Civil Pro-cedure. Principles of Practice, 2. Aufl. 2006, chapter 1. Vgl. auch Andrews, ANew Civil Procedural Code for England: Party-Control „Going, Going, Gone“,ZZPInt (4) 1999, 3 ff.

volutionär aus.127 Denn traditionell war der Richternicht in die Vorbereitung des Prozesses involviert.Lord Woolf hatte indes eine grundlegende Verlage-rung der Verantwortung für das Verfahrensmanage-ment auf die Gerichte gefordert.128 So wurde das casemanagement zur tragenden Säule der Reform. Nunregelt die Justiz insgesamt und die Gerichte in jedemeinzelnen Fall Inhalt und Fortgang der Verhandlung,entweder durch standardisierte Anordnungen oder adhoc Beschlüsse.129 Dies wird sehr konsequent betrie-ben. Geregelt ist ein dreigliedriges track system descase management (CPR 27–29),130 das zwischen– zahlenmäßig anwachsender small claims jurisdictionvor den county courts mit raschem und formlosenProzess, gegebenenfalls auch unter Verzicht aufeine mündliche Verhandlung, in der Regel bei Streit-werten bis 5.000 £ (entsprechend etwa 6.000 Euro),

– einem fast track für cases in the lower end of thescale vor county courts, einem binnen maximal 30Wochen zum Urteil führenden Eilverfahren in der Re-gel bei Streitwerten zwischen 5.000 und 15.000 £(entsprechend etwa 18.000 Euro), wenn zu erwartenist, dass die Verhandlung innerhalb eines Tages ab-geschlossen ist, und

– einem multi track bei einem Streitwert bis zu50.000 £ (entsprechend etwa 60.000 Euro) vor demcounty court und sonst vor dem High Court mitcase management conferences für die verbleibendenFälle unterscheidet.

Das track system ist so gestaltet, dass es die zu ent-scheidenden Fälle auf der Grundlage von zu erwarten-den Kosten, finanzieller Bedeutung und Komplexität zukanalisieren vermag.131 Diese initial track determinati-on ähnelt der deutschen Herangehensweise in vielerHinsicht, geht aber zugleich weit darüber hinaus. Esist nicht nur weit reichend, sondern zugleich zwingend.Deshalb ist es weder ein Äquivalent zu der Vorschriftdes § 272 Abs. 2 ZPO, nach der zu entscheiden ist, obein früher erster Termin oder aber ein schriftliches Vor-verfahren angeordnet wird. Es ist aber auch nicht mitden doch eher technischen Bestimmungen für solcheVerfahren vergleichbar, die vor den Amtsgerichten ge-führt werden (§§ 495–506 ZPO), und auch nicht mitder Regelung des § 495a ZPO, die es dem Richtergestattet, bei einem Streitwert von nicht mehr als600 Euro das Verfahren nach billigem Ermessen zu be-stimmen. Gleichwohl ist der Zweck jeweils gleich undlassen die CPR den Gerichten sehr viel Handlungsfrei-heit.132 Mit dem Aufstellen von Zeitplänen und derKontrolle des Fortschritts des Verfahrens soll sicher-

gestellt werden, dass der Prozess rasch und effizientgeführt wird, so dass das einvernehmliche oder streiti-ge Verfahrensende so früh wie möglich erreicht wer-den kann.

Von zentraler Bedeutung ist die sog. overriding objecti-ve, also das übergeordnete Ziel, mit dem Verfahren an-gemessen (justly) zu verfahren. Wenn CPR 1.1(2a)133

anordnet „dealing with a case justly includes, so faras is practicable – ensuring that the parties are on anequal footing“ erkennen wir § 139 ZPO wieder. OderCPR 1.4(2)134: „Active case management includes –(a) encouraging the parties to co-operate with each ot-her in the conduct of the proceedings; (b) identifyingthe issues at an early stage; (c) deciding promptlywhich issues need full investigation and trial and ac-cordingly disposing summarily of the others; (d) deci-ding the order in which issues are to be resolved;… (f)helping the parties to settle the whole or part of thecase; (g) fixing timetables or otherwise controlling theprogress of the case;… (j) dealing with the case wit-hout the parties needing to attend at court;…“ Nur soweit. Es wäre ein Einfaches, jeder dieser Bestimmun-gen – und erst recht den vollständigen und viel detail-lierteren Bestimmungen über die richterlichen Befug-nisse hinsichtlich des Verfahrensmanagements in CPRpart 3 – ein deutsches Gegenstück oder aber zumin-dest eine entsprechende Kommentarstelle zur Erläute-rung der Prozessleitungsbefugnisse des deutschenRichters gegenüberzustellen. In der Tat hat der Richterdiese Gesichtspunkte auch bei der Bestimmung derVerfahrensweise (§ 272 Abs. 2 ZPO) und der Termins-vorbereitung (§ 273 ZPO) zu berücksichtigen. Der Un-terschied ist nur, dass die CPR sehr spezifische Re-geln135 enthalten, wohingegen die deutschen Bestim-mungen herkömmlich sehr allgemein gehalten sind.Es ist schon bemerkenswert, dass ein common law-Sys-tem ein kontinentales Rechtssystem in der Regelungs-dichte bei weitem übertrifft. Ganz besonders gilt dies– und hier ist noch einmal auf die overriding objectivezurückzukommen – für den Effizienzgedanken, der miteinem Kriterienkatalog in CPR 1.1(2) in unvergleichli-cher Weise konkretisiert wird.

Vielleicht beruhen die im Vergleich zum deutschenRecht unterschiedlichen Effizienzerwägungen auf ei-nem grundsätzlichen Unterschied: Die Geltendma-chung von zivilrechtlichen Ansprüchen ist private mat-ter und deshalb of no major public interest.136 Selbst-verständlich wird auch im englischen Verfahren lawenforcement gewährt, aber – so drückt es Zuckermanaus – weil öffentliche Mittel begrenzt sind, kann im Zi-

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127 Vorrasi, England's Reform to Alleviate the Problems of Civil Process: a Compari-son of Judicial Case Management in England and the United States, 30 Journalof Legislation (2004), 361.

128 Lord Woolf, (o. Fn. 8), S. 18 (summary available at http://www.dca.gov.uk/civil/interfr.htm) (zuletzt besucht am 8.2.2014).

129 Andrews, (o. Fn. 94), Rdnr. 13–12; Andrews, ZZPInt (4) 1999, 10 f.; Zuckerman,(o. Fn. 126), Rdnr. 10.56 ff.

130 Vgl. also Andrews, A new civil procedural code for England: party-control „going,going, gone“, 19 C.J.Q. (2000), 19, 25 f.

131 Lord Woolf, (o. Fn. 8), S. 6.132 Andrews, (o. Fn. 94), Rdnr. 13.01.

133 Vgl. im Einzelnen Zuckerman, (o. Fn. 126), Rdnr. 1.10.134 Zuckerman, (o. Fn. 126), Rdnr. 1.10 ff.135 Zuckerman, (o. Fn. 126), Rdnr. 1.7, weist darauf hin, dass erstmals allgemeine

Prinzipien in das englische Prozessrecht Eingang gefunden haben, denen Vorrangvor individuellen Regeln zukommt.

136 Zuckerman, Court Case Management in England under the Civil Procedure Rules1998, in: Gottwald (Hrsg.), Litigation in England and Germany – Legal Profes-sional Services, Key Features and Funding, Bielefeld: Gieseking, 2010 (Veröffent-lichungen der Wissenschaftlichen Vereinigung für internationales Verfahrens-recht, Band 19), S. 1.

vilverfahren solche gerichtliche Unterstützung verlangtwerden, die aus der Sicht der Steuerzahler auch ver-nünftig ist.137 Nun stellt sich natürlich die Frage, wel-che Erfahrung man in Großbritannien mit diesen Rege-lungen gemacht hat. Zu einer Kostenersparnis ist es je-denfalls nicht gekommen. Ganz im Gegenteil habensich seit der Reform von 1998 die Kosten beträchtlicherhöht.138 Das mag aus der Sicht des Gesetzgebers er-nüchternd sein, für die Rechtsfindung besagt dies abergar nichts.

b) USAAus amerikanischer Sicht sind pre-trial conferencesund verpflichtendes scheduling seit jeher Teil des casemanagement. Bis heute sind Flexibilität und Ermessendie bestimmenden Themen. Bei Verkündung der Fede-ral Rules of Civil Procedure 1938 sollten u.a. Unbeweg-lichkeit und Formstrenge des Verfahrens überwundenwerden, die man in den USA aus dem englischen Ver-fahren übernommen hatte.139 Demgegenüber solltedas neue Recht dem Richter die Möglichkeit eröffnen,das Verfahren flexibel und nach seinem Ermessen zugestalten.140 Hauptzweck der Rule 16 Fed.R.Civ.P. wares, dem Richter zu ermöglichen – aber ihn nicht zuzwingen – an der Herausarbeitung der für das konkre-te Verfahren bestimmenden Fakten und Fragen mit-zuwirken.141 Erst 45 Jahre später machten es steigen-de Kosten und eine immer längere Verfahrensdauer er-forderlich, ein pre-trial management letztlich insämtlichen Fällen einzuführen. Weil auch das ame-rikanische System durch das kontradiktorische Prinzipgekennzeichnet ist,142 blieb der Ansatz eines das Ver-fahren aktiv betreibenden Richters aber nicht unwider-sprochen.143 So wurde kritisiert, dass den Richtern kei-ne oder jedenfalls zu wenige Anhaltspunkte gegebensind, wie sie ihr weites Ermessen auszuüben haben.144

Und Ermessen ist nicht ungefährlich, jedenfalls dann,wenn es unbegrenzt ist.145 Gleichwohl wurde Rule 16Fed.R.Civ.P. 1983 weitgehend überarbeitet und 1993nochmals ergänzt, so dass case management nochweiter in den Fokus der Verfahrensvorbereitung rück-te.146 Rule 16(a) Fed.R.Civ.P. nennt denn auch als Zieleeiner pre-trial conference „(1) expediting disposition ofthe action; (2) establishing early and continuing con-trol so that the case will not be protracted because of

lack of management; (3) discouraging wasteful pre-tri-al activities; (4) improving the quality of the trialthrough more thorough preparation, and (5) facilita-ting settlement.“ Gerade in diesem letzten Punkt kannman die ausdrückliche Anerkennung des Paradigmen-wechsels von der Rolle des Richters als außerhalb desVerfahrens stehender neutraler Person zum aktivenManager des Verfahrens sehen.147

c) ALI/UNIDROIT PRINCIPLES OF TRANSNATIONALCIVIL PROCEDURECase management hat auch international an Bedeu-tung gewonnen. 2004 wurden von UNIDROIT die Prin-ciples of Transnational Civil Procedure angenommen.Vorbereitet wurden diese von einer gemeinsamen Ar-beitsgruppe bestehend aus Vertretern von AmericanLaw Institute und UNIDROIT.148 Diese 31 Bestimmun-gen umfassenden Principles verstehen sich nicht nurals Muster für Gesetzgebungsprojekte in Ländernohne längere Prozessrechtstradition, sondern sollen zu-gleich Impulse für Reformen auch in solchen Länderngeben, die über eine weit entwickelte Prozessrechtstra-dition verfügen.149

Ein active case management ist Gegenstand insbeson-dere der Regeln P-7, P-9.3, P-14 und P-22.2. Dabei be-ruht P-7 auf dem Grundsatz „verzögertes Recht istverweigertes Recht“ (justice delayed is justice denied).Danach soll das Gericht den Rechtsstreit in angemes-sener Zeit erledigen. Die Parteien haben die Pflicht zurZusammenarbeit und das Recht auf angemessenes Ge-hör bei der Terminierung. Insbesondere ist vorgesehen,dass gerichtliche Verfügungen einen vernünftigen zeit-lichen Verfahrensablauf und Fristen vorschreiben kön-nen, deren Nichtbefolgung sanktioniert werden kann.In Bezug auf die Struktur des Verfahrens sieht P-9.3 imDetail vor, dass das Gericht die Pflicht hat, einen Ter-min zur Verfahrensvorbereitung abzuhalten und einenZeitplan für den Verfahrensablauf festzulegen. In derErläuterung dazu wird klargestellt, dass das Konzepteiner „Struktur“ des Verfahrens flexibel und mit Rück-sicht auf die Gegebenheiten des jeweiligen Verfahrensangewendet werden soll. Nicht nur in diesem Zusam-menhang finden sich Anleihen aus allen der zuvor erör-terten Rechtsordnungen wieder. Denn die Prinzipiensollen gerade der Rechtsangleichung dienen. Dies giltebenso für die Folge mehrerer kurzer Verhandlungen,die für das kontinentale Recht kennzeichnend sind,

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137 Zuckerman, (o. Fn. 136), S. 1, 3.138 Zuckerman, (o. Fn. 136), S. 1.139 Shapiro, 137 U.Pa.L. Rev. 1969 (1989), 1972 ff., 1975; Vorrasi, 30 Journal of Le-

gislation (2004), 361, 375.140 Shapiro, 137 U.Pa.L. Rev. 1969 (1989), 1975; Vorrasi, 30 Journal of Legislation

(2004), 361, 376.141 Shapiro, 137 U.Pa.L. Rev. 1969 (1989), 1978; Vorrasi, 30 Journal of Legislation

(2004), 361, 361, 376.142 Vgl. im Einzelnen Resnik, England's Reform to Alleviate the Problems of Civil

Process: a Comparison of Judicial Case Management in England and the UnitedStates, 96 Harvard Law Review (1982), 374, 380 ff.

143 Wright/Kane (o. Fn. 9), S. 649.144 Peckham, Federal judge as a case manager: the new role in guiding a case from

filing to disposition, 69 California Law Review (1981), 770, 796.145 Shapiro, 137 U. Pa. L. Rev. 1969 (1989), 1995; Resnik, Managerial judges and

court delay: the unproven assumptions, 23 The Judges' Journal (1984), 8, 54.146 Vorrasi, 30 Journal of Legislation (2004), 361, 376.

147 Vorrasi, 30 Journal of Legislation (2004), 361, 377.148 Englische Fassung: http://www.unidroit.org/english/principles/civilprocedure/ali-

unidroitprinciples-e.pdf; französische Fassung: http://www.unidroit.org/french/principles/civilprocedure/ali-unidroitprinciples-f.pdf; deutsche Übersetzung vonStürner: http://www.unidroit.org/german/principles/civilprocedure/ali-unidroit-principles-g.pdf (alle zuletzt besucht 8.2.2014). Vgl. American Law Institute/In-ternational Institute for the Unification of Private Law (Hrsg.), Principles ofTransnational Civil Procedure: As Adopted and Promulgated by The AmericanLaw Institute at Washington, D.C., U.S.A., May 2004 and by UNIDROIT at Rome,Italy, April 2004 (2006); Stürner, Die Principles of Transnational Civil Procedure –Eine Einführung in ihre wichtigsten Grundlagen, ZZPInt (11) 2006, 381; Stors-krubb, (o. Fn. 1), S. 289 ff.

149 Vgl. http://www.unidroit.org/instruments/transnational-civil-procedure. DeutscheÜbersetzung von Stürner verfügbar unter http://www.unidroit.org/german/prin-ciples/civilprocedure/ali-unidroitprinciples-g.pdf (alle zuletzt besucht 8.2.2014).

SAENGER, VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESS

wie für das auf ein abschließendes „trial“ ausgerichte-te common law-Verfahren. Für die Regelungen ist vonerheblicher Bedeutung, dass Gerichte in sämtlichenRechtskreisen die Möglichkeit haben, Termine zur Ver-fahrensvorbereitung anzuberaumen, und sich das Ver-fahren auch im kontinentalen Recht auf eine abschlie-ßende Verhandlung hin konzentriert.150 Dies ist vonganz erheblicher Bedeutung und unterstreicht, dassdie Reform des Zivilverfahrensrechts eine globale Di-mension erreicht hat.151 Entsprechend regelt P-14über die Verfahrensleitung als Aufgabe des Gerichts,dass dieses so früh wie möglich verfahrensleitendeMaßnahmen ergreifen und dabei sein Ermessen in ei-ner Weise ausüben soll, die eine faire und effiziente Er-ledigung des Rechtsstreits in angemessener Zeit er-laubt. Darüber hinaus soll das Gericht, soweit diespraktisch sinnvoll ist, verfahrensleitende Maßnahmenerst nach Anhörung der Parteien treffen. Die weit rei-chende Regelung von P-22 über die Aufgabenvertei-lung bei der Sachverhaltsaufklärung und Rechtsfin-dung regelt schließlich nicht nur, dass das Gericht dieAufgabe hat, alle erheblichen Tatsachen und Beweis-mittel zu berücksichtigen und die richtige Rechtsgrund-lage für seine Entscheidung zu bestimmen, sondernhält in P-22.2 auch einen detaillierten Katalog derdazu nötigen Mittel bereit. So kann das Gericht nichtnur die Parteien veranlassen, den tatsächlichen oderrechtlichen Vortrag zu verbessern und zusätzlicheRechtsausführungen oder Beweismittel anzubieten. Esvermag auch eine Beweisaufnahme anzuordnen, dievorher keine Partei beantragt hat oder sich auf einerechtliche Begründung oder Würdigung von Tatsachenoder Beweismittel zu stützen, die von keiner Partei vor-gebracht worden sind.152 Damit erhalten die ParteienZugriff auf die erheblichen Beweismittel, wobei Weige-rungsrechte in den Hintergrund treten.

d) PRIVATE GERICHTSBARKEITZeit- und Kosteneffizienz sind auch zentrale Motive al-ler jüngeren Reformen internationaler Schiedsordnun-gen. Dies gilt für die 2010 in Kraft getretenen Neu-regelungen der UNCITRAL-Arbitration Rules153 ebensowie für die von der International Bar Association auf-gestellten IBA-Regeln zur Beweisaufnahme in der inter-nationalen Schiedsgerichtsbarkeit154 und auch für diezum 1.1.2012 reformierte Schiedsgerichtsordnung derInternationalen Handelskammer155 (ICC-SchO).156 Be-züglich des ohnehin stark administrierten ICC-Schieds-

verfahrens157 ist auf die Einfügung eines neuen Art. 22ICC-SchGO hinzuweisen, der zum Ablauf des Verfah-rens vorsieht, dass „[d]as Schiedsgericht und die Par-teien … mit allen Mitteln darauf hin[wirken], dass dasSchiedsverfahren unter Berücksichtigung der Komplexi-tät und des Streitwerts zügig und kosteneffizient ge-führt wird. Um eine effiziente Verfahrensführung si-cherzustellen, kann das Schiedsgericht nach Anhörungder Parteien alle Verfahrensmaßnahmen ergreifen, diees für geeignet hält, sofern diese nicht einer Verein-barung der Parteien widersprechen.“ Im Zusammen-hang mit dem nach Art. 23 ICC-SchO zu formulieren-den Schiedsauftrag ist nach Art. 24 ICC-SchO die Ein-berufung einer Verfahrensmanagementkonferenzvorgesehen, anlässlich derer die Parteien zu möglichenVerfahrensmaßnahmen und Verfahrensmanagement-techniken nach Art. 22 ICC-SchO angehört werdenund ein „Verfahrenskalender“ aufgestellt wird, ausdem sich die Abschnitte des Verfahrens und insbeson-dere die Termine für die Einreichung von Schriftsätzensowie die etwaige mündliche Verhandlung ergeben158

und dem das Gericht zu folgen gedenkt. Auch findetsich eine Kostenregelung in § 37 Abs. 5 ICC-SchO. Da-nach kann das Schiedsgericht bei der Kostenentschei-dung berücksichtigen, inwieweit „jede der Parteiendas Verfahren in einer zügigen und kosteneffizientenWeise betrieben hat.“

Verweilen wir noch einen Moment bei dem im Zusam-menhang mit der Verfahrensmanagementkonferenz inArt. 24 ICC-SchO erwähnten Anhang IV über die im Er-messen des Gerichts stehenden Verfahrensmanage-menttechniken. Dieser enthält eine Darstellung von„Beispiele[n] für Verfahrensmanagementtechniken, dievom Schiedsgericht und den Parteien zur Zeit- und Kos-tenkontrolle eingesetzt werden können.“ Hingewiesenwird darauf, dass „[b]ei wenig komplexen Fällen mitgeringem Streitwert… ein angemessenes Verhältniszwischen Zeit- und Kostenaufwand und Verfahrens-gegenstand von besonderer Bedeutung [ist].“ Als In-strumente zur Effizienzsteigerung werden nicht nurdie Zweiteilung des Verfahrens oder der Erlass einesoder mehrerer Teilschiedssprüche zu Fragen von zen-traler Bedeutung genannt, sondern auch die vorherigeFeststellung, welche Fragen durch Absprachen zwi-schen den Parteien oder deren Sachverständigen bzw.ohne mündliche Beweisführung oder rechtliche Erörte-rung bei der mündlichen Verhandlung allein aufgrundder Aktenlage entschieden werden können. Hinsicht-lich der Vorlage von Dokumenten wird nicht nur dieAufforderung an die Parteien, Dokumente bereits zu-sammen mit den zugehörigen Schriftsätzen vorzule-gen, sondern auch der Verzicht bzw. die Beschränkungvon „document requests“ sowie die Möglichkeit einerFristsetzung für entsprechende Anträge in Betracht ge-zogen. Genannt wird weiterhin auch die Möglichkeitder Begrenzung von Länge und Inhalt von Schriftsät-

BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK | AUFSÄTZE

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150 Comment P-9C, http://www.unidroit.org/english/principles/civilprocedure/ali-unidroitprinciples-e.pdf (zuletzt besucht 8.2.2014).

151 Vgl. Storskrubb, (o. Fn. 1), S. 285.152 Comment P-22C, http://www.unidroit.org/english/principles/civilprocedure/

ali-unidroitprinciples-e.pdf (zuletzt besucht 8.2.2014).153 http://www.uncitral.org/pdf/english/texts/arbitration/arb-rules-revised/

arb-rules-revised-2010-e.pdf (zuletzt besucht 8.2.2014).154 http://www.ibanet.org/Document/Default.aspx?DocumentUid=F60BF16D-

29E9-402F-A329-F1C191B174A1.155 http://www.iccwbo.org/Data/Documents/Business-Service/Dispute-Resolution-

Services/Mediation/Rules/2012-Arbitration-Rules-and-2014-Mediaton-Rules-GERMAN-version/ (zuletzt besucht 8.2.2014).

156 Pörnbacher/Baur, Die Reform der Schiedsgerichtsordnung der ICC, BB 2011,2627, 2628.

157 Pörnbacher/Baur, BB 2011, 2627.158 Dazu auch Pörnbacher/Baur, BB 2011, 2627, 2629.

SAENGER, VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESS

zen und schriftlicher und mündlicher Beweisführung,um Wiederholungen zu vermeiden und eine Konzentra-tion auf die zentralen Fragen zu ermöglichen. Schließ-lich wird auch der Einsatz von Telefon- oder Videokon-ferenzen für Verhandlungen zu Verfahrensfragen undandere Verhandlungen, bei denen eine persönliche An-wesenheit nicht erforderlich ist, genannt, ebenso derEinsatz von Informationstechnologie, die eine Online-Kommunikation zwischen Parteien und Gericht ermög-licht. Überdies wird die Organisation einer ersten Be-sprechung mit dem Schiedsgericht vor der mündlichenVerhandlung vorgeschlagen, bei welcher die Vorberei-tungen für die Verhandlung diskutiert und abgespro-chen werden können und das Schiedsgericht gegen-über den Parteien die Fragen bezeichnen kann, die sei-ner Einschätzung nach Schwerpunkt der mündlichenVerhandlung sein sollten. Wegen weiterer Technikenwird ausdrücklich auf eine ICC-Publikation mit dem Ti-tel „Techniques for Controlling Time and Costs in Arbi-tration“ verwiesen.159

6. QUINTESSENZAuch wenn die Instrumente nicht immer die gleichensind, haben die verschiedenen Rechtssysteme doch ei-nes gemeinsam: Die Zuversicht, dass der Richter seineBefugnisse in vernünftiger Weise nutzen wird – wasletztlich auch durch Kontrollmechanismen abgesichertwerden kann.160 Ein hohes Maß an Flexibilität und Er-messen wird immer erforderlich sein, um individuelleGerechtigkeit zu gewährleisten161 – selbst im ame-rikanischen Bereich wird darauf hingewiesen, dass esder Richter ist, der „von der Wiege bis zur Bahre“ dieVerantwortung für das Verfahren trägt.162 Anderer-seits sollte aber das Verhältnis von Richtermacht undParteiherrschaft grundsätzlich geklärt sein, was nachder Neuregelung von § 142, § 144 ZPO nicht unbe-dingt der Fall ist. Es fehlt eine klare gesetzgeberischeEntscheidung für oder gegen die Beibehaltung desBeibringungsgrundsatzes in dem bisher verstandenenSinne. Dies führt zu einer unterschiedlichen Praxis derGerichte in Bezug auf die prozessleitende Informati-onsbeschaffung. Zu befürchten ist, dass sich die Aus-übung des richterlichen Ermessens weniger an demzu entscheidenden Sachverhalt als an einem unter-schiedlichen Verständnis der Norm orientiert.

III. „INFRASTRUKTUR“

Nun ein kurzer Blick auf Aspekte, die nicht in unmittel-barem Zusammenhang mit dem in der ZPO geregeltenInstrumentarium des Verfahrensmanagements stehen:

1. SPRUCHKÖRPERWie bereits festgestellt, kommt der Person des Richterserhebliche Bedeutung zu. Entscheidend ist damit auchin Zukunft die Entwicklung der Gerichte in personellerHinsicht. Nicht selten wird kritisiert, dass Richtern beikomplizierten zivil-, gesellschafts- und wirtschaftsrecht-lichen Fragestellungen Hintergrundkenntnisse be-triebswirtschaftlicher, bilanzieller und steuerlicher Artfehlen.163 Teilweise wird insoweit vom „Richterrisiko“gesprochen.164 Letztlich dürften hinsichtlich der Beset-zung der Gerichte zwei Faktoren entscheidend sein,nämlich Zeit und Kompetenz.

Aus dem Blickwinkel der Besetzung der Spruchkörperwird beides zugleich bedeutsam, wenn man die Frageaufwirft, in welchen Bereichen Kollegialgerichte erfor-derlich sind. Hawickhorst165 hat bereits auf die wenigüberzeugende Vorschrift des § 348 Abs. 1 Satz 2 ZPOhingewiesen, die bedeutsame Sachgebiete benennt,bei denen die Kammerzuständigkeit aber davon ab-hängt, dass diese im Geschäftsverteilungsplan des je-weiligen Gerichts vorgesehen ist. Aus eigener Erfah-rung wird jeder Praktiker spontan weitere Rechtsgebie-te nennen können, in denen diese wünschenswertwäre, ohne dass es allein auf den Streitwert ankommt.Insbesondere im Bereich der Zuständigkeit der Kam-mern für Handelssachen wären alternative Gestaltun-gen denkbar, zumal die Besetzung mit Laienrichternnicht immer die Erwartungen zu erfüllen vermag. Vorallem aber sollte Einigkeit darüber bestehen, dass aus-reichend Zeit für eine sorgfältige Erörterung bleibt.Denn nur dies kann Gewähr für die erforderliche Ak-zeptanz des Verfahrens bieten und die Chancen einersachgerechten gütlichen Streiterledigung erhöhen.Dies hat Lachmann bereits anlässlich des 3. ZPR-Sym-posions 2005 hervorgehoben und darauf hingewiesen,dass die staatliche Justiz insoweit ihre frühere Attrakti-vität eingebüßt hat.166 Diese Aussage hat nach wie vorBerechtigung. Erst kürzlich war zu lesen, dass die „Wie-dererweckung der Mündlichkeit der Verhandlung“ Eini-gungsmöglichkeiten und durch die Befragungsmöglich-keiten höhere Richtigkeitsgewähr schaffe.167 In der Tatfehlt häufig die Zeit für Sachverhaltsaufklärung undRechtsgespräch. In wirtschaftlich relevanten Streitig-keiten kann dies die Gefahr einer Flucht in die privateGerichtsbarkeit begründen.

Fachliche Kompetenz lässt sich im Wege der Speziali-sierung erschließen. Häufig wird in Deutschland im Zu-

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159 http://www.icc-deutschland.de/fileadmin/ICC_Dokumente/ICC_arbitration_TimeCost_E.pdf (zuletzt besucht 8.2.2014).

160 Storskrubb, (o. Fn. 1), S. 286; vgl. Resnik, 96 Harvard Law Review (1982), 374,432 f.

161 Vgl. auch Davis, Discretionary justice; a preliminary inquiry (1969), S. 19.162 Nach Murrah, zitiert nach Flanders, 4 Justice System Journal (1978), 147, 150.

163 Wächter, ZZP 119 (2006), 393, 403 f.164 Hawickhorst, Effektivität des Rechtsschutzes vor den Schiedsgerichten und den

staatlichen Gerichten im Vergleich aus richterlicher Sicht, BRAK-Mitt. 2005, 222,224.

165 Hawickhorst, BRAK-Mitt. 2005, 222, 224. Kritik äußert jüngst ebenfalls Nassall,NJW 2012, 113, 118 f.

166 Lachmann, Effektivität des Rechtsschutzes vor den Schiedsgerichten und denstaatlichen Gerichten, BRAK-Mitt. 2005, 217, 219.

167 Hirtz, Einforderung des Rechtsgesprächs im Zivilprozess ist Anwaltssache, AnwBl.2012, 21. Vgl. dazu auch die Referate anlässlich des 5. ZPR-Symposions 2010von Retzlaff, Die Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Zivilprozess, BRAK-Mitt. Sonderdruck 5. ZPR-Symposion 2010, S. 15; Schmude, Die Bedeutung dermündlichen Verhandlung insbesondere im Hinblick auf die Lokalisation, BRAK-Mitt. Sonderdruck 5. ZPR-Symposion 2010, S. 17.

sammenhang mit dem Gerichtswesen über Standort-nachteile sinniert. Zu erinnern ist nur an die auch vonder Bundesrechtsanwaltskammer unterstützte Initiati-ve „Law made in Germany“.168 Anlässlich des viel be-achteten Streits zwischen Apple und Samsung überdas Design von Tablet-Computern wurde vor einigerZeit wieder einmal hervorgehoben, dass gerade bei Pa-tentstreitigkeiten im internationalen Vergleich nichtnur niedrige Kosten ein Standortvorteil Deutschlandsseien, sondern auch, dass Verfahren rasch durch-geführt werden könnten und es kein so aufwändigesvorgerichtliches Beweisverfahren wie im angelsächsi-schen System gebe. Begünstigt werde der weltweite„Run“ auf deutsche Gerichte bei solchen Streitigkeitenauch wegen der Bildung von Schwerpunktgerichtenund durch die damit verbundene besondere Kom-petenz der Richter.169 Eine solche Spezialisierung istschon heute auch in anderen Bereichen und nicht nurin der Berufungsinstanz anzutreffen. Es wäre daran zudenken, weitere Kompetenzen zu bündeln. Auch als Re-aktion auf die zunehmende Verbreitung von Fach-anwaltschaften könnte es zu einer verstärkten Speziali-sierung auch innerhalb der Richterschaft kommen.170

Dieses Potenzial ließe sich freilich nicht erschließen,wenn es zu einem Rückgang des staatlichen Leistungs-angebots aufgrund der Reduzierung von Richterstellenund Standortschließungen käme, was den Justizgewäh-rungsanspruch „auf die Probe stellen“ würde. 171

Viel zu wenig beachtet wird auch der Aspekt der Kom-petenz durch Erfahrung. Warum ist das deutsche Jus-tizsystem so undurchlässig? Selbstverständlich gibt esBeispiele dafür, dass Anwälte auf die Richterbankwechseln bzw. Richter sich für die Anwaltstätigkeit ent-scheiden. Dies sind aber entweder Entwicklungen derberuflichen Orientierung in relativ jungen Jahren oderAusnahmefälle, die auf besondere Konstellationen zu-rückzuführen sind. Initiativen, die es attraktiv machen,dass gerade erfahrene Rechtsanwälte, zumal nochmit Spezialkenntnissen, auf die Richterbank wechseln,sind mir hingegen nicht bekannt. Geeignete Persönlich-keiten sollten sich ohne weiteres finden lassen. Dieskann allein schon die Tatsache belegen, dass sich zahl-reiche und durchaus gut beschäftigte sowie hervor-ragend ausgewiesene Rechtsanwälte unter erhebli-chem zeitlichen Aufwand in berufsständischen Vereini-gungen engagieren und dabei auch, wenn sie inSozietäten tätig sind, von ihren Partnern tatkräftig un-terstützt werden. Dass diese Aspekte – fachliche Kom-petenz und Erfahrung – von erheblicher Bedeutungsind, belegt gerade die Attraktivität von Schiedsgerich-

ten, die wegen der individuellen Wahl geeigneterSchiedsrichter gerade dies zu gewährleisten vermögen.

Sprechen wir über die Besetzung der Richterbank, soll-te ein weiterer Aspekt nicht unerwähnt bleiben. Wennwir über Kompetenz sprechen, müssen wir unter demGesichtspunkt der Qualität auch an die Attraktivitätdes Richterberufs für gute Juristen denken. Damit istdie Vergütung gemeint. Ungeachtet der Vorzüge, wel-che der Richterberuf – wenn überhaupt – bieten mag,ist es nicht hinzunehmen, dass dieser vor dem Hinter-grund des Besoldungsrechts nicht als Alternativezur Tätigkeit beispielsweise in wirtschaftsrechtlich aus-gerichteten oder aber Großkanzleien in Betrachtkommt. Zwar haben sich etwa im Zusammenhang mitden jüngeren Veränderungen der gesamtwirtschaftli-chen Lage die Perspektiven bei jungen Menschen ver-ändert und dürfte der Richterberuf auch bei männ-lichen Juristen etwas an Attraktivität gewonnen haben.Aber auch unabhängig davon sollte man darauf be-dacht sein, dass sich die „Einkommensschere“ nichtzu weit öffnet. Angesichts der nach wie vor großenZahl von Absolventen des Assessorexamens und deraufgrund dessen vielen nicht voll ausgelasteten Juris-ten wird dabei wohl auch nicht ein durchschnittlichesAnwaltseinkommen zum Maßstab erhoben werdenkönnen.

Es steht außer Frage, dass der Staat verpflichtet ist, einfunktionsfähiges Gerichtswesen bereitzuhalten. Ebensosteht fest, dass diese vom Staat zu erwartende Leis-tung nicht rentabel ist. Der Rechtsstaat ist nicht um-sonst zu haben. Andererseits muss es im Interessedes Staates liegen, im Rahmen der Gerichtskosten zu-mindest teilweise auf seine Kosten zu kommen. Dader Justizgewährungsanspruch nicht zwischen kleinenund großen Streitigkeiten unterscheidet, sollte es not-wendigerweise – wenn man den Begriff in diesem Zu-sammenhang verwenden kann – zu einer Mischkalku-lation kommen. Indes besteht die Gefahr einer „Schief-lage“, wenn gerade wirtschaftlich bedeutsame unddurch hohe Streitwerte gekennzeichnete Verfahren zurSchiedsgerichtsbarkeit abwandern. Ob Anzeichen hier-für bestehen, lässt sich nicht belegen. Letztlich ist fürdie Wahl zwischen staatlichem Prozess und Schieds-verfahren aber die Besetzung des Spruchkörpers ent-scheidend,172 was wiederum die Bedeutung des Rich-ters unterstreicht.

2. KOSTENKostenregelungen dürften hingegen für die Parteiennur begrenzt geeignet sein, Anreize zu bilden. Der Jus-tizgewährungsanspruch dürfte maßgeblich dafür sein,dass nur in beschränktem Maße eine Kostenverlage-rung in der Weise in Betracht kommt, dass nach demVerursacherprinzip von einer streitwert- auf eine auf-wandsabhängige Vergütung übergegangen wird.173

Denkbar ist indes die Möglichkeit der Schadensersatz-

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168 http://www.lawmadeingermany.de/ (zuletzt besucht 8.2.2014).169 Vgl. dazu bspw. FAZ Nr. 51 v. 29.2.2012, S. 13 „Deutschland zieht Patentkläger

aus aller Welt an“.170 Ewer, Wenn nur der Konsens zählt – was bleibt für das Gerichtsverfahren? Me-

diation alleine kann es nicht richten: Die Gesellschaft braucht Gerichte und An-wälte, AnwBl. 2012, 18, 19. S. dazu auch Trittmann/Schroeder, Der Einfluss derReform des Zivilprozesses auf die Schiedsgerichtsbarkeit in Deutschland,SchiedsVZ 2005, 71, 75.

171 Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2, 6 f.

172 Darauf weist bereits Lachmann, BRAK-Mitt. 2005, 217, 221 hin.173 Vgl. Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2, 6.

haftung bei Verfahrensverzögerung, was beispielswei-se für die Schiedsgerichtsbarkeit in Betracht gezogenwird.174 Entsprechende Ansätze lassen sich auch inGroßbritannien finden. Dort besteht hinsichtlich derKostenfestsetzung ein erheblicher Ermessensspiel-raum, der auch die Möglichkeit eröffnet, sich daranzu orientieren, wie konstruktiv eine Partei an dem Ver-fahren mitgewirkt hat. Der Tatsachenerhebung unddem Verfahrensmanagement insgesamt abträglichscheint darüber hinaus zu sein, dass das RVG nichtmehr den in der Beweisaufnahme liegenden Aufwandhonoriert.175 Deshalb steht zu befürchten, dass diesemwichtigen Abschnitt nicht immer genügend Rechnunggetragen wird.

3. WEITERE GESICHTSPUNKTEZwei weitere Aspekte sollen nur angedeutet werden.Zum einen ist offen, welches Potenzial sich künftig ausder digitalen Aktenführung ergeben wird. Mit dem Jus-tizkommunikationsgesetz sind seit 2005 die recht-lichen Voraussetzungen für eine elektronische Akten-führung geschaffen (§ 130a, § 130b, § 298a ZPO).Dies wird in der Praxis des Zivilprozesses wohl nochnicht hinreichend wahrgenommen.176 Ob sich aber al-lein durch die Beschleunigung des Aktenverkehrs undvor allen Dingen die Beschleunigung der Produktionvon Urteilsabschriften die Rechtsverwirklichung effi-zienter gestalten lässt, erscheint zweifelhaft.177 Übereinen weiteren Punkt ist es letztlich müßig zu diskutie-ren, nachdem die Würfel längst gefallen sind. Ange-sprochen ist damit das Berufsrecht und konkret derWegfall von Lokalisation und Singularzulassung. Be-merkenswert ist – und deshalb erwähne ich es über-haupt nur – wie unterschiedlich die Konsequenzen fürdas Verfahren und insbesondere das Rechtsgesprächbeurteilt werden. So will Hirtz178 eine Tendenz erken-nen, nicht den eingearbeiteten und mit der Angelegen-heit vertrauten Sachbearbeiter den mündlichen Ver-handlungstermin wahrnehmen zu lassen. Andere he-ben hingegen hervor, dass die Möglichkeit desAuftretens vor jedem Gericht es nunmehr gerade er-mögliche, dass der eigentliche Sachbearbeiter gemein-sam mit seinem Mandanten den Termin wahrnehmenkönne. Freilich würden in diesem Zusammenhang an-dere Hindernisse relevant, so etwa aufgrund der Tatsa-che, dass Richter und Anwälte sich gegenseitig nichteinzuschätzen vermögen, was eine gewisse „Anlauf-phase“ und damit eine Verlängerung eines Terminsmit sich bringen könne.179

IV. RESÜMEE

Auf unterschiedliche Weise wurde in allen der betrach-teten Rechtsordnungen eine große Verantwortung aufdie Richter und die Gerichte verlagert, um eine Verbes-serung des Verfahrensmanagements zu erreichen.Stürner hat schon vor geraumer Zeit vorausgesagt,dass am Ende der weltweiten Entwicklung die alleinigeVerantwortung der Gerichte für die vollständige Er-mittlung aller Sach- und Rechtsfragen sei.180 Ungeach-tet unterschiedlicher Lösungsansätze war die Entwick-lung überall von der Sorge um das Risiko geprägt,dass das Ansehen des Richters als Unparteiischem ge-schwächt wird, wenn diesem die Rolle eines „Mana-gers“ verordnet wird. Eine andere Sorge besteht dahin-gehend, dass Richter in die Lage kommen können,wichtige Entscheidungen treffen zu müssen, bevor alleTatsachen bekannt sind.181 Kritiker des case manage-ment befürchten gar, dass Parteien und deren Vertre-ter von übereifrigen, pedantischen, gar übellaunigenund tyrannischen Richtern drangsaliert werden könn-ten, insbesondere im Vorfeld der eigentlichen mündli-chen Verhandlung.182

Tatsächlich hat der Richter einen Drahtseilakt zu voll-führen. Jede Anordnung muss zuvor aus der Perspekti-ve sämtlicher Parteien bewertet werden. Alle Interes-sen sind zu berücksichtigen. Ein in diesem Sinne ver-standenes effektives Verfahren liegt im Interessebeider Parteien, wenn innerhalb vernünftiger Zeit undzu gerechtfertigten Kosten ein abschließendes Ergeb-nis erzielt wird. Offen bleibt allein die Frage, wie weitreichend die gesetzlich verankerten Aufgaben einesRichters sein können, ohne dass man auf ein inquisito-risches System zusteuert. Ungeachtet großer Unter-schiede ist doch Folgendes hervorzuheben: Die Sorge,dass erweiterte richterliche Befugnisse bezüglich desVerfahrensmanagements die Gefahr voranschreiten-der Amtsermittlung begründen könnte, ist jedenfallsnicht gerechtfertigt, wenn man sich die viel weit rei-chenderen britischen Regelungen vergegenwärtigt, dieinsoweit keinerlei Verdacht erregen.183 Ganz im Gegen-teil: Weil das deutsche Recht das Verfahrensmanage-ment weit gehend dem richterlichen Ermessen anheim-stellt, was wiederum durchaus dem amerikanischenRecht ähnelt, kann den individuellen Gegebenheiten ei-nes jeden Verfahrens Rechnung getragen werden.

Damit kann festgehalten werden, dass die Regelungenüber das Verfahrensmanagement durchaus Vorbild-charakter haben. Aufgrund des Zuschnitts der Prozess-leitung kommt dem Richter eine starke Stellung zu. DieAusübung des weiten richterlichen Ermessens stellt je-doch Anforderungen an den Zuschnitt und die Beset-zung der Spruchkörper, denen unter den Zwängen

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174 Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2, 7 verweisen insoweit auf Schwab/Walter, Schieds-gerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 12, Rdnr. 9.

175 Darauf weist schon Lachmann, BRAK-Mitt. 2005, 217, 220 hin.176 Hirtz, AnwBl. 2012, 21, 22. S. dazu auch Degen, Mahnen und Klagen per E-Mail

– Rechtlicher Rahmen und digitale Kluft bei Justiz und Anwaltschaft?, NJW 2008,1473, insbes. S. 1476.

177 Vgl. zu den (positiven) Erwartungen insoweit im britischen Bereich Susskind, TheEnd of Lawyers? Rethinking the Nature of Legal Services, Oxford (2008), S. 201 ff.

178 Hirtz, AnwBl. 2012, 21 f.179 Schmude, BRAK-Mitt. Sonderdruck 5. ZPR-Symposion 2010, S. 17, 21 f.

180 Stürner, ZZPInt (11) 2006, 381, 393.181 Scott, Caseflow Management in the Trial Court, in: Zuckerman/Cranston (Hrsg.),

(o. Fn. 3), S. 1, 26.182 Andrews, The Adversarial Principle: Fairnes and Efficiency, in: Zuckerman/Crans-

ton (o. Fn. 3), S. 169, 177.183 Vorrasi, 30 Journal of Legislation (2004), 361, 385.

SAENGER, VERFAHRENSMANAGEMENT IM ZIVILPROZESS

eines Spardiktats gewiss nicht Rechnung getragen wer-den kann. Vor nicht allzu langer Zeit hat Gerstenmai-er184 auf einen bereits in den achtziger Jahren in denUSA erschienenen Beitrag von Langbein mit dem Titel„The German Advantage in Civil Procedure“ hingewie-sen.185 Dieser ist in den USA nicht unwidersprochengeblieben, nicht nur wegen des aus deutscher Sichtschmeichelhaften Titels und der Feststellung, „manage-rial judging is more compatible with the theory of Ger-

man procedure than with our own.“186 Bevor wir unsmit dem Prädikat „Qualität made in Germany“ schmü-cken, sollten wir aber auch noch weiter lesen und die be-reits vor mehr als 25 Jahren aus neutraler Sicht getroffe-ne Aussage beachten: „The judicial career must be de-signed in a fashion that creates incentives for diligenceand excellence. The idea is to attract very able peopleto the bench, and to make their path of career advance-ment congruent with the legitimate interests of the liti-gants.“187 Diesen Vorteil sollte man nicht verspielen!

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DER VORSCHLAG DER KOMMISSION ZUR REFORM DERBRÜSSEL I - VO*PROF. DR. THOMAS PFEIFFER, HEIDELBERG**

Meine Überlegungen dienen einmal der Darstellungder Kommissionspläne, zum anderen der Bewertung.Bei alledem geht es um 4 Punkte, nämlich

– erstens den Anwendungsbereich im Verhältnis zurSchiedsgerichtsbarkeit;

– zweitens die Ausweitung des Zuständigkeitssystemsder Brüssel I-VO;

– drittens die Modifikation der bisher recht starr aus-gestalteten gehandhabten Regeln zur Beachtungkonkurrierender Rechtshängigkeit und

– viertens die Abschaffung des bisherigen Exequatur-verfahrens unter Beschränkung der Ordre public-Kontrolle.

Das Institut für ausländisches und internationales Pri-vatrecht der Universität Heidelberg war an den Vor-arbeiten für die jetzt anstehende Reform dadurch betei-ligt, dass die gegenwärtig geltende Fassung der BrüsselI-VO eine Evaluation vorsah, die Herr Kollege Hess undich in Heidelberg zusammen mit Herrn Kollegen Schlos-ser aus München durchgeführt haben. Das Ergebnisliegt vor in Form des sog. Heidelberg-Reports.1

I. ANWENDUNGSBEREICH IM VERHÄLTNIS ZURSCHIEDSGERICHTSBARKEIT

Zu dieser Problematik enthält bereits der Heidelberg-Report einen Vorschlag.2 Als wir diesen vorgelegt ha-ben, haben wir zunächst gelegentlich das Argumentgehört, teils aus England: „If it's not broken, don't fixit“ – wenn es nicht kaputt ist, soll man nicht versuchen,es zu reparieren. Will man sich auch auf diese flapsigeEbene begeben, kann man drei Dinge sagen – erstens:auch Dinge, die nicht kaputt sind, benötigen manch-mal eine Wartung; zweitens werden mitunter Dinge,die nicht kaputt sind, durch Modifikationen besserund drittens ist „es“ kaputt, d.h. die gegenwärtigeRechtslage weist in der Tat einen Defekt auf. Das wur-de augenfällig, während wir an unserem Evaluierungs-bericht arbeiteten, und zwar durch eine Entscheidungdes EuGH aus dem Jahre 2009, der viel zitierten Ent-scheidung im Fall West Tankers.3

Dort ging es um die rechtliche Aufarbeitung einerSchiffshavarie in Gewässern in der Nähe von Italien.Die Ansprüche einer Partei waren auf die italienischeTochter von Allianz übergegangen und in dem ur-sprünglichen Beförderungsvertrag fand sich eineSchiedsklausel, mit dem Schiedsort London. Eine derParteien sah sich wegen des Anspruchsübergangs aufdie Versicherung an die Schiedsklausel nicht gebundenund erhob parallel zum bereits begonnenen LondonerSchiedsverfahren Klage vor den staatlichen Gerichtenauf der schönen Insel Sizilien, nämlich in Syrakus. Andiesem – im wahrsten Sinne des Wortes – archime-

184 Gerstenmaier, The „German Advantage“ – Myth or Model, SchiedsVZ 2010, 21.185 Langbein, The German Advantage in Civil Procedure, 52 U. Chi. L. Rev. 823

1985.

186 Langbein, 52 U. Chi. L. Rev. 823 (825) 1985.187 Langbein, 52 U. Chi. L. Rev. 823 (848) 1985.

* Die neue Brüssel-I-Verordnung wurde als Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 desEuropäischen Parlamentes und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit unddie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handels-sachen am 20.12.2012 im EU-Amtsblatt verkündet (Amtsbl. EU L 351 Seite 1),trat am 9.1.2013 in Kraft und gilt ab dem 10.1.2015.

** Der Autor ist Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht,Rechtsvergleichung, Internationales Verfahrensrecht sowie GeschäftsführenderInstitutsdirektor des Institut für ausländisches und internationales Privat- undWirtschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Der nachfolgendeText beruht auf dem nur geringfügig bearbeiteten Ton-Mitschnitt des frei gehal-tenen mündlichen Vortrags des Verfassers anlässlich des 6. ZPR-Symposions derBundesrechtsanwaltskammer am 16.3.2012 in Potsdam. Er beruht auf dem da-maligen Diskussionsstand. Die Vortragsform ist beibehalten und lediglich um ei-nige Nachweise ergänzt.

1 Burkhard Hess/Thomas Pfeiffer/Peter Schlosser, The Brussels I Regulation44/2001 – Application and Enforcement in the EU, 2008.

2 Hess, Hess/Pfeiffer/Schlosser (Fn. 1) Rdnr. 105 ff.3 EuGH, 10.2.2009, Rs. C-185/07, Allianz SpA und Generali Assicurazioni GeneraliSpr ./. West Tankers Inc., 2009, I-663.

PFEIFFER, DER VORSCHLAG DER KOMMISSION ZUR REFORM DER BRÜSSEL I-VO

dischen Punkt kann man nun manches fest machen.Das Londoner Gericht wollte das tun, was englischeGerichte in diesem Fall tun, weil – wenn man das indieser Pauschalität sagen kann – das angloamerikani-sche Recht ein anderes Verständnis von Gerichts- undSchiedsvereinbarungen hat als wir.

Das deutsche Recht steht bekanntlich auf dem Stand-punkt: diese Vereinbarungen wirken gewissermaßennur dinglich, sie schließen die Zuständigkeit von Ge-richten aus und begründen die Zuständigkeit von Ge-richten oder Schiedsgerichten. Das englische Rechtsieht diese Vereinbarungen zugleich als schuldrecht-lichen Vertrag, gegen dessen Verletzung man durchGeltendmachung von Unterlassungs- und Schadens-ersatzansprüchen, erstere auch im einstweiligenRechtsschutz, vorgehen kann. Folge: es gibt einstweili-ge Verfügungen, die darauf gerichtet sind, andernortsdie Verfahrenseinleitung oder -fortführung, die im Wi-derspruch zu der schuldrechtlichen Verpflichtung ausder Gerichtsstands- und Schiedsvereinbarung steht, zuunterlassen. Anti-suit-injunctions kennen praktisch alleangloamerikanischen Rechtsordnungen.

In Deutschland gibt es nur einen Fall, der wirklich be-kannt geworden ist, in dem diese Problematik eine Rol-le gespielt hat, die berühmte Scheidung des Intendan-ten Max Reinhart in den 30er Jahren. Da hat dasReichsgericht den Standpunkt vertreten, das Schei-dungsverfahren in Lettland, eingeleitet durch MaxReinhart sei eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigungseiner Ehefrau. Daraus folge ein Anspruch aus § 826BGB auf Unterlassung.4 Lettland war das europäischeScheidungsparadies der 20er und 30er Jahre. Die Ent-scheidung ist aber vereinzelt geblieben. Wir kennen ei-nen solchen Rechtsbehelf im Grundsatz nicht.

Das englische House of Lords hat nun mit seiner Vor-lage an den EuGH gefragt: Können wir eine solche an-ti-suit-injunction zum Schutz eines englischen Schieds-verfahrens erlassen oder verstößt das gegen die Brüs-sel I-VO? Und der EuGH hat im Ergebnis gesagt:Ja, das ist ein Verstoß, und zwar aus folgenden Grün-den: In Art. 1 Abs. 2 Buchstabe d) der Brüssel I-VO istzwar eine Anwendungsausnahme für die Schieds-gerichtsbarkeit vorgesehen. Vereinbarungen in SachenSchiedsgerichtsbarkeit liegen außerhalb des Anwen-dungbereichs der Brüssel I-VO. Ein Verfahren, mitdem eine Schiedsvereinbarung durchgesetzt werdensoll, fällt an sich unter diese Ausnahme.

Anders liegt es dagegen im Hinblick auf das Verfahrenin Syrakus: Hier handelt es sich um ein normales Ge-richtsverfahren, eine zivilrechtliche Schadensersatzkla-ge. Die Brüssel I-VO ist anwendbar. Jetzt ist die Frage:Wenn in einem Verfahren darauf geklagt wird, dassdie Partei das andere unterlässt, worauf kommt esdann an?

Und dazu meint der EUGH: Hinter der Brüssel I-VOsteht ein allgemeines Prinzip, das lautet: Jedes Gerichtin einem Mitgliedstaat entscheidet selbst über seineZuständigkeit und kein anderer Mitgliedstaat darf indiese Entscheidung gleichsam hineinregieren.

Dieses allgemeine Prinzip schlägt nach Ansicht desEuGH deshalb durch, weil die Bindungswirkung derSchiedsvereinbarung für das italienische Verfahrennur eine Vorfrage sei. Es gehe in der Hauptsache inItalien nicht um die Schiedsvereinbarung. Eine anti-suit-injunction verletze demgegenüber das genanntePrinzip, sie sei unzulässig. Damit ist nach dieser Ent-scheidung die parallele Durchführung eines Schieds-verfahrens in London und eines Gerichtsverfahrens inItalien mit demselben Gegenstand, wenn man vonFeinheiten absieht, möglich. Und darin besteht dasProblem, das einer Antwort bedarf. Handlungsbedarfbesteht deshalb, weil nämlich anti-suit-injunctions ge-wissermaßen die Antworten des Common Law auf die-se konkurrierende Zuständigkeit sind und diese Ant-wort nicht mehr gegeben werden darf.

Und unsere klassische kontinentaleuropäische Antwortist dagegen die Schaffung einer Rechtshängigkeits-regel. Die Brüssel I-VO ist im Grunde, selbst wenn sieauch in England gilt, ihrem Ursprung nach ein zivilisti-sches Instrument und deswegen ist es systemgerecht,eine Rechtshängigkeitsregel zu schaffen. Das schlägtnun auch die Kommission, allerdings in abgemilderterForm, vor, nämlich mit der gewollten Änderung desArt. 1 Abs. 2 (d).

Nach dem Regelungsvorschlag der Kommission sollzukünftig folgendes gelten: Die Schiedsgerichtsbarkeitist ausgenommen, es sei denn, es ist ausdrücklicheine Ausnahme von der Ausnahme, also eine Rückaus-nahme angeordnet. Gemeint sind zwei Regelungen;die wichtigere findet sich in Art. 29 Abs. 4 des Vor-schlags: Wenn der Schiedsort in einem Mitgliedstaatliegt, dann soll das Gericht eines anderen Mitglied-staates das Verfahren in solchen Konkurrenzfällen zu-künftig aussetzen, sobald die Gerichte des Schiedsor-tes angerufen wurden, um die Wirksamkeit derSchiedsvereinbarung abzuklären.

Übertragen auf den Fall West Tankers heißt das: DieFrage ob die Schiedsvereinbarung wirksam ist, sollnicht in Syrakus entschieden werden, sondern amSchiedsort. Und zwar entweder – so lautet das Rege-lungskonzept des Kommissionsvorschlags – von denGerichten des Schiedsortes oder von dem Schieds-gericht des Schiedsortes. Letzteres ist deswegen be-deutsam, weil die Ausgestaltung der sog. Kompetenz-Kompetenz der Schiedsgerichte – wer entscheidet, obdie Schiedsvereinbarung wirksam ist und das Schieds-gericht kompetent ist und entscheiden das die Schieds-gerichte abschließend selbst, oder entscheiden dasletztlich die staatlichen Gerichte? – unterschiedlich istin den Mitgliedstaaten. Wir in Deutschland habenzwar zunächst einmal eine Kompetenz-Kompetenz derSchiedsgerichte (§ 1040 Abs. 1 ZPO), aber man kann

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4 RGZ 157, 136; s. noch OLG Köln, FamRZ 1962, 72, zu einer Schadensersatzklagewegen politischer Verfolgung, die durch Einleitung eines Zivilprozesses in der da-maligen DDR ausgelöst wurde.

zum staatlichen Gericht gehen (§ 1040 Abs. 3 ZPO).Das ist in anderen Mitgliedstaaten teilweise andersund deswegen diese Regelung.

Obwohl ich selbst sagen muss: Meines Erachtens sindalle sachlichen Einwände, die gegen den ursprüng-lichen Vorschlag des Heidelberg Reports sprachen,mit der jetzigen Ausgestaltung abgearbeitet. Trotzdembleiben Widerstände. Man darf gespannt sein, wie sichdas endgültige Ergebnis dieser Diskussionen innerhalbdes politischen Prozesses darstellt. Auch ich selbst binmit dem Vorschlag nur zum Teil zufrieden. Denn manmuss eines sehen: Die Regelung löst das Rechtshän-gigkeitsproblem. Sie ist aber imperfekt. Wir haben indem Vorschlag zwar eine Regelung, die sagt: Im Fallekonkurrierender Rechtshängigkeit muss ein Verfahrengegenüber der anderem zurücktreten – soweit gut. Esfehlt aber eine Regelung, die sagt, was gilt, wenn sichkeiner daran hält. Es findet sich kein Anerkennungshin-dernis – oder anders herum gesagt – keine Anerken-nungspflicht zugunsten derjenigen Entscheidung, dienach der Rechtshängigkeitsregel den Vorrang genießt.Insofern ist meine Bewertung: Der Vorschlag enthältzwar eine klare Verbesserung gegenüber dem Statusquo, aber es bleibt eine imperfekte Regelung, weileben keine Absicherung auf der Ebene der Anerken-nung erfolgt.

Man darf also gespannt sein, was sich durchsetzt. Ichmeine, es wäre auch für die Wirksamkeit von Schieds-vereinbarungen eine Verbesserung, denn gegenwärtiggibt es im Falle einer Schiedsvereinbarung keinen Ab-wehrmechanismus gegen ein anderes gerichtlichesVerfahren in einem Mitgliedstaat. Nach dem Vor-schlag der Kommission gäbe es einen.

II. INTERNATIONALE ZUSTÄNDIGKEIT

Um den Vorschlag in diesem Punkt zu erfassen, mussman sich zunächst vergegenwärtigen, wie das bisheri-ge System der Zuständigkeit nach der Brüssel I-VO inseinen wesentlichen Punkten ausgestaltet ist. Und dasind folgende Gesichtspunkte maßgebend:

Erstens: Das Brüsseler Zuständigkeitssystem gilt immerdann, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einemMitgliedstaat hat. Im Falle einer Gerichtsstandverein-barung weiß man im Vorhinein noch nicht vorher, werder Beklagte sein wird, also reicht der Wohnsitz einerder beiden Parteien.

Zweitens: Die Brüssel I-VO erfordert keinen innerunio-nalen Zuständigkeitskonflikt. Wenn ein Amerikanermit einem Deutschen eine Gerichtsstandvereinbarungschließt oder wenn ein Deutscher mit einem Amerika-ner in England verklagt wird, auch wenn er in Deutsch-land verklagt wird, immer ist Brüssel I anwendbar.Brüssel I ist dagegen nicht anwendbar, wenn Sie alsDeutscher gegen einen Beklagten mit US-amerikani-schem Wohnsitz klagen. Hierfür gilt nationales Zustän-digkeitsrecht.

Und dieser letztgenannte Punkt soll sich nun zum Teiländern. Vorgesehen ist eine Ausdehnung auf Drittstaa-ter. Art. 4 Abs. 2 des Vorschlag besagt dies und inArt. 23 Abs. 2 des Vorschlags findet sich die erforderli-che Regelung, soweit es um eine Gerichtsstandsverein-barung geht. Der Grund für diesen Vorschlag ist ein-mal, dass man sich in manchen Fällen, in denen keinZuständigkeitsproblem besteht, fragen kann: Warumbehandelt man Drittstaater eigentlich anders? Warumkönnen wir nicht die Gerichtsstände der Brüssel I-VOauf Drittstaater anwenden, jedenfalls was die streit-gegenstandbezogenen betreffenden besonderen Ge-richtsstände anbelangt?

Vor allem jedoch führt das gegenwärtige System zuUngleichbehandlungen in der Union und zwar aus fol-gendem Grund: Alle Mitgliedstaaten haben in ihremnationalen Recht in unterschiedlicher Form das, wasman als exorbitante Gerichtsstände bezeichnet. Wir inDeutschland kennen den Vermögensgerichtsstand des§ 23 ZPO. Wer in Deutschland keinen Wohnsitz hat,aber ein Bankkonto in Frankfurt, den kann ich vor diedeutschen Gerichte bringen, sofern irgendwie sonstein hinreichender Inlandsbezug vorhanden ist. Undder hinreichende Inlandsbezug, für den reicht es aus,wenn man einen deutschen Kläger hat. Die anderenMitgliedstaaten haben teilweise andere Systeme weitreichender Zuständigkeiten. Die Engländer kennennoch die klassische Common-Law-Zuständigkeit kraftZustellung. Die Franzosen verfügen über die berühm-ten Vorschriften der Art. 14 und 15 des Code Civil.Ein Franzose kann gegen irgendwen auf der Welt im-mer in Frankreich klagen – immer, außer der Beklagtewohnt in der EU, dann ist er privilegiert.

Was heißt das nun, wenn man es einmal im Dreiecks-verhältnis betrachtet? Ein Franzose kann nachDeutschland kommen und kann kraft des deutschenVermögensgerichtsstands den Amerikaner in Frankfurtverklagen. Ein Deutscher kann aber nicht nach Frank-reich gehen, es sei denn er wohnt dort. Aber wenn ernicht dort wohnt, kann er in Frankreich nicht dieArt. 14 und 15 Code Civil nutzen. Und darin liegteben in Bezug auf das Verhältnis zu Dritten eine gra-vierende Ungleichbehandlung in der Union. Diese istauch nicht günstig für uns Deutsche.

Das Problem ist nur Folgendes: Vergleichen Sie denumfänglichen Katalog der Gerichtsstände in der ZPO,die §§ 12 ff. und ihr vollständiges Zuständigkeitssys-tem, mit dem sehr bescheidenen Katalog der Art. 5und 6 der Brüssel I-VO ist der Brüsseler Katalog sehrknapp gehalten. Es gibt den Vertragsgerichtsstand,den Gerichtsstand für unerlaubte Handlungen etc.Deshalb sind die Gerichtsstände der Brüssel I-VO vielzu schmal, um alle Fälle eines Rechtsschutzbedürfnis-ses gegenüber Drittstaatern zu erfassen. Im Heidel-berg-Report hatten wir deshalb festgestellt: Wennman das Brüsseler System auf Drittstaater ausdehnt,ist der hilfsweise Zugriff auf nationales Recht unver-meidbar. Und wir hatten der Einfachheit halber vor-geschlagen, da man nicht am grünen Tisch einen Kata-

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log an Gerichtsständen entwickeln kann, dann sollman subsidiär diesen Rückgriff auf die nationalen Ge-richtsstände zulassen.5

Die Kommission will es nun etwas anders. Auch siesagt, dass maßvolle Erweiterungen des Zuständigkeits-katalogs sinnvoll seien. Wirklich gefehlt hat bisher einnicht ausschließlicher Gerichtsstand für dingliche Kla-gen bei beweglichen Sachen: Wenn ein Kunstwerk inWien versteigert wird und ich sage, es gehört mir, konn-te ich bisher nicht in Wien auf Herausgabe klagen. Daswar absurd und bedurfte der Änderung. Und diesenVorschlag des Heidelberg-Reports6 hat die Kommissionaufgegriffen. Die Möglichkeit von Gerichtsstandverein-barungen bei Gewerberaummiete ist ebenfalls eine Aus-weitung, sie gab es bisher nicht.

Anders als der Heidelberg-Report,7 will die Kommis-sion die verbleibenden Lücken nicht durch eine sub-sidiäre Anwendung nationaler Gerichtsstände aus-gleichen, sondern durch zwei sehr weit gehende Er-weiterungen der in der Brüssel I-VO selbst geregeltenZuständigkeiten: erstens einen eingeschränkten Ver-mögensgerichtsstand und zweitens eine Notzustän-digkeit. Die Alternative wäre demgegenüber entwe-der ein eigener umfänglicher Zuständigkeitskatalogin Brüssel I oder subsidiäre Anwendung nationalenRechts. Für letzteres ist die Zeit nicht reif; ersteresgab dem nationalen Recht nach Auffassung derKommission vermutlich eine zu große verbleibendeRolle.

Der begrenzte Vermögensgerichtsstand, der nun vor-geschlagen wird, setzt voraus: Inländisches Ver-mögen, die Wahrung eines angemessenen Verhältnis-ses des inländischen Vermögens zur Forderungshöhesowie einen hinreichenden Inlandsbezug. Die Erfah-rungen mit § 23 ZPO lassen dieses Modell nur als be-schränkt erstrebenswert erscheinen. Jochen Schröderhat einmal formuliert, es sei unmäßig, Millionenpro-zesse an die Belegenheit von Obstkörben zu knüpfen.8

Und es gibt eine herrliche Entscheidung zur Frage, obein nur teilweise beschriebenes Handelsbuch noch ei-nen Vermögenswert darstelle, in dem nämlich dasReichsgericht Überlegungen der Vorinstanz billigt, indenen ausgeführt wird: Es handele sich „um ein gro-ßes Buch mit festem Umschlag“, das 300 Blatt Papierumfasse, von denen erst 180 beschrieben seien9 – umden Vermögenswert zu begründen. Und dann wirdaus Österreich der Fall der Klage gegen den französi-schen Skirennläufer Jean-Claude Killy kolportiert, beidem es sich dem Vernehmen nach um eine unver-öffentlichte erstinstanzliche Entscheidung handelt:Danach wurde am österreichischen Vermögens-gerichtsstand (§ 99 öst Jurisdiktionsnorm) ein Vater-schaftsprozess gegen Jean-Claude Killy angestrengt,

bei dem als Vermögenswert vergessene Unterwäschegedient haben soll.10

Die Österreicher haben auf das Problem der Unver-hältnismäßigkeit reagiert, indem sie die Vermögens-zuständigkeit um das Korrektiv einer Verhältnismäßig-keitsprüfung ergänzt haben (§ 99 Abs. 1 Satz 2 öst Ju-risdiktionsnorm). Dieses Regelungskonzept greift dereuropäische Gesetzgeber jetzt auf: ein unangemesse-nes Verhältnis. Was das sein wird, das muss allerdingsder EuGH entscheiden. Wenn man an das österrei-chische Vorbild denkt, dann könnte man von einem Ver-hältnis von 1:5 ausgehen.11 Also: wenn ich 20.000 Euroauf dem Konto habe, darf ich bis 100.000 Euro verklagtwerden.

Zusätzlich muss ein hinreichender Inlandsbezug beste-hen. Im deutschen Recht hat das der BGH als unge-schriebenes Merkmal bereits Anfang der 90er Jahrein § 23 ZPO hinein gelesen.12 Zwar ist nicht ganz klar,was ein hinreichender Inlandsbezug eigentlich ist.Doch weil der BGH die Ansicht vertritt, der inländischeKlägerwohnsitz reicht in der Regel aus, taucht dasmeistens nicht als Problem auf. Wenn man allerdingsden Inlandsbezug so weitgehend abstrahiert, dannhat man in der Folge Rechtsstreitigkeiten, die gegen-über dem Forum weitgehend beziehungslos sind. Aufder anderen Seite kann man sagen: Für die inländischeAnwaltschaft können internationale Prozesse lukrativsein und das wäre dann auf anderer Ebene ein gewis-ser Vorteil.

Vorgeschlagen ist ferner eine begrenzte Notzuständig-keit. Notzuständigkeit setzt voraus, dass es kein Ge-richt gibt, an das ich mich wenden kann. Dann bin ichin Zuständigkeitsnot und Zuständigkeitsnot löst Not-zuständigkeit aus: „Wo kein Gericht auf der Welt zu-ständig ist, soll jedes Gericht zuständig sein.“ Etwasanderes ist hier vorgeschlagen. Die Verordnung sollals Voraussetzungen der Notzuständigkeit vorsehen:kein zuständiges Gericht in einem Mitgliedstaat, keinhinreichender Rechtsschutz durch einen Drittstaat so-wie einen hinreichenden Inlandsbezug. Der nicht hin-reichende Rechtsschutz durch einen Drittstaat soll inzwei verschiedenen Fällen vorliegen: Nämlich entwe-der, wenn das drittstaatliche Verfahren unzumutbaroder unmöglich ist, oder wenn die drittstaatliche Ent-scheidung zwar erlangt werden kann, aber nicht aner-kennungsfähig oder vollstreckbar ist, trotz eines Aner-kennungsbedürfnisses. Außerdem wird jedoch ein aus-reichender Bezug zum Forum verlangt. Das wirft eineFülle von Problemen auf, weil diese Merkmale sehrvage sind.

Die Notzuständigkeit kennen wir als ungeschriebeneRegel bereits im deutschen Prozessrecht. Es gibt einigeEntscheidungen: Beispielsweise wurde während derBürgerkriegszeit im Libanon entschieden, dass, obwohl

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5 Pfeiffer, Hess/Pfeiffer/Schlosser (Fn. 1), Rdnr. 163.6 Pfeiffer, Hess/Pfeiffer/Schlosser (Fn. 1), Rdnr. 153.7 Hess/Pfeiffer/Schlosser (Fn. 1), Rdnr. 157–163.8 Jochen Schröder, Internationale Zuständigkeit, 1971, S. 402.9 RGZ 51, 163, 164 f.; Vorinstanz: OLG Dresden, SeuffArch 57 (1902), Nr. 162.

10 Jan Kropholler, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Band IKap. III, § 2 Abs. 3 Satz 3, Rdnr. 314.

11 Z.B. OGH, 8.7.2003, 4 Ob 128/03g.12 BGHZ 115, 90.

PFEIFFER, DER VORSCHLAG DER KOMMISSION ZUR REFORM DER BRÜSSEL I-VO

libanesische Gerichte an sich zuständig wären, eineNotzuständigkeit deutscher Gerichte in Betrachtkommt.13 Aber die Frage ist: Wie sicher muss es eigent-lich sein, dass der Rechtsschutz nicht zumutbar oderdas Urteil nicht anerkennungsfähig ist?14 Das spieltetwa eine Rolle, wenn das zuständige Gericht voraus-sichtlich eine Entscheidung erlassen wird, von der wirannehmen, dass sie gegen den deutschen Ordre publicverstoßen und sie deswegen nicht anerkannt wird.Muss man abwarten bis die Entscheidung da ist, alsoerst einmal fünf Jahre im Ausland prozessieren, oderkann man gleich in einem Mitgliedstaat klagen? Wieist es, wenn die Wirksamkeit einer Gerichtsstandsver-einbarung im Raum steht und unklar ist, ob wirklichdie Zuständigkeit des betreffenden Gerichts begrün-det? In diesen Fragen steckt eine Fülle von Unsicher-heit. An sich ist das Konzept einer Notzuständigkeitgut und sinnvoll, aber nur wenn es dazu dient, in un-vermeidlichen Ausnahmefällen gegenüber einerRechtsschutzverweigerung vorzubeugen – dagegennicht, wenn sie als Bestandteil des regulären Zustän-digkeitssystems fungieren soll, wenn die Notzuständig-keit zur Regelzuständigkeit wird.

Unklar ist auch, was der verlangte ausreichende Bezugzum Forum im Einzelnen erfordert. Das bisherige Sys-tem der Brüssel I-VO beruht darauf, dass die zustän-digkeitsrechtlichen Anknüpfungsmomente eine hinrei-chende Beziehung zum Forum widerspiegeln. Dem-gegenüber führt das Erfordernis eines hinreichendenInlandsbezugs zu einer zweiten Ebene, schwächerer,noch schwächerer und allerschwächster Bezüge,15 vondenen man dann überlegen muss: Welche reichendenn eigentlich noch aus? – ein wenig klares System.Zudem kann man zweifeln, ob man ein solches begren-zendes Merkmal bei der Notzuständigkeit tatsächlichbenötigt. Notprozesse auf eigene Kosten will ohneRechtsschutzbedürfnis niemand führen.

Änderungen ergeben sich auch für Gerichtsstandsver-einbarungen. Einmal soll in die maßgebende Vorschriftdes Art. 23 aufgenommen werden: Die Beurteilung derWirksamkeit erfolgt nach der Lex Fori, und zwar LexFori des prorogierten Gerichts, also des Gerichts, des-sen Zuständigkeit die Parteien vereinbart haben.Sprich: wenn die Parteien die ausschließliche Zustän-digkeit der deutschen Gerichte vereinbaren und einePartei trotzdem in Italien klagt, muss das italienischeGericht über die Wirksamkeit der Zuständigkeitsverein-barung nach deutscher Lex Fori entscheiden.

Allerdings gibt es eine Unklarheit. Die Begründung derBrüssel I-VO sagt: Unser Vorbild ist das Haager Zu-ständigkeitsübereinkommen. Und von dort ist es inder Tat übernommen. Die offiziellen Materialien, näm-lich der offizielle Bericht zum Haager Zuständigkeits-übereinkommen sagt: Die Beurteilung der Gerichts-

standsvereinbarung nach der Lex Fori ist das, was dasIPR eine Gesamtverweisung nennt.16 Es wird das Rechtangewandt, von dem die Lex Fori sagt: Es soll ange-wandt werden. Wie ist es im Moment in Deutschland?Was sagt die deutsche Lex Fori zur Frage, nach wel-chem Recht sich die Wirksamkeit der Gerichtsstands-vereinbarung bestimmt? Die Antwort des deutschenRechts ist: Diese Frage ist gesondert zu prüfen. DieParteien können für die Gerichtsstandsvereinbarungeine eigene Rechtswahlvereinbarung treffen, tun siedas nicht, gilt das Recht des Hauptvertrags, was in tat-sächlicher Hinsicht in der weit überwiegenden Zahl derFälle die Regel ist. Ob hier der EuGH gewissermaßendie besagte rechtstechnische Schleife, die ich in der Sa-che für sinnvoll halte, weil sie die Gerichtsstandsverein-barung mit dem Hauptvertrag harmonisiert und weildie Parteien meistens ebenso denken, nachvollziehenwird, bleibt abzuwarten, weil das Europäische Kollisi-onsrecht gegenüber etwaigen Weiterverweisungen bis-her doch eher skeptisch war. Zu begrüßen wäre ein sol-ches Konzept aber.

III. KONKURRIERENDE RECHTSHÄNGIGKEIT

Die wesentliche Stärkung der Gerichtsstandsverein-barung folgt aus den nunmehr vorgesehenen Regelnüber die konkurrierende Rechtshängigkeit. Das gegen-wärtige System der Beachtung ausländischer Rechts-hängigkeit in Europa ist geprägt durch den striktenPrioritätsgedanken. Der EuGH geht erstens von einem– im Vergleich zum deutschen Recht – weiten Streit-gegenstandsbegriff aus. Es reicht aus, dass es mate-riell-rechtlich im Kern um dasselbe geht. Das führt ins-besondere dazu, dass Leistungsklagen und negativeFeststellungsklagen, die auf vorgreifliche Rechtsver-hältnisse zielen, denselben Gegenstand haben. Unddann, wenn das der Fall ist und ein Gericht früher inAnspruch genommen wird, dann hat das strikten Vor-rang. Das ist das gegenwärtige System.

Und weil es Mitgliedstaaten gibt, deren Justizsystem indem Ruf steht, eine lange Verfahrensdauer zu begüns-tigen, liegt hierin ein ernstes Problem, das man ins-besondere in Bezug auf Italien und Belgien erörterthat. Der EuGH hat ausdrücklich noch einmal 2003 ent-schieden: Die strikte Priorität nach der Brüssel I-VO giltauch bei überlanger Verfahrensdauer.17 Das Rege-lungsproblem vor dem man steht, ist: Die Rechtspre-chung des EuGH eröffnet die Möglichkeit, das Ver-fahren vor dem eigentlich zuständigen Gericht zuobstruieren. Ein derart möglicher „Torpedo“ kann aus-schließliche eindeutige Gerichtsstandsvereinbarungenkonterkarieren und den Rechtsschutz in die Länge zie-hen. Eine zusätzliche Absurdität besteht zudem darin,dass ein solcher Torpedo auch bei einem rein nationa-len Sachverhalt möglich ist.

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13 LAG Frankfurt, RIW/AWD 1982, 52.14 Dazu etwa Thomas Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Ge-rechtigkeit, 1995, S. 465.

15 Kritisch schon Schröder (Fn. 8) S. 216. Thomas Pfeiffer (Fn. 14). S. 459.

16 Trevor Hartley/Masato Dogauchi, Explanatory Report on the 2005 Hague Choiceof Court Agreements Convention, 2007, S. 43, Rdnr. 125.

17 EuGH, 9.12.2003, Rs C-116/02 Gasser GmbH/MISAT Srl, Slg. 2003, I-14721.

PFEIFFER, DER VORSCHLAG DER KOMMISSION ZUR REFORM DER BRÜSSEL I-VO

Das Problem ist, dass, sobald man diesen Mechanis-mus umdreht, statt der Gefahr der missbräuchlichenTorpedoklage die Gefahr der missbräuchlichen Beru-fung auf eine angebliche Gerichtsstandsvereinbarungbesteht: Eine Partei zaubert aus ihrer Schublade nie-mals kommunizierte AGB und versendet sie nachträg-lich, um alsdann zu behaupten, es gebe eine Gerichts-standsvereinbarung.18

Der Vorschlag versucht deswegen einen Mittelweg. Esgibt im Vorschlag in Art. 29 Abs. 2 einen Vorrang dervereinbarten ausschließlichen Zuständigkeit und esgibt eine Regelung, dass in sechs Monaten darüberentschieden werden soll. Außerdem gibt es eine Infor-mations- und Kooperationspflicht. Es ist im Prinzip derVersuch, das Unvereinbare miteinander vereinbar zumachen. Ich finde das in der Tat ein wenig besser alsdie radikale ausnahmslose zeitliche Priorität, die imMoment gilt.

IV. ABSCHAFFUNG DES EXEQUATUR-VERFAHRENS UND BESCHRÄNKUNG DERORDRE PUBLIC-KONTROLLE

Als ich diesen Teil des Vorschlags zum ersten Mal gele-sen habe, fiel mir sofort das berühmte Diktum von Ein-stein ein: „Alles soll so einfach wie möglich sein, aller-dings nicht einfacher.“ Die Frage ist, was hier der rich-tige Gradmesser für die anzustrebende Vereinfachungist? Dazu zunächst wiederum ein Blick auf das gegen-wärtige System der Brüssel I-VO. Gegenwärtig ist fürdie Urteilsanerkennung, nicht aber für die Vollstre-ckung, das Konzept automatischer Anerkennung kraftGesetzes maßgebend. Ein italienisches Urteil beispiels-weise gilt im Anwendungsbereich der Brüssel I-VOkraft Gesetzes mit allen seinen Wirkungen außer derVollstreckbarkeit, in Deutschland wie in jedem anderenMitgliedstaat. Nur die Vollstreckung setzt voraus, dassder Vollstreckungsstaat, eine Behörde oder ein Ge-richt, es für vollstreckbar erklärt. Dafür genügt aberbereits heute ein einseitiger Antrag einer Partei. Wennder Vollstreckungsschuldner Einwände hat, dann musser Rechtsmittel einlegen.

Anerkennung und Vollstreckung werden also verschie-den behandelt, weil ein konzeptioneller Unterschied zwi-schen beiden besteht. Traditionell stehen sich beider grenzüberschreitenden Urteilsanderkennung zweiGrundkonzeptionen gegenüber: Die sog. Wirkungserstre-ckungstheorie und die Nostrifizierungstheorie. Wirkungs-erstreckungstheorie heißt: ein Urteil hat im Ausland die-selbe Wirkung, die es auch im Urteilsstaat hat. Die imUrteilsstaat vorgesehenen Wirkungen werden ins Aus-land erstreckt. Die Nostrifizierungstheorie, die man lan-ge in Österreich zugrunde gelegt, besagt dagegen: Einausländisches Urteil, wenn es denn anerkannt wird, hatim Inland dieselben Wirkungen, wie ein inländisches.

Die Nostrifizierungstheorie kann eigentlich nicht richtigsein, weil es ja stets möglich ist dass ein Urteil im Ziel-staat weitergehende Wirkungen hat, als im Urteilsstaat.Zu diesen weiteren Wirkungen wurde aber im Erkenntnis-verfahren kein Gehör gewährt. Daher ist die Theorie vonder Wirkungserstreckung vorzugswürdig.

Für die Vollstreckbarerklärung muss aber bedacht wer-den, dass die Vollstreckung immer nach dem Vollstre-ckungsrecht des Zielstaates erfolgt und deswegenauch die Wirkungen eines Zielstaatsurteils, beschränktauf den Bereich der Vollstreckung, haben muss. Hierist also eine Nostrifizierung unvermeidlich. Deswegenbedarf es dort immer einer Zusatzprüfung, des Exequa-tur. Darin liegt ein Grund, warum wir die Anerkennungkraft Gesetzes, die Vollstreckung nur mit zusätzlicherinländischer Bestätigung zulassen. Außerdem spieltdie Souveränität eine Rolle. Ein ausländisches Urteilist ausländischer Hoheitsakt; er soll im Inland nurdann Zwangswirkungen entfalten, wenn eine deutscheBehörde ihr Einverständnis gegeben hat.

Jetzt soll das Exequaturverfahren abgeschafft werden.Das heißt: Im Ursprungsstaat vollstreckbare Entschei-dungen sollen auch in anderen Mitgliedstaaten kraftGesetzes vollstreckbar sein, und zwar ohne dass hier-für irgendeine Vollstreckbarerklärung erfolgen mussoder es sonst irgendeines Hoheitsaktes des Vollstre-ckungsstaates, also des Zielstaates, bedarf. Mit ande-ren Worten: Das bisherige Exequaturverfahren, das esin allen Mitgliedstaaten gibt, ist nicht mehr erforder-lich und die Mitgliedstaaten dürfen auch keines einfüh-ren oder aufrechterhalten. Der Kern des Exequaturver-fahrens ist bisher geregelt in der Brüssel I-VO selbst.Wenn das wegfällt, dürfen die Mitgliedstaaten auchkeine nationale Ersatzlösung einführen. Das bedeutet:Die Partei muss, wenn sie sich gegen die Vollstreckungeines ausländischen mitgliedstaatlichen Urteils zukünf-tig wenden will, aktiv dagegen vorgehen.

Schon bisher gibt es nur einen beschränkten Katalogvon Vollstreckungshindernissen. Manche soll man zu-künftig allerdings schon im Urteilsstaat geltend ma-chen. Andere können auch im Zielstaat geltend ge-macht werden. Die wesentliche Änderung ist aberinhaltlicher Art. Es soll keine materielle Ordre public-Kontrolle mehr geben. Der prozessuale Ordre publickann noch kontrolliert werden, aber nicht mehr dermateriell-rechtliche Ordre public. Nur für Fälle der Ver-letzung von Persönlichkeitsrechten und vergleichbarenRechten und kollektiven Rechtsverhältnissen, bleibteine materielle Ordre public-Kontrolle möglich.

Man kann spekulieren, warum man an dieser Ausnah-me festgehalten hat. Es gibt ja die These, dass manauf den Charakter einer Nation daraus Rückschlüsseziehen kann, welcher Art die Schimpfworte in dieser Na-tion üblich sind – das will ich nicht vertiefen. Jedenfallsist der wahre Grund hier nicht dieser, sondern der Um-stand, dass das materielle IPR in der Union durch RomI- und Rom II-Verordnung zwar vereinheitlicht ist, abernicht für diesen Bereich. Die Rom II-VO nimmt die be-sagten Bereiche von der Harmonisierung des IPR aus;

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18 Ausführliche Abwägung bei Matthias Weller, Hess/Pfeiffer/Schlosser (Fn. 1),Rdnr. 388 ff.

wohl deshalb hält man eine materielle Ordre publicKontrolle in diesem Bereich für weiterhin erforderlich.Die Abschaffung des Exequaturverfahrens beruht auffolgenden Zielen und Prinzipien: Der Vertrag über dieArbeitsweise der Europäischen Union sieht eben vor dieSchaffung eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Si-cherheit und des Rechts. So wie bayrische Urteile selbstim preußischen Potsdam gelten, soll auch die EU eineneinheitlichen Raum der Freiheit und Rechtssicherheit bil-den. Es gilt überall das Prinzip des gegenseitigen Ver-trauens und der gegenseitigen Anerkennung. Nun magman einwenden, ein wirklich gleichwertiges Vertrauenin die Justiz aller Mitgliedstaaten sei eine Illusion. Abersie ist jedenfalls offizielle Politik. Der Binnenmarkt setztdiese Freizügigkeit in jedem Fall voraus. Titulierte Forde-rungen sind, ökonomisch gesehen, ein property right.Ihre Funktion können sie nur entfalten, wenn sie überallim Binnenmarkt exklusiv gelten, was Urteilsfreizügigkeitfordert. Nur wenn Titel überall im Binnenmarkt geltenkann, kann ich z.B. titulierte Forderungen überall abtre-ten, damit also Handel treiben. Deswegen setzt der Bin-nenmarkt diese Freizügigkeit voraus.19

Die Abschaffung der materiellen Ordre public-Kontrol-le wirft gleichwohl erhebliche Probleme auf. DerEuGH hat in der Krombach-Entscheidung gesagt, derOrdre public werde zwar national definiert, aber dasEU-Recht verlangt, dass es um ein Prinzip von hinrei-chendem Gewicht geht.20 Insofern ist die materiell-rechtliche Ordre public-Kontrolle schon bislang sehrvorsichtig zu handhaben.

Für die Abschaffung spricht nun Folgendes: Herr Kolle-ge Hess und ich haben letztes Jahr eine Studie zur An-wendung der Ordre public-Kontrolle in den Mitglied-staaten durchgeführt.21 Wir mussten feststellen: Esgibt praktisch keine Fälle. Darauf beruht auch die Posi-tion des Entwurfs: Keine Fälle, kein Bedarf.

Doch gibt es nach wie vor politische, wirtschaftliche, so-ziale und ethische Unterschiede zwischen den Mitglied-staaten. Um es zugleich in schärfster Zuspitzung zuzeigen: Der Druck, die Verteilung und die Lieferungnationalsozialistischer Propaganda, ist in bestimmtenMitgliedstaaten erlaubt. In Deutschland sind das Strafta-ten. Man stelle sich vor, ein mitgliedstaatliches Gericht,deren Rechtsordnung den erstgenannten Standpunkt ein-nimmt, entscheidet gegen eine deutsche Partei nach ih-rem eigenen Recht über einen solchen Liefervertrag undspricht einen Lieferanspruch zu. Soll dieser nun inDeutschland vollstreckbar sein, obwohl die Vornahmeder geschuldeten Handlung – Erfüllung des Liefer-anspruchs, nicht die Zahlung, diese ist unproblematisch– eine Straftat darstellt? Das kann nicht funktionieren.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Gegenstände, derenLieferung in einen Mitgliedstaat erlaubt und in einemanderen eine Straftat darstellt. Außerdem fällt dasganze Arbeitsrecht unter Brüssel I. Auch in diesem Be-reich sind Fälle zu erwarten, in denen für den Ordrepublic Anwendungsbedarf besteht.

Dann gibt es noch Konstellationen in Dreiecksverhält-nissen unter Einbeziehung von Drittstaaten. Der Ent-wurf steht auf dem Standpunkt, wir brauchten keineOrdre public-Kontrolle, denn wir haben ja ein einheitli-ches IPR und nur dort, wo wir kein einheitliches IPR ha-ben, brauchten wir ausnahmsweise eine Kontrolle.

Das berücksichtigt allerdings nicht hinreichend, dasses Dreieckskonstellationen gibt: Ein Deutscher und einAmerikaner schließen einen Vertrag nach dem Rechtder USA bzw. eines US-Bundesstaates. Sie einigen sichauf ein neutrales Gericht in England. Dort wird verhan-delt und entschieden. Und das englische Gericht wirddas amerikanische Recht anhand seines Ordre publicprüfen, aber nicht nach unserem Ordre public. Undwenn Deutschland das englische Urteil ohne Ordre pu-blic-Kontrolle anerkennen muss, besteht eine offeneFlanke. Das sehen Sie an folgendem Beispiel:

Das Recht der USA kennt das Rechtsinstitut des Straf-schadensersatzes. Nach unserem Dafürhalten sind exor-bitante Strafschadensersatzurteile und auch Vorschrif-ten, die sie tragen, mit dem Ordre public in Deutschlandunvereinbar.22 So sieht es der BGH – und das halte ichselbst auch für zutreffend. Das englische Recht kenntnun selbst zwar keine punitive damages, aber sieht in ih-rer Zuerkennung auch keinen Ordre public-Verstoß. Mitanderen Worten: Es sind englische Urteile auf derGrundlage des US-amerikanischen Rechts zum Straf-schadensersatz denkbar, die alsdann ohne Ordre public-Kontrolle in Deutschland vollstreckt werden müssen. DieVereinheitlichung des IPR ist ohne Vereinheitlichung desmateriellen Ordre public stets unvollkommen. Für eineVereinheitlichung des Ordre public fehlen indessen dieVoraussetzungen. Auf eine materielle Ordre public-Kon-trolle kann daher bei der prozessualen Urteilsanerken-nung einstweilen nicht verzichtet werden.

V. POST SCRIPTUM

Einige der Vorschläge der ursprünglichen Vorschlägeder Kommission, wie sie diesem Vortrag zugrundela-gen und zum Teil kritisiert wurden, sind in der Zwi-schenzeit wohl aufgegeben oder geändert worden.23

Für die Schiedsgerichtsbarkeit bleibt es weitgehendbei der bisherigen Rechtslage; auf die Einführung einerVermögens- und Notzuständigkeit sowie auf die weit-gehende Abschaffung der materiellen Ordre public-Kontrolle wird verzichtet.

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19 Pfeiffer (Fn. 14), S. 349.20 EuGH, 28.3.2000, C-7/98, Krombach ./. Bamberski, Slg. 2000, I-1935, Tz. 21 ff.21 Hierzu und zum Folgenden mit Nachweisen und weiteren Beispielen BurkhardHess/Thomas Pfeiffer, Interpretation of the Public Policy Exception as referred toin EU Instruments of Private International and Procedural Law, 2011, pp.164–167, http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/juri/2011/453189/IPOL-JURI_ET%282011%29453189%28PAR01%29_EN.pdf, 11.6.2012 (die englische Fassung ist die Originalversion; die deutsche Fassung wurdevom Übersetzungsdienst des Parlaments angefertigt).

22 BGHZ 118, 312.23 Siehe dazu das auf der Rastsitzung der Innen- und Justizminister am 7.6.2012behandelte Dokument: http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/12/st10/st10609-ad01.en12.pdf, 16.6.2012.

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PROZESSUALE WAFFENGLEICHHEIT DURCHPARTEIVERNEHMUNGVORSITZENDER RICHTER AM LG BJÖRN RETZLAFF UND RA DR. BERNHARD VON KIEDROWSKI, BERLIN

Nach einem viel beachteten Urteil des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte1 zur prozessualenWaffengleichheit im Zivilprozess ist ein Gericht unterbestimmten Umständen verpflichtet, im Rahmen derBeweisaufnahme eine Partei auch dann zu vernehmenoder anzuhören, wenn das nationale Zivilprozessrechtdies nicht vorsieht. Die deutschen Gerichte haben sichdieser Rechtsprechung angeschlossen und sie fort-geführt, insbesondere mit Blick auf sog. Vier-Augen-Ge-spräche. Dabei fasst das Bundesarbeitsgericht den An-spruch auf Parteivernehmung weiter als BVerfG undBGH. Der folgende Beitrag untersucht Umfang undGrenzen dieser Pflicht zur Parteianhörung oder -Ver-nehmung, die dem Wortlaut der ZPO nicht entnommenwerden kann.

I. DIE VERFASSUNGSRECHTLICH GEBOTENEVERNEHMUNG ODER ANHÖRUNG DER PARTEI

1. SKEPSIS GEGENÜBER DER PARTEIVERNEHMUNGUnter den Beweismitteln der ZPO nimmt der Antragauf Parteivernehmung eine Sonderstellung ein. Das Ge-setz steht der Vernehmung einer Partei über eine um-strittene Tatsache skeptisch gegenüber. Da eine Partei„Zeuge in eigener Sache“ ist, besteht die Gefahr, dassihre Aussage von ihrem Interesse am Prozessausgangbeeinflusst ist und damit dem Ziel der Beweisaufnah-me widerspricht, die Wahrheit über den streitigenSachverhalt herauszufinden.2 Natürlich kann auch einZeuge ein Interesse an einem bestimmten Ergebnis ei-nes Rechtsstreits haben. Die ZPO nimmt hier aber zu-lässigerweise eine generalisierende Sichtweise ein.3

Das abstrakte Risiko einer interessegeleiteten und da-mit nicht der Wahrheit entsprechenden Aussage istbei der Vernehmung einer Partei sicherlich höher alsbei der Vernehmung eines Zeugen.

Aus diesem Grund regelt die ZPO, dass der Beweisan-tritt einer Partei, sie selbst zum Beweis einer umstritte-nen Behauptung zu vernehmen, für das Gericht nichtbindend ist. Gem. § 447 ZPO ist ihm nur mit dem Ein-

verständnis der Gegenseite nachzukommen. Die in§ 448 ZPO geregelte – und im Verhältnis zu anderenmöglichen Beweiserhebungen subsidiäre – Parteiver-nehmung von Amts wegen setzt voraus, dass bereitsein sog. „Anfangsbeweis“ für die zu beweisende Be-hauptung spricht. Ein solcher ist nur dann anzuneh-men, wenn die auf der Grundlage des bisherigen Par-teivortrags und einer eventuell durchgeführten Beweis-aufnahme getroffene richterliche Gesamtwürdigung zudem Ergebnis gelangt, dass von einer gewissen Wahr-scheinlichkeit für die Richtigkeit der streitigen Tatsa-chenbehauptung auszugehen ist. Es muss auf Grund-lage der heranzuziehenden Beweise, des bisherigenProzessverhaltens der Parteien, allgemeiner Erfah-rungssätzen, der Persönlichkeit der Parteien sowie derunstreitigen Indizien mehr für als gegen das Vorliegender behaupteten Tatsache sprechen.4 Ohne das Hin-zutreten weiterer Umstände trägt eine bloße Tatsa-chenbehauptung für sich allein keinen solchen „An-fangsbeweis“ für ihre eigene Richtigkeit in sich.5

2. DIE „FAIRE BALANCE“ ZWISCHEN DEN PARTEIENWährend diese Regelungen das Ziel verfolgen, das Ge-richt davon zu entbinden, eine Partei im Rahmen derBeweisaufnahme zu vernehmen, verstößt nach demEGHMR6 und dem BVerfG7 unter bestimmten Umstän-den genau dies gegen das Recht der Partei auf prozes-suale Waffengleichheit und auf rechtliches Gehör.

Nach der entscheidenden Passage in dem Urteildes EGHMR muss in einem Rechtsstreit eine „‚faireBalance‘ zwischen den Parteien“ bestehen. Dies ver-langt, dass jeder Partei die Möglichkeit eingeräumtwerden muss, „ihren Fall – einschließlich ihrer Zeugen-aussage – vor Gericht unter Bedingungen zu präsentie-ren, die für diese Partei keinen substanziellen Nachteilim Verhältnis zu ihrem Prozessgegner bedeuten.“8

In dem vom EGHMR zu entscheidenden Fall ging esum den Inhalt eines Gesprächs zwischen dem Ge-schäftsführer der beweisbelasteten Klägerin und einembei der Beklagten angestellten Mitarbeiter, der als Zeu-ge benannt war. Das Ausgangsgericht vernahm in derBeweisaufnahme lediglich den Zeugen der Beklagtenund lehnte eine Vernehmung des Geschäftsführers1 Urt. v. 27.10.1993 – 37/1992/382/460, NJW 1995, 1413.

2 Prütting, Prütting/Gehrlein, Zivilprozessordnung, Kommentar, 3. Aufl., 2011, vor§§ 445 ff., Rdnr. 1; Schreiber, MünchKommZPO, Zivilprozessordnung, Kommentar,3. Aufl., 2008, § 445, Rdnr.1; Geimer/Greger, Zöller, Zivilprozessordnung, Kom-mentar, 28. Aufl., 2010, Vor § 445, Rdnr. 5.

3 Vgl hierzu die beiden abweichenden Stellungnahmen der Richter Martens undPettiti zum Urt. des EGHMR, NJW 1995, 1413 (1414 f.): „Da die oben genannteRegel [Anm.: nämlich das Verbot der Vernehmung der beweisbelasteten Partei]auf der unwiderlegbaren Vermutung beruht, dass eine Aussage, die ein „Zeuge ineigner Sache“ gibt, nicht vertrauenswürdig ist, liefern die unterschiedlichen Rollendes Herrn van W und van Reijendam [Anm.: Geschäftsführer der beweisbelaste-ten Partei] eine entscheidende und ausreichende Erklärung– weshalb ihnennicht beiden erlaubt werden sollte, als Zeugen auszusagen.“

4 BGH, Urt. v. 5.7.1989 – VIII ZR334/88, NJW 1989, 3222 (3223); Urt. v. 16.7.1998 – I ZR 32/96, NJW 1999, 363 (364); Urt. v. 19.2.2002 – V ZR 90/01, NJW2002, 2247 (2249); Greger, Zöller, Zivilprozessordnung, Kommentar, 28. Aufl.,2010, § 448, Rdnr. 4; Schreiber, MünchKommZPO, Zivilprozessordnung, Kom-mentar, 3. Aufl., 2008, § 448, Rdnr.33; Prütting, Prütting/Gehrlein, Zivilprozess-ordnung, Kommentar, 3. Aufl., 2011, vor §§ 445 ff., Rdnr. 1.

5 BGH, Urt. v. 5.7.1989 – VIII ZR334/88, NJW 1989, 3222 (3223).6 Urt. v. 27.10.1993 – 37/1992/382/460, NJW 1995, 1413.7 Beschl. v. 21.2.2011 – 2 BvR 140/00, NJW 2001, 2531.8 Urt. v. 27.10.1993 – 37/1992/382/460, NJW 1995, 1413 (Rdnr. 33).

RETZLAFF/VON KIEDROWSKI, PROZESSUALE WAFFENGLEICHHEIT DURCH PARTEIVERNEHMUNG

der Klägerin als unzulässige Parteivernehmung ab.Nach Auffassung des EGHMR verstößt dies gegenden aus Art. 6 EGMR9 abgeleiteten Grundsatz der pro-zessualen Waffengleichheit. Da auch die beweisbelas-tete Partei (bzw. deren Geschäftsführer) bei demmündlichen Gespräch Wahrnehmungen zu dem betref-fenden Vorgang gemacht hat und ihr keine anderenBeweismittel zur Verfügung standen, musste ihr dieMöglichkeit eingeräumt werden, diese Wahrnehmun-gen ebenfalls dem Gericht „präsentieren“ zu können,damit sie bei der anschließenden Beweiswürdigung be-rücksichtigt werden können.10

Die deutschen Gerichte haben sich dieser Rechtspre-chung angeschlossen und gehen ebenfalls davon aus,dass eine Partei unter bestimmten Voraussetzungenvon einem Zivilgericht im Zuge der Beweisaufnahmeangehört oder vernommen werden muss. Das BVerfGleitet dieses Recht der Partei eines Zivilprozesses ausArt. 103 Abs. 1 und aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20Abs. 3 GG ab.11 Hieraus ergibt sich die Pflicht des Ge-richts, die Richtigkeit bestrittener Tatsachen nicht ohnehinreichende Prüfung zu bejahen. Zugleich müssen dieParteien eines Zivilprozesses die Möglichkeit haben,sich im Rechtsstreit nicht nur mit rechtlichen, sondernauch mit tatsächlichen Argumenten zu behaupten.Mit Blick auf etwaige eigene Wahrnehmungen der Par-teien muss jeder von ihnen eine „vernünftige Möglich-keit eingeräumt werden, ihren Fall – einschließlich ih-rer Aussage – vor Gericht unter Bedingungen zu prä-sentieren, die für sie keinen wesentlichen Nachteilgegenüber ihrem Gegner darstellen.“12

Auch der BGH und das BAG haben in einer Reihe vonEntscheidungen ein Recht der Partei angenommen,ihre Wahrnehmungen zu einer streitigen Tatsache inder Beweisaufnahme zu „präsentieren“, sodass dasGericht sie würdigen muss.13

3. DIE UMSETZUNG DES RECHTS AUF PARTEIVERNEH-MUNGDabei besteht Einigkeit, dass es weder der Anspruchauf rechtliches Gehör noch der Grundsatz der prozes-sualen Waffengleichheit gebieten, die zeugenlose Par-tei nach §§ 445ff. ZPO förmlich zu vernehmen. Viel-mehr genügt es, wenn die Partei zu der betreffendenProblematik gem. § 141 ZPO angehört wird.14 Zwarist die Parteianhörung nach § 141 ZPO kein Beweismit-

tel i.S.d. ZPO, sodass ein dahingehender Antrag grund-sätzlich keinen wirksamen Beweisantritt darstellt.15 DieAngaben der Partei in einer – möglicherweise auch nurvon Amts wegen – durchgeführten Anhörung könnenaber genauso wie eine Parteivernehmung der Beweis-würdigung unterzogen werden.16 Damit ist dem Rechtder Partei auf prozessuale Waffengleichheit auchdurch eine Anhörung genüge getan.

War die zeugenlose Partei in der Beweisaufnahme zu-gegen, kann es sogar bereits ausreichen, wenn siedort oder im anschließenden Termin die Gelegenheithatte, durch eine Wortmeldung nach § 137 Abs. 4ZPO ihre Sicht der Dinge vor Gericht darzustellen.17

Ob die Möglichkeit zu Wortmeldung und Zeugenbefra-gung auch über die vom BVerfG und BGH entschiede-nen Einzelfälle hinaus ausreicht, um den Anspruch ei-ner zeugenlosen Partei zu erfüllen, ihre Wahrnehmun-gen vor Gericht zu präsentieren erscheint fraglich.18

Man denke daran, wie leicht in der Aufmerksamkeitdes Gerichts die an einen Zeugen gestellte Frage durchseine Antwort in den Hintergrund gedrängt werdenkann oder wie oft nähere Erläuterungen eines Fragen-den durch das Gericht oder die Gegenseite mit der Er-mahnung kommentiert werden, er solle an den Zeugennur Fragen richten und keine Stellungnahmen abgeben.

Da aber jedenfalls Parteivernehmung nach §§ 445 ff.ZPO und Parteianhörung nach § 141 ZPO beide glei-chermaßen geeignet sind, den prozessualen Rechteneiner zeugenlosen Partei Geltung zu verschaffen, wer-den im Folgenden die Begriffe „Recht auf Parteiverneh-mung“ und „Recht auf Parteianhörung“ synonym ver-wendet.19

4. WANN BESTEHT DER ANSPRUCH AUF PARTEIVER-NEHMUNG?Die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt indessenkeineswegs, dass ein Zivilgericht jedem Antrag einerzeugenlosen Partei auf ihre Vernehmung nachzukom-men hätte. Vielmehr gilt nach wie vor der aus § 447und § 448 ZPO zu entnehmende Grundsatz, dass dasGericht einen solchen Antrag in der Regel nicht befolgenmuss.20 Die im Gefolge des Urteils des EGHMR ergange-nen Entscheidungen modifizieren diesen Grundsatz le-diglich für bestimmte Fallkonstellationen.

BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK | AUFSÄTZE

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9 Art. 6 Abs. 1 EGMR: „Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache inbilliger Weise… gehört wird…“.

10 Urt. v. 27.10.1993 – 37/1992/382/460, NJW 1995, 1413 (1414, Rdnr. 35):„Während der hier interessierenden Unterredung verhandelten Herr vanReijendam und Herr van W auf gleicher Grundlage, beide waren zu denVerhandlungen von ihrer jeweiligen Partei befugt. Es ist daher schwierigeinzusehen, warum ihnen nicht auch beiden die Gelegenheit gegebenworden ist, als Zeuge auszusagen“.

11 BVerfG, Beschl. v. 21.2.2001 – 2 BvR 140/00, NJW 2001, 2531; Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170.

12 Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170.13 BGH, Urt. v. 23.4.2008 – XII ZR 195/06, NJW-RR 2008, 1086; Urt. v. 27.9.2005 –XI ZR 216/04, MDR 2006, 285; Beschl. v. 25.9.2003 – III ZR 384/02, NJW 2003,3636; Beschl. v. 11.2.2003 – XI ZR 153/02, MDR 2003, 647; BAG, Urt. v. 19.11.2008 – 10 AZR 671/07, NJW 2009, 1019; Beschl. v. 22.5.2007 – 3 AZN1155/06, NJW 2007, 2427.

14 BVerfG, Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170; BGH, Urt. v.27.9.2005 – XI ZR 216/04, MDR 2006, 285; Beschl. v. 25.9.2003 – III ZR 384/02,MDR 2004, 227.

15 BGH, Urt. v. 3.7.1967 – VII ZR 48/65, MDR 1967, 312.16 Tatsächlich ist der gesamte Akteninhalt der Beweiswürdigung zugänglich.17 BVerfG, Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170; BGH, Urt. v.23.4.2008 – XII ZR 195/06, NJW-RR 2008, 1086.

18 In dem durch das BVerfG zu entscheidenden Fall kam hinzu, dass die nicht ver-nommene zeugenlose Partei ihre Vernehmung oder Anhörung nicht beantragthatte, im Fall des BGH kamen weitere objektive Umstände hinzu, auf die dasGericht die Beweiswürdigung gestützt hatte – vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 25.9.2003 – III ZR 384/02 und unten Ziff. 2.f).

19 In jedem Fall muss eine Partei ihre Vernehmung oder Anhörung aber beantragen,es besteht keine Pflicht des Gerichts, sie von Amts wegen durchzuführen, vgl.BVerfG, Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170, so zuletzt auchOLG Oldenburg, Beschl. v. 7.4.2010 – 5 U 98/09, MDR 2010, 1078.

20 Die Literatur geht teilweise weiter, vgl. z.B. Leipold, a.a.O., § 448 ZPO, Rdnr. 32m.w.N.; Überblick über das Meinungsbild bei Laumen, in: § 18, Rdnr. 5 m.w.N.

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Der vorliegende Beitrag untersucht, unter welchen Vo-raussetzungen die Partei eines Zivilprozesses ihre Ver-nehmung nun beanspruchen kann und unter welchennicht. Dabei kommt dem Umstand besondere Bedeu-tung zu, dass EGHMR, BVerfG und BGH das Rechtauf Parteivernehmung zwar auch mit dem Anspruchauf rechtliches Gehör begründen, es aus Sicht der Ver-fasser aber primär aus einem verfassungsrechtlichenGleichstellungsgebot herleiten (Art. 6 EMRK bzw.Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Dies wird inder zitierten Äußerung des BVerfG deutlich, wonachjede Partei die Möglichkeit haben muss, ihren Fall „oh-ne wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner“ zupräsentieren.21 Das Recht auf Parteivernehmung sollder betroffenen Partei also ein „Gleichziehen“ ermögli-chen und setzt folglich ein „Ungleichgewicht“ in derBeweisaufnahme voraus.Im Folgenden wird deshalb dieses „Ungleichgewicht“,das die Voraussetzung für den prozessualen Anspruchder Partei darstellt, zu charakterisieren sein. Dabeiwird sich als entscheidende Voraussetzung für den An-spruch auf Parteivernehmung ergeben, dass sich diebetreffende Partei in einem „Beweisnotstand“ befin-det.22 Ein solcher Beweisnotstand liegt aber nichtschon dann vor, wenn eine Partei für eine von ihr zu be-weisende Tatsache (außer ihrer eigenen Vernehmung)kein Beweismittel benennen kann. Solche Beweislosig-keit kann ebenso Ausdruck eines allgemeinen Prozess-risikos sein und verlangt dann kein Abrücken von derin § 447 und § 448 liegenden Grundentscheidung desGesetzgebers.23 Auf der anderen Seite kann ein An-spruch auf Parteivernehmung wegen eines „prozessua-len Ungleichgewichts“ nicht zwangsläufig davon ab-hängen, dass über ein sog. Vier-Augen-Gespräch Be-weis erhoben wird, auch wenn dieses Schlagwort indiesem Kontext oft verwendet wird. Ebensowenig hängtder Anspruch auf Parteivernehmung davon ab, ob diezu vernehmende Partei für die streitige Tatsache dieBeweislast trägt oder ob sie auf der Gegenseite der be-weisbelasteten Partei steht. Das Ziel der folgenden Aus-führungen ist es, das den Anspruch auslösende prozes-suale Ungleichgewicht näher darzustellen.

II. ANHÖRUNG ODER VERNEHMUNG DERNICHT BEWEISBELASTETEN PARTEI

1. „GLEICHZIEHEN“ MIT DER GEGENSEITE, DIE ÜBEREINEN ZEUGEN VERFÜGT

FALL 1:Die Klägerin – ein Bauunternehmen – nimmt einenBauherrn auf die Vergütung von Malerarbeiten in

Anspruch. Sie stellt eine teurere Tapete in Rechnungals im schriftlichen Vertragsangebot vorgesehenund behauptet, der Beklagte habe dies bei einemspäteren Gespräch auf der Baustelle gegen Über-nahme der Mehrkosten gegenüber ihrem Mitarbei-ter M in Auftrag gegeben. Der Beklagte bestreitetdies. Die beweisbelastete Klägerin benennt den Mit-arbeiter M als Zeugen, den das Gericht auch ver-nimmt. M bestätigt den Vortrag der Klägerin. DerBeklagte beantragt seine Vernehmung als Partei.Muss das Gericht dem nachkommen?

Hier handelt es sich um den Standardfall, in dem einAnspruch auf Parteivernehmung besteht. Der Beklag-te kann zu dem streitentscheidenden Beweisthemakeine Zeugen benennen, hat aber selbst Wahrneh-mungen zu diesem Vorgang gemacht. Nach dem Ge-bot der prozessualen Waffengleichheit und dem desrechtlichen Gehörs darf es das Gericht dem Beklagtenin dieser Situation nicht versagen, diese Wahrneh-mungen in den Prozess einzuführen und muss sichauch im Rahmen der Beweiswürdigung hiermit aus-einandersetzen. Wie bereits ausgeführt, muss der Be-klagte nicht zwingend als Partei vernommen wer-den. Es ist ausreichend, wenn ihn das Gericht gem.§ 141 ZPO anhört. In jedem Fall ist das Gericht inder Beweiswürdigung frei (§ 286 ZPO). Das bedeutet,dass es die Aussage eines Zeugen durch das Ergebnisder Parteianhörung als erschüttert ansehen oder so-gar anstelle des Zeugen der angehörten Partei Glau-ben schenken kann.24 Im vorliegenden Fall müsstedas Gericht in diesen beiden Varianten die Klage ab-weisen.

2. VERNEHMUNG EINES UNBETEILIGTEN ZEUGEN

FALL 2:Wie Fall 1. Das umstrittene Gespräch über die Ver-legung der teureren Tapete führten der Geschäfts-führer der Klägerin und der Beklagte. Der ZeugeZ, der dieses Gespräch mitgehört hat, war – an-ders als im Fall 1 – kein Angestellter der Klägerin,sondern eines ebenfalls auf der Baustelle arbeiten-den Drittunternehmens. Die Klägerin benennt Z, erwird vernommen und bestätigt den Vortrag derKlägerin. Der Beklagte beantragt seine Verneh-mung als Partei.

Es fragt sich, ob die Gebote der Waffengleichheit undder Gewährung rechtlichen Gehörs auch hier die Ver-nehmung oder Anhörung des Beklagten verlangen.Eine formale Betrachtung könnte dafür sprechen: DieKlägerin konnte einen Zeugen benennen, der ihre Ver-sion bestätigte. Dem Beklagten stehen keine Zeugenzur Verfügung, dafür hat er eigene Wahrnehmungenzu dem Vorgang machen können. Andererseits ist

AUFSÄTZE | BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK

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21 Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170, Rdnr. 15.22 So z.B. BVerfG, a.a.O., Rdnr. 16; BGH, Urt. v. 19.4.2002 – V ZR 90/01, BGHZ 150,334.

23 Vgl. BGH, Urt. v. 23.4.2008 – XII ZR 195/06, NJW-RR 2008, 1086; BGH, Urt. v.19.4.2002 – V ZR 90/01, BGHZ 150, 334; Urt. v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, NJW1989, 3222: OLG Schleswig, Beschl. v. 28.2.2011 – 5 U 112/01; OLG Frankfurt,Beschl. v. 6.8.2011 – 19 U 127/10; OLG Celle, Urt. v. 29.4.2010 – 11 U 188/09.

24 BGH, Beschl. v. 25.9.2003 – III ZR 384/02, NJW 2003, 3636; Urt. v. 16.7.1998 –I ZR 32/96, NJW 1999, 363.

der vernommene Zeuge Z kein Mitarbeiter der Kläge-rin, steht also prima facie – die genaue Beziehungzwischen Parteien und Zeugen bleibt dem Gerichthäufig unklar – nicht in „ihrem Lager“. Gleichwohlhat der Zeuge aber die klägerische Sichtweise desstreitigen Vorgangs bestätigt. Der Beklagte hingegenhatte bislang keine Möglichkeit, seine Tatsachen-version dem Gericht durch ein Beweismittel zu prä-sentieren.

Diese Fallkonstellation gibt Anlass, sich näher mit demBegriff der Beweisnot zu beschäftigen, der nach derhier vertretenen Auffassung die entscheidende Voraus-setzung für einen Anspruch auf Parteivernehmung ist.Beweisnot ist eine prozessuale Sondersituation. Sie istnicht gleichzusetzen mit Beweislosigkeit. Damit ist Be-weisnot nicht bereits dann gegeben, wenn einer Parteifür den Beweis ihrer Tatsachenversion außer ihrer Ver-nehmung kein Beweismittel zur Verfügung steht – einesolche Situation ist ein allgemeines Prozessrisiko, dasdie ZPO in § 447 und § 448 bewusst in Kauf nimmt,sodass diese Vorschriften nicht generell von der Recht-sprechung modifiziert werden können.25

Grund für die in § 447 und § 448 ZPO zum Ausdruckkommende Wertung ist aber wie dargelegt, dass dasGesetz skeptisch gegenüber der Verlässlichkeit derAussage einer Partei ist. Diese Wertung ist im Grund-satz zu akzeptieren. Problematisch wird sie dort, wodas Gericht bereits einen Zeugen vernommen hat,der von seiner formalen Stellung her zwar Zeuge ist,bei dem eine vernünftig abwägende Gegenparteiaber Anlass zu der Befürchtung hat, dass seine Aus-sage – genau wie die Aussage einer Partei – interes-sengeleitet gewesen sein könnte. Das ist dann derFall, wenn der Zeuge aus dem „Lager“ der Gegenpar-tei stammt, also in einer persönlichen oder berufli-chen Nähebeziehung zu ihr steht (Ehe, Verwandt-schaft, Anstellung, u.Ä.). In einem solchen Fall ist esnicht mehr hinnehmbar, einer Partei aus Sorge umein neutrales Ergebnis der Beweisaufnahme gem.§ 447, § 448 ZPO ihre Vernehmung zu verweigern.Vielmehr muss die Partei nun durch die „Präsentati-on“ ihrer Wahrnehmungen „gleichziehen“ können.

Es kommt also entscheidend darauf an, ob in demRechtsstreit bislang nur Beweismittel erhoben wordensind, die aus Sicht einer vernünftig denkenden Partei„potentiell interessengeleitet“ waren.26 Ist das nichtder Fall, sondern kann sich das Gericht nach der bishe-rigen Beweisaufnahme auch auf Beweismittel stützen,die „neutral“ sind, besteht kein Bedürfnis nach einerParteivernehmung zur Herstellung der Waffengleich-heit. Es bleibt dann bei den allgemeinen Regeln der§ 447, § 448 ZPO.27

Im Fall 2 ist der Beklagte daher nicht als Partei zu ver-nehmen. Der vernommene Zeuge Z steht nicht partei-ähnlich im Lager der Gegenseite. Aus der Benennungdes Zeugen durch die Gegenseite, kann dies nicht ge-folgert werden. Meint der Beklagte, der Zeuge seidem „Lager“ der Gegenseite zuzurechnen, obliegt esihm, dies näher darzulegen, da dem Gericht einesolche Nähebeziehung – anders wenn etwa der Ehe-gatte einer Partei vernommen wird – in der Regelnicht erkennbar ist. Beispielsweise müsste der Beklag-te belegen, dass der Zeuge mittlerweile nicht mehrbei einem Dritten, sondern bei der Gegenpartei ange-stellt ist.

Die Beweisnot, bei der eine zeugenlose Partei ihreVernehmung beanspruchen kann, lässt sich also wiefolgt definieren: Nach dem aktuellen Stand der Be-weisaufnahme wird sich das Gericht in der Beweis-würdigung im Wesentlichen nur auf die Angabeneines Zeugen stützen, bei dem die zeugenlose ParteiAnlass zu der Befürchtung hat, dass er aufgrundeiner Nähebeziehung zur Gegenpartei nicht neutralist.

3. KEINE VIER AUGEN, KEIN GESPRÄCHDer Umstand, dass an dem Gespräch im Fall 2 dreiPersonen teilgenommen haben, es sich also nicht umein Vier-Augen-Gespräch gehandelt hat, steht dem An-spruch des Beklagten auf Parteivernehmung allerdingsnicht entgegen. Entscheidend ist nicht die Anzahl derGesprächsteilnehmer, sondern der Umstand, dass allemit Ausnahme der ihre Vernehmung beantragendenPartei dem „Lager“ der Gegenseite zuzurechnen sind.Ist eine Partei in diesem Sinne zeugenlos, muss es un-erheblich sein, ob das „Lager“ der Gegenseite nur auseinem Zeugen oder auch der Gegenpartei bzw. nochweiterer Zeugen besteht. In all diesen Fällen hat diezeugenlose Partei wie im Fall 1 – wenn nicht sogarnoch stärker – das Bedürfnis, gegenüber den Aus-sagen der Beweispersonen der Gegenseite ihre eigeneSicht der Dinge zu präsentieren.

Ebensowenig, wie es darauf ankommen kann, dass(insgesamt) nur vier Augen Wahrnehmungen zum Be-weisthema gemacht haben, kann es entscheidendsein, dass es sich bei ihm um ein Gespräch handelt.Zwar ist in der Rechtsprechung der Anspruch auf Par-teivernehmung ganz überwiegend nur im Zusammen-hang mit „Vier-Augen-Gesprächen“ anerkannt wor-den, auch bei anderen Beweisthemen kann sich einePartei nach der Aussage eines der Gegenseite nahe-stehenden Zeugen aber in der Lage befinden, dassnur durch die Einführung ihrer Wahrnehmungen indie Beweisaufnahme eine „faire Balance“ hergestelltwerden kann.28

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25 Vgl. BGH, Urt. v. 23.4.2008 – XII ZR 195/06, NJW-RR 2008, 1086; BGH, Urt. v.19.4.2002 – V ZR 90/01, BGHZ 150, 334; Urt. v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, NJW1989, 3222; OLG Schleswig, Beschl. v. 28.2.2011 – 5 U 112/01; OLG Frankfurt,Beschl. v. 6.8.2011 – 19 U 127/10; OLG Celle, Urt. v. 29.4.2010 – 11 U 188/09.

26 BGH, Urt. v. 27.9.2005 – XI ZR 216/04, MDR 2006, 285; Beschl. v. 11.2.2003 –XI ZR 153/02, MDR 2003, 647.

27 BGH, Urt. v. 23.4.2008 – XII ZR 195/06, NJW-RR 2008, 1086; Urt. v. 19.4.2002 –V ZR 90/01, BGHZ 150, 334; Urt. v. 27.9.2005 – XI ZR 216/04, MDR 2006, 285;Beschl. v. 11.2.2003 – XI ZR 153/02, MDR 2003, 647.

28 Einen anderen Vorgang als ein Gespräch, nämlich die Frage des „eigenmächtigenHandelns“ einer Person betrifft offenbar BGH, Beschl. v. 11.2.2003 – XI ZR153/02, MDR 2003, 647.

III. ANHÖRUNG/VERNEHMUNG DERBEWEISBELASTETEN PARTEI

1. PARTEIVERNEHMUNG OHNE VORANGEGANGENEVERNEHMUNG EINES ZEUGEN?

FALL 3:Die Klägerin, eine GmbH, macht gegen die BeklagteAnsprüche aus einem Bauvertrag geltend. DenAuftrag habe der Mitarbeiter M der Beklagten demGeschäftsführer der Klägerin mündlich in einemGespräch erteilt. Die Beklagte bestreitet dies. ZumBeweis der Auftragserteilung beruft sich die Kläge-rin auf die Vernehmung oder Anhörung ihres Ge-schäftsführers. Muss das Gericht dem nachkom-men?

Nein. Das Gericht ist nicht zu einer Vernehmung derKlägerin als Partei verpflichtet – und wohl nicht einmalberechtigt. Für eine Vernehmung nach § 447 ZPO fehltes an dem Einverständnis der Beklagtenseite, um des-sen Einholung sich nicht das Gericht kümmern muss,sondern das ggf. vom Beweisführer einzuholen undvorzutragen ist.29 Eine Vernehmung von Amts wegengem. § 448 ZPO setzt die bereits erwähnte „Anfangs-wahrscheinlichkeit“ zugunsten der Version der zu ver-nehmenden Partei voraus. Dafür gibt es hier vor Be-weisaufnahme30 keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist derVortrag beider Parteien vor der Beweisaufnahme imZweifel gleichermaßen wahrscheinlich.31

Nach Auffassung des BAG hingegen müsste das Ge-richt dem Antrag der Klägerin nachkommen. DasBAG hat wiederholt entschieden, dass bei umstrittenenGesprächen zwischen den Parteien die beweisbelaste-te Partei dadurch Beweis antreten kann, dass sie ihreeigene Anhörung oder Vernehmung beantragt.32 DieseRechtsprechung lässt nach Meinung der Verfasseraber außer Acht, dass der Anspruch auf Parteiverneh-mung primär aus dem Grundsatz der prozessualenWaffengleichheit gewonnen wird und ein Ungleichge-wicht in der bisherigen Beweisaufnahme voraussetzt.Ist – wie hier – noch gar nicht Beweis erhoben worden,befindet sich der Kläger nicht in der von EGHMR undBVerfG beschriebenen Situation, dass er gegenüberder Gegenseite benachteiligt wäre und nun „gleichzie-hen“ müsste.33 Als beweisbelastete Partei für einenUmstand keinen Beweisantritt liefern zu können, istkein prozessuales Ungleichgewicht, sondern eine übli-che Folge des Beibringungsgrundsatzes. Der Recht-sprechung von EGHMR und BVerfG kann nicht ent-nommen werden, dass dieser auch in Fällen modifiziert

werden soll, in denen noch gar keine Beweisaufnahmestattgefunden hat.

An der Rechtsprechung des BAG ist ferner zu kritisieren,dass der Antrag der klagenden Partei auf ihre Anhörungnach § 141 ZPO entgegen der Systematik der ZPO alsStrengbeweismittel angesehen wird. Natürlich könntedas Gericht – ohne dazu verpflichtet zu sein – auch imFall 3 den Kläger gem. § 141 ZPO als Partei anhören.Die Parteianhörung unterliegt nicht den Beschränkun-gen der Parteivernehmung, sie kann auch unabhängigvom Vorliegen eines „Anfangsbeweises“ von Amts we-gen durchgeführt werden. Die Anhörung ist aber keinBeweismittel, sondern soll dem Gericht nur die Klärungdes Sachverhalts ermöglichen.34 Zwar kann ihr Ergebnis– wie der gesamte Akteninhalt – vom Gericht auch imRahmen einer Beweiswürdigung verwertet werden.35

Wie erwähnt kann dies sogar so weit gehen, dass dasGericht den Angaben einer Partei gegenüber der Aus-sage eines Zeugen Glauben schenkt.36 Eine solche Ver-wertung der Anhörung setzt aber voraus, dass zuvornach den Regeln des Strengbeweises Beweis erhobenworden ist – etwa durch Vernehmung eines Zeugenoder einer Partei. Daran fehlt es hier.

Das klägerische Vorbringen ist nach der hier vertrete-nen Auffassung also beweislos.

2. HERBEIFÜHREN DER „BEWEISNOT“?

FALL 4:Wie Fall 3. Die Klägerin benennt den Mitarbeiter Mder Beklagten als Zeugen für ihre Behauptung desVertragsschlusses. Das Gericht vernimmt ihn. M be-stätigt das Beweisthema allerdings nicht sondernsagt aus, der Klägerin noch keinen Auftrag erteiltzu haben. Nunmehr beantragt K die Vernehmungihres Geschäftsführers als Partei.

Nach der oben gegebenen Definition37 besteht hierdas vom EGHMR beschriebene prozessuale Ungleich-gewicht, das die Vernehmung des Geschäftsführers ge-bietet. Allerdings hat die Klägerin diesen Notstanddurch die Benennung des im Lager der Gegenseite ste-henden Zeugen selbst herbeigeführt. Damit ist die Fra-ge aufgeworfen, ob auch eine Partei auf diesem Wege§ 447 und § 448 ZPO „ausschalten“ und ihre Verneh-mung erzwingen kann.

In den bislang ergangenen Urteilen ist der Frage, obdie zeugenlose Partei ihre Beweisnot selbst herbei-geführt hat, keine Bedeutung beigemessen worden.Dieser Umstand findet in keiner Entscheidung Erwäh-nung. In vielen Urteilen kann der Sachverhaltsschil-derung auch nicht entnommen werden, welche Parteidem Gericht die maßgeblichen Beweisantritte unter-breitet hat. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die

AUFSÄTZE | BRAK-MITTEILUNGEN SONDERDRUCK

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29 Greger, Zöller, Zivilprozessordnung, Kommentar, 27. Aufl., 2009, § 447 ZPO,Rdnr. 2 m.w.N.

30 Hierzu BGH, Urt. v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, NJW 1989, 3222.31 Wie hier z.B. OLG Schleswig, Beschl. v. 28.2.2011 – 5 U 112/01; OLG Frankfurt,Beschl. v. 6.8.2011 – 19 U 127/10; OLG Celle, Urt. v. 29.4.2010 – 11 U 188/09.

32 Urt. v. 19.11.2008 – 10 AZR 671/07, NJW 2009, 1019; Beschl. v. 22.5.2007 – 3AZN 1155/06, NJW 2007, 885.

33 Vgl. insb. BVerfG, Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 2588/06, NJW 2008, 2170.

34 BGH, Urt. v. 3.7.1967 – VII ZR 48/65, MDR 1967, 834.35 Vgl. I.1.36 Vgl. II.1.37 Vgl. II.2.

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Rechtsprechung einen Anspruch auf Parteivernehmungwiederholt auch auf der Aktivseite angenommen hat,also in Fällen, in denen die zeugenlose Partei – wiehier – die Beweislast für die streitige Tatsache trägt.38

Wie soeben dargelegt39 geht das BAG bei Gesprächen,die allein zwischen den Parteien stattgefunden haben,sogar davon aus, dass die beweisbelastete zeugenlosePartei sogar unabhängig von der vorangegangenenVernehmung eines Zeugen aus dem Lager der Gegen-seite ihre eigene Vernehmung oder Anhörung als Par-tei beantragen kann.40 Modifiziert diese Rechtspre-chung nach Meinung der Verfasser die Regelungender § 447, § 448 ZPO auch zu weitgehend, spricht siedoch dafür, dass die zeugenlose Partei das Ungleich-gewicht in der Beweisaufnahme, das Voraussetzungfür ihre Vernehmung ist, jedenfalls herbeiführen kann,ohne dass dies Auswirkungen auf ihre prozessualenRechte hätte. Insbesondere kann eine solche Vor-gehensweise der zeugenlosen Partei nicht als miss-bräuchlich oder gezielte Umgehung von § 447 und§ 448 ZPO bezeichnet werden. Denn als die Klägerinden Zeugen aus dem Lager der Gegenseite benannte,konnte sie darauf hoffen, dass dieser vielleicht dochihre Version der Dinge bestätigen würde. In diesemFall wäre die Vernehmung ihres Geschäftsführers nichterforderlich geworden. Erst wenn der Zeuge tatsäch-lich die Version der Gegenseite bestätigt, besteht ausSicht der Klägerin Anlass, ein nicht neutrales Ergebnisder Beweisaufnahme zu befürchten. Die Beweisnot istdamit nicht alleinige Folge des klägerischen Prozess-verhaltens, sondern auch des Verlaufs der Beweisauf-nahme, der nie vorhersehbar ist. Damit muss die zeu-genlose Partei hier genauso wie in den „Passivfällen“41

vernommen werden.

Im Fall 342 müsste das Gericht die Klägerin wohl da-rauf hinweisen, dass ihrem Antrag auf Parteiverneh-mung nicht nachgekommen werden kann, solangenicht ein objektiver Anlass besteht, ein Ungleich-gewicht in der bisherigen Beweisaufnahme zu befürch-ten. Die Klägerin hat dann zu entscheiden, ob sie denZeugen der Gegenseite benennt. Auf diesem Wegkann sie die Schwelle zur Beweisaufnahme überschrei-ten und die Vernehmung oder Anhörung ihresGeschäftsführers erwirken. Im Ergebnis wird das Ge-richt nach der Vernehmung von Zeuge und Partei na-türlich häufig zu einem non liquet kommen, die Kläge-rin würde also auch dann unterliegen. Dies ist aber –anders als eine Klageabweisung wegen Beweislosig-keit – kein zwingendes Ergebnis. Auf dem geschilder-ten Wege hat sie zumindest die Möglichkeit, eine Be-weisaufnahme mit ihrer Vernehmung und damit eineObsiegenschance zu erzwingen. Zudem entfällt dieNotwendigkeit für die alternativ in Betracht kommende

Vorgehensweise der Klägerin, ihren Anspruch an einenDritten abzutreten, um auf diese Weise einen Zeugenzu gewinnen.43

3. WAFFENUNGLEICHHEIT AUCH BEI UNERGIEBIGEMGEGENZEUGEN?Sollte der Zeuge M im Fall 4 angeben, sich an das Ge-spräch kaum noch erinnern zu können und keine nähe-ren Angaben zu seinem Inhalt machen, wäre nach Ein-schätzung der Verfasser der Geschäftsführer der Klä-gerin ebenso zu vernehmen. Auch hier besteht nachdem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme ein Un-gleichgewicht zwischen den Parteien, denn es ist alleinein Zeuge vernommen worden, der als Mitarbeiter derGegenseite möglicherweise ein Interesse am Ausgangdes Verfahrens hat. Zwar war die Vernehmung uner-giebig, wenn sich das Gericht aber allein hierauf stütztführt dies genau wie eine Aussage, die die Version derGegenseite bezeugt, aufgrund der Beweislast der Klä-gerin zu einer Klageabweisung – nunmehr wegen einesnon liquet. Aus der maßgeblichen Sicht der Klägerinbesteht daher auch hier Anlass zu der Befürchtung,dass das Ergebnis der Beweisaufnahme allein vomInteresse der Gegenseite beeinflusst ist. Bewerteteman dies anders, führte dies zu dem wenig überzeu-genden Ergebnis, dass es für die Beklagte am bestenist, wenn sich „ihr“ Zeuge an das Beweisthema nichtmehr erinnert.Anders liegt der Fall natürlich, wenn der vernommeneZeuge in keiner (erkennbaren) Nähebeziehung zur Be-klagten stehen sollte. Dann besteht aus Sicht der Klä-gerin kein Anlass zu der Befürchtung, die Beweisauf-nahme werde allein durch die Interessen der Gegensei-te beeinflusst. Unabhängig davon, ob die Vernehmungdes neutralen Zeugen ergiebig war oder nicht hat dieKlägerin dann keinen Anspruch auf ihre Verneh-mung.44

4. „VIER-AUGEN-GESPRÄCH“ OHNE ZEUGENHaben an dem Gespräch in Fall 3 auf beiden Seitenausschließlich die Geschäftsführer der Parteien teil-genommen, gilt im Prinzip dasselbe. Die Klägerin hatkeinen Anspruch auf ihre Vernehmung, solange nichtausnahmsweise ein Anfangsbeweis gem. § 448 ZPOfür die Richtigkeit ihres Vorbringens besteht.45 Nachder hiervon abweichenden Rechtsprechung des BAG46

wäre dem Antrag der Klägerin hingegen wohl nach-zukommen. Nimmt man nach der hier vertretenen An-sicht an, dass sich der Anspruch auf Parteivernehmung

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38 So insbesondere schon im Ausgangsfall des EGHMR, Urt. v. 27.10.1993 –37/1992/382/460, NJW 1995, 1413.

39 Vgl. III.1.40 Urt. v. 19.11.2008 – 10 AZR 671/07, NJW 2009, 1019; Beschl. v. 22.5.2007 – 3AZN 1155/06, NJW 2007, 885.

41 Vgl. Fall 1 II.1.42 Vgl. III.1.

43 Ein solches Vorgehen wird auch deshalb immer seltener von Erfolg gekrönt sein,da der Beklagte gegen den Zedenten eine sog. isolierte Drittwiderklage erhebenund dadurch seine Zeugenstellung beenden könnte, vgl. BGH, Urt. v. 13.6.2008 –V ZR 114/07, NJW 2008, 2852; zum Gerichtsstand vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2010 – Xa ARZ 191/10, NJW 2011, 460.

44 Ggf. hat die Partei, die vernommen werden will, darzulegen, dass der gehörteZeuge im „Lager“ der Gegenseite steht, vgl. II.2.

45 Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, NJW 1989, 3222, OLGSchleswig, Beschl. v. 28.2.2011 – 5 U 112/01; OLG Frankfurt, Beschl. v. 6.8.2011– 19 U 127/10; OLG Celle, Urt. v. 29.4.2010 – 11 U 188/09.

46 Urt. v. 19.11.2008 – 10 AZR 671/07, NJW 2009, 1019; Beschl. v. 22.5.2007 – 3AZN 1155/06, NJW 2007, 885.

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aus einem Ungleichgewicht in der Beweisaufnahme er-gibt, muss die Klägerin diese herbeiführen, indem siedie Vernehmung des Geschäftsführers der Beklagtennach § 445 ZPO beantragt.47 Die Beantragung einerAnhörung nach § 141 ZPO ist nicht ausreichend, dahierdurch nicht die Schwelle zur Beweisaufnahme über-schritten wird. Dazu ist die Erhebung eines Beweismit-tels im strengen Sinne, also nach §§ 371ff. ZPO erfor-derlich. Lässt sich der Geschäftsführer der Beklagtenvernehmen48 hätte danach die Klägerin Anspruch aufAnhörung oder Vernehmung ihres Geschäftsführers.

IV. FAZIT

Der Anspruch einer zeugenlosen Partei auf ihre Anhö-rung oder Vernehmung im Rahmen der Beweisaufnah-me setzt ein prozessuales Ungleichgewicht voraus.Dieses ist nicht schon bei Beweislosigkeit gegeben,sondern nur dann, wenn nach dem aktuellen Standder Beweisaufnahme das Gericht seine Beweiswürdi-gung im Wesentlichen auf die Angaben eines Zeugenstützen wird, der in einer Nähebeziehung zur Gegen-partei steht. Dann hat die zeugenlose Partei Anlass zu

der Befürchtung, dass dieser Zeuge nicht neutral ist, sodass ihr hinsichtlich ihrer eigenen Vernehmung die in§ 447, § 448 ZPO zum Ausdruck kommende Sorgedes Gesetzes um die fehlende Neutralität einer Partei-vernehmung nicht entgegengehalten werden darf.

Der Anspruch auf Parteivernehmung ist in der Recht-sprechung fast ausschließlich im Zusammenhang mitVier-Augen-Gesprächen erörtert worden. Tatsächlichkommt es aber auf das Vorliegen des soeben beschrie-benen prozessualen Ungleichgewichts an. Ob der zubeweisende Vorgang ein Gespräch ist und ob er untervier oder mehr Augen stattgefunden hat, kann aus ver-fassungsrechtlicher Sicht daher nicht maßgeblich sein.Ebenso wenig kommt es darauf an, ob die zeugenlosePartei für das Beweisthema die Beweislast trägt odernicht.

Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, dass beiGesprächen, die allein zwischen den Parteien statt-gefunden haben, die für den Inhalt des Gesprächs be-weisbelastete Partei Beweis antreten kann, indem sieihre eigene Anhörung oder Vernehmung beantragt,geht nach Einschätzung der Verfasser indes zu weit.49

Hier wird ohne Not eine Modifizierung der Regelungender ZPO vorgenommen (§ 141, § 447, § 448), zu derauch nach der Rechtsprechung von EGHMR undBVerfG kein Anlass besteht.

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47 Vgl. III.1.48 Die Verweigerung könnte das Gericht gem. § 446 ZPO bewerten und dürfte denAnfangsbeweis für eine Vernehmung des klägerischen Geschäftsführers von Amtswegen nach § 448 ZPO begründen. 49 Vgl. III.1.