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SOWJETISCHE UND OSTEUROPÄISCHE SPRACHWISSENSCHAFT KAREL HORÄLEK Die sogenannte moderne Sprachwissenschaft (gemeint ist an erster Stelle der sprachwissenschaftliche Strukturalismus) hat ihre Wurzel teilweise in Europa, teilweise in Amerika. In Europa pflegt man besonders die Genfer, die Prager, und die Kopenhagener Schule zu unterscheiden. Die Prager Schule ist schwer ohne der russischen Einwirkungen denkbar und einige Sowjet-russischen Gelehrten nahmen direkt an den Travaux du Cercle linguistique de Prague teil (N. Durnovo, E. Polivanov). Die russi- schen Mitglieder der Prager Schule (N. Trubeckoj, R. Jakobson, S. Karcevskij) haben auch die russischen Einflüsse übermittelt. Besonders enge Verbindungen bestanden zwischen der Prager Auffassung der poetischen Sprache und der Theorie des sogenannten Russischen For- malismus. 1 Vor dem zweiten Weltkrieg studierte man in Amerika und Westeuropa die Arbeiten der Prager Schule zusammen mit der sprach- wissenschaftlichen Literatur Sowjetrusslands, man interessierte sich um die polnische (J. Kurylowicz!), ungarische, rumänische, und südslavische Literatur. Das Interesse um die slavische Sprachwissenschaft ist durch die Bedeutung der Slavistik in der neuen politischen Weltordnung gesteigert. Dies alles führte eine Gruppe amerikanischer Linguisten dazu, eine praktische Einführung in die sprachwissenschaftliche Literatur Ost- europas (einschliesslich der Sowjetunion) zu schreiben. Man hat (unter dem Schutz der Indiana-Universität, Research Center in Antropology, Folklore and Linguistics) im Dezember 1960 ein Symposium veranstaltet, an welchem die Möglichkeit der systematischen Ausnützung der sow- jetischen und osteuropäischen Sprachwissenschaft besprochen wurde. Ein Kommitee wurde organisiert (Committee on Linguistic Information), das ein breitangelegtes Informationswerk vorbereitete, von welchem 1963 in Den Haag (Mouton & Co) der erste Band erschienen ist; es trägt den 1 Vergl. darüber Victor Erlich, Russian Formalism: History - Doctrine (Den Haag, 1955, Mouton & Co). Brought to you by | Columbia University Library The Burke Library Authenticated | 128.59.62.83 Download Date | 8/19/12 6:36 PM

SOWJETISCHE UND OSTEUROPÄISCHE SPRACHWISSENSCHAFT

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SOWJETISCHE UND OSTEUROPÄISCHESPRACHWISSENSCHAFT

KAREL HORÄLEK

Die sogenannte moderne Sprachwissenschaft (gemeint ist an erster Stelleder sprachwissenschaftliche Strukturalismus) hat ihre Wurzel teilweisein Europa, teilweise in Amerika. In Europa pflegt man besonders dieGenfer, die Prager, und die Kopenhagener Schule zu unterscheiden. DiePrager Schule ist schwer ohne der russischen Einwirkungen denkbar undeinige Sowjet-russischen Gelehrten nahmen direkt an den Travaux duCercle linguistique de Prague teil (N. Durnovo, E. Polivanov). Die russi-schen Mitglieder der Prager Schule (N. Trubeckoj, R. Jakobson, S.Karcevskij) haben auch die russischen Einflüsse übermittelt. Besondersenge Verbindungen bestanden zwischen der Prager Auffassung derpoetischen Sprache und der Theorie des sogenannten Russischen For-malismus.1 Vor dem zweiten Weltkrieg studierte man in Amerika undWesteuropa die Arbeiten der Prager Schule zusammen mit der sprach-wissenschaftlichen Literatur Sowjetrusslands, man interessierte sich umdie polnische (J. Kurylowicz!), ungarische, rumänische, und südslavischeLiteratur. Das Interesse um die slavische Sprachwissenschaft ist durch dieBedeutung der Slavistik in der neuen politischen Weltordnung gesteigert.Dies alles führte eine Gruppe amerikanischer Linguisten dazu, einepraktische Einführung in die sprachwissenschaftliche Literatur Ost-europas (einschliesslich der Sowjetunion) zu schreiben. Man hat (unterdem Schutz der Indiana-Universität, Research Center in Antropology,Folklore and Linguistics) im Dezember 1960 ein Symposium veranstaltet,an welchem die Möglichkeit der systematischen Ausnützung der sow-jetischen und osteuropäischen Sprachwissenschaft besprochen wurde.Ein Kommitee wurde organisiert (Committee on Linguistic Information),das ein breitangelegtes Informationswerk vorbereitete, von welchem 1963in Den Haag (Mouton & Co) der erste Band erschienen ist; es trägt den

1 Vergl. darüber Victor Erlich, Russian Formalism: History - Doctrine (Den Haag,1955, Mouton & Co).

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Titel Current Trends in Linguistics, I: Soviet and East European Linguistics.Als Herausgeber sind Paul L. Garvin, Horace Lunt, und Edward Stan-kiewicz angeführt. Unter den Mitarbeitern an diesem grossen Werk sindbesonders amerikanische Fachleute vertreten (M. Halle, C. H. vanSchooneveld, D. Worth, R. Abernathy, K. Taranovski, u.a.). Zu denwenigen europäischen Mitarbeitern gehört z.B. der finnische SlavistV. Kiparsky, der holländische Kaukasolog A. H. Kuipers.

Der erste Teil des Sammelbandes ist der sowjetischen Sprachwissen-schaft gewidmet; er trägt den Titel "Selected Topics in Soviet Linguistics"(S. 5-473), mit Abteilungen für allgemeine (5-112) und angewandte(113-204) Sprachwissenschaft; dann folgen die Informationen überverschiedene Sprachen (ausser der russischen), Sprachfamilien, undSprachkreisen. In der allgemeinen Abteilung (gegliedert auf "Phonemics"von M. Halle, "Morphemics" von C. H. van Schooneveld, "Syntax" vonD. Worth, "Lexicology" von U. Weinreich, "Comparative and HistoricalSlavistics" von V. Kiparsky) ist schon auch Russistik behandelt. DieAbteilung über angewandte Sprachwissenschaft enthält die Beiträge"Mathematical Linguistics" (R. Abernathy), "Machine Translation"(K. E. Harper), "Foreign Language Teaching" (J. Ornstein), "Metrics"(K. Taranovski). Die folgende Abteilung enthält die Kapitel "Indo-European" (W. Winter), "Belorussian and Ukrainian" (G. J. Shevelov),"Latvian" (V. J. Zeps), "Lithuanian" (W. R. Schmalstieg), "Altaic"(N. Poppe), "Caucasian" (A. H. Kuipers), "Paleosibirian" (D. Worth),"Semitic" (H. Blanc), "Uralic" (G. J. Stipa).

Der zweite Teil ("Linguistics in Eastern Europe") enthält Kapitel überdie bulgarische (von Z. Gol^b), tschechoslowakische (P. L. Garvin),ungarische (Gy. Decsy), polnische (E. Stankiewicz), und jugoslavische(H. G. Lunt) Sprachwissenschaft. Es folgen noch biographische Notizenüber die Teilnehmer an dem Werk (S. 570-575), sprachlicher Index(S. 577-585), und Namenregister (S. 586-606).

Schon aus der Gliederung des Werkes sieht man klar, dass es nichtnach einem einheitlichen Gesichtspunkt bearbeitet wurde und dass auchverschiedene Disproporzionen bestehen. So sind z.B. von der ausser-indoeuropäischen Sprachwissenschaft in der Sowjetunion ziemlichsystematische Informationen gegeben, von der Sprachwissenschaft inanderen Staaten Osteuropas aber fast ausschliesslich nur die allgemeine,indoeuropäische und slavische Sprachwissenschaft bearbeitet. In demKapitel über die tschechoslowakische Sprachwissenschaft (bearbeitet vonP. L. Garvin) kam ungenügend die Slowakei zum Wort. In dem jugo-slavischen Kapitel (von H. G. Lunt) ist zu kürzlich besonders die slo-

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venische Sprachwissenschaft behandelt (nicht einmal erwähnt ist z.B.B. Fr. Bezlaj).

Einige Angaben über die sprachwissenschaftliche Arbeit in der Tsche-choslovakei, in Polen u.a. kann man in den ersten Kapitel des Buchesfinden, z.B. über das etymologische Wörterbuch des Brünner Kom-paratisten V. Machek (bei V. Kiparsky); hier sind selbstverständlich auchdie Arbeiten von R. Jakobson und N. Trubetzkoy erwähnt, nicht aberdas fundamentale Werk Havräneks Genera verbi. In der ersten Abteilunghaben einige Kapitel ihre eigene Bibliographie ("Phonemics" von M.Halle, "Morphemics" von C. H. van Schooneveld, "Lexicology" vonU. Weinreich; nicht aber "Syntax" von D. S. Worth), dann alle Beiträgezur angewandten Sprachwissenschaft. Est ist wirklich Schade, dass dieHerausgeber des Werkes das Kapitel über die rumänische Sprachwissen-schaft nicht realisieren vermochten.

Sonst wird man in dem Buche z.B. Informationen zur Namenkundeund zur Stilistik vermissen; die Dialektologie ist nur in einigen Fällenbehandelt. Von den Lücken in der bibliografischen Angaben erwähneich noch das wichtige Buch von V. Mathesius, Öestina a obecny jazykozpyt(Praha, 1947);2 es fehlen Hauptwerke von A. V. Isaöenko (einige sind inder sowjetischen Abteilung angeführt), E. Pauliny, V. Blanär, J. Kurz,A. Dostal u.a. Von der tschechoslowakischen Sprachwissenschaft findetman glücklicherweise alles Nützliche in den Bibliographien von Z. Tyl(tschechische Sprachwissenschaft), V. Blanär und L. Dvonö (slowakischeSprachwissenschaft). Der Autor der slowakischen Bibliographie istin Current Trends irrtümlich als Ladislav D. angeführt (S. 512).

Von dem Beitrag über die tschechoslowakische Sprachwissenschaftist aber im allgemeinen zu sagen, daß er von einem hervorragendenKenner der ganzen Problematik geschrieben ist. P. L. Garvin beherrschtbesonders ausgezeichnet die Problematik der Prager sprachwissen-schaftlichen Schule, hat nicht wenig auch zur Verbreitung der Kenntnissevon ihr (besonders in Amerika) beigetragen. Was er in Trends z.B. überdie Prager Theorie der Schriftsprache und von den Arbeiten über diesogenannte aktuelle Satzgliederung schreibt, ist auch ein Zeichen dessen,daß er mit dieser Problematik schon lange Zeit eng vertraut ist.3

Alle positive Werte des Werkes sind schwer anzuführen, sie sind sozahlreich. Am besten ist die Russistik behandelt, besonders lehrreich

2 Ist aber in der Fussnote 10, S. 503 angeführt.8 Vergl. auch einige Abhandlungen in Garvins Buch On Linguistic Method: SelectedPapers (1964, Mouton & Co), besonders "Structuralism beyond Linguistics" (S.148-152).

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sind die Beiträge zur Kaukasologie, Ugrofinnistik u.a. Die ungarischeSprachwissenschaft ist gut, vielleicht aber zu kurz behandelt; der moderneSprachwissenschaft befindet sich heute in Ungarn (auch in Rumänien)im raschen Aufstieg.

Im Allgemeinem handelt es sich um ein wertvolles Informationswerk,dass nicht nur zur besseren Kenntnis der sowjetischen und osteuropäischenSprachwissenschaft in der westlichen Welt beitragen wird, sondern auchdie wissenschaftliche Zusammenarbeit auf der weltbreiten Grundlagebefördern kann.

Praha

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