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Spontane Symmetriebrechung fern des

thermodynamischen Gleichgewichtes:

Kibble-Zurek Mechanismus in kolloidalen Monolagen

Peter Keim

5. September 2016

Zusammenfassung

Der Kibble-Zurek-Mechanismus beschreibt das Auftreten von topologischen Defekten beikontinuierlichen Phasenübergängen unter endlicher Kühlrate. Er ist auf völlig unterschiedli-chen Längenskalen relevant, und wurde entwickelt für die spontane Symmetriebrechung desHiggs-Feldes in kosmologischen Modellen. Genauso wichtig ist er in kondensierter Materiewie z.B. Quanten�üssigkeiten. Mit einem kolloidalen System konnten wir den Kibble-ZurekMechanismus auf �atomaren� Skalen visualisieren und seine Natur vor dem Hintergrund einergut etablierten Theorie der Phasenübergänge in zwei Dimensionen (2D) untersuchen.

1.1 Symmetriebrechung

Fast alle Phasenübergänge sind mit einemSymmetriebruch verbunden, sei es, dassdurch ein Magnetfeld eine Richtung aus-gezeichnet ist oder dass die kontinuierlicheTranslations- und Rotationssymmetrie ei-ner Flüssigkeit zu diskreten Translations-und Rotationssymmetrien im Kristall ge-brochen wird. Unter Symmetrie verstehtman mathematisch die Invarianz untereiner Transformation, d.h. man zählt dieAbbildungen, die ein Objekt in sich selberzurückführen. Derart hat eine Flüssigkeit(im zeitlichen Mittel) eine viel höhereSymmetrie als ein Kristall: Die Flüssigkeitsieht in allen Richtungen bzw. an allenOrten gleich aus, während der Kristall nur

entlang weniger diskreter Richtungen undan wenigen diskreten Orten gleich aussieht.Die Hochtemperaturphase hat eine hoheSymmetrie und wenig Ordnung, thermischeFluktuationen aufgrund der statistischverteilten kinetische Energie der Atomedominieren. In der Tieftemperaturphaseist eine (manchmal abstrakte) Symmetriegebrochen und thermische Fluktuationenreichen nicht aus, die Ordnung zu zerstören.Das Mysterium von Phasenübergängen ist,wie sich diese Ordnung aus den Wechsel-wirkungen der Atome oder magnetischenMomente untereinander von selbst generiert,unterscheiden sich doch die Kräfte zwischenden Atomen in der Hochtemperatur- undNiedrigtemperaturphase überhaupt nicht.

Um die Phasenübergänge zu beschreiben,wird aus den Symmetrien ein Ordnungspara-meter konstruiert: Dieser verschwindet in derHochtemperaturphase (oder ist zumindestsehr klein) und nimmt einen endlichenWert unterhalb der Übergangstemperaturan, z.B. die Stärke der Magnetisierungbeim Ferromagneten oder die Richtung derKristallachsen beim kristallisieren. Eine Aus-nahme ist der Übergang zwischen �üssig undgasförmig. Hier wird keine langreichweitigeSymmetrie gebrochen, nur die Nahordnun-gen unterscheiden sich beträchtlich. AlsOrdnungsparameter eignet sich hier gut derDichteunterschied zwischen dem Gas undder Flüssigkeit.

In phänomenologischen Landau-Theorienfür kontinuierliche Phasenübergänge (inEhrenfest-Notation Phasenübergänge 2.Ordnung genannt) wird die freie EnergieF (φ) des Systems mit dem jeweiligen fürdas System passenden Ordnungsparameterφ beschrieben. Da der Ordnungsparameterin der Nähe des Phasenübergangs kleinist, bietet es sich an, die freie Energiein einer Taylorreihe zu entwickeln, wobeiungerade Potenzen nicht berücksichtigtsind, F (φ) ' C + A(T ) 〈φ〉2 + B(T ) 〈φ〉4siehe Abbildung 1. Die Koe�zienten A(T )und B(T ) sind Funktionen der Temperaturderart, dass A(T ) einen Vorzeichenwechselvon positiv zu negativ beim Abkühlenüber den Phasenübergang macht. SpontaneSymmetriebrechung bedeutet mathematischausgedrückt, dass die Observablen, d.h. diemessbaren Gröÿen des Systems eine niedri-gere Symmetrie aufweisen, als die zugrundeliegenden Bewegungsgleichungen, bzw. dieHamiltonfunktion. Anschaulich gesprochenbedeutet dies, dass der Ordnungsparameterin der Tieftemperaturphase jenen von Nullverschiedenen Wert der Parabel annimmt,in dem die freie Energie minimal ist. Diessind für unsere Abbildung aber geradezwei Werte! Welcher von beiden Werten〈φ〉 = ±η angenommen wird, entscheidet

k r i t i s c h eF l u k t u a t i o n e n

H o c h s y m m e t r i e - P h a s e

s y m m e t r i e g e b r o c h e n e P h a s e

<φ>≠0<φ>=0

0 +η−η

Freie

Energ

ie F(φ

)

T = T C

T > T C

T < T C

O r d n u n g s p a r a m e t e r φ

T = 0

Abbildung 1: Ginzburg-Landau Theorien sind phä-nomenologische Beschreibungen von Phasenübergän-gen. Die Parabel stellt die Entwicklung der freienEnergie als Funktion des Ordnungsparameters bis zur4. Ordnung dar. Da das System versucht seine freieEnergie zu minimieren, will es sich in einem Mini-mum aufhalten und nimmt den entsprechenden Wertdes Ordnungsparamters an. Welches der beiden Mi-nima bei tiefen Temperaturen angenommen wird, istzufällig.

dabei alleine der Zufall. Ein Beispiel für eineneinkomponentigen Ordnungsparameter istdas Ising Model bei dem die Magnetisierungparallel oder antiparallel zu einer z-Achsesein kann. Haben wir einen zweikompo-nentigen reellen Ordnungsparameter (dieRichtung einer Kristallachse in 2D) odereinen komplexen (eine quantenmechanischeWellenfunktion mit Betrag und Phase)wie beim Higgs-Feld, supra�uiden Heliumoder beim Bose-Einstein-Kondensat, dannwird die Parabel aus Abbildung 1 zu einemParaboloid. Dieser wird ob seiner Form oft�Sombrero� genannt, und in diesem Fallliegen die Minima des Paraboloids auf einemKreis. Auf diesem Kreis sind alle Zuständedes Systems entartet, d.h. energetisch äqui-valent und der Ordnungsparameter kann alleWerte auf dem Kreis annehmen. Wiederumentscheidet der Zufall, welcher Wert es seinwird.

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1.2 Kibbles Argumente

Spontane Symmetriebrechung eignet sichhervorragend um freie Parameter im Stan-dardmodell der Elementarteilchen festzule-gen. Einige Berühmtheit hat sie in jüngererZeit bekommen, um den EichbosonenW+,W−, Z0 der schwachen Wechselwirkungund den Fermionen eine Masse zu geben:Die Symmetriebrechung und Eichung desHiggs-Feldes und die experimentelle Bestä-tigung des Higgs-Bosons. Für Einzelheiten,siehe auch den Preisträgerartikel von KarlJakobs für die Stern-Gerlach-Medaille 2015[1]. Es ist jedoch festzuhalten, dass das in-zwischen meist Higgs-Mechanismus genanntePrinzip auch in vielen anderen Bereichender Hochenergiephysik diskutiert wurde.Allen gemein ist, dass der Symmetriebruchglobal statt�nden soll, zumindest kann sichdie lokale Information über die Festlegungauf einen speziellen aber zufälligen Wertdes Ordnungsparameters an einem gegebe-nen Ort nur mit der Lichtgeschwindigkeitausbreiten. Tom Kibble hat als Ersterdarauf hingewiesen dass diese Sichtweisezu Problemen führen kann [2]: Wenn wirvon einem Higgs-Feld in der Hochtempe-raturphase als dem ersten Feld ausgehen,das nach dem Urknall existierte (und ausdem nach mehreren Phasenübergängenspäter die elementaren Wechselwirkungen�auskondensierten�), dann sollte währendder Expansion und damit einhergehendenAbkühlung des Universums irgendwann einPhasenübergang in den symmetriegebro-chenen Zustand statt�nden. Welchen Wertder Ordnungsparameter, in diesem Fall diePhase des Higgs-Feldes zwischen 0 und 2πim Minimum des Sombreros annimmt, istwieder lokal dem Zufall überlassen. Nun wirdes aber aufgrund der Expansion nach demUrknall Orte im Universum geben, die zumZeitpunkt des Phasenüberganges so weit ent-fernt voneinander sind, dass sie nicht einmalmit Lichtgeschwindigkeit darüber kommuni-zieren können, welchen Wert die Phase lokal

angenommen hat. Als Anschauung mag dieAmeise auf einem Luftballon herhalten, dergerade aufgeblasen wird. Die Ameise willals Bote die Nachricht über die Phase amPunkt 1 überbringen und obwohl sie ohnePause mit konstanter Geschwindigkeit läuft,kann sie Punkt 2 nicht erreichen, da diePunkte sich ob der aufblähenden Ober�ächeschneller voneinander entfernen, als sie laufenkann. Das bedeutet, das Regionen im frühenUniversum, die kausal nicht im Zusammen-hang stehen (nicht mit Lichtgeschwindigkeitkommunizieren können), nicht notwendigdie gleiche Phase des Higgs-Feldes habenkönnen. Die Folge ist, dass die Phase lokalunterschiedliche Werte hat; es müssen sichDomänen ausbilden, die durch Defekte imHiggs-Feld, insbesondere durch Korngrenzenvoneinander separiert sind. An den Defektenmuss der Ordnungsparameter verschwinden(siehe Abbildung 2), die Defekte bildenResiduen des Hochsymmetrie-Higgs-Feldes.

Je nach Dimensionalität des Systems unddes Ordnungsparameters können verschiede-nen Defekte auftreten, Monopole, Strings,Korngrenzen und Texturen. Die Existenz vonDefekten bedeutet auch, dass sich das Univer-sum nicht adiabatisch verhalten haben kann,d.h. nicht überall im Gleichgewicht gestan-den haben kann. Bis heute sind keine solcheDefekte entdeckt worden. Das Fehlen dieserÜberbleibsel des hochsymmetrischen Higgs-Feldes im sichtbaren Teil des Universums ist(neben dem sogenannten Flachheitsproblem)einer der Hauptgründe warum heute von ei-nem in�ationär expandierenden Universumausgegangen wird: In den ersten 10−30 Se-kunden (diese Zeitangabe ist stark modell-abhängig) hat sich das Universum exponen-tiell schnell ausgedehnt, so dass alle Defekteso stark verdünnt worden sind, dass sie jen-seits unseres Ereignishorizontes liegen. DieIn�ation ist inzwischen gut bestätigt: Dieräumlichen Schwankungen der Intensität derkosmischen Hintergrundstrahlung sind mitadiabatischen Quanten�uktuationen verein-

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<φ> = 0

<φ> = -η

<φx>2+ <φy>

2 = η2

<φ>

= 0

<φ> = +η

a) b)

Abbildung 2: Defekte für verschiedene Dimensio-nen des Systems D und Komponenten des Ordnungs-parameters N: a) zeigt ein System (N = 1) in zwei Di-mensionen (2D), bei dem die Zustände nur zwei Wer-te annehmen können. Die beiden Bereiche sind durcheine Korngrenze (schwarze Linie) getrennt. In b) istein 2D System gezeigt, in dem die �Pfeile� in alle Rich-tungen der Ebene zeigen können, hier ist der Ord-nungsparameter zweikomponentig (N = 2). Wennein geschlossener Pfad (blaue Linie) nicht zu einemPunkt zusammengezogen werden kann, ohne das derOrdnungsparameter einen Nulldurchgang hat, zeich-net dies einen topologischen Defekt aus, hier einenMonopol.

bar. Adiabatisch, d.h. im thermischen Gleich-gewicht stehend bedeutet, dass der heutesichtbare Teil des Universums aus einer ex-trem kleinen Raumregion zu Zeiten der In-�ation kommen muss. Für seine Arbeitenzum Universums als auskondensierte Quan-ten�uktuation hatte Viatcheslav Mukhanovdie Max-Planck-Medaille 2015 bekommen [3].

1.3 Zureks Argumente

Auch wenn sich die Defekte im Higgs-Feldnicht bestätigt haben, spontane Symmetrieb-rechung und Domänenbildung �ndet auchbei moderaten Temperaturen statt. Woj-ciech Zureks Argument geht folgendermaÿen:Jeder kontinuierliche Phasenübergang istgekennzeichnet durch sogenanntes kritischesVerhalten. In der Nähe des Phasenüber-ganges können beide Phasen räumlich undzeitlich stark �uktuierend nebeneinanderauftreten. Das ist phänomenologisch schonaus der kritischen Parabel T = Tc ausAbbildung 1 zu sehen, wo nicht nur dieSteigung, sondern auch die Krümmung amUrsprung verschwindet. Das erlaubt starkeFluktuationen des Ordnungsparameters

bei kleinen thermischen Schwankungen∆F ∼ kBT der freien Energie. Etwasphysikalischer argumentiert verschwindetbei kontinuierlichen Phasenübergängen dieEnergiedi�erenz zwischen beiden Phasen(anders bei diskontierlichen Übergängen, wodie latente Wärme den Unterschied macht).Für kleine thermische Fluktuationen ist esdem System �egal�, in welcher Phase es sichbe�ndet. Exakt an der Übergangstemperaturtreten beide Phasen im Verhältnis 50:50 aufund die räumliche Struktur ist fraktal, d.h.auf allen Längenskalen selbstähnlich. Räum-liche Korrelationslängen, aber auch zeitlicheAutokorrelationen divergieren. Etwas nebender Übergangstemperatur dominiert eine derbeiden Phasen, die Längen und Zeitskalender Fluktuationen sind durch die Energiedif-ferenz beider Phasen relativ zu thermischenFluktuationen gegeben.

Fokussieren wir jetzt auf die Zeitskalen: Fürjede endliche, nichtverschwindende Abkühl-rate wird die Zeit bis zum Erreichen des Über-gangs irgendwann kürzer, als die Zeitskalader kritischen Fluktuationen. Ab diesem Zeit-punkt sind die Fluktuationen zu langsam umder Kühlrate zu folgen, das System fällt ausdem Gleichgewicht. Es ist nicht mehr ergo-disch und die Fluktuationen sind nicht mehradiabatisch. Dies ist in Abbildung 3 durchden blau schra�erten Bereich angedeutet,dessen Breite von der Kühlrate abhängt. Fürsehr langsame Kühlraten können die Fluk-tuationen lange folgen, wir erwarten groÿeKorrelationszeiten und Längen. Für schnelleKühlraten muss das System früher aus demGleichgewicht fallen, die Korrelationszeitenund Längen sollten kurz sein. Sprichwörtlichnehmen wir zum Zeitpunkt, wenn das Sys-tem aus dem Gleichgewicht fällt einen Fin-gerabdruck der kritischen Fluktuationen, derdas spätere Verhalten determiniert. Auf die-se Weise können wir Konzepte der Gleichge-wichtsthermodynamik zu einem wohlde�nier-ten Zeitpunkt auch auf Nichtgleichgewichts-thermodynamik anwenden. Zu beachten ist

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quasi-adiabatischeDynamik

aus demGleichgewicht

gefalleneDynamik

-1/2

cexp (b|T-T |/Tc)

Zeit oder äquivalentTemperaturdifferent Tc-T

große Kühlrate

=

-t1

kleine Kühlrate

polykristallinePhase

-t2

Korr

elati

onsz

eit

Abbildung 3: Diese Skizze verdeutlicht die zentraleIdee: Die blaue Kurve ist Divergenz der Korrelations-zeiten als Funktion der Temperatur. Wird mit einerkonstanten Rate gekühlt, übersetzt sich die Tempe-ratur der Abszisse 1:1 in eine Zeitachse. Die rote Ge-rade ist bei gegebener Kühlrate die Zeit, die benötigtwird, um den Phasenübergang zu erreichen. Bei demSchnittpunkt der beiden Kurven wird die Korrelati-onszeit länger als die Zeit bis zum Symmetriebruch:Die Fluktuationen des Systems können der Kühlratenicht mehr adiabatisch folgen, das System fällt beit̂ aus dem Gleichgewicht. Das linke Inset zeigt dieMonolage für eine schnelle Abkühlrate an der Aus-fallzeit, das rechte Inset eine polykristalline Probe inder Spätphase nach einer mittleren Kühlrate. (über-nommen von A. del Campo [9])

aber, dass im Nichtgleichgewichtsbereich, derim englischen gerne mit freeze-out-stage be-zeichnet wird, nicht die gesamte Dynamikeingefroren ist: Nur die langwelligsten Fluk-tuationen sind ausgefroren, auf kurzen Ska-len ist durchaus eine weitere Dynamik undEvolution des Systems erlaubt. Um den Kreiszur relativistischen Betrachtung des Higgs-Kibble-Mechanismus zu schlieÿen: In konden-sierter Materie ist das Limit für die Signalge-schwindigkeit nicht durch die Lichtgeschwin-digkeit, sondern durch die Schallgeschwindig-keit gegeben.

1.4 Kolloidale Monolagen als

Modellsystem

Der Nachteil von atomaren Systemen undQuanten�üssigkeiten ist, dass die Defekte

schlecht sichtbar sind und nur indirektnachgewiesen werden können. Hier kommenkolloidale Suspensionen ins Spiel, dies sindmesoskopische, feste Partikel, die in einemLösungsmittel dispergiert sind. Das wohlberühmteste Beispiel sind Blütenpollenin Wasser, in dem Robert Brown 1827diejenige Zitterbewegung entdeckte, dieAlbert Einstein 1905 später durch Stöÿemit Wassermolekülen aufgrund der thermi-schen Molekularbewegung erklären konnte. Im Folgenden sind Kolloide möglichsteinheitlicher Gröÿe als unteilbare d.h.auf der gegebenen Energieskala �atomare�Bausteine zu betrachten. Clemens Bechin-ger hat in seinem Preisträgerartikel zumWalter-Schottky-Preis 2000 schon daraufhingewiesen, dass sich kolloidale Suspensio-nen ideal eignen, um fundamentale Fragender statistischen Physik zu adressieren [5].Sie sind ein Teilgebiet der weichen Materiein der auch Emulsionen, Schäume und Gele,aber auch Bio-Makromoleküle wie Proteineund DNA-Stränge untersucht werden. DerName weiche Materie stammt daher, dass dieKräfte zwischen den Partikeln vergleichbarjenen in atomaren Systemen sind � dieGröÿe und Abstände aber 103 − 106 malgröÿer. Für die Energiedichten und darausfolgend elastischen Eigenschaften ergebensich daraus 9− 18 Gröÿenordnungen kleinereWerte. Dies ist der Grund, warum weicheMaterie selbst bei moderaten Temperaturenein so reiches Anregungsspektrum hat.

Kolloidale Monolagen erhalten wir, wennrecht groÿe Kolloide verwendet werden, dieaufgrund ihrer Schwerkraft sedimentieren.Ist der Boden hinreichend �ach, bilden sieein 2D System da die Teilchen sich in derhorizontalen Ebene frei bewegen können, invertikaler Richtung aber keine Bewegungs-freiheitsgrade haben (weil ihre Beweglichkeitauf eine Ebene begrenzt ist, die Kolloideaber Kugeln sind werden die Monolagenoft quasi-zweidimensional genannt). DiePhysik von niedrigdimensionalen Systemen

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ist erstaunlich reichhaltig. Nachdem ichseit vielen Jahren an Monolagen forsche,ist es mir eine besondere Freude auf dieMax-Planck-Medaille für Herbert Wagnerin diesem Jahres hinzuweisen [6]. Zusam-men mit N.D. Mermin hat er vor ziemlichgenau 50 Jahren in den heutzutage alsMermin-Wagner-Theorem bekannten Arbei-ten gezeigt, dass perfekte Periodizität in 2Dund 1D nicht möglich ist. Dennoch können2D-Systeme Phasenübergänge machen undanders als in 3D existieren sogar Theori-en, die analytische Lösungen haben undÜbergangstemperaturen exakt vorhersagen.Für strukturelle Phasenübergänge ist diesdie sogenannte KTHNY-Theorie (benanntnach ihren Konstrukteuren Kosterlitz,Thouless, Halperin, Nelson, Young), diezwischen kristalliner und isotrop �üssigerPhase eine hexatische Phase vorhersagt,welche in 3D unbekannt ist; ähnlich wiein einem Flüssigkristall ist die hexatischePhase eine Flüssigkeit (mit kontinuierlicherTranslationssymmetrie) aber mit 6-zähligemDirektorfeld (d.h. diskrete Orientierungs-symmetrie). Eine Beschreibung dieses 2DSchmelzprozesses, den wir bis ins Detailmit Kolloidmonolagen bestätigen konnten,ist in Georg Marets Preisträgerartikel zumGentner-Kastler-Preis 2011 zu �nden [7].

Die von uns verwendeten Kolloide sindPlastikkügelchen mit ca. 5 µm Durchmesserso groÿ also, dass sie leicht mit einemVideo-Mikroskop beobachtbar sind. Sie sindjedoch klein genug, als dass sie in der EbeneBrownsche Bewegung zeigen. Zusätzlich sinddie Kolloide mit Eisenoxid-Nanopartikelndotiert, weswegen sie beim Anlegen eineräuÿeren magnetischen Feldstärke ~H selbstmagnetisiert werden. Ist das äuÿere Feldsenkrecht zur Monolage, führt dies zu ei-ner abstoÿenden Dipolkraft. Da für denPhasenzustand nur die Wechselwirkungs-energien relativ zur thermischen Energieentscheidend ist, variieren wir im Laborfolglich nicht die Temperatur, sondern die

3 0 4 0 5 0 6 0 7 0 8 0 9 0 1 0 00

2

4

6

8

1 0

1 2

1 4

G l e i c h g e w i c h t

Γ [ 1 / s ] = K ü h l r a t e 0 . 0 0 0 0 4 2 0 . 0 0 0 3 7 0 . 0 0 1 1 0 . 0 0 2 3 0 . 0 0 6 0 0 . 0 1 1 0 . 0 2 0 0 . 0 3 3

Domä

neng

röße <

A>/a2 0

Γ (∝ 1/Τ)

ΓmΓi

' k a l t '' w a r m '

Abbildung 4: Die Abbildung zeigt die mittlere Grö-ÿe der Domänen als Funktion der (inversen) Tempe-ratur für verschiedene Abkühlraten. Zum Vergleichsind die Gleichgewichtsmessungen als schwarze Rau-ten gezeigt. Die bunten Punkte sind die Zeiten, wennnach Abbildung 3 das System aus dem Gleichgewichtfällt.

Abstoÿungskräfte, die der Brownschen Be-wegung entgegenwirken. Dieses Verhältnisaus magnetischer Wechselwirkung ∝ H2

zu thermischer Energie wird mit dem di-mensionslosen WechselwirkungsparameterΓ ∝ H2/kBT beschrieben, der als inverseTemperatur interpretiert werden kann unddas Phasenverhalten bestimmt (da Teilchen-zahl und Volumen in der Probe konstantsind, kann Γ auch als dimensionsloser Druckinterpretiert werden). Hohe Γ bedeutentiefe Temperaturen (hohe Drücke) und dasSystem kristallisiert zu einem hexagonalenKristall, in dem jedes Teilchen sechs nächsteNachbarn hat (das ist die dichteste Kugel-packung in 2D). Bei niedrigen Γ dominiertdie thermische Bewegung und das Systembildet eine isotrope Flüssigkeit. Der groÿeVorteil, den Kibble-Zurek-Mechanismus mitden magnetisierbaren kolloidalen Monolagenzu untersuchen ist, dass die (inverse) Sys-temtemperatur über ein äuÿeres Feld schnellvariiert werden kann. Die Monolage mussdabei nicht über einen Wärme�uss durcheine Ober�äche abgekühlt werden so dass wirkeinen Temperaturgradienten beim Kühlenbekommen. Mit einfacher Videomikroskopiekönnen wir den Kolloiden sowie den Defekten

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auf �atomarer� Skala zusehen und mit einwenig digitaler Bildverarbeitung die Posi-tionen in kurzen Zeitabständen messen. Inden Worten der statistischen Physik habenwir die gesamte Phasenraumtrajektorie aufallen relevanten Zeitskalen experimentellzugänglich gemacht. Weil die Kolloide sogroÿ sind, sind alle Zeitskalen im Vergleichzu atomaren Festkörpersystemen extremlangsam: Wir haben die Korrelationszeit derkritischen Fluktuationen bis hinauf in denBereich mehrerer Stunden vermessen können.

In [8] haben wir für viele verschiedene Kühl-raten die Gröÿe der Domänen als Funkti-on der Temperatur bestimmt. Die Monopo-le im Richtungsfeld der Kristallachsen sindhier nichts anderes als die aus der KTHNY-Theorie des Gleichgewichtschmelzens gut be-kannten Disklinationen; es sind jene Teilchen,die fünf oder sieben nächste Nachbarn anstattvon sechs Nachbarn haben. Lineare Kettensolcher Disklinationen wiederum bilden dieKorngrenzen zwischen den Domänen. In Ab-bildung 4 ist die mittlere Domänengröÿe 〈A〉gezeigt. Wie vom Kibble-Zurek-Mechanismusvorhergesagt kann das System für langsameKühlraten (lila Kurve) den Gleichgewichts-messungen (schwarze Rauten) bis sehr Na-he an den Phasenübergang bei Γi folgen.Erst bei dem lila Punkt, der die Zeit unddie Temperatur angibt, bei dem das Sys-tem aus dem Gleichgewicht fällt, sind Ab-weichungen erkennbar. Für schnelle Kühlra-ten (braune Kurve) fällt das System früheraus dem Gleichgewicht, die Domänengröÿe(zu Unterscheiden von der kritischen Keim-gröÿe bei Nukleation) ist zu diesem Zeitpunktkleiner. Die im englischen etwas verfälschend�freeze-out-time� genannte Zeit, sollte besserAusdemgleichgewichtfallzeit oder Ausfallzeitgenannt werden. Diese haben wir unabhän-gig aus dem Schnittpunkt von Kühlrate undKorrelationszeit analog zu Abbildung 3 be-stimmt. Die Länge ξ misst den Duchmesserder Domänen, wie in Abb. 3 im rechten In-set angedeutet. ξ ist in Abbildung 5 über

1 0 - 4 1 0 - 3 1 0 - 2

1 , 6

2 , 0

2 , 4

2 , 8

K ü h l r a t e d Γ/ d t [1/ s ]

Domä

neng

röße ξ

a l g e b r a i s c h e r F i t L ö s u n g d e r t r a n s z e n d e n t e n G l e i c h u n g M e s s u n g e n

•~ Γ - 0 . 0 6 1 ( 1 )

∧ •

ξ6 ( Γ)

Abbildung 5: Diese Abbildung prüft nun die zen-trale Aussage des Kibble-Zurek Mechanismus. Ge-zeigt ist die Domänengröÿe zu dem Zeitpunkt wenndas System aus dem Gleichgewicht fällt als Funktionder Kühlrate. Klassische 3D Systeme, die im Gleich-gewicht eine algebraische Divergenzen zeigen, würdender blauen gestrichelten Kurve folgen. Der hiesige 2DPhasenübergang hat im Gleichgewicht eine exponen-tielle Divergenz der Korrelationszeiten und -längen.Daher müssen wir eine transzendente Gleichung derForm x ∝ ex numerisch lösen (rote Kurve). Insbe-sondere bei kleinen Kühlraten passen die Messungenbesser zu der roten Fitkurve.

fast drei Gröÿenordnungen in der Kühlratein einem log-log-plot gezeigt: Die blaue Kur-ve ist ein Fit an algebraisches Verhalten, wiees standardmäÿig für kontinuierliche Phasen-übergängen in 3D vorhergesagt wird. Die ro-te Kurve ist der Fit zur Lösung einer tran-szendenten Gleichung, wie sie vom Kibble-Zurek-Mechanismus vorhergesagt wird, wennwir ihn auf kontinuierliche 2D Phasenüber-gänge anwenden.Dies bestätigt den Kibble-Zurek-Mechanismus, der ursprünglich für dieSymmetriebrechung im sehr frühen Uni-versum formuliert wurde, auch für dieKTHNY-Universalitätsklasse. Abschlieÿendsei bemerkt, dass das Auftreten von Korn-grenzen, die oft als eineindeutiges Indizfür Nukleation, d.h. diskontinuierliche (1.Ordnung) Phasenübergänge gewertet wur-den, auf diese Art auch ganz natürlich beikontinuierlichen (2. Ordnung) Phasenüber-gängen entstehen können. Sie eignen sich alsonicht als Unterscheidungskriterium zwischen

7

Nukleation und kritischem Verhalten. Jedesreale System wird beim Überqueren eineskontinuierlichen Phasenüberganges aus demGleichgewicht fallen. Die Frage ist nur, obdie Korrelationslänge die Systemgröÿe dannübertri�t.

2 Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei meinen Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern der letzten Jah-re, besonders bei Sven Deutschländer und Pa-trick Dillmann, die ganz wesentlich zur hie-sigen Arbeit beigetragen haben. HerzlicherDank gilt Georg Maret, in dessen Gruppeich promovieren und habilitieren durfte; er istein stimulierender Gesprächspartner, hat mirstets den Rücken frei gehalten und für meineForschung alle Freiheiten gelassen.

Literatur

[1] Karl Jakobs: Das Pro�l des Higgs-Bosons Physik Journal, 14, 35 (2015)

[2] Tom W.B. Kibble: Topology of cosmicdomains and strings J. Phys. A: Math

Gen, 9, 1387 (1976)

[3] Viatcheslav F. Mukhanov: The Quan-tum Universe Physik Journal, 14, 41(2015)

[4] Wojciech H. Zurek: Cosmological experi-ments in super�uid helium? Nature, 317,505 (1985)

[5] Clemens Bechinger: Physik mit kolloida-len Suspensionen Physikalische Blätter,56, 79 (2000)

[6] Herbert Wagner: Physik Journal, Titel,09, 41 (2016)

[7] Georg Maret: Zweidimensionale Festkör-per Physik Journal, 10, 35 (2011)

[8] S. Deutschländer, P. Dillmann, G. Ma-ret, P. Keim: Kibble-Zurek mechanismin colloidal monolayers Proc. Natl. Acad.Sci., 112, 6925 (2015)

[9] Adolfo del Campo: Colloidal test bed foruniversal dynamics of phase transitionsProc. Natl. Acad. Sci., 112, 6780 (2015)

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