Seminar: Varietätenlinguistik FS 2012
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Eingereicht bei Prof. Dr. Christa Dürscheid
Zürich, den 15. 6. 2012
Deutsches Seminar Universität Zürich Schriftliche
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2. Das Verhältnis von Sprachgebrauch und Sozialstruktur 4
2.1. Zum Verhältnis von Sprache und Denken:
Die Relativitätstheorie von Sapir und Whorf 6
2.2. Sprechen als Interpretation der sozialen Wirklichkeit 7
3. Der Begriff der sozialen Schicht:
„Language is not a property of the individual, but of the
community“ 8
4. Schreibsprachwandel: Eine soziolinguistische Studie
aus den Jahren 1972 und 2002 14
4.1. Der Referenzrahmen des Schreibexperiments 14
4.2. Die Resultate des Schreibexperiments 19
4.3. Diskussion der Studie 24
5. Schluss 28
6. Literatur 28
1. Einleitung: Varietätenlinguistik – Soziolinguistik
Die Frage, inwieweit die soziale Herkunft oder die Zugehörigkeit zu
einer sozialen Schicht den
Sprachgebrauch prägen, formuliert eine Problemstellung, die man
umstandslos dem Bereich der
Soziolinguistik zuschlagen würde. Gleichwohl war sie – unter
anderen Fragestellungen – auch
Gegenstand des Seminars Einführung in die Varietätenlinguistik. 1
Auf terminologischer Ebene stellt
sich daher die Frage, wie sich Soziolinguistik und
Varietätenlinguistik zueinander verhalten.
1 Das Seminar fand im Herbstsemester 2011 unter der Leitung von
Christa Dürscheid statt.
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natürlichen Sprache auftretenden Variabilitäten, deren Parameter
aussersprachlicher Natur sind. 2
Diese Parameter sind definiert von verschiedenen Koordinaten,
welche den Sprachgebrauch
determinieren: Es sind dies historische, soziale, regionale und
situative Koordinaten. Je nach
Koordinate, die prädominiert oder auf die sich der Fokus richtet,
lassen sich verschiedene
Untersuchungsgegenstände unterscheiden, deren forschungsrelevante
Gemeinsamkeit das Grundwort
Lekt zum Ausdruck bringt: so etwa der Dialekt als eine Form
räumlich (regional) abgrenzbaren
Sprachgebrauchs, der Genderlekt als geschlechtsspezifische
Redeweise, der Gerontolekt als
altersspezifische Verwendung von Sprache, der Situolekt als je nach
Gesprächssituation mehr
formelle oder mehr informelle Ausdrucksweise oder der Soziolekt als
Sprachform, die durch die
Zugehörigkeit zu einer bestimmen gesellschaftlichen Schicht
determiniert wird. 3 Ersichtlich sind alle
diese Lekte Teil einer sozialen Praxis, weswegen die
Varietätenlinguistik auch als Teilbereich der
Soziolinguistik verstanden werden kann. Dies kommt in Dittmars
Definition aus dem Jahr 1997 zum
Ausdruck: „Der Gegenstand der Soziolingusitik ist die soziale
Bedeutung (von Varietäten) des
Sprachsystems und des Sprachgebrauchs.“ 4 Diese Bestimmung trägt
implizit auch dem Umstand
Rechnung, dass die Varietätenlinguistik die soziolinguistische
Perspektive auch auf Phänomene
ausgeweitet hat, die nicht oder nicht nur dem sozialen Status des
Sprechenden geschuldet sind. Ein
zusätzliches Beispiel dafür wäre etwa die Jugendsprache. 5
Die Rede von der Schichtspezifik des Sprachgebrauchs bildet
gewissermassen das originäre
Forschungsparadigma der (von Dittmar als Sprachsoziologie
bezeichneten) Soziolinguistik. Sie
impliziert, dass die Referenzwissenschaft die Soziologie ist und
die Linguistik ihr methodisches
Instrumentarium. Denn das Konzept einer nach Schichten
stratifizierten Gesellschaft entstammt der
soziologischen Theorie. Diese ist – wie alle Sozialwissenschaften –
ein Spiegel des gesellschaftlichen
Strukturwandels, in dessen Verlauf auch der Begriff der Schicht
zunehmend problematisch geworden
ist. Dies tangiert ersichtlich auch die Soziolinguistik.
2 Vgl. dazu und im Folgenden Bussmann (2008), S. 771f.; sowie
Dittmar (1997), S. 173-251.
3 In all diesen Fällen „(ko)variieren jeweils sprachliche Phänomene
unterschiedlicher linguistischer Ebenen (Phonetik.
Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon, Pragmatik) mit
aussersprachlichen Faktoren.“ Bussmann (2008), S. 771. 4 Dittmar
(1997), S. 21. Ausgehend von dieser Definition des
Gegenstandsbereichs unterscheidet Dittmar weiter vier
Forschungsperspektiven der Soziolinguistik: Die Sprachsoziologie,
welche das ‚soziale Image‘ (Prestige und
Stigmatisierung) sprachlicher Kodes und Subkodes untersucht; die
soziale Dialektologie oder Variationslinguistik, die
„sprachliche Variation als Gattungsspezifikum der Kommunikation“
(S. 22) analysiert; die Ethnographie der
Kommunikation, die sich mit „der angemessenen Verwendung
sprachlicher Ausdrücke“ (S. 23) beschäftigt; sowie
schliesslich die soziale und interaktive Pragmatik
(Interaktionsanalyse), die sich mit der Frage befasst, wie
soziale
Ordnung in der verbalen und nicht-verbalen Interaktion entsteht.
Vgl. dazu auch Löffler (1985/2010), S. 20f. 5 Für Löffler scheinen
empirische Soziolinguistik und Varietätenlinguistik Synonyme zu
sein: „Soziolinguistik als
Sprachwirklichkeitsforschung oder Varietätenlinguistik setzt sich
aus vielen kleinen und selten grösseren Einzelprojekten
zusammen.“ Ders. (1985/2010), S. 13.
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Daher versuche ich in der vorliegenden Arbeit, die Implikationen
des gesellschaftlichen Struktur-
wandels auf die soziologische Theorie zu skizzieren, um in einem
zweiten Schritt zu erhellen, wie der
Begriff der sozialen Schicht definiert ist. Im abschliessenden
Kapitel 4 werde ich eine rezente
soziolinguistische Studie kommentieren, welche die
Schreibfertigkeiten von Viertklässlern in einem
diachronen Vergleich untersucht hat. Es handelt sich dabei um die
von Wolfgang Steinig et al.
veröffentlichte Untersuchung, die auf einem Schreibexperiment
basiert, das erstmals 1972 im Ruhr-
gebiet durchgeführt, und dreissig Jahre später, also 2002,
wiederholt wurde. 6 Die Studie möchte
belegen, dass Sprachkompetenz wesentlich durch die Sozialisation
erworben wird und dass mithin ein
signifikanter Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Sprachvermögen besteht. Doch welcher
Art ist der Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und sozialer
Struktur? – Der Erörterung dieser
Frage ist das folgende Kapitel gewidmet.
2. Das Verhältnis von Sprachgebrauch und Sozialstruktur
In historischer Perspektive teilt sich die Linguistik in zwei
grosse Zweige auf. 7 Die formale,
strukturalistische Linguistik, welche sich am Ideal der
Naturwissenschaften orientierte, und wie sie
von de Saussure zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet und später
von Hjelmslev, Chomsky u.a.
ausgearbeitet wurde, lässt sich auf Schleichers (1821-1868)
Arbeiten zurückführen. Dieser reduzierte
die Analyse der Sprache „auf die Beschreibungsmethodik der
Phonetik“ und forderte „für die
Lautbeschreibung ein der Chemie verwandtes Vorgehen“. Daher
betrachtete er die ‚Glottik‘
(Wissenschaft der Sprache) „als eine den Naturwissenschaften
vergleichbare Disziplin“. 8
Unzweifelhaft sozialwissenschaftlich geprägt ist demgegenüber
Steinthals (1833-1899) Zugang zum
Untersuchungsgegenstand Sprache. Dieser fasste „Sprache als Abbild
des Bewusstseins“ 9 auf, was
impliziert, dass eine adäquate Analyse und Rekonstruktion von deren
Inhalten nur mit der
hermeneutischen Methode zu leisten sind. Diese
sozialwissenschaftliche Perspektive, die letztlich
auch die Soziolinguistik teilt, geht davon aus, dass Sprache eben
kein autonomes System, sondern
heterogen ist, dass sie sich „zweckgebunden an die Unterschiede
menschlicher Tätigkeiten anpasst“. 10
6 Steinig et al. (2009).
7 Vgl. dazu und im Folgenden Dittmar (1997), S. 27 ff.
8 Ders. (1997), S. 28.
9 Ders. (1997), ebda.
10 Ders. (1997, S. 29. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen ist die
Soziolinguistik als eigenständiger Wissenschaftszweig
freilich erst in den 1950er-Jahren in den USA entstanden. Vgl. dazu
etwa Löffler (1985/2010), S. 25.
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folgende Darstellung veranschaulichen:
Status
Sozialstruktur. Doch welcher Art ist diese Interdependenz? –
Theoretisch sind die folgenden Mög-
lichkeiten von wechselseitiger Determinierung denkbar:
- Die Sozialstruktur X determiniert die Sprachstruktur Y.
- Die Sozialstruktur X und die Sprachstruktur Y determinieren sich
gegenseitig.
- Die Sprachstruktur Y bedingt die Sozialstruktur X.
- Die Sprachstruktur Y reflektiert die Sozialstruktur X. 11
In anthropologischer Hinsicht schafft Sprache für das Subjekt
zweifellos die Möglichkeit,
zeichenhafte Repräsentanzen der Welt zu schaffen. Diese betreffen –
der Dreiweltentheorie der
Soziologie folgend 12
– alle Weltbezüge, die das Subjekt eingeht: die Welt der Objekte,
die soziale
Welt der Normen sowie die eigene Innenwelt der Gedanken und
Gefühle. Welt begegnet als ver-
11
Dittmar (1997), S. 108. 12
Ich beziehe mich hier auf die Variante der Dreiweltentheorie, wie
sie Jürgen Habermas für seine Theorie des
kommunikativen Handelns im Anschluss an Alfred Schütz fruchtbar
gemacht hat. Vgl. dazu insbesondere Habermas
(1981/1985), Bd. 2, S. 182-228.
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Lebenswelttheorie im Sprechen immer auch Bewusstseinsinhalte
aufgehoben sind, die dem Subjekt
ihrerseits a tergo durch Spracherwerb und Sozialisation vermittelt
werden. Dies ist für die Sozio-
linguistik insofern von Belang, als es dabei ersichtlich zentral um
die Frage geht, wie Sprache und
Denken (qua Bewusstseinsinhalte) miteinander verbunden sind und
konkreter: inwieweit Sprache das
Wahrnehmen eines Subjekts als Erkennendes (erster Weltbezug), als
Teil einer normierenden
Wertegemeinschaft (zweiter Weltbezug) und als seine eigene
Innenwelt Reflektierendes (dritter
Weltbezug) prägt. In der Soziolinguistik ist diese Frage
insbesondere in der Relativitätstheorie der
Sprache, wie sie Sapir und Whorf entwickelt haben, untersucht
worden.
2.1. Zum Zusammenhang von Sprache und Denken:
Die Relativitätstheorie von Sapir und Whorf
Das Prinzip der linguistischen Relativität hat Whorf in seiner 1956
veröffentlichten Studie Language,
Thought and Reality in folgenden Satz gefasst: „Wir gelangen daher
zu einem neuen Relativitäts-
prinzip (principle of relativity), das besagt, dass nicht alle
Beobachter durch die gleichen
physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild (the same
picture of the universe) geführt
werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich
oder können in irgendeiner Weise
auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden.“ 13
Dass türkische oder chinesische Wissenschaftler
die Welt in der nämlichen Begrifflichkeit wie ihre westlichen
Kollegen beschreiben, sei kein Hinweis
auf eine Übereinstimmung des Weltbildes, sondern bloss ein Beleg
dafür, „dass sie das westliche der
Rationalisierung in toto übernommen“ hätten. 14
Sprachen bilden Wirklichkeiten auf verschiedene Weise ab, folglich
ist auch das Denken darüber
different. Solche Sprachabhängigkeit der Kognition lässt sich
vergleichen mit der Relativitätstheorie
von Einstein. Wie der Beobachter bei Einstein die Relativität
seiner Bewegung nicht zu erkennen
imstande ist, so kann auch ein Sprachteilnehmer die relative
Gültigkeit seiner sprachlich
determinierten Weltwahrnehmung innerhalb seines eigenen
Sprachsystems nicht erkennen. Erst im
Vergleich mit ganz unterschiedlichen Sprachsystemen wird nach Whorf
greifbar, „dass Sprachen die
Natur in vielen verschiedenen Weisen aufgliedern“. 15
Das sprachliche Abbild von Wirklichkeit ist
daher immer als Interpretament derselben anzusehen. Whorf
plausibilisiert das Prinzip der
13
Ders., ebda. Vgl. dazu auch Dittmar (1997), S. 35.
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sprachlichen Relativität mit Vergleichen des Englischen und der
Sprache der nordamerikanischen
Hopi-Indianer. Erstere gebe eine bipolare Aufteilung der Natur in
Nomen und Verben unabhängig
von der Dauer eines Ereignisses oder Verhältnisses, welche mit
einem Wort verbunden ist. Zweitere
hingegen klassifiziere Ereignisse tatsächlich nach ihrer Dauer,
sodass Wörter wie ‚Blitz‘, ‚Welle‘,
‚Flamme‘, ‚Rauchwolke‘ – also Vorgänge von naturgemäss kurzer Dauer
– nur als Verben vor-
kommen könnten. 16
Das Prinzip der Relativität gilt freilich nicht nur im
zwischensprachlichen Vergleich, sondern auch
innersprachlich. Denn Sprache bildet nicht nur Natur oder die
äussere Welt der Objekte ab, sondern
auch die soziale Wirklichkeit der Sprechenden innerhalb eines
Sprachsystems. Im Sprechen werden
mithin immer auch soziale Hierarchien, werden
Gruppenzugehörigkeiten und soziales Image reflexiv.
Ebendies definiert den Forschungsbereich der Soziolinguistik: „Der
Gegenstand der Soziolinguistik
ist die soziale Bedeutung des Sprachsystems und seines Gebrauchs“,
17
heisst es bei Dittmar bündig.
Dieser Gegenstand lässt sich nach Joshua Fishmans
untersuchungsleitender Frage Wer (1)
spricht/schreibt was (2) und wie (3) mit wem (4) in welcher Sprache
(5) und unter welchen sozialen
Umständen (6) mit welchen Absichten und Konsequenzen (7) in
insgesamt sieben forschungsrelevante
Teildimensionen aufteilen, wie die nachfolgende tabellarische
Übersicht veranschaulicht: 18
Die sieben Teildimensionen soziolinguistischer Untersuchung
(1) soziale Dimension -> sozialer Hintergrund der Aktanten
(2) sprachliche Dimension -> expressive Mittel der
Mitteilung
(3) interaktive Dimension -> Absichten, Ziele der Kommunikation,
soziale Ordnung
(4) kontextspezifische Dimension -> räumliche, zeitliche,
situative Bedingungen
(5) evaluative Dimension -> Nutzung und Wertung der eingesetzten
sprachlichen Mittel
16
Whorf (1956/1985), S. 14. Wie die Relativitätstheorie insgesamt ist
allerdings auch Whorfs These des fehlenden
Raum-Zeitbegriffs in der Hopi-Sprache wiederholt kritisiert worden.
Stellvertretend hierfür seien die Untersuchungen
Gippers bei den Hopi erwähnt, die diesen zur Überzeugung brachten,
dass die Sprache der Hopi – anders als von Whorf
behauptet – sehr wohl Ausdrucksmöglichkeiten für Zeit und Raum
enthalte. Vgl. dazu Gipper, 1972, S. 229. 17
Dittmar (1997), S. 98. 18
Dazu und im Folgenden vgl. Dittmar (1997), S. 98-102.
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(7) biographische Dimension -> individuelle und soziale
Geschichte des Sprechenden
Die Tabelle erhellt erstens, dass Soziolinguistik mit sämtlichen
Aspekten des kommunikativen
Verhaltens zu tun hat. Sie umfasst also gleichermassen
phonologische, morphologische, syntaktische,
semantische und diskursive Aspekte. Zweitens impliziert sie, dass
die soziale Dimension (1) alle
anderen Dimensionen im Sinne einer conditio sine qua non begleitet.
Erstere enthält diese
gewissermassen als Teilmengen. Auf dieser Ubiquität der sozialen
Dimension gründet die Prämisse,
dass sich im Sprachgebrauch immer auch die Schichtzugehörigkeit
eines Sprechers widerspiegelt,
dass sich folglich soziale Ungleichheiten auch im Sprachgebrauch
abbilden.
3. Der Begriff der sozialen Schicht: „Language is not a
property of the individual, but of the community“ 19
Wie definiert nun die Soziologie den Begriff der sozialen Schicht
als einer zentralen Grösse der
Sozialstrukturanalyse? – Der Soziologe Werner Georg bestimmt diesen
als Funktion der in einer
Gesellschaft herrschenden Ungleichheit: „der Begriff der Schicht
[…] dient zur Beschreibung des
Ungleichheitsgefüges einer Gesellschaft. Unter sozialer
Ungleichheit wird der für verschiedene
Gruppen unterschiedliche Zugang zu erstrebenswerten Gütern oder
Dienstleistungen verstanden.“ 20
In historischer Perspektive entstand das Schichtungsmodell in der
Zwischenkriegszeit des 20.
Jahrhunderts. Es behauptet einen direkten Zusammenhang zwischen der
im Wesentlichen über den
Beruf definierten ökonomischen Position eines Subjekts und dem
Einkommen sowie dem
Sozialprestige desselben. 21
Es liegt auf der Hand, dass soziologische Gesellschaftsmodelle
Reflexe auf den Strukurwandel der
Gesellschaft darstellen. Das Schichtenmodell ist als Antwort auf
einen zweifachen Wandel im 19.
Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
anzusehen. Der erste wurde in West- und
Mitteleuropa angeschoben durch die Industrialisierung, in deren
Verlauf eine neue soziale Klasse
entstanden ist: die Arbeiterschaft. Theoretisch gefasst wurde die
Emergenz dieser neuen Schicht in
19
William Labov, zit. nach Dittmar (1997), S. 66. 20
Georg (2005), in: Ammon (2005), S. 378. Damit ist ersichtlich der
ungleiche Zugang zu Konsumgütern wie zu Bildung
gemeint. 21
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Karl Marx‘ Gesellschaftsmodell der antagonistischen Klassen
(Bourgeoisie versus Proletariat). Schon
Marx definierte dergestalt als wichtigstes Kriterium der
gesellschaftlichen Segregation die Opposition
Besitz / Besitzlosigkeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
wurde dann – so etwa in der Sozio-
logie von Max Weber – das bipolare Klassenmodell durch ein
dreiteiliges Schichtenmodell abgelöst.
Dieses reflektiert den einsetzenden Wandel der industrialisierten
Gesellschaft zur Dienst-
leistungsgesellschaft, welcher mit der Schicht der Beamten und
Angestellten eine neue Mittelschicht
entwuchs. Das auf der Grundlage der Volkszählung von 1926 von
Theodor Geiger entworfene
Schichtenmodell beschreibt denn auch die Gesellschaft der Weimarer
Republik als Pyramide mit fünf
Schichten: den Kapitalisten (1%), dem alten (Handwerker etc.) und
neuen Mittelstand (Angestellte,
Beamte; insgesamt 18%), den sogenannten Proletaroiden (Tagewerker
und Heimarbeiter; 13%) sowie
schliesslich dem Proletariat (51%). 22
Das pyramidale Modell Geigers wurde in den 1960er-Jahren abgelöst
durch das Zwiebelmodell von
Bolte, Kappe und Neidhardt, das die deutsche Nachkriegsgesellschaft
anschaulich als prosperierendes
Gemeinwesen mit einem ‚Mittelstandsbauch‘ ins Bild setzte. An
diesem Modell lässt sich auch
ablesen, dass die Vorstellung der gesellschaftlichen Schichtung
keinen objektiven Sachverhalt
wiedergibt, sondern dass sie auch von ideologischen Überzeugungen
und normativen Konzepten über
den Gesellschaftsaufbau alimentiert wird. In den 1980er-Jahren
wurde dann das Schichtenmodell
durch Ulrich Becks Individualisierungsthese nachhaltig in Frage
gestellt. 23
Diese besagt, dass die
Lebenswelt verwurzelten Schichtungsstrukturen zunehmend auflöst.
Die Folge ist eine Erosion dieser
vormals lebensweltlich existierenden Strukturen, womit die
Schichten ihres Zusammenhalts verlustig
gehen. Beck macht für diese Entwicklung drei Gründe geltend:
1) Der seit Mitte der 1960er-Jahre markant und kontinuierlich
steigende Wohlstand lässt
materielle Not als schichtspezifisches Kollusionsmerkmal hinfällig
werden. Weil es „bei allen
sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten ein
kollektives Mehr an
Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum
[gibt]“, 24
wird Sinn-
22
Georg (2005), in: Ammon (2005), S. 378. Geiger hält – so Georg –
allerdings fest, „dass die rein statisch darstellbare
soziale Lage nicht identisch mit einer Schicht ist“, vielmehr
bestehe diese „aus dem Zusammenspiel der objektiven
sozialen Lage mit der rein statistisch nicht erfassbaren
Schichtungsmentalität.“ S. 378 f. 23
Vgl. dazu und im Folgenden, Beck (1986). 24
Beck (1986), S. 122.
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2) Die mit dem Wohlstandswachstum einsetzende Bildungsexpansion
minimiert die Ungleich-
heit der Bildungschancen. Die Chancen auf einen sozialen Aufstieg
durch höhere Bildung
nehmen unter Arbeiterkindern zu.
3) Schliesslich verstärkt auch die Zunahme der sozialen und
räumlichen Mobilität den Indivi-
dualisierungsdruck. Die Arbeitswelt wird in subjektiver Sicht
zunehmend von schichten-
spezifischen Milieus entkoppelt.
Kritik erwuchs dem Schichtenmodell auch in Bezug auf seine
Fokussierung auf die soziale
Ungleichheit, welche ihrerseits als Funktion unterschiedlicher
Schulbildung angesehen wird. 25
Damit
- Geschlecht (Untervertretung der Frauen in Funktionseliten sowie
Lohnungleichheiten);
- ethnische Herkunft;
Nord-Südgefälle);
Auf der Ebene der Gesellschaftstheorie führten die zunehmende
Ausdifferenzierung und Komplexi-
tätssteigerung der modernen westlichen Gesellschaft in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts zu zuneh-
mend komplexeren Modellen. Dies betrifft zum einen die
Systemtheorien, denen das Modell biologi-
scher Organismen zugrunde liegt. Insbesondere zu erwähnen ist der
Strukturfunktionalismus von
Talcott Parsons, der „institutionalisierte soziale Konstrukte als
sich selbstregulierende Mechanismen
im Dienste von Systemerhaltung und Gleichgewichtsherstellung
versteht.“ 26
Zweitens ist auf das
Modell der Autopoiesis sozialer Systeme von Niklas Luhmann zu
verweisen, 27
welcher im Anschluss
Recht, Wissenschaft, Religion, Gesellschaft etc.) erklärt, deren
Organisationsprinzip binäre Codes
bilden (Gewinn vs. Verlust; Macht vs. Ohnmacht; Recht vs. Unrecht;
Wahrheit versus Unwahrheit
etc.). Diese Funktionssysteme erhalten sich einerseits wie
biologische Organismen selbst und repro-
duzieren sich durch selbstreferenzielle soziale Operationen
(Kommunikation) auch selbst. Anderer-
25
Vgl dazu und im Folgenden, Georg (2005), in: Ammon (2005), S. 379.
26
Dittmar (1997), S. 46f. 27
Soziale Systeme sind nach Luhmann Kommunikationssysteme, deren
Agenten nicht Subjekte sind, sondern die
Kommunikation selbst. Die Wahrscheinlichkeit von Kommunikation wird
in den diversen Funktionssystemen erhöht
durch den Einsatz symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien,
wie etwa Geld für das System der Ökonomie,
Macht für das System der Politik oder Liebe für das System
Bewusstsein. Vgl. dazu Luhmann (1987).
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seits sind sie kognitiv offen, da sie mit ihren Nachbarsystemen in
einem komplexen System-Umwelt-
Austauschverhältnis stehen. Soziale Ungleichheit erscheint hier als
Systemeffekt und nicht als
Kollateralschaden gesellschaftlich verfestigter
Machtverhältnisse.
Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns. Diese lässt sich
beschreiben als Fortsetzung der
Kritischen Theorie unter der Bedingung des ‚linguistic turn‘.
Sprache erscheint bei Habermas als
Medium, welches das Versprechen auf soziale Gleichheit in sich
aufbewahrt. Im Anschluss an
Searles Sprechakttheorie erkennt Habermas in der Kommunikation der
Subjekte Geltungsansprüche,
welche gewissermassen kontrafaktisch den Anspruch auf einen
herrschaftsfreien, auf der Kraft des
besseren Arguments beruhenden Diskurs in sich enthalten. Soziale
Ungleichheit ist auch bei
Habermas ein Systemeffekt. Allerdings versteht Habermas diesen als
Folge von systemischen
Imperativen, die vom prädominanten ökonomischen System auf die
anderen gesellschaftlichen
Subsysteme übergreifen, und diese schleichend dem Diktat
zweckrationalen Handelns unterwerfen.
Die ebenso selektive wie kursorische Diskussion des
Schichtenbegriffs in historischer Perspektive hat
gezeigt, dass Schicht – lange Zeit gewissermassen als „Universale“
in der soziologischen Theorie
angesehen – „weder allgemeingültig zu definieren ist noch die
Phämonene der differenzierten
sozialen Wirklichkeit angemessen erfasst“. 28
Vielmehr erscheint ‚Schicht‘ als ein Konstrukt, das den
gesellschaftlichen Wandel modellhaft zu beschreiben versucht.
Dieser hat die Schichtgrenzen
spätestens seit den 1960er-Jahren zunehmend unscharf werden lassen.
Dieser Sachverhalt hat auch
die gängigen sozioökonomischen Kriterien der sozialen
Stratifikation tangiert: Im Hinblick auf
soziolinguistische Feldforschungen schienen die Faktoren Einkommen,
Beruf, Bildung und soziales
Prestige zur Erklärung von sprachlicher Variation nicht mehr
ausreichend zu sein.
Es ist daher kein Zufall, dass William Labovs bahnbrechende
empirische Studien über die sprach-
lichen Variationen unter der schwarzen und weissen Bevölkerung New
Yorks, die sich in ihrer
theoretischen Ausrichtung signifikanterweise an der Soziologie von
Talcott Parsons orientierten, in
die Mitte der 1960er-Jahre fielen. 29
In der Folge begründeten sie eine stark an den Methoden der
deskriptiven Soziologie orientierte variationslinguistische Schule
in den USA. Worin bestand Labovs
herausragender Beitrag für die Soziolinguistik?
1) Labov beschäftigte sich mit sprachlichen Variationen von
Schwarzen und Weissen in
(städtischen) Gettobezirken. Schon in seiner 1966 erschienenen
Dissertation, einer
28
Dazu und im Folgenden vgl. Dittmar (1997), S. 51-70.
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festgestellt, dass das Schichtgefüge grossstädtischer Soziolekte
30
„nicht mehr mit den
Er sah sich mit dem Faktum
konfrontiert, dass sprachliche Merkmale in den sozialen ‚melting
pots‘ von Grossstädten von
einer Vielzahl sozialer Determinanten abhängen. Regionale Merkmale
– für die traditionelle
Dialektologie das prädominante Kriterium – werden überlagert von
geschlechts-, schicht-, und
alterspezifischen Merkmalen sowie Determinanten der ethnischen
Zugehörigkeit und der
Sprachloyalität. Dies bedeutet zugleich, dass nicht der Idiolekt,
sondern der Soziolekt der
linguistisch relevante Gegenstand ist. 32
2) Den Kern von Labovs Arbeiten bildeten die umfangreichen
Feldforschungen, genauer: das
enorme und mit grosser methodologischer Akribie gesammelte
Datenmaterial, das vor allem
anderen dem Kriterium der Authentizität zu genügen hatte. Labov hat
nach Dittmar insbe-
sondere gezeigt, wie der Beobachter bei Probandenbefragungen eine
Beobachtungssituation
inszenieren kann, ohne dass der Beobachtete sich beobachtet fühlt.
33
Dies ist ersichtlich eine
notwendige Voraussetzung, will man den Anspruch auf authentische
Daten und damit auf
Repräsentativität aufrecht erhalten. Denn wer sich beobachtet
fühlt, tendiert stets zu einer
formelleren, i.e. der normierten Standardsprache angenäherten,
Ausdrucksweise.
3) Bei der Definition der sozial signifikanten linguistischen
Variabeln folgte Labov einem
strukturfunktionalistischen Ansatz. Unter soziallinguistischen
Variablen versteht man
„sprachliche Einheiten, die in auffälliger Weise soziale Bedeutung
in der Sprachverwendung
markieren“. 34
Dabei handelt es sich um Segmente, die wohl in ihrer Ausdrucksform,
nicht
aber in ihrer Bedeutung variieren. Ein Beispiel dazu ist etwa die
Aussprache der Variablen /r/
im Englisch von New York City, deren Varianten von den
Variablenregeln <r-0> (r-los) über
<r+1> bis zu <r+2> reichen und ganz offenkundig sozial
stratifizieren. Ob linguistische
Variablen wie in diesem Beispiel auch wirklich soziale Indikatoren
sind oder nicht, entschei-
det sich an der Korrelation zwischen ihrer Vorkommenshäufigkeit und
den sozialen Merk-
30
Der Begriff Soziolekt bezeichnet nach Bussmann eine sprachliche
Varietät, „die innerhalb einer sozial definierten
Gruppe charakteristisch ist“. Bussmann (2008), S. 634. Soziolekte
spiegeln gesellschaftliche Hierarchien und Praktiken
wider und sind immer gekoppelt an den binären Code von sozialem
Prestige und Stigmatisierung. So sind in Deutschland
etwa nicht-standardsprachliche Soziolekte in der Regel mit geringem
Prestige verbunden. 31
Dittmar (1979), S. 53. 32
Der Soziolekt ist definiert als ein gruppenspezifisches
Sprachverhalten, das von sozialen Situationen und Normen
dterminiert wird. Vgl. Dittmar (1997), S. 62. 33
Damit ist das sogenannte Beobachterparadoxon angesprochen,
demzufolge bei den Probanden das Wissen, beobachtet
zu werden, gerade das verhindert, was beobachtet werden möchte: den
authentischen Ausdruck. Dazu vgl. Dittmar (1997),
S. 56. 34
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malen ihrer Sprecher und Sprecherinnen. An der Eindeutigkeit der
Korrelation lässt sich
ablesen, inwieweit linguistische Variablen prestigebesetzt oder
aber stigmatisiert sind.
4) Labovs Verdienst war es schliesslich, dass er seine
Untersuchungen um die diachrone
Dimension, mithin das soziale Merkmal Alter, ergänzt hat. Dies
bedeutet konkret, dass sie
auch Aussagen zulassen über die Art und die Richtung des
Sprachwandels. Am Beispiel der
New Yorker /r/-Aussprache liess sich feststellen, dass die Variante
<r-0> vornehmlich bei
älteren Sprechern vorkam, wohingegen die jüngeren die Varianten
<r+1> und <r+2>
vorzogen. Letztere Varianten waren ganz offenkundig
prestigebesetzt. Der Umstand, dass
Sprecher der unteren Mittelschicht die <r+>-Varianten
überkompensatorisch verwendeten,
liess erstens darauf schliessen, dass das Prestige sich von oben
nach unten ausbreitet und dass
zweitens der Sprachwandel von der Variante <r-0> zur Variante
<r+> in stratifikatorischer
Hinsicht von der unteren Mittelschicht initiiert wurde, deren
Hyperkorrektheit als Zeichen
sozialer Aufstiegsambitionen zu verstehen ist. 35
Labovs Differenzierung der Stratifikation in untere Unterschicht
(uUS), obere Unterschicht (oUS),
untere Mittelschicht (uMS) und obere Mittelschicht (oMS) ist ein
Hinweis dafür, dass die soziale
Komplexität in der US-amerikanischen Gesellschaft schon Mitte der
1960er-Jahre weit fort-
geschritten war und dass die Durchlässigkeit zwischen den Schichten
erheblich zugenommen hatte. 36
Daran lässt sich erkennen, dass der Schichtbegriff als Paradigma
soziologischer Theorie proble-
matisch geworden ist. Gleichwohl zeigen Labovs Arbeiten, dass sich
der Zusammenhang zwischen
dem Gebrauch sprachlicher Varianten und dem sozioökonomischen
Status der Sprechenden nach wie
vor plausibilisieren lässt. Dies ist freilich in erster Linie das
Verdienst der linguistischen Methodik
und nicht des soziologischen Referenzmodells einer
stratifikatorisch organisierten Gesellschaft.
4. Schreibsprachwandel: Eine soziolinguistische Studie aus
den Jahren 1972 und 2002
4.1. Der Referenzrahmen des Schreibexperiments
In einer Studie führten Steinig et al. im Jahr 1972 mit
Viertklässlern aus dem Ruhrgebiet ein Schreib-
experiment durch, das dreissig Jahre später mit einer
vergleichbaren Versuchspopulation wiederholt
35
Vgl. dazu Dittmar (1997), S. 62. 36
Für dieses Phänomen erfand Ulrich Beck in den 1980er-Jahren die
Metapher des Fahrstuhleffekts. Vgl. dazu
Georg (2005), in Ammon (2005), S. 379.
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14
wurde. 37
1972 waren vier Grundschulen mit insgesamt zehn vierten Klassen an
der Studie beteiligt.
Zwei der Grundschulen befinden sich in Dortmund, zwei in
Recklinghausen, wobei diese entweder in
einem bürgerlich geprägten Stadtviertel oder in einem überwiegend
von Arbeitern bewohnten Viertel
liegen. Die nämlichen Grundschulen waren auch 2002 an der
Untersuchung vertreten, abgesehen von
einer weiteren Klasse, welche in der Wiederholungsstudie zur
Vergrösserung der Versuchspopulation
noch zusätzlich beigezogen wurde. 1972 waren total 254 Kinder
beteiligt, 2002 waren es 276.
Der Schreibanlass war ein knapp dreiminütiger, eigens mit einer
Super-8-Kamera hergestellter
farbiger Tonfilm, der den Kindern im Rahmen einer Schulstunde im
Klassenzimmer gezeigt wurde.
Für die Präsentation im Jahre 2002 war dieser auf eine VHS-Kassette
kopiert woden. Die Handlung
des Filmes war denkbar simpel und folgte „einem einfachen
Erzählschema mit Orientierung,
Komplikation und Auflösung“. 38
- In einem zweiteiligen Vorspann von insgeamt 80 Sekunden Länge
kündigt eine Handpuppe
den Hauptfilm an, dasselbe tun zwei junge Leute, die sich als
Macher des Films zu erkennen
geben.
- Es folgt die eigentliche, von Zehnjährigen mit
Laienspielerfahrung sowie einer ausgebildeten
Schauspielerin gespielte Geschichte: Ein Mädchen geht mit seine
Puppenwagen spazieren,
setzt sich auf eine Parkbank und wird von drei Jungen gehänselt.
Diese nehmen ihr die Puppe
weg, das Mädchen versucht, sie ihnen wieder abzujagen. Eine Frau,
die Zeugin der Auseinan-
dersetzung wird, greift schlichtend ein, indem sie dafür sorgt,
dass das Mädchen die Puppe
wieder zurückkriegt. Das Mädchen bedankt sich und macht sich auf
den Heimweg.
Der Text wurde direkt im Anschluss an die Präsentation des Films
geschrieben. Allen Kindern stand
das gleiche Papier zur Verfügung, die Wahl des Schreibgerätes wurde
freigestellt.
Das Ziel dieser bewusst rigide angelegten Versuchsanordnung
(dieselben Schulen, dieselbe filmische
Vorlage, dieselbe Unterrichtssituation, vergleichbare
Schreibbedingungen) war es, im diachronen
Vergleich der Resultate handfeste Argumente für oder wider einen
schulischen Schreibsprachwandel
– sei es im Hinblick auf den Wortschatz, sei es bezüglich
orthographischer oder grammatischer
Regelkompetenz oder sei es im Hinblick auf die stilistische
Vielfalt – zu sammeln. 39
Erhoben wurden für jedes Kind die folgenden Daten zu
nicht-sprachlichen Variablen:
37
Ders. (2009), S. 25. 39
Vgl. ders. (2009), S. 24.
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15
Geschlecht
Alter
Von besonderem Interesse sind im Zusammenhang dieser Arbeit
insbesondere die ersten beiden
Variablen. Während 1972 sich in der Versuchspopulation noch keine
zweisprachigen Kinder fanden,
traf das Kriterium der Zweisprachigkeit 2002 bereits auf ein
Viertel (24,8%) der untersuchten Kinder
zu. 41
In all diesen Fällen konnte die Bilingualität auf einen
Migrationshintergrund zurückgeführt
werden. 42
Im Jahre 2002 verteilte sich im gesamten Bundesland
Nordrhein-Westfalen der Anteil von
Ausländerkindern – dazu werden auch die rechtlich als Deutsche
erfassten Kinder von Aussiedlern
gerechnet – auf die verschiedenen Schultypen wie folgt:
Hauptschule: 32,6%
Gesamtschule: 22,3%
Realschule: 14,4%
Mitschüler. Steinig bestreitet, dass die sogenannten
Kulturdifferenzhypothese eine stichhaltige Erklä-
rung dafür bietet. 44
Diese geht davon aus, dass der kulturelle Hintergrund der
Elterngeneration wie
Unterschiede im Erziehungsstil, andere Norm- und Wertvorstellungen,
religiöse Bindungen etc. eine
Anpassung an die Bedingungen und Gepflogenheiten von deutschen
Schulen verhindert. Steinig
macht demgegenüber geltend, dass der Migrationshintergrund sich nur
in Kombination mit niedriger
Bildung und tiefem sozialem Status der Eltern negativ auf den
Bildungserfolg der Kinder auswirkt.
Dies zeige sich deutlich am überdurchschnittlich hohen Anteil an
Gymnasiasten bei ausländischen
40
Vgl. ders. (2009), S. 31. 41
Vgl. ders. (2009), S. 33. 42
Die Migranten lassen sich in Deutschland in vier Gruppen aufteilen:
(a) Arbeitsmigrantien aus süd- und
südosteuropäischen Ländern; (b) Deutschstämmige Aussiedler aus
Rumänien, Polen und Gebieten der ehemaligen
Sowjetunion; (c) Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber; (d)
Zuwanderer aus Ländern der EU und anderen Ländern,
die im Rahmen der internationalen Arbeitsmobilität nach Deutschland
kommen. Vgl. Steinig (2009), S. 32. 43
Steinig et al. (2009), S. 34. 44
Steinig (2009), S. 35 f.
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16
Kindern, deren Eltern ein hohes Bildungsniveau aufweisen sowie
einen hohen sozialen Status in
Herkunftsland besassen.
Dieses Faktum legt bereits nahe, dass die Zugehörigkeit zur
sozialen Schicht gegenüber dem
Migrationshintergrund das prädominante Kriterium darstellt, wenn es
um die Frage des Bildungs-
erfolgs geht. Die Schichtzugehörigkeit der Familien versuchten
Steinig et al. 1972 wie in sozio-
logischen Untersuchungen jener Zeit üblich nach folgenden Variablen
zu bestimmen:
- berufliche Stellung des Hauptverdieners
Gründe dafür orten Steinig et al. in einem beschleunigten
gesellschaftlichen Wandel seit 1972:
„Die Bildung, gemessen an den Schulabschlüssen der Eltern, hatte
sich aufgrund der Bildungs-
expansion im Untersuchungszeitraum derartig stark verändert, dass
sie keine sinnvolle Vergleichs-
basis bieten konnte. Auch die Einkommensverhältnisse haben sich in
einer Weise entwickelt, dass
uns eine Vergleichbarkeit anhand dieses Kriteriums nicht mehr
möglich erschien. Es blieb also nur
der Beruf.“ 45
In der Tat wird der Begriff der Schicht mit zunehmender sozialer
Ausdifferenzierung immer unschär-
fer (vgl. oben Kap. 3) und damit als Kriterium zur Bestimmung der
sozialen Lage eines Subjekts
zunehmend fragwürdig. In modernen Industrie- und
Dienstleistungsgesellschaften spielen Wert-
orientierungen und Erziehungsvorstellungen im Verhalten der
sozialen Aktoren eine zunehmend
wichtige Rolle. Soziale Milieus lassen sich mithin mit den
klassischen soziologischen Kriterien nur
noch unzureichend erfassen. 46
eine Aufteilung in die folgenden drei Schichten vor:
Unterschicht (US): Die Eltern dieser Kinder gehen einer manuellen
Tätigkeit nach.
untere Mittelschicht (uMS): Die elterlichen Vertreter dieser
Schicht versehen Routine-
tätigkeiten mit geringer Verantwortung wie z. Bsp. einfache
Angestellte oder Beamte oder
Gewerbetreibende mit geringem Einkommen. Auch Vorarbeiter, Meister
und Techniker wer-
den dieser Klasse zugerechnet, „sofern sie keine vorwiegend
manuelle Tätigkeit ausüben“. 47
45
Steinig et al. (2009), S. 40.
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17
obere Mittelschicht (oMS): Dazu werden Kinder gerechnet, deren
Väter Tätigkeiten
ausführen, die Entscheidungskompetenz und Verantwortung verlangen.
Typischerweise
gehören dieser Klasse höhere oder mittlere Beamte, Angehörige
freier akademischer Berufe
sowie Unternehmer mit mehr als fünf Angestellten an.
Die Einteilung der Kinder in diese drei Schichten orientiert sich
an den sogenannten EPG-Klassen
wie sie auch zur Klassifizierung der Schülerinnen und Schüler in
der PISA- (2001) und der IGLU-
Studie (2003) verwendet wurden. 48
Allerdings haben Steinig et al. die insgesamt sieben
EGP-Klassen
in die oben beschriebenen drei zusammengefasst, da aufgrund der
vergleichsweise kleinen und histo-
risch differenten Versuchspopulationen die Skala zu feinmaschig
geraten wäre, um noch aussage-
kräftig zu sein. Die Verteilung nach sozialen Schichten ergab
folgendes Bild: 49
soziale Schicht US uMS oMS gesamt
1972 119 (52,4%) 53 (24,3%) 55 (24,2%) 227
2002 63 (25,2%) 62 (24,8%) 100 (40%) 250
Die Zahlen erhellen, dass sich im diachronen Vergleich eine
typische Verschiebung in der sozialen
Schichtung ergeben hat, wie sie auch von Beck (1986) festgestellt
worden war: Der Anteil der
Kinder, die der oberen Mittelschicht zugerechnet werden konnten,
hat sich annähernd verdoppelt,
während der Anteil der Unterschichtenkinder sich halbiert hat.
Verstärkt wurde dieser Fahrstuhleffekt
zweifellos durch einen sozioökonomischen Strukturwandel, von dem
das Ruhrgebiet – traditionell
eine Region mit einem hohen Anteil an Beschäftigten im Bergbau und
der Stahlindustrie – in den
vergangenen 30 Jahren besonders betroffen war.
In den 1970er-Jahren haben viele soziolinguistische Studien, die im
Kontext von Basil Bernsteins
Code-Theorie realisiert wurden, den Zusammenhang zwischen
Schichtzugehörigkeit und sprachlicher
Kompetenz – auch in schriftlichen Texten – bestätigt. Im Anschluss
an die Hypothese von Sapir und
48
Das Akronym EGP setzt sich aus den Initialen der Verfasser Erikson,
Goldthorpe und Portocarero zusammen, die
dieses Schichtenmodell erstmals 1979 in einer Studie vorgeschlagen
hatten. Vgl. dazu Erikson/Goldthorpe/Portocarero
(1979). Die unterscheidungsrelevanten Kriterien zur Bestimmung der
Schichtzugehörigkeit sind dort die Art der Tätigkeit
(manuell/nicht-manuell), die berufliche Stellung
(selbstständig/angestellt), die Weisungsbefugnisse
(keine/geringe/grosse)
sowie die berufliche Qualifikation (keine/niedrige/hohe). Vgl. dazu
auch Steinig et al. (2009), S. 40 f. 49
Steinig et al (2009), S. 43. Das Total der ausgewerteten Fälle im
Jahre 2002 (250) weicht von der Gesamtzahl der erho-
benen Fälle (276) ab, weil bei 26 Schülerinnen und Schülern die
Schichtzugehörigkeit nicht zu ermitteln war.
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18
Whorf (vgl. oben Kap. 2) machte Bernstein in seinen Arbeiten seit
dem Ende der 1950er-Jahre eine
Korrelation von Sprachvermögen und Kognition geltend, derzufolge
Kinder aus bildungsfernen
Unterschichtenfamilien über einen nur restringierten sprachlichen
Code verfügen, was ihre Bildungs-
chancen erheblich einschränkt. Demgegenüber bedienen sich Kinder,
die einem bildungsnahen
sozialen Milieu entstammen, eines elaborierten – und das heisst
auch: tendenziell an konzeptioneller
Schriftlichkeit orientierten 50
Offenbar
teilt Steinig Bernsteins Überzeugung, dass die soziale Herkunft die
sprachliche Kompetenz in einer
Weise prädeterminiert, welche den schulischen Erfolg oder
Misserfolg entscheidend beeinflusst. 52
Denn – so heisst es bei Steinig:
„Das kommunikative Verhalten von Erwachsenen in der Familie –
untereinander und mit Kindern –
scheint stark von ihren beruflichen Positionen und Rollen geprägt
zu sein. Je enger ihre beruflichen
Gestaltungsräume und Entscheidungsbefugnisse sind, desto geringer
ist für sie die Notwendigkeit, in
differenzierter, elaborierter Form zu kommunizieren. Wer in seinem
Beruf in eng begrenzten und
mehr oder weniger vorhersagbaren Abläufen zu funktionieren hat, für
den ergeben sich seltener
Situationen, in denen sprachliche Genauigkeit, begriffliche
Präzision und argumentative Schärfe
gefragt sind. Ein durch die Arbeit geprägtes verbales
Anforderungsprofil scheint sich auf die
familiale Situation zu übertragen.“ 53
Dieses Zitat erhellt, warum für Steinig der Beruf als Kriterium für
die Bestimmung der
Schichtzugehörigkeit von so herausragender Bedeutung ist. Die
zentrale Frage, über welche die
Studie von Steinig et al. Aufschluss zu geben verspricht, lautet:
Haben sich im Untersuchungszeit-
raum von 30 Jahren die schichtspezifischen sprachlichen
Unterschiede signifikant verändert und
wenn ja, in welcher Weise ist dies der Fall?
Steinig geht also davon aus, dass das kommunikative Verhalten in
der Familie wesentlich durch die
berufliche Stellung der Eltern geprägt ist und dass dieses
Verhalten auch den Spracherwerb und die
kommunikativen Fähigkeiten der Kinder entscheidend prägt.
Sprachliche Äusserungen sind demnach
50
1980er-Jahren veröffentlichten Arbeiten von Wulf Oesterreicher und
Peter Koch. Sie definieren Schriftlichkeit bzw.
Mündlichkeit nicht primär als Funktion des Mediums (Schrift bzw.
Laut), sondern als differente Konzepte des sprach-
lichen Ausdrucks, deren Referenz die gewissermassen
sprecherneutrale Standardsprache bzw. die sprecherzentrierte
Umgangssprache darstellt. Dazu vgl. auch Steinig et al. (2009), S.
15 und S. 49 f. 51
Vgl. dazu Bernstein (1972), S. 87-107. 52
Dem scheint allerdings die Bemerkung Steinigs zu widersprechen,
dass die Untersuchung „nicht mehr der Code-
Theorie Bernsteins verpflichtet [sei]“ (Steinig et al., 2009, S.
55) und es dabei weder um eine Verifizierung noch um eine
Falsifizierung derselben gehe. Daher habe man sich „auch nicht von
[deren] Annahmen bei der Auswahl sprachlicher
Merkmale leiten [lassen]“. Vielmehr habe man sich „möglichst
unvoreingenommen gefragt, welche Eigenschaften und
Merkmale für unsere Schülertexte charakteristisch sind und bei
welchen sich eine schichtspezifische Varianz beobachten
liesse.“ Ders., 2009, ebda. – Dem ist entgegenzuhalten, dass es
eine solche Verpflichtung nicht dem Buchstaben, aber
unzweifelhaft dem Geist Bernsteins nach gibt. Wie anders wären
Steinigs soziologische Begründungen für eine
Korrelation von Schichtzugehörigkeit (respektive beruflicher
Stellung der Eltern) und Sprachcode zu verstehen? 53
Steinig et al. (2009), S. 48.
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19
sind. 54
Das Design des Schreibexperiments mit Schülerinnen und Schülern der
vierten Grundschulklasse
habe ich oben (vgl. S. 13 f.) bereits skizziert. Gegen Steinigs
Valorisierung der Schichtzugehörigkeit
als eines Prädiktors (auch) für schriftsprachliche Leistungen
liesse sich einwenden, dass das
Schreiben – anders als das Sprechen – erst mit der Einschulung
erlernt wird, weshalb das soziale
Milieu im Hinblick auf den Erwerb und die Ausprägung von
Schreibkompetenzen eine bestenfalls
untergeordnete Rolle spielt. 55
Eltern und insbesondere deren berufliche Situation geprägt ist. Zum
Anderen verweist er auf die
Scholastik-Studie aus dem Jahre 1997, in der nachgewiesen wurde,
dass Rechtschreibeleistungen sich
Kompetenzen verdanken, die bereits in der Vorschulzeit erworben
wurden. Ebenfalls zu erwägen
wäre weiter der von der Steinigs Studie nicht erfasste Einfluss,
welche Peergroups auf die Schreib-
kompetenz haben. Diese Unterlassung begründet Steinig damit, dass
Peergroups erwiesenermassen
erst in der Pubertät eine dominante Rolle zu spielen
begännen.
Im Folgenden werde ich die wesentlichen Ergebnisse des diachronen
Schreibexperiments kurz
vorstellen. Die erste Tabelle zeigt die Rangfolge derjenigen
sprachlichen Variablen, welche am deut-
lichsten mit der Schichtzugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler
korrelieren. 56
1972 2002
3. exophorische Referenz 3. Schriftbild
54
Dazu und im Folgenden vgl. ders. (2009), S. 54. 56
Steinig et al. (2009), S. 350.
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20
und Tempusgebrauch wurden 1972 exklusiv
ermittelt, weshalb diese in der Liste von 2002 nicht erscheinen.
Das gleiche gilt umgekehrt für die
vier Variablen Wortschatz, Schriftbild, Verbmorphologie und
Hypotaxe, die für 2002 exklusiv unter-
sucht wurden.
Als grundsätzliches Resultat ihrer Studie halten Steinig et al.
fest, „dass 2002 die sozial
diskriminierenden Effekte der […] untersuchten sprachlichen
Merkmale grösser waren. Der
schriftliche Sprachgebrauch ist auf allen Ebenen
schichtspezifischer geworden.“ 58
Darauf ist zurück-
(1) Normabweichende Kasusmarkierungen und Rechtschreibfehler
korrelieren für beide
Jahrgänge auffällig mit der sozialen Schicht der Kinder. Dies
bestätigt nach Steinig et al. die
Vermutung, dass Kinder aus sozial tieferen Schichten in der Tendenz
ein schriftsprachliches
Verhalten zeigen, das sich an konzeptioneller Mündlichkeit
orientiert.
(2) In der Untersuchung von 1972 ergab sich eine Sonderstellung von
Kindern aus der unteren
Mittelschicht. Auffällig war, dass bei ihnen die Fehlerwerte bei
all jenen Variablen am tiefsten
waren, welche die Norm konzeptioneller Schriftlichkeit prototypisch
vertreten. Kinder der
unteren Mittelschicht wiesen demnach von allen Schichten die
geringste Zahl exophorischer
Referenzen auf, und sie verwendeten am konsequentesten das
Präteritum als narratives
Tempus. Demgegenüber fielen sie in Bezug auf die Merkmale Textlänge
und Wortschatz ab.
Ihre Texte waren am kürzesten und zeigten den geringsten Umfang im
Wortschatz. Steinig
erklärt diesen, Bernsteins Code-Theorie widersprechenden Befund
damit, dass 1972 für
Kinder der unteren Mittelschicht schulischer Erfolg offenbar ein
hohes Prestige besass,
weshalb sie den normativen Erwartungen auch am meisten zu
entsprechen versuchten.
57
Mit der exophorischen Referenz sind Bezüge gemeint, die nicht auf
andere sprachliche Einheiten im Text (= Endo-
phora) verweisen, sondern auf Referenten ausserhalb des Textes. Es
handelt sich m. a. W. um deiktische Verweise, die
Bezug nehmen auf textexterne Gegebenheiten und also die Kenntnis
des situativen Kontextes voraussetzen, auf den der
Verweis referiert. Ein Beispiel: [Frau deutet an die Decke und sagt
zu ihrem Mann:] Hast du jetzt endlich mal mit denen
da oben geredet? Die Äußerung der Frau ist nur dann vollständig
interpretierbar, wenn Informationen über den situativen
Kontext zur Verfügung stehen. Die Variable der exophorischen
Referenz sah Bernstein als einen wichtigen Indikator für
den restringierten Code an. 58
Steinig et al. (2009), S. 350.
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21
Andererseits schienen sie sprachliche Risiken vermeiden zu wollen:
Um ‚nichts falsch zu
machen‘ schrieben sie die kürzesten Texte und hielten sich bei der
Wortwahl zurück.
(3) Diese Sonderstellung der Kinder aus der unteren Mittelschicht
ging im Laufe des Unter-
suchungszeitraums verloren. Erstaunlicherweise bestätigten die
Resultate von 2002 im Unter-
schied zu denjenigen von 1972 Bernsteins Code-Theorie. Mit anderen
Worten: 2002 verfüg-
ten Unterschichtenkinder über den restringiertesten, Kinder der
oberen Mittelschicht über den
elaboriertesten Code. Generell zeigt der diachrone Vergleich, dass
sich der sozialstrati-
fikatorische Effekt im Untersuchungszeitraum verschärft und die
Schere in Relation auf
schriftsprachliche Kompetenzen sich weiter geöffnet hat. Dies
veranschaulichen die folgenden
Tabellen zu den Variablen Rechtschreibung, Kasusmarkierung und
Wortschatz.
Rechtschreibung 59
1972 2002
Fehler pro 100 Wörter 7,23 8,51 4,87 16,47 12,83 9,33
Dass die Rechtschreibekompetenz in einem engen Zusammenhang mit
Schriftnähe und Schriftferne
steht, ist unbestritten. Wenn man davon ausgeht, dass Kinder aus
sozial tieferen Schichten sich an
einer konzeptionellen Mündlichkeit orientieren, überrascht dieses
Ergebnis nicht. Überraschend ist
auf den ersten Blick allerdings die massive Zunahme der
durchschnittlichen Fehlerquote im Jahr
2002, welche sich von 6,94 auf 12,26 Fehler annähernd verdoppelt
hat. 60
Diesen Sachverhalt führen
die Autoren der Studie unter Verweis auf die Lehrpläne von 1969
respektive 1985 darauf zurück,
dass die Zeitanteile für den Rechtschreibunterricht seit Mitte der
1985er-Jahre stark gesunken sind.
Fehlerhaftem Schreiben begegneten die Lehrpersonen aus
sprachdidaktischen Gründen weit
toleranter als in den 1970er-Jahren, um mit der Anforderung nach
orthographischer Korrektheit nicht
die Motivation zur schriftlichen Textproduktion zu untergraben.
Dieser grundsätzlich zu begrüssende
didaktische Pardigmenwechsel hat offenbar ein zweifelhaftes
Resultat zur Folge: Die Recht-
schreibleistungen streuten 2002 wesentlich mehr als 1972 und sind
insbesondere am Übergang zur
59
Steinig et al. (2009), S. 257. 60
Vgl. dazu und im Folgenden Steinig et al. (2009), S. 380.
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22
Sekundarstufe 1, welcher in Nordrhein-Westfalen nach Ablauf der 4.
Klasse erfolgt, zu einem starken
Prädiktor für schulische Selektion geworden.
Kasusmarkierung 61
1972 2002
Gesamt 62 1,76 0,97 0,74 2,02 1,14 0,74
Auch in der Häufigkeit der normabweichenden Kasusverwendung zeigen
sich deutliche schicht-
spezifische Unterschiede. Das gleiche Ergebnis hat im Übrigen 1976
eine Untersuchung mündlicher
Erzählungen gezeigt. 63
Die vorliegenden Resultate lassen sich wiederum mit der bei
Unterschichten-
kindern verbreiteten Orientierung an einer konzeptionellen
Mündlichkeit erklären. Auffällig ist, dass
der Wert für Normabweichungen bei Kasusmarkierungen bei Kindern aus
der oberen Mittelschicht in
beiden Jahrgängen derselbe geblieben ist, wohingegen er sich in den
beiden anderen Schichten
verschlechtert hat. Dass 2002 die Zunahme bei Kindern aus der
Unterschicht am markantesten
ausgefallen ist, erklären Steinig et al. mit der Zunahme von
Schülern mit Migrationshintergrund, die
in der Unterschicht am stärksten vertreten sind. 64
Wortschatz 65
1972 2002
US uMS oMS US uMS oMS
Umfang des aktiven Wortschatzes 66 77,26 70,97 77,76 72,59 83,51
93,62
61
Mittelwert pro 100 Wortformen. 63
Vgl. dazu Steinig (1976), Steinig et al. (2009), S. 322. 64
Steinig et al. (2009), S. 323. 65
Steinig et al. (2009), S. 123. 66
Mittelwert. Je höher der Wert ist, umso umfangreicher ist der
verwendete Wortschatz.
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23
zur Unterscheidung von elaboriertem und restringiertem Code
ausmachte, 67
zeigen sich im dia-
chronen Vergleich die markantesten Unterschiede. Während für 1972
die Werte von Kindern aus der
Unterschicht praktisch identisch waren mit denjenigen von Kindern
aus der oberen Mittelschicht,
lässt sich 2002 eine stratifikatorische Verteilung feststellen, die
Bernsteins Hypothesen zur Code-
Theorie entspricht: Die Unterschicht verfügt über den
restringiertesten, die obere Mittelschicht über
den elaboriertesten Code. Die u-förmige Verteilung der Werte aus
dem Jahr 1972 erklären die
Autoren der Studie mit einem „soziolektalen Differenzparadigma“,
68
demzufolge bei Kindern der
Unterschicht und der oberen Mittelschicht zwar die stilistischen
und lexikalischen Kompetenzen
ähnlich breit gestreut sind. Differenzen vermuten sie aber in der
verwendeten Lexik: Diese dürfte sich
bei Unterschichtenkindern stärker aus einem konzeptionell
mündlichen Wortschatz alimentieren,
wohingegen Kinder der oberen Mittelschicht eher auf einen
konzeptionell schriftlichen Wortschatz
zurückgreifen. 69
Sehr eindrücklich zeigt sich im diachronen Vergleich jedoch am
Bereich der Lexik,
in welch dramatischem Ausmass die schichtspezifischen Unterschiede
im Untersuchungszeitraum
angewachsen sind. Während der Wortschatzumfang für
Mittelschichtkinder markant zugenommen
hat, ist er bei den Unterschichtenkindern sogar geschrumpft. Es ist
zu vermuten, dass die Haupt-
ursache für diese Entwicklung in der starken Zunahme von Kindern
mit Migrationshintergrund zu
suchen ist (+24,8%).
4.3. Diskussion der Studie
Das Verdienst von Steinigs Untersuchung liegt darin, dass sie nicht
nur Aufschluss gibt über das
Ausmass der Schichtabhängigkeit von Bildungschancen an Grundschulen
im Ruhrgebiet, sondern
auch über die Gründe, welche diese Diskriminierung begünstigen.
Daraus lassen sich gewichtige
Argumente sowohl für die bildungspolitische wie für die
sprachdidaktische Debatte ableiten. So
plausibilisiert Steinig, dass die frühe Selektion nach der 4.
Klasse mit dem Übertritt in Gymnasien,
Real- oder Hauptschulen vor allem Unterschichtenkinder
benachteiligt, weil sie letztlich der Chance
67
Der elaborierte Code zeichnet sich nach Bernstein insbesondere
durch eine grössere Vielfalt von Präpositionen,
Adverbien und ungewöhnlichen Adjektiven aus. Dazu vgl. Steinig et
al. (2009), S. 123. 68
Ders. (2009), S. 124. 69
Steinig hält in diesem Zusammenhang fest, dass es weitreichende
Überschneidungen zwischen den Theoriemodellen
von Koch/Oesterreicher und Bernstein gibt: „Sprachliche Phänomene,
die Bernstein dem restringierten Code zugewiesen
hat, lassen sich meist als konzeptionell mündlich interpretieren,
Phänomene des elaborierten Codes als konzeptionell
schriftlich.“ Ders. (2009), S. 123.
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24
In sprachdidaktischer
Perspektive scheint mir der Hinweis Steinigs besonders
bemerkenswert, dass der Paradigmenwechsel
von einer tendenziell lehrerzentrierten, instruktionistischen
Sprachdidaktik (wie sie in den 1970er-
Jahren gepflegt wurde) hin zu einer konstruktivistischen Didaktik
(wie sie seit Mitte der 1980er-Jahre
in den Schulstuben Einzug gehalten hat), zwar bei Lernern aus dem
bildungsnahen Milieu zu
erfreulichen Resultaten geführt hat, dass sie aber
Unterschichtenkinder – nolens volens – auch wieder
benachteiligt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Kinder aus einem
bildungs- und schriftfernen
Milieu wären gerade auch in Bezug auf den Erwerb
schriftsprachlicher Kompetenzen in besonderem
Masse auf Instruktion angewiesen.
nicht weiter auf die zweifellos bedenkenswerten bildungspolitischen
und sprachdidaktischen Implika-
tionen und Argumente eingehen. Vielmehr möchte ich auf zwei
soziologische Prämissen in Steinigs
Studie fokussieren, die mir zumindest in Teilen problematisch
scheinen:
(I) Erstens scheint mir die herausragende Rolle, welche Steinig der
Herkunftsfamilie im
Hinblick auf den Spracherwerb und die Aneignung schriftsprachlicher
Kompetenzen
einräumt, der sozialen Realität nicht (mehr) angemessen und daher
zweifelhaft.
(II) Zweitens halte ich Steinigs Zuweisung der Studienteilnehmer zu
einer sozialen Schicht
aufgrund einer einzigen Variablen, der des Berufs, für
methodologisch fragwürdig.
Ad (I): Steinig et al. betonen, wie wichtig die Art des Umgangs mit
Schrift in der Herkunfts-
familie für den Erwerb schriftsprachlicher Fertigkeiten ist.
Frühere schulische Misserfolge der
Eltern sowie eine berufliche Situation, die nur sehr eingeschränkt
kommunikative Kompetenzen
erfordert, generieren – so die Annahme Steinigs – eine familiale
Kultur der Schriftferne, 71
welche
sich an die Kinder im Sinne einer negativen Prädisposition
gegenüber Schriftsprachlichkeit
‚vererbt‘. Nun ist die Bedeutung elterlicher Einstellungen
gegenüber Schule und Bildung in den
letzten Jahren im Zusammenhang mit der Diskussion um den Einfluss
der sozialen Variablen
Bildungsnähe respektive Bildungsferne in den Fokus gerückt und soll
hier nicht grundsätzlich
bestritten werden. Doch gibt es in familiensoziologischer
Perspektive Argumente dafür, dass
Steinig et al. den Einfluss der familialen Kultur auf die
Sprachkompetenzen und damit letztlich
70
Steinigs Befund ist klar: „Die soziale Schere zwischen
kompetenteren und weniger kompetenten Schreibern hat sich
seit 1972 weit geöffnet. Die Empfehlungen für den Übergang auf die
Sekundarstufe bestätigen diese Entwicklung: Die
schriftsprachlichen Unterschiede bei der Zuordnung zu den einzelnen
Schularten sind noch grösser geworden als
zwischen den sozialen Schichten. Die Klassifizierung nach
Schularten spiegelt die soziale Klassifizierung nicht nur,
sondern lässt sie deutlicher hervortreten. Der Grundschule gelingt
es nicht, bestehende sozial bedingte sprachliche
Unterschiede auszugleichen. Sie scheint sie, eher im Gegenteil,
noch zu verstärken.“ Steinig et al. (2009), S. 344. 71
Vgl. dazu Steinig et al., S. 54.
Deutsches Seminar Universität Zürich Schriftliche
Einzelarbeit
Seminar: Varietätenlinguistik FS 2012
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auf die Bildungschancen der Kinder tendenziell überschätzen. Der
Grund liegt darin, dass die
Autoren der Studie bei den Herkunftsfamilien von einem
familiensoziologischen Paradigma
ausgehen, das den Status einer Norm zunehmend einzubüssen scheint.
Es handelt sich dabei um
die Norm der Kernfamilie. Diese ist offenbar unter den Bedingungen
einer funktional aus-
differenzierten, globalisierten und zunehmende Mobilität
erfordernden Gesellschaft einem
beschleunigten Strukturwandel und Prozess der Delegitimierung
ausgesetzt. Es stellt sich daher
die Frage, ob Steinig et al. diesem Strukturwandel in der
Interpretation ihrer Daten genügend
Beachtung schenken. In der Folge seien einige statistische
Sachverhalte genannt, die den
angesprochenen Wandel der Familienform indizieren:
1) Die traditionelle Form der Kernfamilie war in unseren
Gesellschaften in den vergangenen
30 Jahren einem fortschreitenden Erosionsprozess ausgesetzt, für
den etwa die Schlagworte
‚Individualisierung der Lebensführung‘, ‚Pluralisierung der
Familienformen‘ und ‚Polarisie-
rung der privaten Lebensentwürfe‘ stehen. Familiensoziologisch
zeigt sich diese Erosion in
einer markanten Zunahme von Kindern, die in alternativen
Familienformen – in nicht-ehe-
lichen Partnerschaften, Patchworkfamilien oder bei einem allein
erziehenden Elternteil –
aufwachsen. Ein Mikrozensus aus dem Jahre 2006 hat ergeben, dass
dies in Deutschland 1996
bereits bei 19% der Kinder der Fall war, 2006 lag die Quote schon
bei 26%. 72
In Grossstädten
wie Berlin lag der Anteil gar bei fast 50%. Dieser
Pluralisierungsprozess spiegelt sich auch in
einer steigenden Scheidungsrate wieder. Im Jahre 2009 lag diese in
Nordrhein-Westfalen
bereits bei 50%. 73
ditionellen familialen Rollenaufteilung. Statistisch manifestiert
sich das in einer wachsenden
Erwerbsbeteiligung von Müttern. Zwar treten diese im Vergleich zu
früher tendenziell später
in das Berufsleben ein, doch hat die Häufigkeit ihrer
Berufstätigkeit insgesamt deutlich zu-
und die Dauer des Unterbruchs derselben abgenommen. Im
gesamtdeutschen Durchschnitt
waren 2008 sechs von zehn Frauen mit Kindern unter 15 Jahren
berufstätig. 74
3) Die Folge dieses veränderten Erwerbstätigkeitsmusters von
Müttern ist eine deutliche
Zunahme der Nachfrage nach Krippen- und Hortplätzen. Ein sicheres
Indiz dafür sind die in
den letzten Jahren zu diesem Thema geführten öffentlichen
Diskussionen in Deutschland (wie
72
familie-stirbt-aus-a-520186.html 73
Vgl. dazu Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport
des Landes Nordrhein-Westfalen (2012),
www.familie-in-nrw.de/familienstrukturen.html 74
Seminar: Varietätenlinguistik FS 2012
26
auch in der Schweiz). Insbesondere in städtischen Ballungszentren
wurde in jüngerer Zeit das
Betreuungsangebot erheblich ausgebaut. Es ist zu vermuten, dass
dieses Angebot auch von
Migrantenfamilien genutzt wird, bei denen nicht selten beide
Elternteile einer Erwerbs-
tätigkeit nachgehen. Dies bedeutet in der Konsequenz auch, dass
ausserfamiliale Einrich-
tungen wie Krippen und Horte im Hinblick auf die sprachliche
Sozialisation der Kinder eine
zunehmend wichtige Rolle übernehmen. Meines Wissens gibt es keine
Untersuchungen,
welche die sprachlichen Kompetenzen von fremdbetreuten
Migrantenkindern mit denjenigen
nicht-fremdbetreuter Kinder vergleichen. Es wäre zweifellos sehr
interessant zu sehen, ob und
inwiefern die Resultate einer solchen Untersuchung dann mit der
sozialen Stratifikation der
Herkunftsfamilien korrelieren. 75
4) Im Untersuchungszeitraum von Steinigs Studie ist der Anteil an
Migrantenkindern von 0
im Jahre 1972 auf annähernd 25% im Jahre 2002 angewachsen. Der
grösste Teil davon dürfte
der Unterschicht zugewiesen worden sein. Leider spezifiziert die
Studie nicht nach Kindern
mit Migrationshintergrund. Zwar vermuten Steinig et al., dass die
deutliche Verschärfung der
sozial diskriminierenden Effekte im Jahre 2002 auch eine Folge des
massiv gestiegenen
Anteils an Migrantenkindern ist. Die Autoren machen aber auch
geltend, dass der sozial
diskriminierende Faktor nicht primär die Zweisprachigkeit
darstelle, sondern die Schicht-
zugehörigkeit. 76
Steinig belegt dies mit dem Verweis auf Kinder von Vietnamesen, die
über-
durchschnittlich häufig Gymnasien besuchen. Mir scheint dieses
Argument nicht sehr
stichhaltig. Asiatische Kulturen gelten in der Regel zum einen als
sehr anpassungsfähig und
zum anderen als ausgesprochen leistungsorientiert. Der Umstand,
dass vietnamesische
Migrantenkinder den Schritt an ein Gymnasium relativ gesehen öfter
schaffen als dies
deutsche Kinder tun, ist kein Argument gegen den diskriminierenden
Einfluss der Zwei-
sprachigkeit, sondern eines für die bildungsfördernde Bedeutung der
Herkunftskultur.
AD (II): Es ist gleichwohl nicht zu bestreiten, dass ein enger
Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und Bildungschancen besteht. Dies belegten auch die
Pisa-Studien sowie Untersuchungen
zur sozialen Mobilität und zur Frage der sogenannten
Schichtvererbung. 77
Allerdings wäre gerade im
75
Man mag dagegen einwenden, dass es dabei um den Erwerb mündlicher
Kompetenzen geht und eben nicht – wie in
Steinigs Studie – um den schriftsprachlichen Kompetenzenzuwachs.
Allerdings hat Steinig selbst darauf verwiesen, dass –
wie eigene Untersuchungen gezeigt hätten – die Defizite bei
Unterschichtenkindern im mündlichen wie im schrift-
sprachlichen Ausdruck die nämlichen seien. 76
Dazu und im Folgenden vgl. Steinig (2009), S. 368. 77
Dazu vgl. etwa Volker-Müller-Benedict (1999),
http://www.uni-koeln.de/kzfss/materialien/ksmobil.htm. Von
einer
sozialen Schicht wird dann gesprochen, wenn drei Voraussetzungen
erfüllt sind: (1) Die soziale Lage ist kein
Einzelschicksal, sondern wird mit anderen geteilt, (2) sie ist auf
Dauerhaftigkeit angelegt, und (3) es gibt eine ‚Vererbung‘
Seminar: Varietätenlinguistik FS 2012
27
Falle von Migrantenkindern bei der Auswertung der Daten der eher
fördernde respektive hemmende
Einfluss der Herkunftskulturen auf die Bildungschancen zu
berücksichtigen. 78
Dies würde eventuell
Merkmal des Berufs methodologisch problematisch ist. Gerade
Zuwanderer arbeiten im Gastland
nicht selten in Berufen, die nicht ihrer im Herkunftsland
erworbenen Qualifikation entsprechen. Ihre
Kinder werden gemäss ihrer beruflichen Tätigkeit im Gastland dann
der Unterschicht zugewiesen,
obschon die Eltern ihrem Bildungsstand nach der Mittelschicht
zugerechnet werden müssten. Ein
zusätzliches kritisches Argument, das die Zuverlässigkeit der
Schichtenzuweisung aufgrund der aus-
schliesslichen Variablen Beruf in Zweifel zieht, liefert Steinig
selbst. 79
Im Anschluss an Becks
Untersuchungen zur Risikogesellschaft wurde in der Soziologie seit
Mitte der 1980er-Jahre
wiederholt postuliert, die soziale Lage nicht mehr über das Merkmal
der Schichtzugehörigkeit zu
definieren, sondern über die Kategorie des sozialen Milieus, welche
der in modernen Industrie- und
Dienstleistungsgesellschaften zunehmenden Vielfalt von
Lebensentwürfen und damit auch den
unterschiedlichen Wertorientierungen und Erziehungsvorstellungen
besser Rechnung trüge. Steinig
verweist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel einer jungen
Familie, in der die Mutter noch in
Ausbildung befindlich ist und der Vater als frisch gebackener
Akademiker in Ermangelung eines
adäquaten Berufsangebots als Taxifahrer oder Praktikant arbeitet.
In Deutschland wurden solche
Fälle seit Mitte der 2000er-Jahre unter den Stichworten ‚Prekariat‘
und ‚Generation Praktikum‘ in
den Medien diskutiert. 80
Darin wird das Bild einer überdurchschnittlich gut ausgebildeten
Generation
aus der urbanen Mittelschicht entworfen, die im Widerspruch lebt,
bei hohem Sozialstatus stetig
prekäreren Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt zu sein.
Diese Beispiele mögen erhellen,
dass die soziale Mobilität in den vergangenen Jahren in beide
Richtungen zugenommen hat und dass
dieser ‚Fahrstuhleffekt‘ zunehmend nicht mehr von Generation zu
Generation spielt, sondern
innerhalb von Biographien.
der Schichtzugehörigkeit von der Elterngeneration auf die
Generation der Kinder. Dazu vgl. Allmendinger/Wimbauer
(2006),
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2006/06/Essay_Allmendinger.xml.
78
Dass Steinig dies unterlässt, mag mit Gründen der politischen
Opportunität zu tun haben. Man könnte Aussagen über
den Einfluss der Herkunftskulturen leicht als normativ
missverstehen. 79
Vgl. dazu und im Folgenden Steinig (2009), S. 39 und S. 50 f.
80
Vgl. stellvertretend dafür Die Zeit (2006),
http://www.zeit.de/2006/18/Prekariat.
Seminar: Varietätenlinguistik FS 2012
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Man mag gegen diese kritischen Einlassungen einwenden, dass die
Berücksichtigung des sozialen
Milieus bei der Zuweisung der Schichtzugehörigkeit an den
Resultaten und dem abschliessenden
Befund von Steinigs Studie nichts geändert hätte. Dieser Befund
besagt wie erinnerlich, dass sich
erstens ein klarer Zusammenhang von sozialer Stratifikation und
Bildungschancen feststellen lässt
und dass zweitens im diachronen Vergleich von einer ebenso klaren
Zunahme schichtspezifischer
Chancenungleichheit auszugehen ist. Ich halte jedoch dafür, dass
sich die Aussagekraft der Unter-
suchung durch die in meiner Diskussion der Studie erhobenen
Einwände erheblich relativiert. Denn
wenn es zutrifft, dass die Familie und die ihr eigene
rollenspezifische Kommunikation für den Erwerb
mündlicher wie schriftsprachlicher Kompetenz nur einen – mehr oder
weniger entscheidenden –
Faktor unter anderen darstellen, und wenn es weiter zutrifft, dass
der Rekurs auf das soziologische
Paradigma der Schicht die Bestimmung der sozialen Lage verzerrt, so
tangiert dies zweifellos die
Vergleichbarkeit der beiden Erhebungen. Denn in diesem Fall könnten
die Gründe, die für die
Verschiebungen im diachronen Vergleich geltend gemacht werden, eben
nicht nur auf die soziale
Stratifikation zurückgeführt werden.
6. Literatur
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andere Moderne, Frankfurt/Main.
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Soziologische Implikationen einer linguistischen
Form. In: Ders., Studien zur sprachlichen Sozialisation,
Düsseldorf, S. 87-107.
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- Dittmar, Norbert (1997), Grundlagen der Soziolinguistik,
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- Durrell, Martin (2005), Sociolect / Soziolekt. In: Ammon, Ulrich
et al. (Hrsg), An International
Handbook of the Science of Language and Society / Ein
internationales Handbuch zur Wissenschaft
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200-205.
- Erikson, Robert; Goldthorpe, John H.; Portocarero, Lucienne
(1979), Intergenerational class mobility
in three Western European societies: England, France and Sweden.
In: British Journal of Sociology 30,
S. 341-415.
Seminar: Varietätenlinguistik FS 2012
29
- Georg, Werner (2005), Schicht / Class. In: Ammon, Ulrich et al.
(Hrsg.), An International Handbook
of the Science of Language and Society / Ein internationales
Handbuch zur Wissenschaft von Sprache
und Gesellschaft, Bd. 2, Berlin/New York, S. 378-383.
- Gipper, Helmut (1972), Gibt es ein sprachliches
Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur Sapir-Whorf-
Hypothese, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
- Habermas, Jürgen (1985), Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.
2, Frankfurt/Main.
- Löffler, Heinrich (1985/2010), Germanistische Soziolinguistik,
Berlin.
- Luhmann, Niklas (1987), Soziale Systeme, Frankfurt.
- Steinig, Wolfgang (1976), Soziolekt und soziale Rolle,
Düsseldorf.
- Steinig, Wolfgang; Betzel, Dirk; Geider, Franz Josef; Herbold,
Andreas (2009), Schreiben von
Kindern im diachronen Vergleich. Texte von Viertklässerlern aus den
Jahren 1972 und 2002,
Münster/New York/München/Berlin.
Quellen aus dem Internet
Artikel vom 27.4. 2006, Nr. 18.
- SpiegelOnline (2007), Die traditionelle Familie stirbt aus
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/statistisches-bundesamt-die-traditionelle-familie-stirbt-aus-
- Volker-Müller-Benedict (1999), Strukturelle Grenzen sozialer
Mobilität,
http://www.uni-koeln.de/kzfss/materialien/ksmobil.htm, 30.6.
1999.
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2006/06/Essay_Allmendinger.xml, Juni
2006.
- Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des
Landes Nordrhein-Westfalen (2011),
Wandel der Familie,
www.familie-in-nrw.de/familienstrukturen.html.