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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Universität Bremen Fachbereich 10 Wolfgang Wildgen (Universität Bremen) Chaos und Ordnung in der abstrakten Kunst der Moderne (Jackson Pollock) Tagung: Struktur der Unordnung – Schnitt und Vereinigung von Wissenschaften, Galtür/Wirl, vom 30.03. bis 06.04.2008

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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Universität Bremen Fachbereich 10

Wolfgang Wildgen (Universität Bremen)

Chaos und Ordnung in der abstrakten Kunst der Moderne (Jackson Pollock)

Tagung: Struktur der Unordnung – Schnitt und Vereinigung von

Wissenschaften, Galtür/Wirl, vom 30.03. bis 06.04.2008

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• Kunst ist seit ihrem Beginn, etwa in den Ritzzeichnungen, Farbbildern und Skulpturen der späten Steinzeit (40-15 000 v.h.), gleichzeitig Abbildung (Mimesis) der Natur und abstrakte Chiffre, Quasi-Schrift; d.h. sie hat ein doppeltes Gesicht.

• Als Mimesis ist sie durchaus mit der Wissenschaft (insbesondere der Naturwissenschaft) vergleichbar und dieser Zug wird in der Renaissance, wo die Mathematik der Projektion/Perspektive Teil des künstlerischen Handwerks wird (bei Leonardo und Dürer) und der Künstler sich als humanistisch gebildeter Handwerker oder gar als künstlerisch arbeitender Philosoph (Leonardo) verstehen durfte, besonders aktuell.

• Chaos und Ordnung im Bild entsprechen darum Chaos und Ordnung in der Natur.

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Ästhetik und Ordnung

• Obwohl das Schöne meist mit Symmetrie und Ordnung assoziiert wird, hat Leonardo Bewegung, Turbulenz, Abartigkeit der Körper ebenfalls in sein Schaffen integriert.

• Grob könnte man sagen, wie der Wissenschaftler mit Vorliebe nach einfachen, eleganten Gesetzen und Formeln sucht, so bevorzugt der klassische Künstler (etwa Raffael) Symmetrie und Ordnung.

• Wird er sich aber der Unvollständigkeit dieser Repräsentation der Welt bewusst, versucht er, auch noch das Asymmetrische, Bewegte, Unordentliche, Chaotische mit einzubeziehen.

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Kunst und Wissenschaft• Insofern ist die klassische Kunst seit der Renaissance eine

Schwester der modernen Wissenschaften und keine alternative oder gar eine Gegenkultur, wie sie heute von manchen Kunst- und Kulturtheoretikern gesehen wird. Sie teilt ein weiteres Merkmal mit der modernen Wissenschaft: die Suche nach dem Allgemeingültigen, die Abstraktion auf das Wesentliche, die Konstruktion von Idealformen und Prototypen. Wie schon Arnheim (vgl. Verstegen, 2005) sagt, ist dieser starke Realismus mit Bezug zur Naturwissenschaft aber eine Sondererscheinung in der Geschichte der Kunst (besonders seit der Renaissance).

• So gesehen ist die nicht gegenständliche Kunst eher eine Rückbesinnung als etwas ganz Neues oder gar „Entartetes“.

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• Die Tierdarstellungen der Steinzeit manifestieren Bewegungen der Zeichen- und Ritzhand, die heute nicht mehr lesbaren Zeichen repräsentieren Konzepte. Ihre Bedeutung erschloss sich früher aus Ritualen und Mythen.

Realistische Darstellung eines Bisons mit abstrakten Symbolen (tectiforms) , Magdalénien, Lascaux,

16.000 v.h.

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• An dieser Stelle ergibt sich eine Brücke zur abstrakten Kunst der Moderne. Sie hat nicht mehr die Lesbarkeit eines Dürer-Bildes, wobei auch schon die Impressionisten, Expressionisten, Kubisten und Surrealisten die Kunst für den Laien zunehmend unleserlich gemacht haben. Mit der gegenstands-losen Kunst, etwa nach Wassily Kandinsky oder Paul Klee, wurde diese Nichtlesbarkeit quasi zur Normalität.

• Ein Kontrast-Moment ist die Fotografie, so die Kriegsberichterstattung, die Chrono-Fotografie und die Stroboskop-Fotografie. Sie dient Pollock als Vorbild.

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Tagebucheintrag Pollocks in den 50er Jahren

Technic is the result of a need____________new needs demand new technics__________________________ total control________________denial ofthe accident_______________________________ States of order_________________ organic intensity________________ energy and motionmade visible______________________________ memories arrested in space,human needs and motives____________________acceptance__________ Jackson Pollock

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• Die Technik des Malens mit flüssiger Farbe („Dipping“) auf einer waagerecht liegenden Bildfläche entwickelte Pollock ab 1937, angeregt durch den mexikanischen Wandmaler Alfaro Siqueiros und möglicherweise auch beeinflusst durch indianische Sandbilder (siehe die New Yorker Ausstellung 1941). Philosophisch ist die „écriture automatique“ des Surrealisten André Breton, der im Krieg nach New York (bis 1946) kam, und die Archetypenlehre Jungs (vermittelt über eine Alkoholtherapie bei Jung-Schülern in den USA) ein möglicher Hintergrund.

• In den künstlerischen Kontroversen wurde Pollocks Kunst Zufälligkeit, Primitivismus und Chaotizität vorgeworfen: „Chaos, Absolute lack of harmony. Complete lack of structural organization. Total absence of technique …“

• Pollock erwiderte darauf: „No chaos damn it!“ (Prange, 1996: 14 und Carmel., 199: 71).

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„Number 32“, 1950 (Kunstsammlung, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

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Die Abbildungen können nicht alles wiedergeben, da die Farbe teilweise aufgesaugt wird, teilweise verdickt ist und ein glattes Profil hat. Diese Eigenschaften kann der Betrachter aber beim Abgehen des wandfüllenden Gemäldes (269 x 457,5 cm) erfahren. Die Linien gingen ursprünglich über den Bildrand, der nachträglich durch das Abheben der Leinwand vom Boden eine Grenze erzeugte. Folgende im Wesentlichen privative (mangelbezogene) Eigenschaften fallen auf:

• Monochrom schwarze (Lack-)Farbe. Im Gegensatz dazu war z.B. das frühere Bild „Circumcision“ noch polychrom (1946).

• Es gibt keine Flächen im Bild, nur den Malgrund (im Gegensatz zum obigen Bild).

• Es gibt keine als Hinweise auf Gegenständliches (Menschliches, Belebtes, Artefakte) deutbare Formen.

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„Circumcision“, 1946 (Guggenheim, Venedig)

Als Kontrast zur Dipping Technik mag ein Bild von Pollok dienen, das noch Flächen, Farben, ahnbare Objekte und außerdem einen Titel trägt.

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Affirmative InhalteDie affirmative Aussage besteht aus Kurven, Linien, Knäueln,

Flecken. Diese verteilen sich relativ homogen über die Fläche, die weder Oben-/Unten- noch eine Links-Rechts-Bewegung erkennen lässt.

Man kann bei genauerem Hinsehen aber eine Hierarchie erkennen:

• Haarlinien, die häufig in Flecken münden oder davon ausgehen.

• Kurvenstücke, die längere Wege (halbdick) mit senkrechter Tendenz bilden.

• Verdickte Flecken mit einer maximalen Konzentration in der rechten Mitte.

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Welche Welt dient aber als Hintergrund von Repräsentation,

wenn nicht die uns augenscheinliche?

Wassily Kandisnky

„Improvisation 7“ (1910) und die Schrift „Über das Geistige in der

Kunst“ (1911)

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• Kandinsky setzt den äußeren Erscheinungen und deren subjektiver Aufnahme die „innere Notwendigkeit“ entgegen, die im Subjekt selbst ihren Ursprung hat. Dabei verneint er nicht radikal das Gegenständliche. Wie seine Bilder in der Periode des Übergangs zum gegenstandslosen Bild zeigen, kann die innere Empfindung äußere Reize als Anlass nehmen, diese verlieren aber ihre eigenständige Bedeutung. Für Kandinsky entfalten unter diesen Bedingungen Farbflächen und Linien eine Eigendynamik, die im gegenständlichen Bild gebunden, unterdrückt war.

• In späteren Arbeiten versucht Kandinsky die Wirkung von Punkt, Linie und Fläche theoretisch zu bestimmen („Punkt und Linie zu Fläche“, 1925; Bauhausbücher).

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Gestalt und Dynamik

• Die äußeren Formen (Geometrie und Farbe) bestimmen allerdings nicht die Aussage des Bildes, „sondern die in den Formen lebenden Kräfte = Spannungen“.

• Diese dynamische Sicht wird fast zeitgleich auch in der Gestaltpsychologie thematisiert und später kunsttheoretisch von Arnheim interpretiert.

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• Das Bild „Number 32“ von Pollok zeigt eine Grundfläche, den Malgrund mit Rand, Punkte, Linien (verschiedener Dicke und Konsistenz) und Flecken (Flächen mit unregelmäßigen Konturen).

• Im Sinn des „Action Painting“ sind die Punkte Spritzer, die Linien Bewegungen des Künstlers, wobei die Farbe auf die am Boden liegenden Fläche rinnt, Flecken sind Momente des Verharrens oder Vermischungen der noch frischen Farbe. Zusätzlich zu diesen Bewegungsmustern können nach dem Abtrocknen des ersten Auftrages weitere Farbaufträge erfolgen.

• Die ins Bild geschriebene Dynamik ist einerseits eine Spur des Herstellungsprozesses, den Pollock später im Film publikumswirksam dokumentierte, womit aus dem statischen Bild ein Aktionsvideo wurde. Ohne Film kann diese Dynamik vom Betrachter aber nur grob rekonstruiert werden.

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„Grey and Red“, 1948, Lack auf Papier, 57,5 x 78,4 cm, Frederik R. Weisman Foundation, Los Angeles (vgl. (Davidson, 2005: 95) und Ausschnitt des Bildes

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• Tritt man näher an das Bild, erkennt man deutlich die roten und schwarzen Kurven, die beim Verharren in einem runden „Kopf“ enden. Linien und Köpfe bilden verschiedene Konstellationen. Außerdem gibt es relativ leere, starke verknäuelte Zonen. Die dicksten bilden eine Mitte, wobei das Schwarze dominiert. Ein wesentliches Element des Bildes sind die Kurvenverläufe und die Singularitäten beim Zusammentreffen von Kurven, sozusagen die Attraktoren und Repelloren der Kurven, die zu Flecken expandiert werden. Die Herstellung dieser Bilder zeigt das folgende Foto.

Jackson Pollock in Aktion („Action Painting“)

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Vektoren im klassischen Kunstwerk (Leonardo)

• Die im Bild dargestellten dynamischen Beziehungen zwischen den Aktanten (z.B. den Personen oder allegorischen Tieren) werden nicht nur in der Gestik, der Bewegungsrichtung von Fingern und Händen, sondern auch durch die Körperbewegung (Schultern, Rumpf, Hüfte, Beine) und besonders durch die Ausrichtung des Blicks inszeniert.

• Eine besonders komplizierte Kompositionsaufgabe hat sich Leonardo bei der Behandlung des Themas der „Anna Selbdritt“ gestellt. Neben der Generationenabfolge: Anna (Großmutter) – Maria (Mutter) – Jesus (Sohn), die den traditionellen Kern des Themas darstellt, treten Johannes (Sohn der mit Maria befreundeten Elisabeth) oder ein Lamm (symbolisch für den Opfertod Jesus’) auf. Leonardo experimentiert mit verschiedenen Netzen von Blickvektoren

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Maria Anna

Jesus

John

Hand der Anna

Der Londoner Karton (1498/1499)

Die Vektoren des Londoner Kartons

(1498/1499).

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Leonardos Skizze von 1503

Anna

Maria

Lamm

erste Version

Jesus

Blickvektoren in der frühen Skizze von 1503.

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Die endgültige Version von 1509/10 im Louvre vereinfacht das vektorielle Netz, indem Anna – Maria – Jesus - Lamm auf einer Blicklinie liegen; Maria und Jesus blicken sich dabei gegenseitig an.

•Die blaue Linie hebt die Blicklinie hervor, den Vektor der Intentionen, Handlungsabsichten.•Die grüne Linie bezeichnet die ausgeübten Kräfte von Maria zu Jesus, von Jesus zum Lamm.•Die rote Linie zeigt die statischen Kräfte auf, welche das (labile) Gleichgewicht der Gruppe stützen.

Die endgültige (letzte) Version des Themas (mit

eingezeichneten Kraftlinien)

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Geometrische Deformation als künstlerischer Ausdruck (Leyton 2006,

2008)

• Leyton geht davon aus, dass die Information eines Bildes im Gedächtnis der Deformation bezüglich regulärer Formen besteht. Die regulärste plane Form ist der Kreis, als Körper die Kugel. Nichtrunde reguläre Flächen sind die regulären Polygone und (platonischen) Körper. Der Deformation liegen Kräfte zu Grunde. Die Abbildung zeigt zwei Deformationen des Kreises zur Ellipse ohne (P1) und mit (P3) Einbuchtungen (m-). Lokal liegt bei P3 eine Kuspenbifurkation vor.

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Kuspen-Katastrophe

Schmetterlings-Katastrophe

Gegeben eine Menge von Flächen (in Farbe oder Grautönen) kann man anhand Leytons hier nur angedeuteten Klassifikation aus den Deformationen eine Menge von Kräften ableiten, welche ihnen quasi morphogenetisch

zugrunde liegen.

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Anwendung auf ein Bild von Francis Bacon

Kraftvektoren in de Francis Bacons „Crucifixion 2“, 1962; Öl und Sand auf

Leinwand; 198.1 x 144.8 cm; Solomon R. Guggenheim Museum, New York

Bezogen auf ein Bild des Englischen Malers Francis Bacon (1909-1992) erschließt Leyton (2008) die in der Abbildung rechts dargestellt Kraftvektoren.

Sie bilden eine im Bild verborgene Aussage des Künstler und sind ein Index seiner Konzeption des Bildes (als Ergebnis einer Deformation).

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• Von dieser Analyse ist es natürlich ein kurzer Weg zu Pollocks Dripping-Technik, denn durch das Träufeln flüssiger Farbe auf die waagerecht liegende Leinwand vollzieht der Künstler eine Bewegung (mit Kraft), die als Spur vom Betrachter zumindest in groben Zügen nachvollziehbar ist. Da die Punkte, Linien und Flächen auch im traditionellen gegenständlichen Bild den Interpretationsprozess (mit)bestimmen, kann in einer Art Rückwärtsbewegung auch ein Inhalt, eine nicht sichtbare Gegenständlichkeit erschlossen werden. Diese ist aber so unterbestimmt, dass sie quasi jeder Betrachter neu erfinden kann; falls er sich nicht mit der Wahrnehmung der geometrischen und dynamischen Muster zufrieden gibt.

• Insgesamt zeigt diese Argumentationsskizze, dass es sich bei der abstrakten Kunst um die radikale Reduktion auf grundlegende optisch-dynamische Wahrnehmungsprozesse handelt, die auch beim gegenständlichen Bild aktiv sind.

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Gibt es im Bild eine von der externen Ordnung unabhängige Ordnung bzw. Unordnung? Drei Ebenen:

a) Die materielle und formale Ordnung der Farben bzw. der Linien, Flächen, Körper im Bild, in der Skulptur. Diese Ordnung ist einerseits eine chemisch-optische (Farbe) oder physikalisch-chemische (beim geformten Stein, bei der Eisenplastik), andererseits auch eine mathematische, insofern die Topologie und Geometrie der Konturen, Flächen, Körper eine Rolle spielt. Im Kubismus etwa wird die Relevanz idealer Formen und ihrer Deformationen deutlich in der Hervorhebung von Kugel (Kreis), Pyramide, Kubus usw. In den Kompositionen Piet Mondrians drängen rechteckige Raster in den Vordergrund. Mathematische Gesetze bestimmen auch die Computerkunst bis zu den Apfelmännchen der Chaosbilder.

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b) Die phänomenologische Ordnung. Wie erscheint dem Betrachter (auch dem Künstler bei der Arbeit) das Bild? Farbpsychologie, Gestaltwahrnehmung, die negative Aussage des Bildes (Was fehlt?) führen zu einer Ordnung, die sowohl vom Perspektivpunkt (Nähe, Ferne), der Beleuchtung und schließlich den Seherfahrungen (dem visuellen Gedächtnis) des Betrachters abhängig sind. In dieser Hinsicht sind abstrakte Kunstwerke extrem offen; jeder Betrachter mag sein eigenes Erleben (oder gar keines) konstruieren. Das angenommene Erleben des Künstlers selbst ist nur schwer verifizierbar und steht als Interpretationsfolie kaum zur Verfügung.

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c) Es gibt eine dritte, kulturelle (ideologische) Ebene, die gerade für die abstrakte Kunst große Relevanz erhält. Sie findet ihren Ausdruck in der Kunsttheorie, die dem Künstler als Hintergrund diente, oder von professionellen Interpreten (Galeristen, Kunstwissenschaftlern) ad hoc entwickelt wurde. So konnten die amerikanischen Künstler die Theorien der „écriture automatique“ des Surrealisten André Breton nutzen. Sie wurden in den USA durch Emigranten (darunter Breton) verbreitet. Die Kunst- Experten, wie Harold Rosenberg (1906-1978), konnten Pollocks Person mit dem Bild des freiheitsliebenden und ungebundenen Cowboys in Verbindung bringen (so wurde Pollock in der Zeitschrift „Life“ auch dargestellt; Pollock ist in Kalifornien aufgewachsen).

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Joan Miro „Landschaft“ (1924, 25,

Museum Folkwang) Picasso: „Pichet et coupe de fruits“ (1931)

Klassische Moderne als Basis für Pollocks Abstraktion:

Licht, Fläche, Farbe (Miro) und anthropomorphe Formen (Picasso)

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Schlussbemerkung• Die materielle/formale Ebene. Sie ist die primäre bei der

mathematischen Beschreibung natürlicher Formen und der Prozesse in Physik und Chemie. Sie ist aber technisch relevant für den Künstler.

• Die phänomenologische Ebene. Sie ist in der Biologie wesentlich, da Überleben, Fortpflanzung, Erfolg der Gattungen vom Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden geprägt sind (vgl. die Analyse der Kambrischen Revolution für die Biologie in Parker, 2005). Für die Kunst der Moderne wird seit den Impressionisten und beeinflusst von den wissenschaftlichen Erfolgen in der Wahrnehmungsphysiologie (Helmholz ab 1870) und -psychologie (Gestaltpsychologie ab 1889) die phänomenologische Seite der Kunst zentral und führt zu einer Welle experimenteller Arbeiten, für die das Lebenswerk Picassos charakteristisch ist.

• Die kulturelle/ideologische Ebene wird in den politischen Eingriffen der Nationalsozialisten und Kommunisten offensichtlich; sie spielt aber in der Gegenbewegung eine Rolle bei der Erstarkung der amerikanischen Kunst und ihrer Marktdominanz nach den 50 er Jahren.