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Gunnar Kunz OrGanisatiOn C. suttOn Krimi

Sutton Verlag Leseprobe: "Organisation C."

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Berlin, 1922. Noch immer bestimmen Hunger und Armut das Straßenbild, die Geldentwertung schreitet voran, politische Attentate erschüttern das Land. Im Grunewald wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden, der neun Monate zuvor erschossen und verscharrt wurde. Kommissar Gregor Lilienthal ist fest entschlossen, den Mörder zu finden, auch wenn die Spuren längst erkaltet sind. Sein Bruder Hendrik, Philosophieprofessor an der Universität, und Diana Escher, physikalische Assistentin von Max Planck, unterstützen ihn dabei mit philosophischem Witz und wissenschaftlicher Gründlichkeit. Wie sich herausstellt, gehörte der Tote der berüchtigten Organisation Consul an, einer Vereinigung ehemaliger Freikorpssoldaten, die die junge Republik mit Terror und Gewalt bekämpfen. Walther Rathenau steht als nächster auf ihrer Abschussliste. In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Hendrik, Diana und Gregor, die Verschwörung aufzudecken und dem Anschlag zuvorzukommen.

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Gunnar Kunz

OrGanisatiOn C.

suttOn Krimi

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suttOn Krimi

OrGanisatiOn C.

Gunnar Kunz

Ein Kriminalromanaus dem Berlin der Weimarer republik

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Sutton Verlag GmbHHochheimer Straße 59

99094 Erfurthttp://www.suttonverlag.de

Copyright © Sutton Verlag, 2007Copyright © Umschlagbild: akg-images

Buch: 978-3-86680-215-5E-Book: 978-3-86680-739-6

Gestaltung: Markus Drapatz

Website des Autors: www.gunnarkunz.de

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Prolog

Obwohlereshättebesserwissensollen,schöpfteHartmutGenschkeinen Verdacht. Nicht einmal, als sie vom Weg abbogen und sichdurchdasvondichtstehendenBäumenverdunkelteUnterholzschlu-gen,wurdeermisstrauisch,sondernglaubteaneineAbkürzung.

LagesamAlkohol?EinerEinladungzumTrinkenhatteernochniewiderstehenkönnen,erstrechtnicht,seitervonderHandindenMundlebte.Trotzdem,alsErklärunggenügteesnicht.Erhattevielgebechert,sicher,aberervertrugaucheiniges,undseinSchrittwarimmernochfest.HätteihmdieGefahr,indererschwebte,nichtklarseinmüssen?Hätteernichtzumindestmit irgendeinerFeindselig-keitrechnensollen?

Falls ihmeinsolcherGedanke jegekommenwar, sowarer imLaufedesAbends jedenfallswieder geschwunden.Alkoholmachteihn gefühlsduselig. Gefühlsduselig und vertrauensselig. Wer einenzumBiereinlud,konnteeinemdochnichtsBöseswollen,oder?

VonFerneriefeinKäuzchen.HartmutGenschlachteleiseübereineErinnerung,die ihmim

selbenAugenblickschonwiederentglitt,undfingan,vorsichhin-zusummen.EinealteSoldatenweiseübereinMädchen,dasdaheimaufseinenLiebstenwartet.

Er bekam nicht mit, wie die Schritte neben ihm sich plötzlichveränderten, erst langsamer wurden und über Laub scharrten, alsobsichjemandnachallenSeitenumsiehtundvergewissert,dasssiealleinwaren,dannihmnachsetzten,fest,eilig,entschlossen.

Der kalte Lauf einer Pistole drückte sich in seinen Hinterkopfundmachteihnschlagartignüchtern.AberdazerrissauchschoneineExplosiondieNacht,übertönteBlätterrascheln,SchritteundKäuz-chen, ließ einen Blitzschlag durch sein Gehirn zucken und setzteseinemLebeneinEnde.

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1.

SamStag, 6. mai biS Sonntag, 4. Juni 1922

Marschieren ist die deutscheste aller Gangarten.Kurt tucholsKyzugeschrieben

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DieAussichtwaratemberaubend.HendrikLilienthallehntesichaufdieBrüstung aus glasiertenZiegelnund ließ seinenBlicküberdienahe Havel und die Pfaueninsel schweifen. Das Wetter an diesemMainachmittagwarkühl,aberderHimmelüberwiegendklar.WennerdieAugenzusammenkniff,konnteersogardieTürmevonPots-damerkennen.

ErdrehtesichzuseinemBruderum.GregorstandamnördlichenEndedesKaiser-Wilhelm-Turmsund ließ sichvoneinerbegeister-ten Diana das Häusermeer von Berlin, den Dom und die KuppeldesReichstagsgebäudeszeigen,alssäheerdasalleszumerstenMal.Hendrikwarfroh,dasserihnüberredethatte,BerlinsUnterweltfüreinpaarStundensichselbstzuüberlassenundsichwenigstensdenSamstagnachmittagfreizunehmen.

In der „Roten Villa“, dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz,gingesderzeitdrunterunddrüber.AnscheinendhattensichsämtlicheVerbrecherBerlinsverschworen,denPolizeibeamtendasLebenschwerzumachen.ZumeinenwarendadieüberhandnehmendenHoteldieb-stähle und die bewaffneten Banden, die bei Nacht LeitungsmastenerstiegenunddiewertvollenKupfer-undBronzedrähtederTelefon-leitungenstahlen.ZumanderengabesmehrMordeals früher,nachGregorsAnsichteineFolgederVerrohungdurchdenGroßenKrieg.EinMenschenlebenzählteheutzutagenichtsmehr.Undalswäredas

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nichtgenug,musstenauchnochdieWettbetrügevonMaxKlanteauf-gearbeitetundderProzessgegenCarlGroßmann,derseineHaushäl-terinnenvergewaltigtundermordethatte,vorbereitetwerden.VonderZuarbeitfürdasgeplanteReichskriminalgesetzganzzuschweigen.Ja,GregorhattesicheinenfreienNachmittagmehralsverdient!Wennersoweitermachte,würdeereinesTagesnochzusammenklappen.

DianawareineguteAblenkungvonseinenSorgen.DieEindrü-ckedesAusflugssprudeltennursoausihrherausundführtenseinenBlickbaldhierhin,balddorthin.GutmütigließGregorallesübersichergehen.Auchwennerniesorechtwusste,wieersichihrgegenüberverhaltensollte,weilereinfachnichtglaubenmochte,dasssieundHendrik lediglichguteFreundewaren, auchwenner immernochdaraufbestand,siezusiezen,eswardochunverkennbar,dassersichinihrerGesellschaftwohlfühlte.

Hendrikschmunzelte,alserdiebeidenungleichenGestaltendastehensah.SeinBruderwirktewieeinMinisterialerlass,vonKopfbisFußkorrekt.DianadagegensahauswieeinKüken,dasineinenTopfvollFarbegefallenwar.ImletztenJahrhattesiesichdasHaar,derModeentsprechend,zueinemBubikopfschneidenlassen,dazutrugsieeineblassgelbeBluseausbilligerKunstseide,einengrasgrü-nen Rock und knallrote Schuhe. Was die Zusammenstellung ihrerGarderobe betraf, war bei ihr einfach Hopfen und Malz verloren.HinundwiederversuchteHendrikihrklarzumachen,dasseinHer-rensakkosichnichtmiteinemüppigenPaillettenkleidvertrugoderdie schlanke Modelinie eines Hemdrockes nicht zu Fledermausär-melnpasste,abereswarvergeblicheLiebesmüh.Siezogan,wasihrgeradegefiel,undschertesichnichtumdieWirkung.EinevonvielenEigenschaften,dieihnfürsieeinnahmen.

GregorfingseinenBlickauf.„Gehenwir?“Hendriknickte.Dianahaktesichbeiihmeinunderklärteihm,was

sieübergotischenBaustil,denGrunewaldseeunddasNistverhaltenvonBuchfinkenwusste,unddasallesderartübergangslos,dassmanunwei-gerlichdenEindruckbekam,daseineseidiedirekteFolgedesanderen.

WährendsiedieeisernenStufendesTurmshinabstiegen,spürteHendrik,wiees inseinemBauchrumorte.Die fettigeGrützwurst

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vomFrühstücklagihmschwerimMagen.EinbegüterterStudien-kollegehatteihneingeladen,umüberalteZeitenzuplaudern,undangesichts der Tatsache, dass es Monate her war, seit er das letzteMaleinGlasWeinodereinanständigesStückFleischgenossenhatte,hatteerderEinladungeinfachnichtwiderstehenkönnen.

Auch dreieinhalb Jahre nach dem Krieg war die Ernährungs-situationinDeutschlandallesanderealsrosig.DaslagandenFolgendesFriedensvertragesmitseinenGebietsabtretungenundReparati-onslasten, aber auch an der fortschreitenden Geldentwertung. VordemKriegkosteteeinWhiskysodaineinemCaféeineMarkachtzigoderhöchstenszweiMarkfünfzig.Heutewarenesfünfunddreißigbis sechzig Mark. Und für ein Pfund Schweineschinken mussteman zweiundvierzig Mark auf den Tisch legen. Wegen der Dürreim vergangenen Sommer gab es nicht genug Winterfutter für dieMilchkühe, sodass die Bauern ihre Tierbestände reduzierten, wasProblemebeiderMilchversorgungzurFolgehatte.VordemZen-tralviehhof,woanbestimmtenTagenverbilligtesFleischangebotenwurde,gabesregelmäßigWarteschlangen.SkorbutwarinGroßstäd-ten keine Seltenheit. Die Wenigsten konnten sich satt essen. Abermandurfte nicht klagen; anderswo sah esnoch schlimmer aus. InRussland,zumBeispiel.

„IsteuerSchriftgelehrterwiederkrank?“,fragteHendrikseinenBruder,alssieuntenangelangtwaren.

„Ja.Woher…?“HendrikdeuteteaufGregorsZeigefinger,aufdemsichderÜber-

resteinesTintenflecksabzeichnete.„Ichweißdoch,wieungernduSchreibarbeitenmachst.Wennduestrotzdemtust,mussschoneinbesondererGrundvorliegen.“

„DerKerlistnotorischunzuverlässigundständigkrank.“„Vielleichtsolltetihrihnnichtsovonobenherabbehandeln.“„Bedauereihnauchnoch!WirmachendieDrecksarbeit,under

lässtsich’sgutgehen.DieletztenTagebinichzugarnichtsgekom-men.“

„Na, immerhinhabenSie es geschafft, IhrFahrradzu reparie-ren“,meinteDiana.

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Gregor drehte sich zu ihr herum und musterte sie stirnrun-zelnd.

„DieKettenschmiereanIhrerHose!“„Verflixt!“Erbücktesichundversuchte,denFleckzuentfernen,

aberalles,wasererreichte,war,dasssichderÖlfilmverteilte.Als er sich wieder aufrichtete, hatten sich seine Augenbrauen

dichter zusammengezogen. „Ihr könnt es nicht lassen, mit eurendeduktiven Fähigkeiten zu prahlen, was? Tintenflecke. Ketten-schmiere.Waskommt alsnächstes?VerdächtigeFasern aufmeinerJacke?EineAnalysemeinerNasenhaare?“

„Wie wär’s mit einer Beschreibung dessen, was du da im Pick-nickkorbträgst?“,meinteHendrikunschuldig.

„Oh ja“, fiel Diana ihm ins Wort, „zum Beispiel die leckerenKirschkuchen.“

„OderdieBrezeln.“„NichtzuvergessendiehartgekochtenEier.“Gregor machte den Mund auf, schloss ihn aber wieder, ohne

etwasentgegnetzuhaben.„Na,komm,daswarnunwirklichnichtschwer“,sagteHendrik.

„Manerkennt esdeutlich anderArt,wie sichdasTuchüberdemKorbausbeult.“

GregorstarrtedenPicknickkorbinseinerHandan,undfüreineSekundewarerbereit,HendriksErklärungfürbareMünzezuneh-men.DannrisserdenKopfherumundsahseinenBruderstrafendan, dass Hendrik und Diana nicht anders konnten, als in Lachenauszubrechen.

„Duhastesgeglaubt“,japsteHendrik.„Gib’szu:EinenMomentlanghastduesgeglaubt!“

„Ihrhabtreingeguckt,alsichdieFahrkartenbesorgthabe!“„Hungermachtneugierig“,sagteDiana.„Die Klugheit eines Menschen lässt sich aus der Sorg falt ermessen, mit

der er das Künftige bedenkt“, dozierte Hendrik. „Georg ChristophLichtenberg.“

„Klugscheißer!“„Wasist–essenwirjetzt?“

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SiesuchtensicheinWiesenstücknaheeinerGruppeKiefernundmachten sich über das mitgebrachte Essen her. Hendrik hielt sichdabeizurück,weilseinMagenimmernochkollerte.ErgenossdasPicknickauchso.Eswareinfachschön,mitGregorundDianadenTagzuverbringen.DieserAusflugzudritt,immerwiederaufgescho-ben,warseitlangemgeplantgewesen.Fasthatteerschonnichtmehrdarangeglaubt,dassesdiesesJahrnochklappenwürde.

Er lehnte sich an einen Kiefernstamm, rückte seine BrillegeradeundbeobachteteeineEidechse,diezwischenzweiSteinenaufgetauchtwarundmisstrauischzuihnenherüberlugte.Wennerehrlichwar,konnteaucherselbsteinbisschenErholungvertragen.Seine Studenten interessierten sich nicht mehr für Platon, KantundHegel,sondernnurnochfürSpengler,SombartundKrawalle,so kam es ihm jedenfalls vor. Manchmal hatte er gut Lust, alleshinzuwerfen.

Diana dagegen hatte es anscheinend mit ihrer AssistentenstellebeiProfessorPlanckgutgetroffen.TrotzdervielenArbeitwarsieindenvergangenenbeiden Jahrenaufgeblüht.ErverstandzwarnichtdieBohne,worumesging–anscheinendversuchtensieirgendwie,mehrüberdenAufbauvonAtomenherauszufinden–abersiesprachmitLeidenschaftüberihreArbeit,unddaswardieHauptsache.Hen-drikgönnteesihr.Siehatteesverdient.

Wenn die Physik ihr dazu Zeit ließ, arbeitete sie nebenher alsSekretärin. Sie sparte für eine Überfahrt nach London, um ihreSchwesterzubesuchen.FüreinehemalsverwöhntesMädchenauswohlhabenderFamilieerwiessiesichalserstaunlichzäh.Niehörteer,dasssiesichüberetwasbeklagte.

AuchnachnunmehrzweiJahren,indenensieauffreundschaft-licher Basis Leben und Wohnung miteinander teilten, war er ihrerGesellschaftnichtüberdrüssig.EinGesprächmitDianawarsoanre-gend,sospritzig,sovergnüglichwieehundje.

HendriknahmeinenherabgefallenenZweigundritzteeineKari-katurvonihrindenBoden,löschtesiejedochgleichwiederaus,ehesieentdeckenkonnte,waserda tat.Abersieachteteohnehinnichtaufihn,weilsieineineDiskussionmitGregorvertieftwar.

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VordemPicknickhatten sie ausgemacht,heute ausnahmsweiseeinmal nicht über Wucherpreise, Reparationslasten oder die Situa-tion in Oberschlesien zu reden. Stattdessen schimpfte Gregor dar-über, dass die Kriminalkommissare mit ihrer Besoldungsgruppe 8schlechtergestelltwarenalsdieSchutzpolizei.UndjetztsolltendenBeamtenauchnochdieStraßenbahnfreikartenentzogenwerden!

Der Wind frischte auf, dunkle Wolken sammelten sich amHimmel.DadasPicknickmitStumpfundStielvertilgtwar,bra-chensieaufundwandertenentlangderMoorwässerdesPechseeszumBahnhofGrunewald,ummitderBahnnachHausezurück-zukehren.

KaumhattensiesichjedochderEingangshalleaufeinpaarHun-dertSchrittgenähert,alsauchschoneinSchutzmannwinkendaufsiezugelaufenkam.

„Herr Kommissar“, japste er, „endlich! Wir brauchen IhreHilfe.“

„WachtmeisterBruck!“,sagteGregorentgeistert.„WirhabeneineLeicheentdeckt,nichtweitvonhier.Siemüssen

sofortmitkommen;hieristderTeufellos,sageichIhnen.“„WoherwissenSie,dassichhierbin?“„Im Präsidium hieß es, Sie machen einen Ausflug in den

Grunewald.DasganzeRevieristausgeschwärmt,Siezusuchen.“„Ichbinnicht imDienst.Warumhatman IhnennichtWerne-

burgoderTrettingeschickt?“„Diesindanderweitigbeschäftigt.SiewarenalsEinzigerverfüg-

bar.“Gregormurmelteetwasdarüber,dassmannichteinmalansei-

nemfreienTagRuhehatte,unddrehtesichzuseinenBegleiternum.„Esbleibtmirwohlnichtsübrig,alsmitzugehen.Tutmirleid,dassunserAusflugeinvorzeitigesEndenimmt.“

„Och…“,sagteHendrik.„Eigentlich…“,ergänzteDiana.UnbeteiligtsahendiebeidenzuBoden.„Nein“,erwiderteGregor,„kommtnichtinfrage!“„HabenwirdirjeimWeggestanden?“

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„OderÄrgergemacht?“„Kommschon,duweißt,dassaufunsereVerschwiegenheitVer-

lass ist! Und es kann nützlich sein, eine Sache von einem anderenBlickwinkelauszubetrachten.DenkanSchopenhauer!“

„Anwen?“„Schopenhauer.Eine gefasste Hypothese gibt uns Luchsaugen für alles

sie Bestätigende und macht uns blind für alles ihr Widersprechende.“„Klugscheißer!“GregorwandtesichumundfolgtedemSchutz-

mann,erhobaberkeinenEinwand,alsdiebeidenihmfolgten.HendrikmusstesicheinGrinsenverkneifen.ErwärejedeWette

eingegangen, dass sein Bruder in Wahrheit nichts dagegen hatte,dasssiemitkamen.SeitsieihnvorzweiJahrenbeiderAufklärungdesMordesanMaxUngerunterstützthatten,warensiestillschwei-gendzuHilfskräftenmutiert.Nicht,dasserihnenerlaubte,sichinseineArbeiteinzumischen.AberdieKriminalpolizeiwarnotorischunterbesetzt, und so half Hendrik gelegentlich als Schreiber ausoderzeichneteTatortskizzen.UndwennGregoreinmalfeststeckte,besprachersichgernmitihnenbeiden.VielleichtwaresauchnureinVorwand,umDianazusehen.

„Wenn ichmirdieBemerkungerlaubendarf:DieLeiche ist inkeinemgutenZustand.Mussmonatelangdagelegenhaben“, sagteWachtmeisterBruckmitBlickaufDiana.

GregorzucktedieAchselnundschwiegdazu.Der Schutzmann führte sie etliche Minuten lang in den

Grunewaldzurück.SchließlichbogervomWegabunddrangindasUnterholzein.FingerkrautundSauerkleeblühtenhier,esrochübelnachRuprechtskraut.

ZwischenzweiGinsterbüschenbliebGregorstehenundsahsichaufmerksamum,nicht,alsoberetwasBestimmteszufindenhoffte,mehr,alswolleerdieAtmosphäredesOrtesinsichaufsaugen.„Ichkann mir nicht vorstellen, dass sich jemand die Mühe macht, eineLeiche soweitdurchunwegsamesGelände zu schleppen“, sagte ernachdenklich.AuchalsersichwiederinBewegungsetzte,bliebseineStirngefurcht.„Werimmerhierermordetwurde,mussaufeigenenFüßenhergekommensein.“

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Schon von weitem konnte man die Stätte des Verbrechenserahnen,weil sich trotzder verstecktenLagebereits einDutzendNeugieriger eingefunden hatte. Ein Schutzmann bewachte denTatort und hielt die Leute in angemessener Entfernung. EdgarAhrens,GregorsAssistent,warebenfallsvorOrtunduntersuchtedenWaldboden.

„DahintenstehtderHerr,derdieLeicheentdeckthat“,erklärteWachtmeisterBruck.„Bessergesagt,seinHundwares.“

„Ichredegleichmitihm.“GregornickteEdgarunddemzweitenSchutzmannzuundschüttelteSimonWeinstein,einemBeamtenderSpurensicherung,dieHand.„Gut,dassihrdaseid!“

„Schon seit einer Stunde. Ich hoffe, du nimmst es mir nichtübel,dass ichdeinenAusflugausgeplauderthabe.Abernachallem,was ich hörte, als die Meldung reinkam, wirst du hier dringendgebraucht.“ Er gab Diana einen altmodischen Handkuss. „FräuleinEscher,welcheFreude,Siezusehen!ProfessorLilienthal!Dr.Paulyistdahinten.“

ErdeuteteaufeinenMann,dersichübereinausgehobenesLochim Boden beugte und mit seinem Backenbart und seinem Kör-perumfang einem Walross nicht unähnlich sah. Jeden Augenblickerwartete man, ihn untertauchen und prustend an einer anderenStellewiederandieOberflächekommenzusehen.

Der Gerichtsmediziner wurde auf sie aufmerksam und winkteihnenzu.„GutenTag,Gregor!Ach,FräuleinEscherundderHerrProfessorsindjaauchda!KommenSienur;einüberauslehrreicherFund,jawirklich,überauslehrreich!“

Gregorgingzuihmhinüber,gefolgtvonHendrikundDiana,diebeideeinewichtigeMieneaufsetzten,alsgehörtensiedazu.

Ein halb verwester Körper erwartete sie, grün und grau ver-färbt, mit deutlichen Fäulnisspuren. An einigen Stellen hatte sichSchimmel auf der Haut gebildet. Die Überreste von Hemd undUniformhosewarenzerfressen,dieGliedmaßeneingetrocknetundgeschrumpft.AuchvonNaseundAugenwarnichtvielübriggeblie-ben; Insektengänge zogen sich kreuz und quer durch das Gesicht,KäferlarvenverstopftendieKörperöffnungen.

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HätteichbloßnichtdiefetteGrützwurstgegessen,konnteHen-drikgeradenochdenken,eheerinsnächstgelegeneGebüschstürzteundsichübergab.

Als er zurückkam, blinzelte Gregor, was, wie Hendrik wusste,seineVersioneinesGrinsenswar.HendrikachteteaufgebührendenAbstandzwischensichundderLeicheundvermiedjedenBlickaufdenToten.Dianadagegengingsogarnäherheran,umdieEinzelhei-teninAugenscheinzunehmen.Wiehieltsiedasbloßaus?

Simon Weinstein machte sich an der Leiche zu schaffen undschaltete einen batteriebetriebenen Haartrockner ein, den er soumgebauthatte,dasserdamitmikroskopischkleineTeilevonKlei-dung und Haut des Toten sammeln konnte. An der Stelle, wo dieLuftangesaugtwurde,wareinTrichterangebracht,unddort,wodieLuftwiederaustrat,befandsicheinBaumwollsäckchen,dassämtli-cheFasernundPartikelauffing.

AuchDr.PaulybeugtesichwiederüberdenLeichnam.„Kannst du mir schon etwas über den Toten sagen, Oliver?“,

fragteihnGregor.„EsistdocheinMann,oder?“„Ja. Er liegt hier seit mindestens einem halben Jahr, vielleicht

länger.WurdevermutlichgleichnachEintrittdesTodesvergraben.Ichhab’denKörpernochnichtimDetailuntersucht,aberichwürdemich sehr wundern, wenn der Tod von etwas anderem verursachtwurde als hiervon.“ Er deutete auf ein daumengroßes Loch in derStirn, das entweder die Eintritts- oder die Austrittsöffnung einerSchusswundeseinmusste.

HendrikließsichvonDr.PaulysWortenverleiten,wiederhinzuse-hen,undbereuteessofort.ErwandtedenKopfzurSeiteundbemühtesich,durchgleichmäßigesAtmenseinenMagenzuberuhigen.

GregorgingindieHocke,betrachtetesinnenddieAusmaßederGrube.DannrichteteersichaufundblickteinjeneRichtung,inderderBahnhofGrunewald liegenmusste.SeinerMienewarnichtzuentnehmen,was ihmdurchdenKopfging.„Wasmeintestduebenmitlehrreich?“,fragteerstattdessen.

„Siehstdudashier?“Dr.Paulydeuteteaufdieledrigbraunaus-sehendelinkeHanddesToten.„Mumifizierung.Geschiehtnorma-

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lerweisedurchschnellenWasserentzugantrockenerLuft.DieHandhat höher gelegen als der Rest des Körpers, das Blut ist in tiefereRegionengeflossen.Möglicherweise ist auchDauerfrostdafürver-antwortlich.WenndudirdagegendenBauch-undUnterleibsbereichansiehst–Adipocire.Fettwachs,imVolksmund.Unddasgibt’svorallem bei Feuchtigkeit und Sauerstoffmangel. Beides an derselbenLeiche,dasistwasfürmeineStudenten.“

TatsächlichhattesichdasKörperfettdesTotenanvielenStellenin eine schmierige, bröckelige Masse umgewandelt, die grauweißglänzte,beinahewieSeife.

Dr.PaulybetasteteeineFäulnisblaseamlinkenUnterbauch.Esknirschte,alswürdejemandeinenSchneeballformen.

HendrikstürztewiederinsGebüsch.

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Dianabemühtesich,flachzuatmenundsichaufdasGeschehenaufdemSeziertischzukonzentrieren.SieundihrvorlautesMundwerk!Hendrik hatte wohlweislich darauf verzichtet, der Leichenöffnungbeizuwohnen, aber siemusste jaunbedingtdieAbgeklärte spielen.VorhinimWaldhattesienichtmalmitderWimpergezuckt.Dawaresihrgelungen,denTotennichtalsMenschenzusehen,sondernalswissenschaftlicheHerausforderung.Hierjedoch…

Diana zwang sich, die von Stoffresten befreite und von denOhrenbiszumNabely-förmigaufgeschnitteneLeicheanzusehen.Die Hautlappen waren auseinandergefaltet und das Innere desRumpfes freigelegt,dieKopfhaut abgezogenunddieSchädeldeckegeöffnet.Dr.PaulybeschäftigtesichmitdemGehirn,währendseinAssistentdemLeichnamOrganeentnahm,dieseabspülteundzumWiegenineineSchalelegte.EinProtokollantnotiertedieKommen-taredesGerichtsmediziners.

Weil sie spürte, dass Gregor sie beobachtete, setzte Diana eingleichmütigesGesichtauf.SiewürdenichtvorseinenAugenschlappmachen!Siewürdenichtschwachwerden!

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EswarnichteinmalderAnblickdesaufgeschnittenenKörpers,derihrzuschaffenmachte.EswarendieschmatzendenGeräusche,wenn Dr. Pauly mit entblößten Armen in den Torso hineingriffundOrganebeiseiteschoboderihnenFlüssigkeitsprobenentnahm.UndvorallemderGestank.AnderfrischenLuftwarererträglichgewesen, hier dagegen, im Sektionssaal der Charité, trafen sie diegeballtenVerwesungsdünste.

„StörtSiederGeruch?“, fragteDr.Pauly,währendermiteinerHakenpinzette in den Innereien herumstocherte. „Das sind nurAmmoniak und Tyramin. Ptomaine, wissen Sie, Eiweißabbau beiFäulnis.“

SiemachteeinzustimmendesGeräusch,alswürdeseineErklä-rungetwasändern,undversuchte,durchdenMundzuatmen.

Gregor war wohl zu der Überzeugung gelangt, dass sie denInnereien des Toten nicht ihren eigenen Mageninhalt hinzufügenwürde, denn seine Aufmerksamkeit wandte sich den ErklärungendesGerichtsmedizinerszu.

„Die Todesursache ist eindeutig“, sagte der gerade und deuteteaufeineSchale,indereinevonBlutundGewebeteilenbefreiteKugellag,abgeplattetundverformt.„Eswurdedreimalaufihngeschossen.Die erste Kugel, die tödliche, drang am rechten Hinterkopf ein,wurdenachschrägobenindasGehirngetriebenundtratdurchdieStirnaus.“

ZurDemonstrationsetzteerdieSchädeldeckeauf, schobeinendünnenStab indenSchusskanalund stießeinpaarMalhindurch.„EshandeltsichumeinenaufgesetztenSchuss.MiteinwenigMühekannmannochdieEinschussöffnungmitdersternförmigenPlatz-wundeerkennen,außerdemeineStanzverletzungvonderMündungdesLaufs.PulverschmauchundunverbranntePulverkörnersindinden Wundkanal eingedrungen und unter die Haut gelangt. EinigePartikelsindbisindieLederhautschichtgekommen.“

„WennderMördersichdemOpfersoweitnähernkonnte,dürf-tendiebeidensichgekannthaben.“

„Schlüsseziehen istdeineAufgabe, ichbeschreibenur.Wowarich?Äh,ja.DerzweiteSchusserfolgteebenfallsausnächsterNähe

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und traf ihn, vermutlich im Fallen, hinter dem Ohr. Der dritteSchusskamausgrößererEntfernungunddrangindierechteSchläfe;eine Art Fangschuss, würde ich sagen, um auf Nummer sicher zugehen.ObwohldasOpferzudemZeitpunktbereitstotwar.“

„ÜberdieMöglichkeiteinesSelbstmordesmüssenwirunsjeden-fallskeineGedankenmachen.“

„Stimmt. Weiter: Der erste Schuss hat eine ziemliche Verwüs-tungimGehirnangerichtet,Arterienzerrissenunddergleichen.DerHinterhauptslappenistförmlichexplodiert.EineechteSauerei.“

Er nahm die Schädeldecke wieder ab und tippte nachdrücklichgegen Knochensplitter und Hirngewebe, als sei seine Erklärungnicht weiß Gott plastisch genug. Diana richtete ihren Blick starraufdieMetallbeinedesSeziertischesundwünschte,derTagmögeschnellvorübergehen.

„IstderFundortderLeichezugleichderTatort?“,wollteGregorwissen.

„Ichdenkeschon.Unwahrscheinlich,dassderTotelangeanderLuftgelegenhat,derArtderVerwesungnachzuurteilen.AußerdemhatSimonPatronenhülsengefunden,unddiewirdjaniemanddurchdie Gegend geschleppt haben, um sie dem Mann mit ins Grab zulegen.“

„AlsoumgebrachtundanOrtundStelleverscharrt.“„Soistes.“„WaskannstdumirüberdenTotensagen?“„Männlich,einsneunundsiebziggroß,Rechtshänder.Dunkelbrau-

neHaare.DieWeisheitszähnesindvollausgebildet,andererseitsgibteskeinenennenswertenAlterungserscheinungenwieAbnutzungderKauflächen, Zurücktreten des Zahnbettes und so weiter, ich würdealsosagen:Anfangzwanzig.Genaueres,sobaldichmirdasGebissimDetailvorgenommenhabe.InteressantsindaufjedenFalldieGebiss-reparaturen:NichtsosehrdieEmailleplombenrechts,aberinderBrü-ckeamlinkenOberkieferbestehtdieKappedeshinterenMolarenausSilber. Ungewöhnlich. Weiter: Keine Tätowierungen oder ähnlicheAuffälligkeiten,abereinealteSchussverletzunganderlinkenSchulter,möglicherweiseausdemKrieg.VerschiedenegeheilteKnochenbrüche

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undStichnarben;einRaufbold,wenndumichfragst.Unddastustduja.DierechteKniescheibemussihmProblemebereitethaben.“

„DubistwieimmereinQuellanInformationen“,sagteGregor,dersichdieganzeZeitNotizengemachthatte.

„Nichtich–er.“Dr.PaulydeuteteaufdieLeiche.„Sieredenallemitmir,ununterbrochen.IchbinnureinguterZuhörer,dasistalles.“

„UndwassagterdirüberdenZeitpunktseinesTodes?“„WennmandieausgedehnteFettwachsbildungbedenkt,schätze

ich,dasserschoneineganzeWeiledagelegenhat.DieMuskulaturistbereitsindieFettwachsbildungeinbezogen,dasgeschiehtetwanachfünf,sechsMonaten.DanndieLeichenfauna:Käfer,Regenwürmer,Ameisen, Tausendfüßler, Asseln … Wir untersuchen die Viechernoch,habeneinigelebendeExemplareeingefangen,die–“

„Lass die Einzelheiten beiseite“, unterbrach Gregor mit Seiten-blickaufDiana.„Wann?“

„ImmerdasselbemiteuchKriminalisten,immernurErgebnisse,Ergebnisse.KeinenSinnfürdieKunstderForschung.“

„NennmireinfacheineZahl.“„Naja, also … acht, neun Monate. Nagele mich nicht auf den

Tagfest.“„Daswäre…SeptemberletztenJahres.“„Soinetwa.“„Dann lasse ich meine Leute die Vermisstenmeldungen von,

sagenwir,JulibisDezemberdurchgehen.WasistmitdenÜberres-tenderKleidung?WarnichtsindenTaschen,dasunsAufschlußüberseineIdentitätgebenkönnte?“

„Nichts.KeineGeldbörse,garnichts.“„MöglicherweiseRaubmord.“„Wiegesagt:Schlüssezuziehen,überlasseichdir.Aberwenndu

dich ein paar Tage geduldest, können wir vielleicht den Zeitpunktdes Todes weiter eingrenzen, je nachdem, was unser Freund hiergegessenhat.“ErmachtesichaneinerderOrganschalenzuschaffen,währendseinAssistentdenDarmaufschnitt.„DiegraugrüneFarbederSchleimhautunddieEinrissehabennichtszubedeuten,dasistbloßdieangedauteMagenwand.“

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DianabekamweicheKnieundkämpftegegeneinensäuerlichenGeschmackan.

„Die Einzelheiten lese ich dann in deinem Bericht“, hörte sieGregor sagen. Dann fassten sie zwei Hände an der Schulter undführtensiehinaus.SiehattenichtdieKraft,sichdagegenzurWehrzusetzen.

„SiesindganzkäsigimGesicht“,meinteGregor.Gierig sogsie frischeLuft in ihreLungen.„Ich…bin inOrd-

nung.“„SiekönneneinfachkeineSchwächezugeben,was?Wemversu-

chenSie,etwaszubeweisen?“Dianawaraußerstandezuantworten.Siewusstegenau,wennsie

jetztdenMundöffnete,würdesiesichübergeben.EinevolleMinutelangtatsienichtsweiter,alsgleichmäßigzuatmenundsichaufdasGeräusch der ein- und ausströmenden Luft zu konzentrieren. SiemusstesichanderWanddesHausesabstützen,umnichtzuBodenzusacken.Undvielleichtgerade,weilsiesohilfloswar,fandsiedenMut,mitdemRestihrerStimmezufragen:„Warum…bestehenSieeigentlichdarauf…michzusiezen?“

„IhreGedankensindsprunghaft,wieimmer.“„Dasist…keineAntwort.“GregorriebsichdenArm,alsoberfriere,räuspertesich,rückte

seineKrawattezurecht.„IchbringeSienachHause.“UnddiesmalwarDianazukeinemweiterenWiderspruchinder

Lage.

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„Türzu,eszieht!“HendrikließDianavorbeiundschlossdieTür.„Diraucheinen

gutenMorgen“,erwiderteer.Gregor brummte etwas, das man mit viel gutem Willen als

„Morgen“ interpretierenkonnte.NormaleUmgangsformenwürdeerwohlnieannehmen.ErstandaufeinemStuhlundwarebendabei,

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seinBüromitFotosderLeicheausdemGrunewaldzu tapezieren.Die ständigePräsenzderBilderhalf ihmangeblich, sich auf einenFallzukonzentrieren,auchwennHendrikeherfand,dasssieeinemdabeihalf,schlankzubleiben.Erjedenfallshätteangesichtsderver-faulten Körperteile kein Frühstück herunterbekommen. Aber manmusstevermutlichschondankbarsein,dassseinBruderaufBilderderObduktionverzichtete.

Gewohnheitsmäßig begab sich Hendrik zur Fensterbank undwarf einen Blick in die Blumentöpfe, um zu sehen, ob erste Hilfenoch möglich war. Die Ackerminze war zerrupft, die Begoniensahen aus, als habe jemand die Blätter abgefressen, und die Gar-tenkressebestandnurnochausStielen.„KannstdudirkeineFrüh-stücksstulleleisten?“

„Daswarnichtich–dieLäusesinddaranschuld.“VorsichtigdrehteHendrik einübriggebliebenesBlattum.Tat-

sächlichwardarunterallesschwarz.„Siehtaus,alswürdestduLäu-sekolonienzüchtenundkeinePflanzen.“

„Hab’schonallesprobiert,diekommenimmerwieder.“GregorstiegvomStuhlundbotseinenBesuchernmiteinerGestePlatzan.„Wasführteuchher?“

„WirwarengeradeinderNähe“,meinteDiana,„dadachtenwir,wirsagenmalgutenTag.“

„DieSedanstraße liegt inWeißensee,nicht inderNähe“,erwi-derte Gregor mit Blick auf Dianas linken Mundwinkel. Ein RestBlaubeersaftverriet,dasssieundHendrikAgnesLilienthalbesuchthatten, Hendriks und Gregors Tante, die eine legendäre Blaubeer-tortebackte.

Hendrikgrinste.„Klugscheißer.“SeinBruderblinzeltemitdenAugenund lehnte sich imStuhl

zurück.„Ihrseidalsoneugierig,obesetwasNeuesüberdenTotenimGrunewaldgibt.“

Dianakonntesichnichtlängerbeherrschen.„Gibtesetwas?“„Dr.PaulysObduktionsberichtistda.“GregornahmeineMappe

von seinem Schreibtisch und blätterte durch die darinliegendenPapiere. „Seine Beobachtungen lassen wie immer an Klarheit und

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Genauigkeitnichtszuwünschenübrig.EsisteineFreude,mitdemMannzusammenzuarbeiten.“

„Und?Wassagter?“„Im Wesentlichen bestätigt er seine vorläufige Einschätzung von

vorgestern. Drei Kugeln, deren erste bereits tödlich war. Zeitpunkt:EndeSeptember,AnfangOktober,plusminuseinpaarWochen.“Gre-gorlegtedenBerichtbeiseite.„DerMageninhalthatnichtsgebracht,außerderErkenntnis,dassderTotelangenichtsgegessen,dafüraberumso mehr getrunken hatte. Der Chemiker wollte sich zwar nichtfestlegen,glaubtaber,Alkoholnachgewiesenzuhaben,dernichtdurchFäulnisbildungentstandenist,vermutlichBier.Schwierigkeitenberei-tet uns immer noch die Identifizierung der Leiche. Meine MännersehengeradedieVermisstenkarteidurch.“ErgriffnacheinerweiterenMappe.„DannhabenwirnochdieballistischeUntersuchung…“

„Ballistik–dabeigehtesumKugelnundPistolenundso,nichtwahr?“,fragteDiana.

„Richtig.SolltenwirbeieinemVerdächtigeneineWaffefinden,könnenwirmöglicherweisesagen,obdietödlichenSchüssedarausabgegebenwurdenodernicht.“

„Dasgeht?“„Einfach ist es nicht. Und leider laufen jede Menge Scharlatane

herum, die vor Gericht als Sachverständige auftreten, aber keineAhnunghaben,wassieeigentlichtun.DochimPrinzip: Ja,esgeht.JedeWaffehatihrecharakteristischenMerkmale.SiehabensichervondenAnarchistenSaccoundVanzettigehört,drübeninAmerika.DiewurdenaufgrundebendieserMerkmaleihrerWaffenverurteilt.“

„WassinddasfürMerkmale?“„Bei der Fabrikation werden spiralartige Rillen in die Läufe

geschnitten, um die Kugeln beim Abschuss in Rotation zu verset-zen. Soviel ich davon verstehe, erhöht das die Reichweite und dieZielgenauigkeit.KeineRillegleichtderanderen,dafürsorgenschonUnregelmäßigkeitendurchdieSchneidewerkzeugebeiderHerstel-lung.Jedenfallsverursacht jederLaufSchrammenimGeschoß,diesoindividuellsindwieFingerabdrücke.EsgibteinenFranzosen,derbehauptet,dassauchdieSchlagbolzenunverwechselbareSpurenauf

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denBödenderPatronenhülsenhinterlassen.UnterdemMikroskopkannmanalldieseSpurenguterkennen,allerdings isteindirekterVergleichschwierig.ManmüssteeinMikroskoperfinden,mitdemmandieBildervonKugelundVergleichskugelübereinander legenkann…oderwenigstensnebeneinander…“

ErstarrteandieDeckeunddachteeineWeileüberseineBemer-kung nach. Dann schüttelte er den Kopf und vertiefte sich wiederindenInhaltdesPapiers inseinerHand.„Kaliber9Millimeter…Länge…Gewicht…DieTatwaffeistvermutlicheineMauserC/96,die so genannte Besenstiel-Mauser. Eine typische Militärpistole.Aberdaswillnichtsheißen,beidenMengenanWaffen,diederzeitverschobenwerden.“

„Verschoben?“„Die Hälfte der Waffen, die nach den Bestimmungen des Ver-

saillerVertragesvernichtetwerdensollen,verschwindetindubiosenKanälen.WirdingeheimenWaffenlagerngehortetoderinsAuslandverkauft,nachIrlandoderFinnland.“

Gregor trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatteund sahausdemFenster.DannschüttelteerdenKopf. „Wenn ihrjemandenumgebrachthättet,draußen,imGrunewald–waswürdetihranschließendtun?“

„Dumeinst,umnichterwischtzuwerden?“,fragteHendrik.Gregornickte.„Ichweißnicht.Zusehen,dassichvondortverschwinde,nehme

ichan.“„Ich würde vorher die Taschen des Opfers durchsuchen, ob er

auch nichts bei sich trägt, das auf mich schließen lässt“, ergänzteDiana.„Jedenfalls,wennichnichtkopflosvorPanikwäre.“

„Unddann?“„Abhauen.IneineandereStadtziehen.“„Nein, imGegenteil:michsounauffälligwiemöglichbeneh-

men. Nach Hause fahren, Tee trinken, Zeitung lesen, einkaufengehen.“

„Ihr würdet nicht auf den Gedanken kommen, die Leiche ver-schwindenzulassen,damitmansienichtsoschnellfindet?“

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Hendrikgrübelte.„WennicheinenWageninderNähehätte…abernein,dazuistdieStellezuabgelegen.IchmüsstedieLeicheend-losdurchsGeländeschleppen,dabeikönntemichjemandsehen.“

„VielleichtwaresNacht.“„Trotzdem.EsgibtimmerspäteSpaziergänger.OderZecher,die

indenfrühenMorgenstundenheimkehren.Zuriskant.“„Undvergraben?“DianaschütteltedenKopf.„MitbloßenHänden?“„VielleichtmiteinemMesser…aberdasdauertewig.Undjeder-

zeitkannjemandvorbeikommen.“Gregornickte,alshabeeretwasbestätigtbekommen.„EinLoch

auszuheben, wie das, in dem wir die Leiche fanden, braucht Zeit.Nur mit einem Spaten könnte man so etwas einigermaßen zügigbewerkstelligen. Aber würde der Täter nach Hause fahren, einenSpatenholen,unddannnacheiner,zwei,dreiStundenzurückkeh-ren,umseinWerkzuvollenden?InderZwischenzeithättesonstwerüberdenTotenstolpernkönnen.“

„Erhatesabergetan“,wandteDianaein.„Eben.“„Wasglaubstdu?“,wollteHendrikwissen.„Ichglaube,erhattedenSpatendabei.Odervorheranderbetref-

fendenStelleversteckt.WeilesebenkeineTatimAffektwar.WeilerdenMordvonAnfangangeplanthat.“

„Du meinst, das Opfer ist brav mitgegangen und hat nichtsgemerkt?“

GregorwurdeeinerAntwortenthoben,weildieTüraufgingundein Kriminalbeamter hereinkam. „Wir haben die Vermisstenanzei-gendurch.“

„Und?“„Nichts.“ErlegteeinenStapelRegisterkartenaufdenTisch.„Die

hierwieseneinegewisseÜbereinstimmungauf.Aberwirhabensieüberprüft:Fehlanzeige.“

„DannsuchtzweiMonatevorherundnachher.“„Zeitverschwendung.DerMannwurdenichtalsvermisstgemel-

det.UndalleSpurensindkalt.DasGanzeisteintotgeborenerFall.“

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„Sucht trotzdem! Wenn uns die Vermisstenmeldungen nichtweiterbringen, bleibt immer noch die öffentliche Leichenschau.VielleichtkannmanaucheinenAufrufindiesemBlattvomZahn-ärzteverbandveröffentlichenundhoffen,dassderZahnarzt,derdieGebissreparaturenvorgenommenhat,sichmeldet.Dr.Paulymeint,diesindungewöhnlich.“

DerKriminalbeamtezucktedieAchselnundverließdasBüro.„Werwardas?“,fragteDiana.„ArthurNebe.EinehemaligerOberleutnant,deresjetztbeider

Polizeiversucht.IstdurchdieKriminalkommissar-Anwärterprüfunggerasselt,abererwillsieunbedingtwiederholen.Ehrgeizigisterja.“

„Dumagstihnnicht?“GregorzucktedieAchseln.„DerwirdnieeinguterKriminalist.

Wenn seine Schwester nicht im Innenministerium arbeiten würde…“ErbetrachtetesinnenddieRegisterkarten.

„WassinddasfürkomischeLaschendaamRand?“,wollteDianawissen.

„DiestehenfürverschiedeneRegistermerkmale.WennsicheineVermisstenanzeige nach vier Monaten nicht aufklärt, werden dieDatenaufsolcheKartenübertragenundkatalogisiert.DieLaschendienendemleichterenAuffinden,wennmannachetwasBestimm-temsucht.“

„Also: ‚große Nase‘ oder ‚Tätowierung‘ oder ‚Warze am Dau-men‘?“

„So ähnlich.“ Gregor war mit seinen Gedanken nicht bei derSache. „TotgeborenerFall!“,murmelte er. „So lange ichhierKom-missarbin,gibteskeinetotgeborenenFälle.“

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Hendrik gab sich Mühe, seinen Triumph nicht allzu deutlich zuzeigen.DassGregorvonsichauszurUniversitätkamundihnumHilfe bat, hatte er vermutlich einer komplizierten Mischung ausGewohnheit,RivalitätundBequemlichkeitzuverdanken.SeinBru-

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derbenahmsichindieserHinsichtäußerstwidersprüchlich.Einer-seits lehnte er „die Einmischung von Amateuren“ ab, andererseitsgenosseres,HendrikalsVertrautenanseinerSeitezuhaben,wennereinenFallentwirrte.Zudemglaubteerimmernoch,ihmbeweisenzu müssen, dass an der Polizeiarbeit nichts Anrüchiges war. Nichtzuletzt mangelte es an Hilfskräften. Das Polizeipräsidium standKopf,sämtlicheKriminalbeamteschobenDoppelschichten;waslagalsonäher,alsaufHilfeinnerhalbderFamiliezurückzugreifen?

„HastdudeinenSkizzenblockdabei?“Hendriknickteundüberzeugtesichdavon,dassereinenStiftin

derTaschetrug.„WasistdenndasfüreinStummel?Bistdusoarm,dassdudir

keinenneuenBleistiftleistenkannst?“„Wieso?Derhiertut’sdochnoch.“GregorschütteltedenKopf,startetedenWagenundfuhrüberdie

FriedrichstraßenachTempelhof.„WeristdennnunderTote?“,wollteHendrikwissen.„EingewisserHartmutGensch.EinjungerMannausbürgerli-

chemElternhaus,mehrweißichimAugenblickauchnicht.“„Ihr seid dochwochenlang imDunkelngetappt.Wodurch seid

ihrweitergekommen?“„SeinZahnarzthatsichaufunserenAufrufindenZahnärztlichen

MitteilungengemeldetundseineGebissarbeitwiedererkannt.“„UndjetztfahrenwirzuseinenEltern?“„ZurMutter,derWitweeinesMinisterialbeamten.Siehatihren

SohnbereitsimLeichenschauhausidentifiziert.“„Identifiziert?Abererwardoch…“„DerBestatterhatihnvorher…bearbeitet.“Hendrik wollte sich das lieber nicht vorstellen. Auch die beste

KosmetikkonnteneunMonateimWaldbodenundeineObduktionnurbedingtkaschieren.„WiehatsiedenAnblickverkraftet?“

„AlswürdesiesowasjedenTagsehen.DieFrauistausEisen.“Am Hohenzollernkorso wohnten überwiegend gut situierte

Mieter,dassahmannichtnurandersauberenStraße,sondernauchandenverziertenFassaden.GregorstelltedenWagenabundbetrat

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mitHendrikeinenpompösenHauseingang.EsrochnachSeifeundPreußentum.AnderWandhingeinSchild:Musizieren streng verboten.SiestiegenindenzweitenStockundbetätigtendenKlingelzug.

KürzlichhatteHendrikeinBuchüberägyptischeMumiengele-sen;dieFrau,dieihnenöffneteundsieeinließ,erinnerteihndaran.Erhättenichtzusagenvermocht,worandaslag,dennihreHautwarzwarbleichundfaltig,abernichtvertrocknet.Vielleichthingesmitihrem fehlenden Mienenspiel und den geräuschlosen Bewegungenzusammen,dieeinemdasGefühlgaben,sichineinemMausoleumzubefinden.UndmitdenAugen!DiehattenetwasUnheimlichesan sich.Unterstützt wurdediese Wirkung noch durch ihreArt zusprechen.„DasMädchenhatAusgang“,erklärtesie,undesklangwiedasRaschelnvonLaub.

Hendrikbezweifelte,dasseseinMädchengab.Nicht,wennmanden Staub auf Fensterbänken, Vasen, Bildern berücksichtigte. FrauGenschsahnichtauswiejemand,derseinenBedienstetenSchlam-pereiendurchgehenlassenwürde.SieselbstwarüberundübermitSchmuckbehängt:Ohrringe,Halsketten,Armreifen,RingeandenFingern.Hendrikkanntesichmitdergleichennichtaus,abererhättegewettet,dassdieEdelsteinefalschwaren.

Die Wohnung bestätigte seinen Verdacht, dass hier mehr aufScheinalsaufSeinWertgelegtwurde.ZwarhinganderGarderobeeinPelz,aberderhatteschonbessereTagegesehen.WiesoüberhaupteinPelz? Jetzt,EndeMai?UmBesucherdaraufhinzuweisen,dassFrauGenschsicheinenleistenkonnte?

Der Salon, in den Hendrik und Gregor geführt wurden, sollteebenfallsdenEindruckvonReichtumerwecken:Musselingardinen(abgegriffen),einteuresSofa(mitabgerissenenTroddeln),eineanti-keKommode(verschrammt).DieTeppichewarenaneinigenStellensodünn,dassmandenBodendurchschimmernsah.DiespanischeWand verdeckte eine schadhafte Stelle in der Tapete, wie HendriksichdurcheinenraschenBlicküberzeugte,alsFrauGenschgeradenichthersah.DieSesselpolsterwarengeflickt,auchwenneinedar-übergeworfeneDeckedieseTatsachezuverbergensuchte.AneinerStellederWandzeichnetesicheindunklesRechteckab;hiermusste

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einmaleinBildgehangenhaben.Vielleichtwaresverpfändetoderverkauftwordenwiedas fehlendeTafelsilber.SogardieKristallge-hängedesLüsterswiesenLückenauf.

AufeinerKommodestandendreiFotos.EineszeigteeinejüngereAusgabederFraumiteinemsteifwirkendenHerrn,vermutlichihrEhemann. Die beiden berührten sich nicht, nicht einmal mit denFingerspitzen.

DanebenbefandsichdasBildeinesjungenMannesinUniform.HendriknahmesindieHand.„Isterdas?“

SiebewegtekaumdenKopfbeimNicken.DasFotomussteschoneinpaarJahrealt sein,denndiePerson

daraufwarkaumälteralssechzehnodersiebzehn.GewehrbeiFuß,Hackenzusammengeschlagen,einsiegessicheresGrinsenimGesicht,sopräsentiertesichHartmutGenschdemBetrachter.Hendrikdach-teanseineeigeneZeitalsSoldat.AuchvonihmexistierteeinFotoausjenenTagen,aberdaraufverrietjederMuskel,wieunwohlersichinderUniformgefühlthatte.

DasdritteFotozeigteHartmutGenschzusammenmitzweiwei-terenjungenMännern.DieFamilienähnlichkeitwarunverkennbar.„IhreanderenSöhne?“

WiederdiesebeinaheregloseBestätigung.„Wosindsiejetzt?“,fragteGregor.„Gefallen.“„Tutmirleid.“MiteinerunwirschenBewegungwischtesiedieBemerkungbei-

seite.„FrüherwarensiemeineFreude.JetztsindsiemeinStolz.“HendrikschauderteundstelltedasFotoanseinenPlatzzurück.„Welches war das Zimmer Ihres Sohnes?“, wollte Gregor wis-

sen.DieFraubewegtedenKopfzueinerderTüren.Gregor drückte die Klinke. Die Tür ließ sich nur zur Hälfte

öffnen, dann stieß sie gegen die Seitenkante eines Schreibtisches.AndessenRückfrontinderEckedesZimmersstandeinKachelofenohne Ofenrohr. In der Lücke zwischen Wand, Ofen und Schreib-tisch,gleichhinterderTür,stapeltensichBriketts.

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DerRaumvermittelteeinenmerkwürdigzwiespältigenEindruckvonderPersönlichkeitseinesBewohners.EinerseitsschienHartmutGenschbesessenvonrechtenWinkeln.GeradezuzwanghafthatteerBrieföffner,TintenfassundPapiereanderKantedesSchreibtischesausgerichtetundStühleinReihundGliedpositioniert,wieSoldateninHab-Acht-Stellung.AndereDingezeugtenvoneinerNachlässig-keit,dienichtrechtdazupassenwollte,angefangenbeiderTür,diemankaumaufbekam,biszudenaufgehäuftenBriketts.

ÜberhauptenthieltderRaumwenigPersönliches,keineBriefe,keine Notizen, keine Erinnerungen, wenn man von einer Vitrineabsah, in der Kriegssouvenirs ausgestellt waren: Abzeichen, Feld-postkarten,Uniformknöpfe, alle gewissenhaft beschriftet, danebendreißigodervierziggeschnitzteFiguren.

„HabenSiehiervielverändert?“„Ichhab’allessogelassen“,sagteFrauGenschtonlos.„Weil ich

dachte,meinJungekommtbaldzurück.“DaswarunzweifelhaftdieWahrheit,dennesrochsomuffig,als

seimonatelangnichtgelüftetworden.„Wiealtwarer?“„Einundzwanzig.“HendriksuchteaufdemüberfülltenSchreibtischvergeblichnach

einer Möglichkeit, seine Skizzenmappe abzulegen. An der Wandwar ein Regal angebracht, unpraktischerweise über jener Seite desSchreibtisches,andermannichtsitzenkonnte,weildieSchubfächerdort bis zum Boden reichten. Man musste aufstehen, wenn manetwas vom Regal holen oder darauf zurückstellen wollte. Hendriklehnte seine Skizzenmappe gegen ein Bein des Schreibtisches undsetzte sich auf den Stuhl. Nein, so ging das nicht! Er kehrte demZimmerjadenRückenzu!ErdrehtedenStuhlherum,legteseineZeichenutensilien zurecht und fing an, den Raum zu skizzieren:Stühle,Schreibtisch,Vitrine.

GregornahmeinedergeschnitztenFiguren indieHand.„VonIhremSohn?“,fragteer,umdiealteFrauzumRedenzubringen.

Sienickte.„WarumhabenSiekeineVermisstenanzeigeaufgegeben?“

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„Ichdachte,erkommtbaldzurück“,wiederholtesie.„Istesöftervorgekommen,dasserohneNachrichtverschwand?“„Ein- oder zweimal. Ich wusste dann, dass er wieder über die

Strängeschlägt.Abereshatnielangegedauert.“Hendrik konnte es nicht lassen, seinen karikaturistischen Nei-

gungennachzugeben,undzeichneteFrauGenschalsMumie.Einesonderbare Frau. Dass sie nicht zur Polizei gegangen war … ZweiSöhnegefallen,derdrittevermisst…VielleichtwaresihreArt,dieWirklichkeit nicht wahrhabenzu wollen. Trotzdem blieb ihm ihreHaltungunbegreiflich.

„HatteihrSohnFeinde?“„Jeder,derihnkannte,mochteihn.“„UndseineFreunde?WerwarenseineFreunde?“„EinHaufenTaugenichtse.Ichhab’snichtgerngesehen,dasser

sichmitdenenrumtrieb.Früherwarerauchmalso.AberichhabeihmDisziplinbeigebracht.IhnRespektgelehrt.DerKrieghateinenMannausihmgemacht,aufdenichstolzseinkonnte.“

„WerwarenseineFreunde?“, insistierteGregor,währenderdieFigurzurückstellte.

FrauGenschzählteeinhalbesDutzendNamenauf.NeugieriggingHendrikzurVitrine,umsichdieFigurenanzuse-

hen.Siewarengarnichtmalschlecht:grobgearbeitet,aberausdrucks-voll. Vermutlich war es die Langeweile in den Feldlagern gewesen,dieHartmutGenschdazugebrachthatte,sichderSchnitzereizuzu-wenden. Schade, dass er kriegerische Motive bevorzugte: Soldaten,Wikinger,Landsknechte.Bäcker,Schornsteinfeger,TänzerkameninseinerWeltnichtvor.GeschweigedennFrauen,Kinder,Tiere.Halt,dagabeseinenSchäferhund,deraufetwaszulauschenschien!UndeinFabelwesenmitHörnern,SchwingenundeinerdämonenhaftenFrat-ze.Furchteinflößend,abergeschicktgearbeitet.SiegfriedsDrache?

„Ichweiß,wereswar“,sagteFrauGenschplötzlich.ÜberraschtsahendieBrüderLilienthalsiean.„DerErwinwar’s.DerOverbeck.“„WasbringtSiezudieserVermutung?“,fragteGregor.„DerwarhinterderAdaher.“

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„WeristAda?“„Hartmut und sie waren verlobt. Ich hab’ ihn immer vor dem

Flittchen gewarnt. Die ist nichts für dich, hab’ ich gesagt. Aber erwolltejanichtaufmichhören.“

„Ada–undwieweiter?“„Bredow. Die Tochter von diesem Uhrmacher am Ende der

Straße.“„WielangekanntensichihrSohnundFräuleinBredow?“„EinJahr.Erhatsiebeiso ’nemTanzvergnügenkennengelernt.“

Sie schürzte abfällig die Lippen. „Wie die schon rumlief! Billig, daskonntemangleichsehen.AberHartmut…erwolltenichtsSchlechtesübersiehören.Ichhab’immergewusst,dasssieseinUnglückist.“

„Vielleichthatsieihngeliebt?“„Ausgenutzthatsieihn!Sichvonihmausführenundbeschenken

lassen.UndwasistderDank?SeitHartmutverschwundenist,warsiekeineinzigesMalhier,umsichnachihmzuerkundigen.DiehatihmkeineTränenachgeweint.NichtmalvierWochenhatesgedau-ert,dahatsiesichschondemErwinandenHalsgeworfen.“

Während Gregor die Befragung fortsetzte, ging er im Raumumher,untersuchtedieVitrine,öffneteSchreibtischfächerundblät-terteindenPapieren,dieerdortfand.EsmachteeinenbeiläufigenEindruck,aberHendrikwusste,dassseinBruderdasZimmersyste-matischuntersuchte.

„DieserErwinOverbeck–warenerundIhrSohnmiteinanderbekannt?“

„Diehabenständigzusammengehangen,alsseiensiedickeFreun-de.KanntensichvonderFront.AbersobalddieAdadawar,hattederErwinnurnochAugenfürsie.Wiederimmerumsierumscharwenzeltist!VerhaftenSiedenErwin,HerrKommissar!Deristesgewesen.“

„Wir werden Ihrem Hinweis nachgehen.“ Gregor machte sichNotizen.„WannhabenSieIhrenSohnzuletztgesehen?“

„Am 1. September. Er hat den ganzen Tag versucht, Arbeit zubekommen,undwollteabendsnoch…unterdieLeute.“

Sichbesaufen,übersetzteHendrikinGedanken.„MitdemOverbeck.Derhatesgetan,wegenderAda.“

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„ErzählenSieunsmehrüberdiesenTag.WasgenauhatIhrSohngemacht?Wohatervorgesprochen?“

„Bei einerReederei.Hat sichumeineAnstellung alsSchreiberbemüht.“ Ihre Miene nahm einen verbitterten Ausdruck an. „UmArbeit angestanden,wie eingewöhnlicherProletarier.Wir,diewirseitGenerationeninkaiserlichenDienstenstanden!“

„Ihr Mann war Ministerialbeamter, wenn ich richtig informiertbin?“

„ImFinanzministerium.EintreuerDienerdesKaisers.DerKai-serhatihneinmalselbstbelobigt.Undplötzlichsindwirnichtsmehrwert.EsgibtkeinenAnstandmehraufderWelt.“

„IhrSohnhatdieArbeitalsonichtbekommen?“„Natürlichnicht.WerkeinJudeoderBolschewistist,hatjakeine

Chance.DienehmenunsdieganzenArbeitsplätzeweg.Heutzutagedarf doch jeder Bergarbeitersohn studieren, wo kommen wir dennda hin? Aber was kann man schon erwarten, mit einem Sattler alsReichspräsident!“

„Nun,ichdenke–“„DieGenschswarenimmereineStützederKrone.Aufunseren

SchulternruhtedieVerwaltungdesReiches.Jetzthatmanunsein-fachvergessen.AufdieMüllhaldegeworfen.SeitdieSozialistenanderMachtsind,gehtesnurnochbergab.DieArbeitermachendenganzenTagRevolution,undtrotzdemgeht’sdenenbesseralsunser-einem,istdasetwagerecht?“

„SiebekommendochsichereineWitwenrente.“„Witwenrente, dass ich nicht lache! Kein Mensch kann davon

standesgemäßleben.MeinSohnhatversucht,eineErhöhungdurch-zusetzen,abererwurdenurhöhnischabgewiesen.DashätteesunterdemKaisernichtgegeben.AlsderKaisernochaufdemThronsaß,ging’sunsgut.“

„Mit Ihren finanziellen Verhältnissen steht es also nicht zumBesten?“

„Wie denn? Rücklagen verlieren an Wert, Sparkonten undReichsanleihenwerdenvonderInflationaufgefressen.AnallemsindnurderRathenauundderWirthSchuld.“

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„UndeinkleinesbisschenderverloreneKrieg.“„Wenn uns die Juden und die Kommunisten nicht das Messer

indenRückengestoßenhätten,würdenwirjetztalsSiegerüberdieChamps-Élysées flanieren. Stattdessen verscherbelt der RathenauunserLandandiePolenundsiehtzu,wiepolnischeVerbrecherban-denehrlicheDeutscheterrorisieren.“

„KommenwirzurückzuIhremSohn.WennIhreFamiliekeinenennenswerten Geldmittel besitzt und er selbst ohne Arbeit war– wie hat er dann die Geschenke für Fräulein Bredow finanziert?MitSchulden?“

„Soetwaswürdeernietun.WirsinddochkeineBettler!“„IrgendwomussdasGeldjahergekommensein.“„ManchmalhaterfürkurzeZeitArbeitgehabt.Erwarebenein

sparsamerJunge.“Hendrik fand diese Antwort unbefriedigend, aber Gregor ritt

nichtweiterdaraufherum.ErstelltenocheinpaarFragenzuHart-mutGenschsFreundenundgabdanndasZeichenzumAufbruch.Hendrik war frustriert. Sie waren jetzt noch ratloser als vor demGesprächmitFrauGensch,fander.DerBesuchhattenichtserhellt,nichteinmaldiePersönlichkeitdesToten.

„Stimmt“, gab Gregor zu, „der Mann ist nicht zu greifen. Wasmich am meisten irritiert, ist, dass ich keine Briefe oder Notizengefunden habe, keinerlei Schriftstücke. Ungewöhnlich. Normaler-weisefindetmanimmeretwas.“

„Vielleicht hat seine Mutter die persönlichen Dinge an sichgenommen.“

„Möglich. Aber wenn du bedenkst, dass sie nicht einmal lüftet…“GregorschütteltedenKopf.„HatkeinenZweck, langedarübernachzugrübeln.Sehenwirlieber,obFräuleinBredowdaheimist.“

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…mehrinIhrerBuchhandlung…

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Hendrik wusste zuerst nicht, woran es lag, dass sie trotzdem auf-

dringlich wirkte. Erst beim zweiten Blick merkte er, dass sie kein

GespürfürdasrechteMaßbesaß.AllesanihrwareineSpurzuviel:

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www.suttonverlag.de

„Ein sehr lesenswerter historischer Krimi.“ BayerischerRundfunkB5aktuell

Ein Kriminalroman aus dem Berlin der Weimarer Zeit

erlin, 1922. Noch immer bestimmen Hunger und Armut das Straßenbild, die Geldentwertung schreitet voran,

politische Attentate erschüttern das Land. Im Grunewald wird die Leiche eines jungen Mannes

gefun den, der neun Monate zuvor erschossen und verscharrt wurde. Kommissar Gregor Lilienthal ist fest entschlossen, den Mörder zu finden, auch wenn die Spuren längst erkaltet sind. Sein Bruder Hendrik, Philosophieprofessor an der Universität, und Diana Escher, physikalische Assistentin von Max Planck, unterstützen ihn dabei mit philosophischem Witz und wissenschaftlicher Gründlichkeit.

Wie sich herausstellt, gehörte der Tote der berüchtigten Organisation Consul an, einer Vereinigung ehemaliger Freikorpssoldaten, die die junge Republik mit Terror und Gewalt bekämpfen. Walther Rathenau steht als nächster auf ihrer Abschussliste. In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Hendrik, Diana und Gregor, die Verschwörung aufzudecken und dem Anschlag zuvorzukommen. Doch die Attentäter sind ihnen immer einen Schritt voraus.

Auch im zweiten Fall des Berliner Ermittlertrios verbindet Gunnar Kunz Berliner Lokalkolorit der beginnenden 1920er-Jahre mit einer Hochspannung, die den Leser von Anfang an in ihren Bann zieht.

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