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Sven Körber Evangelistenschule Johanneum
Verkündigung, soziales
Handeln und Bildung
bei Johann Hinrich Wichern (in den Jahren 1848 bis 1858)
- und die Relevanz für die aktuelle Gestaltung evangelischer Jugendarbeit
Systematik
Dozent: Pfr. Burkhard Weber
Abgabetermin: 27. Mai 2011
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 1
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Verkündigung, soziales Handeln und Bildung
bei Johann Hinrich Wichern (in den Jahren 1848 bis 1858)
– und die Relevanz für die aktuelle Gestaltung evangelischer Jugendarbeit
1. Einblicke
1.1 Auswahl des Themas …………………………………………….. Seite 2
1.2 Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts – ein Überblick … Seite 3
1.3 Johann Hinrich Wichern – sein Wirkens bis 1848 ……………… Seite 5
2. Wichern – und „seine“ Gesellschaft
2.1 Die „soziale Not“ und sittlicher Verfall …………………………. Seite 10
2.2 …und die Relevanz für heute …….……………………………… Seite 14
3. Wichern – und „seine“ Ideen
3.1 Antworten der Tat, die verändern wollen… ..……………..……. Seite 16
3.2 …und die Relevanz für heute …….……………………………… Seite 20
4. Wichern – und „seine“ Mitarbeiter
4.1 Priestertum aller Gläubigen, Vereine für Innere Mission und
die Suche nach geeigneten (hauptamtlichen) Mitarbeitern ..……. Seite 21
4.2 …und die Relevanz für heute …….……………………………… Seite 26
5. Ausblicke
5.1 Von Wichern inspiriert
– evangelische Jugendarbeit gestalten ....……………..………. Seite 28
Literaturverzeichnis …………………………………………………... Seite 29
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 2
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
1. Einblicke
1.1 Auswahl des Themas
In den Jahren 2001-2008 durfte ich die Jugendarbeit meiner Heimatgemeinde als
nebenamtlicher Jugendleiter in einem Team von mehreren Kollegen mitgestalten.
Dabei habe ich in vielen Dienstbesprechungen immer wieder die Beobachtung
gemacht, wie unterschiedliche Schwerpunkte in der Gestaltung der Arbeit gesetzt
wurden. Die eine „Partei“ hat großen Wert auf die missionarische Verkündigung des
Evangeliums gelegt, die andere „Fraktion“ hat besonders den sozial-diakonischen
Ansatz hervorgehoben. Schließlich kam es leider immer häufiger zu Meinungsver-
schiedenheiten darüber, welcher Weg der „bessere“ sei…
Als Schüler der Evangelistenschule Johanneum habe ich im ersten Jahr der
Ausbildung ein Sozial-Diakonie-Praktikum in einer Wuppertaler Kindertagesstätte
absolviert. Dort kümmert man sich um Kinder, die nicht nur schulische Probleme
haben, überwiegend aus ärmlichen Verhältnissen kommen, sondern auch
Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit ihren Mitmenschen aufweisen. Es gibt ein
gemeinsames Mittagessen, eine Hausaufgabenbetreuung und die Möglichkeit der
Freizeitgestaltung. Allerdings kam es mir damals so vor, als ob es den Kindern an
aufbauenden Vorbildern und der Vermittlung von positiven Werten – also einer
„frohen Botschaft“ – fehlte…
Beide Erfahrungen haben mir gezeigt, dass Verkündigung, soziales Handeln und
Bildung vielerorts oft nur getrennt voneinander wahrgenommen werden. Eine für
mich unbefriedigende Beobachtung, zumal alle drei Dinge auch im Neuen Testament
nicht voneinander zu trennen sind, was wir besonders auch in den Berichten der
Urgemeinde (vgl. z. B. die Apostelgeschichte) entdecken können.
Erste, lose Kontakte mit Johann Hinrich Wichern und seinem Werk ermutigen mich
nun nach einem ganzheitlichen Konzept in der Arbeit am und mit dem Menschen zu
suchen. Wichern verbindet die Verkündigung des Evangeliums, Soziales Handeln
und Bildung miteinander, wie kaum ein anderer. Sein Ansatz kann in seinem wohl
bekanntesten Satz zusammengefasst werden:
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 3
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
„Die Liebe gehört mir wie der Glaube.“ 1
Wie füllt Wichern diese Aussage? Was steckt hinter dieser „einprägsamen Formel“?
Ich will in den Schriften dieses evangelischen Kirchenvaters des 18. Jahrhunderts
Antworten finden. Hier sollen besonders seine wichtigsten Aufsätze und Äußerungen
aus den Jahren 1848-1858 in den Blick genommen werden. In dieser Zeit ist Wichern
auf der „Höhe seines Wirkens“2, nach der Revolution in Deutschland und seiner
bedeutenden Rede auf dem evangelische Kirchentag in Wittenberg.
Es ist mir bewusst, dass man das Werk Wicherns auf vielfältige Weise betrachten
kann.3 Ich möchte jedoch ausschließlich danach fragen, was wir im Zusammenhang
von Verkündigung, sozialem Handeln und Bildung heute von Johann Hinrich
Wichern konkret (neu) lernen können. So soll im Folgenden Johann Hinrich Wichern
immer wieder selbst zu Wort kommen.4 Anschließend sollen dann in den einzelnen
Abschnitten Thesen aufgestellt werden, die deutlich machen, dass Wichern auch
heute noch sehr aktuell ist und seine Äußerungen relevant sein können für die
aktuelle Gestaltung evangelischer Jugendarbeit.
Alles Entdecken, Arbeiten und Lernen möchte ich – inspiriert von einem Porträt
Wicherns, welches sich auf den ersten Seiten der ersten Ausgabe von „Johann
Hinrich Wichern – Sämtliche Werke“ befindet – unter folgendes Bibelwort stellen:
„Alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der
Sieg, der die Welt überwunden hat.“ (1. Johannes 5,4)
1.2 Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts – ein kurzer Überblick
Johann Hinrich Wichern, geboren im Jahr 1808 und gestorben im April 1881, ist ein
Kind des 19. Jahrhunderts. Darum soll an dieser Stelle ein skizzenhafter Überblick
des vorletzten Jahrhunderts gegeben werden.
1 Wichern, Band I (vgl. „Erklärung, Rede und Vortrag Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag“;
1848), Seite 166 2 Meinhold, in: Wichern, Band II, Seite 9
3 Spannend wäre z. B. auch ein Vergleich mit Friedrich Engels oder dem katholischen Pfarrer
Adolph Kolping, die jeweils unterschiedliche Vorschläge zur Sozialreform ihrer Zeit haben. 4 Ganz bewusst wird darum auch eine Vielzahl von Wicherns Zitaten hier abgedruckt. Ich möchte
Wichern in den Quellen lesen und diese weitergeben, damit sich die Leser auch selbst ein Bild von
Wichern Äußerungen machen können.
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 4
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
In dieser Zeit kommt es zu einer großen gesellschaftlichen Umgestaltung: „Zu den
Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Veränderung des 19. Jahrhunderts gehö-
ren neben der Revolutionierung der Produktion und der Aufhebung der alten Sozial-
ordnungen das Bevölkerungswachstum.“5
Die erste Hälfte dieses Jahrhunderts ist geprägt von den politischen wie gesellschaft-
lichen Veränderungen, die aus den Kriegen mit Napoleon herrühren. Konservative
Strömungen stehen im Konflikt mit den liberalen Lebensentwürfen des Bürgertums,
was schließlich auch in den deutschen Landen (1848) wie in ganz Europa zu Revolu-
tionen führt. Ein erstes Mal findet länderübergreifender Austausch statt.
Von diesen politischen Dimensionen ist die Masse der Fabrikarbeiter jedoch ausge-
nommen, die täglich um ihr Leben kämpfen muss. Zudem ist die Zeit schnelllebig,
was vor allem auf die voranschreitende Industrialisierung zurückzuführen ist. Die
damit verbundene Technisierung bringt auch vielfältige Veränderungen im familiä-
ren Bereich: Die Menschen ziehen in die Städte, traditionelle Lebensformen (wie
Großfamilien und Dorfgemeinschaften) sind nicht mehr möglich und der Rhythmus
der Fabrik bestimmt das Leben des Großteils der Bevölkerung. Familienstrukturen,
wie sie von den Dörfern bekannt gewesen sind, spielen keine Rolle mehr, jeder Ein-
zelne muss für sich das Überleben sichern und der Massenarmut und Ausbeutung
standhalten.
Die Arbeitsvoraussetzungen sind katastrophal. Arbeitszeiten steigen auf Werte, die
bisher in Europa unbekannt sind, die reine Arbeitszeit pro Woche liegt bei maximal
75 Stunden. Die Löhne sind nicht hoch, die Arbeiter bleiben zudem äußerst abhängig
von der Konjunktur, nur selten hat „es so viele und scharfe kurzfristige Krisen gege-
ben und nie zuvor so weiträumig wirksame.“6 Arbeitslosigkeit und Armut sind des-
wegen nicht selten die Folge.
Durch die stattfindende Urbanisierung kommt es in den neuen Groß- und Millionen-
städten zu einer starken Wohnungsnot. Es entstehen in „unmittelbarer Nähe der Fab-
riken, die Lärm, Rauch, Abgase und Abfall unbekümmert ausstießen, Massenquartie-
re auf engstem Raum.“7 Meistens leben in einer kleinen Wohnung mehrere Familien
neben- und miteinander. Privatsphäre ist ein Fremdwort.
5 Prokasky, Seite 97
6 Prokasky, Seite 100
7 Prokasky, Seite 101
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 5
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Die Arbeits- und Wohnbedingungen wirken sich negativ auf die Gesundheit aus:
„Mangelkrankheiten infolge unzureichender Ernährung und eine verstärkte Anfällig-
keit für Ansteckungskrankheiten waren alltäglich.“8 Seuchen wie die Cholera, Tu-
berkulose, eine Lungeninfektion oder auch die Säuglingssterblichkeit fordern viele
Opfer.
Die gesellschaftlichen Probleme werden unter dem Begriff der „Sozialen Frage“ von
unterschiedlichen Gruppen diskutiert: „War auch das Elend offensichtlich, so gingen
die Interpretationen seiner Ursachen und die Vorschläge zu seiner Behebung weit
auseinander.“9
Johann Hinrich Wichern versucht, der sozialen Not seiner Zeit durch Aktivitäten, die
vor allem auf die Hilfe für den Einzelnen hinzielen, zu begegnen. Dabei sucht er ge-
zielt den persönlichen Kontakt zu den Menschen, um die Lage seines Gegenübers zu
verändern.
1.3 Johann Hinrich Wichern – sein Wirkens bis 1848
Johann Hinrich Wicherns Wirken in den Jahren 1848 bis 1858 soll im Zentrum
dieser Arbeit stehen, allerdings lohnt es sich auch seinen Werdegang bis ins Jahr
1848 anzuschauen. Ansätze von dem, was er auf der Höhe seines Schaffens äußert
und tut, sind schon vorher zu erkennen…
Johann Hinrich Wichern wird am 21. April 1808 als Sohn eines Notars in Hamburg
geboren. Er ist das älteste von sieben Kindern. Wicherns Kindheit fällt in eine
schwere Zeit. Es herrschen in der Hansestadt abwechselnd die Franzosen und
Russen, sodass die Eltern auf ein Landgut nahe Hannover fliehen, bis im Sommer
1884 der Friede ins Land zieht.10
Lesen und Schreiben lernt der junge Wichern bei
seinem Vater, bevor er in Hamburg eine Privatschule und später die Gelehrtenschule
Johanneum besucht.
„Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen.“11
Besonders nach dem frühen
Tod seines Vaters, der im August 1823 stirbt, sieht sich Wichern verpflichtet, die
Mutter bei der Versorgung der Familie zu unterstützen. So gibt er als 15jähriger
8 Prokasky, Seite 101
9 Prokasky, Seite 103
10 Vgl. Bunke, Seite 9
11 Bunke, Seite 9
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 6
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
schon Unterricht für Privatschüler. Die eigenen Schularbeiten werden erst in den
Nachtstunden erledigt.
Als Siebzehnjähriger wird Wichern konfirmiert, über die Zeit des Unterrichts
schreibt er später:
„Dieser Unterricht ist entscheidend für mein Leben geworden; ich verdanke ihm die Er-
kenntnis des Evangeliums.“12
Im achtzehnten Lebensjahr arbeitet Wichern als Erziehungsgehilfe für drei Jahre an
einer privaten Internatsschule in Hamburg.13
In dieser Zeit wird er auch „in einem
christlichen Verein von jungen Männern aus den verschiedensten Berufen,
überwiegend Künstlern, aufgenommen“14
, was für ihn damals sehr wertvoll ist, wie
wir später von ihm selbst erfahren:
„Ich selbst habe vor vielen Jahren mehrere Jahre unter solchen jungen Männern aus dem
Handwerkerstande gelebt und mit Hamburger Freunden erfahren, wie sie dienen und helfen
können, wenn sie z. B. des Sonntags Arme besuchen, den Kranken Trost bringen und ihnen
aus der heiligen Schrift vorlesen usf.“15
Danach studiert er von 1828-1831 in Göttingen und Berlin Theologie. Dort lehren
Professoren, u. a. Friedrich Lücke und Friedrich Schleiermacher, „denen die Abkehr
vom Rationalismus und der Praxisbezug der Theologie gemeinsam ist.“16
Diesen
Praxisbezug setzt er direkt nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt Hamburg ein,
wo er 1832 im Alter von 24 Jahren Oberlehrer an der Sonntagsschule für arme
Kinder in der Vorstadtgemeinde St. Georg wird: „Er sah besonders die Not der
Kinder, von denen ein großer Teil entweder gar keine Schule besuchte oder nur an
etlichen Stunden in der Woche und obendrein in Armut und sittlicher Verwilderung
aufwuchs.“17
Die Idee zu dieser Sonntagsschule kam aus England.18
Er besucht die Familien und sieht die erschreckende Armut mit eigenen Augen,
sodass er sich zum Ziel setzt, in Hamburg eine „Rettungsanstalt für verwahrloste
Kinder“19
ins Leben zu rufen. Mit der Unterstützung des Hamburger Senators Martin
Hudtwalcker und des Syndikus (dt. Anwalt) Karl Sieveking wird das „Rauhe Haus“
gegründet, am Reformationstag 1833 kann Wichern als Vorsteher dort einziehen:
„Das Rauhe Haus stellt sich als ‚Rettungsdorf‘ dar, in dessen Häusern
12
Zitiert nach Bunke, Seite 9 13
Vgl. Johann Hinrich Wichern, 200 Jahre, Seite 11 14
Bunke, Seite 15 15
Wichern, Band I (vgl. „Wie die nötigen Arbeiter gewinnen?“; 1850), Seite 159 16
Vgl. Johann Hinrich Wichern, 200 Jahre, Seite 11 17
Bunke, Seite 19 18
Vgl. Teschner, Seite 72 19
Bunke, Seite 24
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 7
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
familienähnliche Gruppen von Kindern und Erziehern leben. In eigenen Werkstätten
erhalten die Jugendlichen eine handwerkliche Ausbildung. Für die Ausbildung der
Erzieher (‚Brüder‘, später ‚Diakone‘ genannt) gründet Wichern eine
Brüderanstalt.“20
Über tausend Kinder haben zu Lebzeiten Wicherns das Rauhe Haus besucht. Jeder
neuaufgenommene Junge wird feierlich begrüßt, wie wir später in Wicherns Auf-
zeichnungen nachlesen können:
„Heute wurde Paul aufgenommen. Gottfried und Matthias führten ihn in den Betsaal, Karl
und Jakob trugen Milch und Brot. Ich sagte einige Worte über den Spruch: ‚Wer ein solches
Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.‘ Dann sagte ich, dass ich Paul ge-
fragt, ob er einen Wunsch habe, den ich erfüllen könne, und seine Antwort sei gewesen, dass
er Durst habe. So erhielt er Milch und Brot und griff zu, aß und trank, während wir für ihn
beteten und ein Lied anstimmten. Dann gab ich ihm einen Kuss und führte ihn zu meiner
Frau und zu meiner Mutter und zu den Gehilfen, die ihm die Hand reichten. Der Junge wuss-
te sich kaum zu fassen; ihm war, als wäre er in einer anderen Welt. Er war auch in einer an-
deren.“21
Wicherns „pädagogisches Bekenntnis“ findet sich im 10. Jahresbericht der Einrich-
tung:
„Jesus Christus ist der lebendige Mittelpunkt unserer Arbeit, und das höchste Ziel bleibt,
durch alles die Gemüter unserer Kinder zu diesem Retter aus Schuld und Sünde hinzufüh-
ren.“22
Am 29. Oktober 1835 heiratet Johann Hinrich Wichern Amanda Böhme, aus der Ehe
sind neun Kinder hervorgegangen, von denen schließlich sechs den Vater überleb-
ten.23
Wichern versucht sich auch über die alltägliche Arbeit im Rauen Haus hinaus um
Kirche und Welt zu kümmern. Er ist stark daran interessiert zu erfahren, was an-
derswo geschieht. Er führt mit verschiedenen Personen rege Briefwechsel. Sein En-
gagement ist beeindruckend, bringt aber auch gesundheitliche Folgen mit sich:
„Wenn er [nachts] müde war, hat er oft seine Füße in kaltes Wasser gestellt. Das hat
sich später gerächt.“24
Immer wieder zieht es ihn auch in andere Städte, u. a. nach
Bremen, Kiel, Magdeburg und Preußen mit dem Ziel, von anderen für die eigene Ar-
beit zu lernen und selbige vorzustellen. Im Jahre 1844 gründet er mit den Fliegenden
Blättern eine Zeitschrift, „durch die er mit seinen Freunden in ständige Verbindun-
20
Vgl. Johann Hinrich Wichern, 200 Jahre, Seite 11 21
Zitiert nach Bunke, Seite 30 22
Zitiert nach Bunke, Seite 30 23
Vgl. Bunke, Seite 35 24
Bunke, Seite 43
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 8
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
gen treten und seine Gedanken über die Aufgaben der Zeit ausbreiten“25
kann. Sie
wird in der eigens im Rauhen Haus eingerichteten Hausdruckerei verlegt. Die Flie-
genden Blätter werden schließlich das „führende Blatt der Inneren Mission und spä-
tere Organ des Central-Ausschusses.“26
Aus dem Vorwort zur vierten Serie der Flie-
genden Blätter erfahren wir, wie vielfältig die Berichte sind:
„Die Betätigung der Liebe unter Männern und Frauen aus allen Ständen der Gesellschaft,
aus allen Kreisen und Ämtern des Staates und der Kirche durch Schrift und Wort, durch Rat
und Tat an der verlorenen Jugend, an dem der Strafe verfallenden Verbrecher, an dem der
Verzweiflung nahen Proletarier, an den Opfern des Branntweins, an Armen, Schwachen und
Notleidenden aller Art und jedes Alters – ist von diesen Blättern dargelegt als der Ansatz-
punkt eines lebendigen Keimes, aus welchen sich über Stadt und Land, innerhalb und außer-
halb des Vaterlandes, in Nord und Süd, in Ost und West die verheißungsvollen Anfänge einer
organischen, Gestalt und Gesetz von innen heraus schaffenden, das politische und staats-
kirchliche Leben eigentümlich erneuernden Tätigkeit hervorgehoben haben.“27
Während die Fliegenden Blätter eine Plattform bieten sich durch vielfältige Berichte
auszutauschen und verschiedene Hilfstätigkeiten aus unterschiedlichen Regionen
Deutschlands zu dokumentieren, ist es Wichern darüber hinaus immer wieder auch
ein Anliegen, selbst dort praktisch aktiv zu werden, wo es Unterstützung bedarf. So
entschließt er sich Anfang 1848 nach Oberschlesien zu reisen, wo nach Missernten
und Überschwemmungen der Hungertyphus ausgebrochen ist. Wichern macht sich
mit acht Brüdern aus dem Rauhen Haus auf – „darunter solche, die für Krankenpfle-
ge, Landwirtschaft, Unterricht und Handwerksarbeit besonders geeignet waren“28
–
um „ganzheitlich“ zu helfen. Später berichtet er:
„Unvergesslich wird mir und uns allen das Bild der ersten hungrigen Bettler sein, die uns
umlagerten und die Gier, mit der sie viehisch das Brot verschlangen, das wir kauften und
verteilten.“29
Johann Hinrich Wichern fasst alle (sozialen) Aktivitäten zusammen, die sich der ar-
men und sittlich verwilderten Menschen annehmen und prägt den Begriff der „inne-
ren Mission“. Er sieht in der inneren Mission das Gegenstück zur äußeren Mission.
Es ist an der Zeit, sich wieder neu mit den vielen getauften Mitgliedern der Kirche zu
beschäftigen, die sich von selbiger abgewendet haben und mit dem Evangelium
nichts mehr anfangen können.
Auf dem Wittenberger Kirchentag im September 1848 versucht Wichern in seinen
Reden sehr überzeugend für die Arbeit der inneren Mission zu werben:
25
Bunke, Seite 44 26
Vgl. Johann Hinrich Wichern, 200 Jahre, Seite 11 27
Wichern, Band I (vgl. „Fragen der inneren Mission“; 1847), Seite 80 28
Bunke, Seite 50 29
Zitiert nach Bunke, Seite 50
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 9
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
„Durch die innere Mission muss die Kirche sich die Aufgabe setzen, nicht zu ruhen, bis wie-
der alle die Verkündigung von dem Sohne des lebendigen Gottes vernehmen. Als einer der
Hauptgrundsätze müsse voranstehen der Satz: kommen die Leute nicht in die Kirche, so muss
die Kirche zu den Leuten kommen. So habe es auch der Herr Christus gemacht, der zu uns
gekommen und nicht gewartet, bis wir zu ihm gekommen.“30
Und schließlich, als „Höhepunkt“ seiner Rede, der Abschnitt, in dem wohl auch der
bekannteste (und oben schon zitierte) Satz Wicherns zu finden ist:
„Meine Freunde, es tut eines not, dass die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerken-
ne: ‚die Arbeit der inneren Mission ist mein!‘, dass sie ein großes Siegel auf die Summe die-
ser Arbeit setze: die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muss ihr großes
Werkzeug, womit sie die Tatsache des Glaubens erweiset, werden. Diese Liebe muss in der
Kirche als helle Gottesfackel flammen, die kund macht, dass Christus eine Gestalt in seinem
Volk gewonnen hat. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so
muss er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser
Taten ist die rettende Liebe.“31
Diese kurze Darstellung des Wirkens Johann Hinrich Wicherns bis zum Jahr 1848
zeigt, wie er immer wieder die Verkündigung des Evangeliums, das soziale Handeln
und auch verschiedene Bildungsmaßnahmen als Einheit sieht und die drei Dinge
nicht voneinander trennt.
Hier sind nicht nur besonders die Fliegenden Blättern zu erwähnen, in denen von der
ganzheitlichen Arbeit berichtet wird, sondern vor allem ist sein Engagement im Rau-
hen Haus hervorzuheben. Gerade in der Begegnung mit seinem Gegenüber, in der
Beziehung zu dem einzelnen Menschen wächst die Liebe und tatkräftige Hilfe Wi-
cherns – immer mit dem Ziel, den anderen auch auf Christus hinzuweisen.
Im Folgenden sollen drei Schwerpunkte Wicherns hervorgehoben werden:
1. Wichern begegnet dem einzelnen Menschen, er sucht seine Nähe und will
durch konkrete Beziehungsarbeit helfen. Menschen begegnen! Er geht den
Nöten und Sorgen der Menschen nach und macht sich so macht sich ein ge-
naues Bild über „seine“ Gesellschaft.
2. Die vielen besonderen Erlebnisse und Erfahrungen, die Wichern beim be-
obachten seiner Gesellschaft macht, fordern ihn heraus, Antworten auf die
Probleme und Nöte der Menschen zu geben und sich ihnen in der tatkräftigen
Liebe des Evangeliums anzunehmen. Evangelium zum Anfassen! Zahlreich
und kreativ sind „seine“ Ideen.
30
Wichern, Band I (vgl. „Erklärung, Rede und Vortrag Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag“;
1848), Seite 164 31
Wichern, Band I (vgl. „Erklärung, Rede und Vortrag Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag“;
1848), Seite 166
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 10
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
3. Um die unterschiedlichen Aufgaben anzugehen, ruft Wichern die ganze Kir-
che auf, sich der Sache der inneren Mission anzunehmen, jeder einzelne
Gläubige ist gefordert das Evangelium weiterzugeben, denn die Nachfolger
Christi sind Gottes Werkzeug! Darum ist es Wichern ein großes Anliegen
„seine“ Mitarbeiter zu begleiten und zu fördern.
2. Wichern – und „seine“ Gesellschaft
2.1 Die „soziale Not“ und sittlicher Verfall – verschiedene Beobachtungen
Schlechte Arbeitsbedingungen, Wohnungsnot und Auflösung der Familienstrukturen
sind Voraussetzungen für das Elend und schließlich auch für den sittlichen Verfall
eines (Groß-?)Teils der Bevölkerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Erfah-
rung machen Wichern und seine Mitstreiter bei ihren unzähligen Kontakten mit den
betroffenen Menschen. So meldet er sich stets auf vielfältige Weise zu den unter-
schiedlichsten Themen der damaligen Zeit zu Wort. An seinen Äußerungen können
wir sehen, wie er sehr gründlich beobachtet, was in seiner Gesellschaft passiert.
Wir besitzen viele Berichte von den (sozialen) Zuständen aus seiner Heimatstadt. Bei
der Vorstellung der Arbeit des Vereins für innere Mission in Hamburg, schildert er
einzelne Fälle detailliert, z. B. Folgenden:
„Familie A. Der Mann ist ein armer Handwerker. Vater und Mutter sind dem Trunk ergeben;
die Frau, sehr faul, hat den Mann dazu verführt. Oft sind sie schon von Verwandten vom Un-
geziefer gereinigt; sie wohnen, als der Vereinshelfer kommt, im härtesten Winter mit mehre-
ren Kindern hinter einem Bretterverschlag auf einer Diele. Kein Tisch, etwa 3 Stühle, auf
dem einen sitzt die Frau, über die beiden anderen ist ein Brett gelegt, das als Bank für die
Kinder und als Tisch für die Familie dient. Ein vier Fuß hohes Loch lässt die ganze Familie
zur Schlafstelle durchschlüpfen, die etwa 3 Fuß breit und 8 Fuß lang ist. Ein Haufen altes
Stroh und einige Lumpen bilden für die ganze Familie das nicht zu lüftende Lager, von dem
ein Pesthauch ausgeht […] Die Kinder besuchen keine Schule. Als Ursache der Armut wird
Arbeitslosigkeit angegeben, infolgedessen die Miete nicht habe bezahlt werden können, wo-
rauf der Vermieter alles behalten habe. Dass Branntwein getrunken werde und sich daraus
alles übrige mit erklären lasse, wurde geleugnet, wiewohl dies nur kurze Zeit möglich
blieb.“32
Wichern sieht in der Wohnungsnot eine der Kernfragen des damaligen sozialen Prob-
lems. Gerade weil oft mehrere Parteien in einer Wohnung wohnen, kann es schnell
zum sittlichen Verfall des Familienlebens kommen.33
Es finden sich in diesen Be-
hausungen nicht selten viele sog. wilde Ehen und unzählige Damen, die durch ihr
32
Wichern, Band II (vgl. „Der Verein für innere Mission in Hamburg“; 1849), Seite 59 33
Vgl. Wichern, Band III/1 (vgl. „Die Wohnungsnot der kleinen Leute“; 1857), Seite 187
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 11
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
unmoralisches Verhalten auffallen. Eine Beobachtung, die die Mitglieder des Vereins
für innere Mission in Hamburg bei ihren Hausbesuchen machen, und über die Wi-
chern u. a. schreibt:
„Das ist einmal die Menge heimlicher oder öffentlicher Weibspersonen, die solche Gegenden
verpesten und keinen Schritt zur Wohnung hinaus gestatten, ohne verstohlen oder schamlos
das offene Tor ihrer Orgien den Blicken der unbefangenen und bald im allerletzten Seelen-
grund ruinierten Jugend preiszugeben. Uns selbst sind wackere, brave Familien kleiner Leu-
te, die keineswegs zu den Armen gehörten, wie oft! Bekannt geworden, die keine andere
Wohnung als solche, inmitten derartiger Pestregionen gelegene, haben finden oder bezahlen
können. Das schnödeste Laster wird so schon den jüngsten Kindern und nun vollends den
heranreifenden Mädchen und Knaben ein tagtägliches Gewohnheitsbild. – Daran schließt
sich ein Zweites, das der umsichtige Verfasser ebensowenig übersehen, – die Menge der Af-
termieter in den kleinen Wohnungen. Die meisten Handwerksmeister halten je länger, desto
mehr ihre Gesellen nicht mehr bei sich im Hause; eine unzählige Menge von fremden oder
losen Leuten aller Art tritt hier noch hinzu: Tagelöhner, Nähterinnen, Wäscherinnen, Fab-
rikarbeiter, Fabrikmädchen mit all ihrem Gefolge – einstweilen geschäftslos gewordene
Dienstmägde, Laufjungen, Handlanger, Kutscherknechte, usw. – Diese alle wohnen zu Tau-
senden in diesen kleinen Wohnungen hin und her, bald hier, bald dort, ohne Halt und
Zucht.“34
Besonders in den großen Städten entstehen immer mehr sogenannte „Frauenhäuser“.
Hurerei und Prostitution breiten sich aus, in Berlin spricht man von 8000-10000
„Winkeldirnen“, was nicht selten zu Genitalerkranken führt und sogar manche Solda-
tenkompanien dadurch „zum Marschieren unfähig gewesen sein sollen.“35
Wichern
äußert sich in einem Aufsatz zu diesem Thema, indem es heißt:
„Es sind keineswegs allein die großen Städte, in denen sich die Übertretungen des sechsten
Gebots in einer erschreckenden Weise breite Bahn gemacht hat. Fast in allen Teilen unseres
Vaterlandes habe ich seit lange die Gelegenheit benutzt, von Geistlichen, Gutsbesitzern, Be-
hörden Erkundigungen über diesen Gegenstand einzuziehen, und habe fast von allen Seiten
nur Eine Stimme über den maßlosen Verfall ehrbarer Sitten gehört […]
Die Kammern der fluchwürdigsten Unzucht und Leib und Seele verderbenden Schandtaten
sind durch alle Etagen der ganzen Bevölkerung hindurch aufs sicherste und komfortabelste
eingerichtet; wie aus unantastbaren Festungen wirken von diesen Hunderten von Stellen aus
die Teufel der frivolsten Gemeinheit ungestört, allem Heiligen hohnlachend, das Gesetz ver-
spottend, mit tausend und abertausend vergifteten Waffen unter alt und jung, unter dem
männlichen und weiblichen Geschlecht zur innersten Zerstörung der letzten, gewiss nur noch
sehr morschen Reste der öffentlichen Sittlichkeit und Christlichkeit. Erst wer zu dem Ent-
schluss gekommen, in diesen Abgrund hineinzusehen, kann sich hundert andere, sonst uner-
klärliche Tatsachen erklären. Die leeren Kirchen und die gefüllten Tanzböden und Bier-
schänken, die Entheiligung des Sonntags, das Laster des Trunks, die Entartung der Armen-
welt, die vielen unglücklichen und bis in die Wurzel zerrütteten Ehen, das Gedeihen einer
schlechten Literatur, die Überfüllung der Gefängnisse hängen unmittelbar mit der Macht und
dem Umfange der heimlichen Hurerei zusammen.“36
34
Wichern, Band III/1 (vgl. „Band III/1 (vgl. „Die Wohnungsnot der kleinen Leute“; 1857), Seite
188-189 35
Wichern, Band II (vgl. „Ein Votum über das heutige Sodom und Gomorrha“; 1851), Seite 215 36
Wichern, Band II (vgl. „Ein Votum über das heutige Sodom und Gomorrha“; 1851), Seite 216-217
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 12
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Eine weitere Beobachtung: Oft stürzen sich Männer und Frauen, aber auch schon
Kinder37
, ins Trinken und Spielen, so dass der knappe Wochenlohn schnell wieder
dahin ist:
„Ein weiterer Krebs am Familienleben, der tiefer und weiter frisst, als öffentlich erkennbar
wird, ist das Spiel; das Lotto mit seinem ‚Nummernschreiben‘ wird trotz aller Verbote in der
ganzen Stadt gepflegt, das Kartenspiel wird namentlich sonntags in den kleinen Kneipen ge-
trieben, und dem Silentium [Ruhe] ist am häufigsten der Sonntagabend geopfert, wo die Ar-
beiter Gelegenheit haben, ihren vollen, soeben empfangenen Wochenlohn anzubringen. Nach
einer wüsten Nacht taumeln sie dann mit leeren Händen nach Hause, wo die Familie vergeb-
lich auf volle Taschen wartet und bei etwaigen Vorwürfen noch obendrein gemißhandelt
wird. In einem der größten Durchgänge unserer Stadt, in dem mehrere hundert Familien, fast
lauter sogenannte kleine Leute, wohnen, fanden wir dies Laster des Spiels an allen Enden
grassieren.“38
Auch vom Christentum reißen sich immer mehr Menschen los, eine Ablösung von
der Kirche ist an vielen Stellen zu beobachten. Der Sonntag wird, wie das eben zi-
tierte Beispiel zeigt, nicht mehr als „Tag des Herren“ angesehen. Eine Tatsache, die
Wichern wiederholt in seinen Schriften aufgreift und kritisiert:
„Der Tag des heiligen Herrn ist im übelsten Sinne in einen Tag der unheiligen Menschen und
aus dem Tag des Auferstandenen in einen Tag der Toten verwandelt, an welchem der Tod mit
der Sichel der Sünde die reichste Ernte einfährt.“39
Immer weniger Leute besuchen den Gottesdienst, die Zahl derer, die noch nie einem
solchen beigewohnt haben, steigt stetig. So berichtet Wichern z. B. in einem Aufsatz
über „Die kirchlichen und sittlichen Notstände unserer Zeit“ aus dem Jahre 1854,
dass in den Gemeinden Mecklenburgs in einem Jahr über 220 Gottesdienste ausfallen
mussten, weil kein Mensch außer dem Prediger zur Kirche kam.40
Antworten auf die Probleme des Lebens können und wollen viele nicht mehr in der
Religion und im Glauben finden – im Gegenteil, vielerorts wird die Bibel sogar ver-
höhnt und es zeigt sich deutlich, wie man zu dem Ganzen steht:
„Als am Schluss des vorigen Jahres mit der Unterstützung der hamburg-altonaischen Bibel-
gesellschaft in hiesiger Stadt Bibel zu einem billigen Preise in den Häusern der Unbemittel-
ten ausgeboten […] und einzeln wohnende Personen besucht wurden, […] wurden dabei
auch die eigentlichen Gedanken gar vieler über das, was Christen heilig ist, offenbar. Na-
mentlich waren es die jüngeren 18 bis 20jährigen Mädchen, welche mit Hohn und Gelächter
die Verkäufer empfingen; an vielen solchen Stellen hielten solche Mägde die ‚fünf neuen
schönen Lieder, gedruckt in diesem Jahre‘ entgegen mit der verhöhnenden Erklärung: ‚Das
ist unsere Bibel!‘ Anderswo erklärte die Mutter mit ihren Töchtern, statt darin zu lesen, gin-
gen sie lieber zum Tanz! Handwerksmeister erklärten: Die Schüssel mit Fleisch sei ihre Bi-
bel! Gesellen, die vollauf hatten, wollten lieber Fleisch, Wurst und Schinken! – Andere erklä-
37
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Der Verein für innere Mission in Hamburg“; 1849), Seite 60 38
Wichern, Band II (vgl. „Die Wohnungsnot der kleinen Leute“; 1857), Seite 190 39
Wichern, Band II (vgl. „Zur Sonntagsheiligung“; 1850), Seite 117 40
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Die kirchlichen und sittlichen Notstände unserer Zeit“; 1854), Seite
311
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 13
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
ren die heilige Schrift für ein verfl . . . Buch, das schon alle Welt verrückt gemacht habe. –
Noch andere behaupteten, grade an demselben Tage ihre Bibel in den Ofen gesteckt zu haben
– noch andere erklärten dieselbe für ein Lügenbuch oder behaupten, sie seien selbst die Bi-
bel, oder forderten statt dessen ‚tüchtige Räubergeschichten‘.“41
Oder auch ein anderes Beispiel:
„Ein junger Mann, früher die Freude seiner Mutter, sagt sich von dieser los und weigert
sich, mit ihr, wie er es früher getan, zum heiligen Abendmahl und in die Kirche zu gehen.
Was er früher gehört und in der Schule gelernt, sei dummes Zeug. Er präsentierte eins der
Lieder, das vor kurzem bei einer Arbeitermahlzeit gesungen und das sein Bekenntnis enthal-
te: ‚Bis nicht nieder alle Throne und die letzte Macht zuschanden, die die Freiheit hält in
Banden, sei kein Frieden in der Welt.‘ – Der Refrain ist: ‚Unsere Losung ist entschieden –
nur die Revolution.‘“42
Die politischen Veränderungen wirken sich so auch auf das Verhältnis der Menschen
zum Christentum aus. Wichern erkennt Staat, Kirche, Familie und Eigentum als gött-
lich eingesetzte Ordnungen an43
, diese sind nun durch die revolutionären Gedanken
des Kommunismus bedroht. Wichern äußert sich in einer Schrift zum Kommunis-
mus, er charakterisiert selbigen wie folgt:
„Insofern ist der Kommunismus die umgekehrte Lehre des Rechts, des Glaubens, der göttli-
chen Ordnung, die bis dahin in der menschlichen Gesellschaft auf dem Gebiet der Ehe, der
Familie, der Erziehung, des Erwerbs, des Besitzes etc., des Lebens im Staat und in der Kirche
Geltung gehabt haben.“44
Er kritisiert, aber nicht ohne im gleichen Artikel auch Möglichkeiten aufzuzeigen,
wie die Kirche diesem Phänomen entgegentreten kann. Gerade weil die Proletarier
als Getaufte ein Teil der Kirche, gilt es, sich auch um diesen Stand zu kümmern. Das
heißt für Wichern konkret:
„Suchen die Proletarier nicht mehr die Kirche, so muss die Kirche anfangen, die Proletarier
zu suchen, und nicht rasten, bis sie sie mit dem heilbringenden Worte gefunden hat. Wir müs-
sen Straßenprediger haben. Die Kirche muss Männer aus sich hervorgehen lassen, für die
sich jede Stelle im Volksgetreibe (!) in eine Kanzel verwandelt, Männer voll Glaubens, voll
Mut, geschickt, beredet, brennend in Liebe zum Volk, mit Zeugnissen des Geistes und der
Kraft gerüstet.“45
Das kommunistische Gedankengut verbreitet sich durch verschiedene Zeitungen und
Veröffentlichungen, so dass sich Johann Hinrich Wichern auch mit dem Journalis-
mus und der Literatur seiner Zeit auseinandersetzt.46
Er sieht in der schlechten Lite-
ratur auch einen Grund für die Glaubens- und Sittenlosigkeit seiner Gesellschaft.47
41
Wichern, Band II (vgl. „Der Verein für innere Mission in Hamburg“; 1849), Seite 48-49 42
Wichern, Band II (vgl. „Der Verein für innere Mission in Hamburg“; 1849), Seite 61 43
Vgl. Meinhold, in: Wichern, Band I, Seite 398 44
Wichern, Band I (vgl. „Kommunismus und die Hilfe gegen ihn“; 1848), Seite 133-134 45
Wichern, Band I (vgl. „Kommunismus und die Hilfe gegen ihn“; 1848), Seite 148 46
Wichern, Band I (vgl. „Kommunismus und die Hilfe gegen ihn“; 1848), Seite 136 47
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Der Verein für innere Mission in Hamburg“; 1849), Seite 56
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 14
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Ich halte fest: Es lassen sich viele Berichte und schriftliche Notizen finden, an denen
schnell deutlich wird, wie detailliert und thematisch mehrschichtig Wicherns Be-
obachtungen über das damals aktuelle Zeitgeschehen sind. Er weiß sich zu fast allen
gesellschaftlichen Themen zu äußern, seien es die Situationen in den großen Städten
oder auf dem Lande.48
Er hat nicht nur die Wohnungsnot vieler Menschen persönlich
kennengelernt, er kennt und benennt auch sittliche Missstände in einer Welt, die sich
verändert und vielerorts dem Christentum den Rücken zukehrt.
Es ist Wichern ein sehr großes Anliegen, genau hinzuschauen und die Augen vor den
Notständen nicht zu verschließen, was folgende Äußerung abschließend noch einmal
unterstreicht:
„Eine der Hauptaufgaben der inneren Mission bleibt die Ermittlung der Notstände. Es ist ei-
ne sehr bemerkenswerte, wenn auch betrübende Tatsache, dass man unter uns verhältnismä-
ßig erst so wenig weiß, wie umfassend und tiefgehend im einzelnen und besonderen die Not,
welche das Gemeinwesen als christlich belastet, geartet und wirklich vorhanden ist. Und
doch kommt es auf diese ins einzelne gehende Erkenntnis der Krankheit vor allen Dingen mit
an, wenn gründlich geholfen und der heilige Ernst der nachhaltigen, andauernden, rettenden
Liebesarbeit geweckt werden und ins Leben treten soll. Die Not muss von uns recht eigentlich
ernst entdeckt, aufgesucht werden. Das erfordert Fleiß, Aufopferung, Hingabe, Entsagung
der mannigfaltigsten Art. Es genügt nicht, dass man die leicht zur Gewohnheit werdenden
Anklagen und Vorwürfe gegen unsere Zustände in allgemeinen Redensarten stets wiederhole;
es genügt auch nicht, dass man anderswo darüber Gesagtes zitiere: sondern das Gefühl der
gemeinsamen Not muss ein Erlebtes, Selbsterfahrenes, die Not muss eine selbstgefundene
und dadurch mitempfundene werden. Und wie wir, unbeschadet dessen, was jeder für sich im
verborgenen zu tun hat, gemeinschaftlich an der Hilfeleistung mitzuarbeiten haben, so sollten
wir einander auch gemeinschaftlich zur Ermittlung der Not die Hand reichen.“49
2.2 …und die Relevanz für heute
Wichern macht sich ein genaues Bild über die Gesellschaft, in der er lebt, um dann
gezielt den einzelnen Menschen zu helfen. Er nimmt wahr, was um ihn herum pas-
siert und beobachtet gründlich.
„Menschen begegnen!“ – Wenn ich den Menschen mit seinen Nöten und
Sorgen kennenlernen will, ist es notwendig, dass ich mir ein detailliertes Bild
von seinen sozialen Lebensumständen mache. Dies gelingt dort, wo ich dem
Menschen in seinem Lebensumfeld begegne! (Vgl. auch Mt 1,21f; Lk 1,68;
7,16; Apg 17,16ff)
48
Vielfältige Einblicke bieten besonders auch die einzelnen Jahresberichte des Vereins für innere
Mission in Hamburg, in denen sich Wichern z.B. auch zu hier nicht berücksichtigten
Beobachtungen zum Stand der Matrosen und Eisenbahner äußert. 49
Wichern, Band II (vgl. „Fragen nach den Notständen in der Kirche“; 1849), Seite 108
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 15
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Wichern und seine Mitstreiter suchen den persönlichen Kontakt, indem sie gezielt
bei den einzelnen Familien zu Hause einkehren, ihnen in deren Wohnungen begeg-
nen.
„…zu den Leuten gehen!“ – Das bedeutet, die Menschen dort aufzusuchen,
wo sie leben. Durch Hausbesuche kann ich wahrnehmen, wie die einzelnen
Menschen wohnen. Die „eigenen vier Wände“ sagen vieles aus, über die ei-
genen Lebensumstände! Mehr noch: „Wenn die Leute nicht zur Kirche kom-
men, muss die Kirche zu den Leuten gehen.“ Bin ich bereit dazu, mich diesem
Wagnis zu stellen und auf diesem Wege den persönlichen Kontakt zu suchen,
bzw. ihn auszubauen? (Vgl. auch Lk 10,38ff; 15,1ff; 19,1ff)
Dabei macht Wichern die Erfahrung, dass es vielerorts an unterschiedlichen Dingen
„krankt“. Er schaut genau hin und kommt zu dem Ergebnis: Oft gibt es einen Zu-
sammenhang zwischen „sozialer Not“ und sittlichem Verfall. Es fehlt an positiven
Vorbildern. Hier werden ganz unterschiedliche Bereiche und Themen aufgenommen,
die gesellschaftlich eine Relevanz haben.
„Augen auf und hingeschaut!“ – Wenn wir gründlich und detailliert unsere
Gesellschaft beobachten und das Handeln der Menschen wahrnehmen, kön-
nen wir Missstände erkennen und benennen, Aufklärungsarbeit leisten und
neue Orientierung durch unseren Glauben an Jesus Christus bieten, z.B. bei
Fragen rund um Familie, Pornographie, Drogen, Politik, Medien, Literatur,
etc. (Vgl. auch Joh 8,1ff; Apg 17,16ff; 1. Kor 6,12ff; Röm 14-15)
Bei den vielen unterschiedlichen Begegnungen mit Menschen, machen Wichern und
seine Mitstreiter auch die Erfahrung, dass sich immer mehr Leute von der Kirche
abwenden und der Glaube an Jesus Christus vielerorts an Bedeutung verliert.
„Nach-gefragt!“ – An einen Gott der Bibel wollen viele heute nicht mehr
glauben, christliche Werte verlieren zusehends an Bedeutung. Die Zahl der
Kirchenaustritte nimmt stetig zu, Gemeinden schrumpfen, Konfirmanden
werden „aus der Kirche hinaus“ konfirmiert. Gehen wir diesen Menschen
nach und suchen das Gespräch mit den Enttäuschten? Es ist bestimmt sehr
aufschlussreich, wenn wir genau diese Menschen nicht aus dem Blick verlie-
ren, sondern einmal „nach-fragen“. (Vgl. auch Lukas 19,10; Apg 17,16ff)
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 16
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
3. Wichern – und „seine“ Ideen
3.1 Antworten der Tat, die verändern wollen…
Johann Hinrich Wichern erkennt und benennt die sozialen, sittlichen und kirchlichen
Notstände seiner Zeit. Er kritisiert, wo es angebracht ist, bleibt dabei allerdings nicht
stehen, sondern versucht, auch das Positive aufzunehmen und Lösungsansätze zu
bieten. Schon im Jahr 1847 fordert er öffentlich, sich aufgrund des Evangeliums ak-
tiv und engagiert der Gesellschaft und ihren Nöten anzunehmen, wie einem Aufsatz
der Fliegenden Blätter unter dem Titel „Die Bedeutung der Praxis“ zu entnehmen ist:
„Tausende stehen müßig am Markt, aber es fehlen die Rufer, die Weckstimmen, die Schärfer
des Gewissens, es fehlt die liebende, heiße Sorge, der mutige Angriff zu der großen Arbeit,
die die Arbeit eines Volkes werden muss. Wir haben die lebendig machende Saat: das göttli-
che Wort trotz aller Anfeindungen gegen dasselbe; wir haben den lebendigen Segen: die Ga-
be und Gnade des heiligen Geistes trotz aller Leugner dieses Geistes; wir haben den Acker:
das schreiende Bedürfnis, trotz derer, die falschen Frieden verkünden – aber es fehlt die Tat,
die theologische Praxis, trotz der ‚praktischen Theologie‘ […]
Nennen oder fassen Sie sie, wie Sie wollen: als innere Mission, als Diakonie, spezielle Seel-
sorge, ich sehe sie in der Vereinigung dieser drei – aber am Namen liegt es nicht, und ich op-
fere jedem Freunde gerne jeden Namen um den Preis, dass auch er im Blick auf die Zukunft
dieser Praxis die bange Besorgnis von der Hoffnung wieder verdrängen lässt. Lassen Sie uns
nur arbeiten.“50
Dabei setzt er stets sein Vertrauen auf den auferstandenen Herrn selbst und die damit
verbundene Ausbreitung des Evangeliums, was wir exemplarisch dem Diskussions-
beitrag „Die kirchlichen Zustände der großen Städte“ auf dem sechsten deutschen
evangelischen Kirchentag aus dem Jahre 1853 entnehmen können:
„Was ist zu tun? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Die Summe aller Antworten –
das möchte ich freilich voranstellen – ist für uns zunächst der Glaube an die unüberwindli-
che, alle Welt im Himmel und auf Erden innehabende Macht unseres Herrn und Heilands, an
sein stilles, sanftes Wirken, Walten und Wehen, mit dem er sich sein Volk geschaffen hat und
auch wieder schaffen wird. Aber je mehr wir an diese Macht unseres Herrn glauben und mit
unseren Gebeten vor ihm stehen, desto mehr treibt uns eben auch die von ihm in der Men-
schen Herzen angezündeten Liebe, dass wir sinnen und denken, welche Wege eingeschlagen
werden möchten […]
Wie ist das aber zu machen? Ich habe nur eine Frage aussprechen wollen; eine Antwort weiß
ich darauf nicht zu geben, als die: dass diejenigen, welche das Evangelium zu verkünden ha-
ben, die einzelnen Kreise, welche dasselbe vertreten, sich diese große, herrliche, nationalge-
schichtliche, in sich freie, allen wissenschaftlichen Forderungen genügende, keine Wissen-
schaft und Kunst ausschließende Macht des Evangeliums mehr, als es geschehen ist, verge-
genwärtigen wollen und in einer solchen wahrhaft evangelischen, protestantischen Freiheit
die Herrlichkeit des Evangeliums ins Volk hineinbringen, d. h. nicht unter die Armen nur,
sondern auch unter die reichen, großen, hohen Leute; denn sie alle eben sind das Volk.“51
50
Wichern, Band I (vgl. „Die Bedeutung der Praxis“; 1847), Seite 108 51
Wichern, Band II (vgl. „Die kirchlichen Zustände der großen Städte“; 1853), Seite 274
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 17
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Was jeweils zu tun ist, „hängt von der Verschiedenheit des Bedürfnisses ab.“52
Darum auch Wicherns ständige Beobachtungen seiner Zeit. Allerdings ist ihm dabei
besonders die Wiederherstellung der Familie ein wichtiges Anliegen, was wir der
„Denkschrift über die innere Mission“ entnehmen können:
„Die Familie ist hier genannt als der eigentliche Ausgangspunkt, um den es sich bei den s. g.
sozialen Fragen handelt […] Die christliche Wiederherstellung der Familien und
Hausstände in jeder Beziehung und die Erneuerung und Wiedergeburt aller damit
unmittelbar zu verknüpfenden Verhältnisse der Erziehung, des Eigentums, der Arbeit und der
durch sie bedingten Stände wird eine Hauptaufgabe der inneren Mission sein.“53
Immer wieder berichtet Wichern in den Fliegenden Blättern über unterschiedliche
Aktionen und Tätigkeiten im weiten Feld der inneren Mission. Einzelne Gemeinden,
bzw. Vereine stellen dort ihre Arbeit vor und so dienen diese Berichte als Fundgrube
für Antworten der Tat, die vielerorts gegeben werden, um die soziale Not der
Gesellschaft zu verändern. Hier lohnt es sich auch, die Nachrichten des Hamburger
Vereins für innere Mission zu lesen, in denen Wichern sehr genau beschreibt, wie
manche Dinge angegangen werden. Zwei Beispiele sollen an dieser Stelle erwähnt
werden. Zuerst geht es darum, dass Wichern sich dafür einsetzt, die
Gottesdienstzeiten zu verändern, da verschiedene Stände aufgrund ihrer Arbeitszeit
sonst nicht daran teilnehmen können. Wichern fordert den Sonntags-
Abendgottesdienst, denn:
„Ein anderer äußerer Umstand, der vom Besuch des öffentlichen Gottesdienstes abhält, ist
die von vielen so unbequeme Stunde. Wem passt noch die Zeit 5 Uhr morgens? […] – Die
Stunden entsprechen nicht mehr unserer jetzigen städtischen Lebensweise.“54
Weiter ist es Wichern ein sehr großes Anliegen, „mit den aus sittlichen und
ökonomischen Ursachen Hilfsbedürftigen in persönlichen Verkehr zu kommen, um
ihnen zugleich mit Dienst und Hilfe verschiedenster Art den Geist evangelischer
Liebe und Wahrheit wieder nahezubringen und bekanntwerden zu lassen.“55
Er
macht mit seinen Mitstreitern unzählige Hausbesuche. Natürlich gibt es dabei immer
52
Wichern, Band I (vgl. „Wichern auf dem Wittenberger Kirchentag“; 1848), Seite 160 53
Wichern, Band I (vgl. „Die innere Mission – eine Denkschrift“; 1849), Seite 182 – Hier sei aber
auch Wicherns Äußerung auf dem vierten deutschen evangelischen Kirchentag im Jahr 1851
hingewiesen, wo er sich über Kandidaten der Theologie ärgert, die sich „zu früh“ verloben und
eine Frau zu sich nehmen, obwohl sie noch keinen eigenen Hausstand begründen können: „Unser
ganzes Volksleben leidet an den verfehlten zu frühen Ehen, daher das Proletariat.“ Vgl. Wichern,
Band II (vgl. „Über die Kandidaten der Theologie“; 1851), Seite 226 54
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Zweite Nachricht des Hamburger Vereins“; 1851), Seite 197 55
Wichern, Band II (vgl. „Zweite Nachricht des Hamburger Vereins“; 1851), Seite 198
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 18
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
wieder auch Rückschläge56
, aber auch zahlreiche positive Erlebnisse, die zeigen, wie
den Bewohnern unterschiedlich geholfen werden kann:
„Wir laden unsere Freunde ein, uns noch auf einen Weg in jene elende Kellerwohnung zu
begleiten. Die Wohnung sieht kaum einer menschlichen ähnlich; sie enthält ihr spärliches
Tageslicht nur durch ein 1 ¼ Fuß hohes Fensterchen. Das Wasser trieft von den Wänden.
Der arme Mann nährt sich von Schuhflickerei. Die brustkranke Frau hilft ihm bei der Arbeit
mit zitternden Händen im jämmerlichen Bett, nur mit Mühe aufrecht sitzend. Einige Kinder
sind zugleich Lust und Last der beiden Armen. Der Stadtmissionar fand die Familie in
größter menschlicher Verlassenheit. Nie hatte sich ein Mensch Trost bringen um sie
gekümmert; dass es noch Menschen gebe, welche solchen Jammer mitfühlen, wussten die
Eheleute nicht mehr. Dabei waren sie in ihrer Art reich in Gott. Sie trugen ihr großes Leid an
Krankheit und Armut in der getrosten Zuversicht, dass Gott ihnen nicht mehr auflege, als sie
ertragen könnten. Als um Weihnachten 1849 mehrere derartige Familien jenes Distrikts mit
Geschenken bedacht werden sollten, wurden natürlich auch diese Leute nicht vergessen.
Einige der Frauen, welche Weihnachtsbäume mit Weihnachtslichtern und einige Geschenke
an Kleidungsstücken und Lebensmitteln u. dgl. Persönlich in diese Wohnung trugen, kamen
auch in diesen Keller, eine Grube der Trübsal. Da wurde es hier Licht, und der Freudenglanz
der tröstlichen Christsonne drang bis in die Herzen der Beglückten Und nun der stille Jubel
und die Tränen der totkranken Mutter bei der Offenbarung dieser Liebe und beim Anblick
ihrer verlassenen Kinder. Noch ein Weilchen zuvor hatte der jüngste Knabe von 10 Jahren
von den Lichtern und den Tannenbäumen, die er in den Häusern der Nachbarn so glänzen
gesehen, erzählt. Da hatte er die Mutter gefragt, ob das Christkind auch zu ihnen kommen
werde. Und sie hatte ihn nicht anders zu trösten gewusst, als dass es auch in ihr Fensterchen
hineingucken werde. Und nun, rief sie mit Tränen, hat der Heiland nicht bloß die Kinder,
sondern auch uns, die Eltern bedacht! Wie waren sie so reichlich getröstet!“57
Wicherns Antworten auf die sozialen Nöte sind unterschiedlich. In einem Bericht
über die „Entstehung der inneren Mission etc.“ für die Aktivisten der englischen
Kirche nennt Wichern zusammenfassend einige Schwerpunkte, „und zwar
diejenigen, für welche sich die meisten Zeugen und Zeugnisse haben vernehmen
lassen“58
:
„1. Die Sonntagsheiligung (Sabbatfeier) […] Als wirksame Mittel sind in Anwendung
gebracht: die Zusammenberufung von Versammlungen für diesen Zweck, die öffentliche
Predigt, die Aussetzung von Preisschriften, Übersetzungen englischer Preisschriften, die
Presse, namentlich viele neu entstandene Blätter für innere Mission […]
2. Die Wiedereinführung der Familienandacht […]
3. Die Erneuerung einer christlichen und kirchlichen Armen- und Krankenpflege […]
Hierher gehören auch die Bestrebungen zur Vernichtung und Verhütung namentlich des
Kinderbettels, der an vielen Stellen der ganzen Bevölkerung den Untergang drohte. – Sodann
die Einrichtung der Spargesellschaften sowie die mehr isolierte Bekämpfung einzelner
besonders hervorstechender Laster, z.B. der des Trunkes […] – In einzelnen großen Städten
hat man angefangen, besondere Stadtmissionare anzustellen nach dem Vorbild der
englischen City-Mission.
4. Die christliche Erziehung der Jugend überhaupt und der verwahrlosten Jugend […] Die
Lehrer haben zugleich die geistliche Pflege ihrer Zöglinge in der Familie übernommen […]
56
Wichern, Band II (vgl. „Zweite Nachricht des Hamburger Vereins“; 1851), Seite 199 57
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Zweite Nachricht des Hamburger Vereins“; 1851), Seite 200-201 58
Wichern, Band II (vgl. „Über die Entstehung der inneren Mission“; 1851), Seite 171
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 19
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
5. Die Herausgabe einer besseren Volksliteratur und die Verbreitung christlicher
Volksschriften und besserer Erbauungsbücher als Gegengift gegen die schlechte Presse, die
in Deutschland übermächtig geworden ist. Die Aufstellung christlicher, namentlich vieler
kleiner Volksbibliotheken, die Gründung kleiner christlicher Journale usw. haben diese
Zwecke gefördert.
6. Die Erneuerung christlicher Pflege besonders verlassener und verwahrloseter Stände; zu
diesen gehören in Deutschland namentlich die wandernden Handwerkgesellen […]
7. Zuletzt und zuerst die vermehrte öffentliche Predigt des göttlichen Wortes. Als sehr
segensreich haben sich die Einrichtungen von sog. Bibelstunden, d. h. praktische
Bibelerklärungen, erwiesen, sodann die in Deutschland bis dahin fast unbekannten Sonntags-
Abendgottesdienste.
Wir könnten die Aufzählung dieser Maßnahmen noch sehr vermehren. Dies wird aber
hinreichen, um anzudeuten, wie und nach welchen Seiten hin die Arbeit in den einzelnen
Gemeinden, die sich bei der inneren Mission beteiligt haben, begonnen ist.“ 59
Darüber hinaus ist noch zu erwähnen, dass Wichern in diesem Aufsatz beschreibt,
wie sich die Aktivitäten der inneren Mission auch an die Sträflinge im Gefängnis
richtet, so setzt er sich z. B. bei der deutschen Regierung für die „Anstellung
christlich gesinnter Gefangenwärter“60
ein.
Ich fasse zusammen: Wichern versucht auf die Frage nach der sozialen Not um dem
sittlichen Verfall seiner Zeit verschiedene Antworten zu geben, in denen die helfende
Tat der Liebe im Vordergrund steht. Auch hier wird wiederholt sichtbar, wie sehr bei
Wichern die Verkündigung des Evangeliums, das soziale Handeln und die Bildung
für die einzelne Person ein Zusammenspiel ergeben und sich gegenseitig ergänzen.
Dabei sind ganz viele unterschiedliche Aktionen, die in der Summe ein großes
Ganzes ergeben. Wichern fordert auf, sich diesen Aktivitäten anzuschließen, denn
Gott selbst ist darin durch den auferstandenen Christus gegenwärtig, wie wir z. B.
einem Bericht über die „Neueste Fortschritte der inneren Mission“ aus dem Jahre
1849 entnehmen können aus:
„Es sind nur Bruchstücke, die wir heute den Lesern vorführen konnten, – aber sie können
und sollen uns gewiss machen, dass der Herr noch in seiner Gemeinde ist und lebt; sie sollen
uns rufen mitzuarbeiten; sie sollen jeden veranlassen, sich in seinem Kreise umzusehen, was
für ihn zu tun ist, wenn er zur Mitarbeit bereit findet, mit wem er sich einigen kann, das
Banner der rettenden Liebe auch seinesteils zu erheben, damit zuletzt keiner mehr müßig
erfunden werde, wo es gilt, im Volke das wahre Leben der Gerechtigkeit zu bauen, während
Sünde und Tod ihre Opfer bauen.“ 61
59
Wichern, Band II (vgl. „Über die Entstehung der inneren Mission“; 1851), Seite 172-173 60
Wichern, Band II (vgl. „Über die Entstehung der inneren Mission“; 1851), Seite 174 – An dieser
Stelle sei kurz notiert, dass es auch spannend wäre, Wicherns Verhältnis zum preußischen Stadt zu
untersuchen, was aber über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen würde. Allerdings sehe ich
seine sehr engen Verbindungen zur deutschen Regierung nach dem Lesen verschiedener Schriften
Wicherns durchaus auch kritisch… 61
Wichern, Band II (vgl. „Neueste Fortschritte der inneren Mission“; 1849), Seite 42
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 20
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
3.2 …und die Relevanz für heute
Wichern möchte die Menschen, denen er begegnet, unterstützen und ihnen
Antworten auf „soziale“ Not und sittlichen Verfall geben. Diese Einstellung fordert
das Evangelium selbst, die gute Nachricht will praktisch greifbar werden.
„Evangelium zum Anfassen!“ – Die frohe, rettende Botschaft von Jesus
Christus fordert dazu auf, sich als gläubiger Christ in seiner Welt zu
engagieren und den Nächsten durch praktische Hilfe unterstützen. Die
„theologische Praxis“ muss die Menschen und ihre Nöte annehmen und
„handfeste“ Antworten geben – durch die Verkündigung des Wortes, durch
das soziale Handeln und die Vermittlung von Bildung. (Vgl. auch Mt 14,13ff;
25,35ff; Lk 10,25ff; Apg 6,1ff; 2. Kor 8,1ff; 1. Tim 2,1f)
Diesen Weg der Tat geht der gläubige Christ jedoch nicht alleine. Gott selbst geht
diesen Weg mit durch seinen Sohn Jesus Christus. Wichern selbst setzt immer wieder
sein Vertrauen auf den Herrn, der in und durch seine Gemeinde wirkt.
„ER ist dabei!“ – Der Ausgangspunkt, das Fundament aller christlichen
Tätigkeit ist der Glaube an Jesus Christus, unseren Herrn und Bruder! Er
steht seiner Gemeinde treu zur Seite! Denn er selbst hat alle Not und Schuld
dieser Welt überwunden und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Im Gebet
können wir zu ihm kommen und uns von seiner Liebe für die Menschen
anstecken lassen. (Vgl. auch Mt 28,16ff; Apg 1,8; Röm 1,16; 2. Kor 5,19;
Phil 2,5ff; 1. Joh 5,4)
Der Glaube an die Macht Jesu Christi muss die tätige Liebe darum immer wieder
auch das Evangelium verkünden lassen. Wichern schafft unterschiedliche Räume für
die Verkündigung: Er fordert neue Formen des Gottesdienstes, Bibelstunden, in
denen aus der Heiligen Schrift gelesen wird und Hausbesuche, die mit christlichen
Festen (z. B. Weihnachten) verknüpft werden.
„Bibel teilen!“ – Wir brauchen unterschiedliche Formen der Verkündigung.
Die Geschichte der rettenden Liebe Gottes, wie sie uns die Bibel erzählt,
muss sowohl durch „altbewährtes“, aber auch durch „neuinspiriertes“ zu
den Menschen, in alle Schichten der Gesellschaft, gebracht werden:
Hausandachten, Gottesdienste, Bibelstunden, Glaubenskurse, etc. – so kann
die Bibel mit anderen geteilt werden… (Vgl. auch Apg 8,26ff; 17,16ff; Röm
10,17; Kol 3,16f)
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 21
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Wichern bleibt jedoch nicht ausschließlich bei der Verkündigung des Wortes stehen,
er denkt und handelt „ganzheitlich“. Darum will er Antworten auf ganz verschiedene,
unterschiedliche Bedürfnisse der Menschen, denen er begegnet, geben – hier
vermischen sich dann also schließlich soziales Handeln, Verkündigung und Bildung
miteinander.
„Sozial-diakonisch engagiert!“ – Wenn wir erkennen, woran es den
Menschen in unserer Gesellschaft „krankt“, gilt es sich als Christ sozial zu
engagieren, um meinem Nächsten „ganzheitlich“ zu helfen. Hier fordern
unterschiedliche Bedürfnisse verschiedene Antworten, z. B. Finanzhilfe,
Armen- und Krankenpflege, christliche Erziehung der Jugend, bessere
Volksliteratur (auch „neue“ Medien), Gefängnisseelsorge, etc. (Vgl. auch Mt
25,35ff; Apg 6,1ff; Gal 6,2; 1. Tim 2,1ff; Jakobus 5,15)
4. Wichern – und „seine“ Mitarbeiter
4.1 Priestertum aller Gläubigen, Vereine für innere Mission und die Suche
nach geeigneten (hauptamtlichen) Mitarbeitern
Johann Hinrich Wichern engagiert sich auf vielfältige Weise, um den Menschen die
frohe Botschaft von Jesus Christus näher zu bringen und ihnen auch in den Nöten des
eigenen Lebens praktisch zu helfen. Immer wieder wirbt er dafür, sich den unter-
schiedlichen Aktionen anzuschließen und so die Arbeit der inneren Mission zu unter-
stützen. In der „Denkschrift über die innere Mission“, welche Wichern 1849 veröf-
fentlicht, bezeichnet er es als Aufgabe der Kirche im Allgemeinen – und als Auftrag
der Gemeinden im Besonderen – sich der Tätigkeit der inneren Mission anzunehmen,
ganz egal, ob sich der Einzelne als Laie sieht oder einem kirchlichen Amt angehört:
„Sie [die innere Missionstätigkeit] spricht nicht etwa zuerst jedem einzelnen, geistlich
gesunden Gliede in der Gemeinde das Recht zu, sondern wird es jedem solchen vornehmlich
als Pflicht ins Gewissen reden, in dem Geiste der inneren Mission in seinem Kreise zu
wirken; der Geistliche soll in seiner Gemeinde bei denjenigen Gliedern derselben und
Hausstände, die solche rettende Tätigkeiten nötig machen, der Hausvater und die
Hausmutter sollen in ihrer Hausgemeinde, unter Kindern und Gesinde, Verwandtschaft und
Freundschaft, – der Handwerksmeister in seiner Werkstatt unter Gesellen und Lehrburschen,
– der Dienstbote, Geselle, Tagelöhner wiederum in seinem Kreise ein Kind dieses Geistes
sein; ebenso der Schulleiter in seiner Schulgemeinde, soweit sie es fordert; nicht minder der
Geschäftsmann in seinem Berufe, der Gutsherr, der Richter, der Staatsmann, der
Universitätslehrer, der Kaufmann, der Soldat, der Matrose, der Bürger und der Bauer – und
wer sonst, jeder an seiner Stelle, an die ihn Gott gestellt hat. Da in der Kirche, wo ein
solches Leben der rettenden, helfenden Liebe in vielen erblühete, würde die rechte Kraft und
Herrlichkeit der Gemeinde offenbar. Dieses Tun ist die Verwirklichung des allgemeinen
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 22
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Priestertums (das Laienprinzip), in welchem die Kirche sich aus sich selbst, und zwar in
Christo, der sich in den einzelnen als rettenden Heiland verklärt, vollendet.“62
Wichern bezieht sich dabei auf Martin Luther und sieht zwischen dem Priestertum
aller Gläubigen und dem geordneten Amt in der Gemeinde keine Konkurrenz,
sondern ein für die Kirche notwendiges Zusammenspiel.63
Viele Ausgaben der Fliegenden Blätter geben Zeugnis davon, wie sich immer wieder
unterschiedliche Gemeinden der Inneren Mission annehmen. Allerdings ist sich
Wichern auch bewusst, dass vielerorts Gemeindeglieder erst „motiviert“ werden
müssen, wie ein unter dem Titel „Über den Mangel an Arbeitern“ veröffentlichter
Briefwechsel mit einem Freund zeigt. Dort fordert er, dass es zu einem Umdenken in
der Lebensgestaltung kommt – wer ist bereit, ein Opfer für das Reich Gottes zu
bringen und sich z. B. als Lehrer einer Sonntagsschule zu engagieren? – und macht
den Verantwortlichen Mut auf entsprechende Leute zuzugehen:
„Wir müssen nicht ruhen und rasten, und die nach uns kommen, müssen das Rufen und
Mahnen fortsetzen und in des Herrn Namen auffordern, dass Scharen von Evangelisten
aufstehen. Es soll, es muss gepredigt werden, dass der Herr nicht einzelne, Ausgewählte,
sondern dass er ein Volk zu Evangelisten und Missionaren haben will. Man schelte uns gerne
Enthusiasten, wir glauben daran, dass seine Gemeinde ein priesterliches, prophetisches
Geschlecht seiner Bestimmung nach ist und je länger je mehr in Wirklichkeit werden wird, je
lauter, deutlicher, rückhaltloser dies Wort gepredigt wird.“64
In einem anderen veröffentlichen Briefwechsel unter dem Titel „Wie das Interesse
für innere Mission in einer Gemeinde geweckt werden kann“ gibt Wichern ganz
praktische Tipps, wie für ein Engagement geworben werden kann. Er rät interessierte
Gemeindeglieder durch verschiedene Zusammenkünfte, bzw. Veranstaltungen über
die Arbeit der inneren Mission zu informieren und dabei besonders aus der Arbeit,
wie sie z. B. in den Fliegenden Blättern dargestellt ist, zu berichten:
„Lassen Sie ihre Freunde lebendige Blicke tun […] – und Sie sollen sehen, dass auch in
ihrem Kreise eine Teilnahme für solche Bestrebungen erwacht. Meister und Gesellen werden
sich dafür interessieren, hilfreiche Kräfte werden sich bieten, Ähnliches ins Leben zu rufen,
oder Bestehendes zu stärken, zu verjüngen.“65
Wichern ermutigt, Vereine für die Tätigkeiten der inneren Mission zu gründen. Er
selbst ist Gründungsmitglied des Vereins für innere Mission in Hamburg, der am 10.
November 1848 – übrigens Luthers Geburtstag – gebildet wurde.66
Durch die
Gründung solcher Vereine können Kräfte gebündelt werden und die einzelnen
62
Wichern, Band I (vgl. „Die innere Mission – eine Denkschrift“; 1849), Seite 188 63
Vgl. Wichern, Band I (vgl. „Die innere Mission – eine Denkschrift“; 1849), Seite 313 64
Wichern, Band I (vgl. „Über den Mangel an Arbeiter“; 1847), Seite 95 65
Wichern, Band I (vgl. „Das Interesse für innere Mission in einer Gemeinde“; 1847), Seite 100 66
Wichern, Band II (vgl. „Der Verein für innere Mission in Hamburg“; 1849), Seite 47
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 23
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Mitglieder haben die Möglichkeit, sich im Sinne des Priestertums aller Gläubigen
aktiv zu engagieren:
„Bilden wir solche Vereinigungen und schließen wir uns schon bestehenden an! Die Anfänge
und Vorbilder sind allerorten. Man predige dies Recht als ein namentlich auch den Christen
zukommendes Recht, als ein ursprünglich evangelisches Recht und nehme es für die
nächstliegenden praktischen Zwecke in Anspruch. Es bedarf nicht vieler Statuten und
Vorkonferenzen; einer gehe in Gottes Namen mit der Tat voran, der zweite und dritte wird
sich von selber finden – und der Stamm ist da, dann wird der Baum von selber weitergrünen.
Die Kirche erzeuge aus ihrem Wort und ihrer Liebe solche Gemeinschaften als ebenso viele
neue, öffentliche Familien, in deren Schoß das Heil des Volkes evangelisch beraten und
beschaffen wird.“67
In der „Denkschrift über die innere Mission“ beschreibt Wichern, wie er sich die
Idee und Organisation der einzelnen Vereine vorstellt, so bilden z. B. „alle kirchlich,
christlich gesunden Glieder der Gemeinde“68
das Subjekt, den aktiven Teil der
Vereine, welche sich um die „sittlich und sozial kranken Glieder“69
der Gemeinde als
Objekt zu kümmern haben. Welche Tätigkeiten seitens des Vereins übernommen
werden, soll je nach Situation vor Ort entschieden werden. Für Wichern ist es dabei
selbstverständlich, dass der Prediger dem Gemeindeverein mit angehört, „und zwar
in derjenigen freien Verbindung, welche gerade das Zeugnis seiner Liebe zur
Gemeinde und zum Amte, das er an der Gemeinde verwaltet, ist.“70
Schließlich
sollen sich die einzelnen Vereine in einer großen Stadt oder Region vernetzen, um
sich auszutauschen und voneinander zu lernen.
Wichern beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach den geeigneten Mitarbeitern in
den vielfältigen Bereichen der inneren Mission, immer wieder äußert er sich zu
diesem Thema in unterschiedlichen Aufsätzen und Konferenzen. Wichern wünscht
sich dabei, dass die einzelnen Gemeinden „Hauptamtliche“ einstellen, die sich z. B.
um die Sonntagsschulen kümmern. In dem schon erwähnten Bericht „Über den
Mangeln an Arbeitern“ wird gut sichtbar, wie Wichern hier wieder einem
ganzheitlichen Ansatz nachgeht und die Aufgaben eines „Hauptamtlichen“ sehr
detailliert beschreibt:
„Es müsste darnach gestrebt werden, einen oder zwei Kandidaten so zu situieren, dass sie
durch ein angemessenes Honorar von etwa 600-800 oder noch besser 1000 Mk jährlich in
den Stand gesetzt werden, den größeren Teil ihrer Zeit in der Woche ganz dem Zwecke der
Sonntagsschulen zu widmen; so könnten dieselben in der Woche die Eltern der betreffenden
Sonntagsschüler besuchen, den Kindern nachgehen, deren Verhältnisse bessern und dafür
sorgen, dass in der Familie der gute Same nicht wieder gänzlich zertreten werde. Dieselben
67
Wichern, Band I (vgl. „Die Revolution und die innere Mission“; 1848), Seite 131 68
Wichern, Band I (vgl. „Die innere Mission – eine Denkschrift“; 1849), Seite 328 69
Wichern, Band I (vgl. „Die innere Mission – eine Denkschrift“; 1849), Seite 328 70
Wichern, Band I (vgl. „Die innere Mission – eine Denkschrift“; 1849), Seite 330
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 24
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
könnten in der Woche auch den freiwilligen Lehrern zur Vorbereitung des
Sonntagsunterrichts dienen durch Erklären der vorkommenden biblischen Abschnitte, durch
Anweisung zur richtigen Methode des Unterrichts, der auf den Sonntagsschulen doppelt
wichtig ist, da in 2 oder 1 ½ Stunden mitgeteilt werden soll, wozu bei anderen Kindern die
ganze Woche verwandt wird.“71
Schon im Rauhen Haus hat Wichern einzelne „Brüder“ eingestellt und ausgebildet.
Dabei geht es ihm nicht nur alleine um den Verkündigungsdienst, sondern um
unterschiedliche Arbeitsbereiche der inneren Mission, „z. B. Hausväter und Gehilfen
in Rettungshäusern, Krankenpfleger, Gefangenwärter, Stadtmissionare, Kolporteurs
[sogenannte „Zeitungsausträger“], Armenpfleger in Werk- und Armenhäuser usw.“72
Wichern befürwortet und unterstützt die Gründung solcher Ausbildungsstätten für
Männer und Frauen.73
Im Jahr 1855 schreibt er für die „Real-Encyklopädie für protestantische Theologie
und Kirche“ einen Beitrag über „Diakonen- und Diakonissenhäuser“ und gibt damit
dem Amt der Diakonie in der evangelischen Kirche einen besonderen Stellenwert.74
Wichern schildert darin Aufnahmebedingungen, Lehrinhalte und Begleitung der
„Brüder“, bzw. „Diakonissen“ in den einzelnen Anstalten sehr gründlich und fasst
die Aufgabe dieser Häuser wie folgt zusammen:
„Die Brüderhäuser sind keine christlichen Bildungsanstalten in dem Sinne, als ob darin
junge Leute erst zum Christentum erzogen werden sollen, sondern der Eintritt setzt diese
lebendige Glaubensbeziehung voraus und baut auf diesem Grunde weiter durch Vertiefung
des Glaubenslebens und Erweiterung der theoretischen und praktischen Tüchtigkeit. Daraus
ergibt sich auch die Notwendigkeit, dass nur solche Persönlichkeiten, die bereits gereiftere
Erfahrungen im Leben haben, zur Annahme in die Brüderhäuser zugelassen werden.“75
Zur Vorbereitung auf die Aufnahme in solchen Häusern könnten – so Wichern in
dem Referat „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen?“ auf dem zweiten Kongress für innere Mission in Stuttgart im Jahre 1850
– die Kandidaten für einige Zeit in den Pfarrhäusern unterkommen und dort ein
„Praktikum“ absolvieren: Ein Nutzen für alle Beteiligten!76
71
Wichern, Band I (vgl. „Über den Mangel an Arbeitern“; 1847), Seite 96 72
Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 153 73
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 154 74
Vgl. Meinhold, in: Wichern, Band III/1, Seite 261 75
Wichern, Band III/1 (vgl. „Diakonen- und Diakonissenhäuser“; 1855), Seite 85 76
Vgl. Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 154-155
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 25
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Wiederholt wirbt er in den Fliegenden Blättern für den Eintritt in die „Diakonen- und
Diakonissenhäuser“77
, da er nicht übersehen konnte, dass es bei der Fülle der
Aufgaben auf sämtlichen Gebieten der inneren Mission an Arbeitern fehlt. Folgender
„Aufruf zum Eintritt in die Brüderanstalt“ des Rauhen Hauses ist aus dem Jahr 1856:
„Abermals wiederhole ich hiermit die Aufforderung an junge christliche ledige Männer von
20-29 Jahren, sich zum Eintritt in die hiesige Brüderanstalt zu melden. Schon der neuliche
Aufruf sagte, dass im letzten Jahren an 500 Brüder von hier gefordert worden. Seit Anfang
dieses Jahres bis heute hätten wir über 30 Brüder haben müssen, um allen neuen
Anforderungen mannigfacher Art zu genügen. Zur Gefangenpflege, zur Armenpflege, zur
Pflege und Erziehung von Waisen und anderen armen Kindern in Schulen und Anstalten,
verlangt das Vertrauen der christlichen Gemeinden von hier täglich Arbeiter, das Feld, das
uns aufgetan wird, ist weiß zur Ernte! Wir bitten den Herrn, dass er Arbeiter sende, wir
bitten die Freunde des Reiches Gottes, dass sie uns helfen rufen und sammeln. Namentlich
richtet der Unterzeichner diese Bitte an Geistliche, Lehrer, Vorstehet von Jünglingsvereinen
und andere, denen die Möglichkeit zur Förderung dieser Angelegenheiten gegeben ist. Wir
unterdrücken und verheimlichen die Bitte nicht, sondern rufen sie laut in die Christenwelt
hinaus als Zeugnis der Gnade Gottes, der seinen Armen und Elenden in unseren Tagen
wieder helfen will durch solche, die sich zum Dienst bereitstellen. Er begleite diese Bitte mit
seinem Segen und mache die Herzen willig zu seinem Dienst!“78
Wichern denkt aber, und dies sei an dieser Stelle noch einmal erwähnt, auch an die
Arbeiter, „die, in anderem Berufe stehend, auf diesem Gebiet freiwillige Dienste tun
wollen.“79
Hier lassen sich bei genauem Hinsehen auch immer wieder Leute finden,
die sich engagieren wollen. Wichern ermutigt – auch bei durch den Beruf
verursachter knapper Zeit – sich unter dem Motto „Sonntagsheiligung geschieht
durch Sonntagsarbeit“80
aktiv an Sonntagsaktionen in der Gemeinde einzubringen.
Dabei ist es wichtig, die Arbeiter gabenorientiert einzusetzen und mit dem zufrieden
zu sein, was man bekommen kann. Folgende Tipps im Umgang mit diesen
„Ehrenamtlichen“ gibt Wichern:
„So klagt man, dass Menschen fehlen, und doch sind die vorhanden. Nur fordere man auch
nicht mehr, als Gott geben will, und lasse sich auch in diesem Stücke an seiner Gnade
genügen. Einige Hauptregeln scheinen hier zu sein: Man sei auch mit schwachen Kräften
zufrieden! Darin liegt mehr, als zunächst scheint. Sollten alle, die zur Arbeit taugen,
vollkommene Christenleute sein, so dürfte man nichts anfangen. Wer seine eigene
Schwachheit nicht vergisst und gegen sich selber wahr und recht dankbar ist für die Gabe,
die Gott auch in diesem Stück über Verdienst gibt, der wird auch hier die Schwachen gerne
annehmen als Zeugnisse der nahen Kraft Gottes. – Ferner: Man fordere namentlich auch bei
den tüchtigen Arbeitern nicht Dinge, die über deren Kräfte hinausgehen. Kaum hat man
77
Vgl. u.a. Wichern, Band III/1 (vgl. „Aufforderung an solche, die imstande sind, als Brüder des
Rauhen Hauses in die Arbeit der inneren Mission einzutreten“; 1860), Seite 242ff – Dort finden
sich auf die 22 Aufnahme-Bedingungen, dessen Lektüre nur zu empfehlen ist! 78
Wichern, Band III/1 (vgl. „Aufruf zum Eintritt in die Brüderanstalt“; 1856), Seite 98 79
Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 157 80
Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 159-160
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 26
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
solchen einen Auftrag gegeben, so gibt man ihnen auch schon zehn andere und macht aus der
kleinen wirklichen Leistung einen Trugschluss auf die anderen möglich. Es kann aber einer
nicht alles. Man teile die Arbeiten, und wozu die Menschen nicht da sind, das greife man
lieber gar nicht an. Sonst vergeht Lust und Kraft, und alles kommt in Gefahr
zusammenzubrechen. – Auf der anderen Seite vergesse man nicht, dass, wie die stärkere
Kraft geschont, die schwache Kraft geübt werden muss; man gebe ihr auch wirklich und in
rechter Weise zu tun und zeige ihr in Geduld die Abwege und die rechten Wege und vergesse
nicht, wie man selbst oft vieles verkehrt gemacht. – Ist die Arbeit groß und sollen die
vorhandenen Kräfte geschont, gestärkt wohl verteilt und nicht vergeudet werden, so muss
vorallem eine Gabe geweckt werden: die Gabe der Unterscheidung der Geister. Nach der
Gabe und dem Maß der Gabe werde einem jeden das Seine zugemessen, und in kraft dieses
apostolischen Charisma soll die Kirche ihre Arbeiter auch auf diesem Gebiet aufrufen und
an die rechte Stelle stellen.“ 81
Ich notiere zusammenfassend: Wichern weiß, dass es für die vielfältigen Tätigkeiten
der inneren Mission eine Fülle unterschiedlicher Mitarbeiter bedarf. Dabei setzt er
unter dem Stichwort Priestertum aller Gläubigen sowohl auf engagierten Laien, die
sich z. B. in Vereinen für innere Mission zusammenfinden, als auch auf speziell
ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter, die ihren Dienst für das Reich Gottes tun.
Auf der Suche nach den passenden Arbeitern verweist Wichern schließlich immer
wieder auf das Gebet, exemplarisch sei hier der Schluss des schon erwähnten
Referats „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen?“ genannt:
„‘Die Ernte ist groß, aber wenig sind die Arbeiter; darum bittet den Herrn, dass er Arbeiter
in seine Ernte sende!‘ Fürbitte – so heißt dies Mittel. Fehlt es daran nicht, so fehlt es auch an
Arbeitern nicht. Fehlt es aber an diesen, so wird das einen Mangel an jenem bezeugen […] –
Wer aber nun wirklich neu anhebt und jene Fürbitte ernstlich beginnt und lässt solch Gebet
sich eine seiner Lebensaufgaben werden, der wird gewiss erfahren, dass er, indem er um
Arbeiter bittet, selbst zum Arbeiter werden. Je mehr dies geschieht in all unseren Gemeinden,
desto mehr Arbeiter der inneren Mission wird Gott seiner Kirche erwecken.“ 82
4.2 …und die Relevanz für heute
Für die unterschiedlichen Tätigkeiten der inneren Mission braucht Wichern eine
Vielzahl von Mitarbeitern, die sich für die Arbeit im Reich Gottes engagieren. Dabei
setzt er sein Vertrauen auf Gott, der die richtigen Arbeiter senden wird.
„Gottes Werkzeug!“ – Gott selbst baut sein Reich, wir sind hier auf Erden
sein Werkzeug. Jesus Christus beruft jeden Einzelnen in seinen Dienst! Im
81
Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 159 82
Wichern, Band II (vgl. „Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren Mission zu
gewinnen“; 1850), Seite 160
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 27
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
Gebet, in der Fürbitte dürfen und sollen wir für die einzelnen Arbeiter bitten!
(Vgl. auch Mt 9,36ff; 1. Kor 3,5ff; Gal 1,11ff)
Dabei sind nicht einzelne berufen, sondern viele. Der Christ ist beauftragt, sich nach
seinen Gaben für das große Ganze einzusetzen und sich als Werkzeug Gottes
benutzen zu lassen. Hier setzt Wichern, sich auf Luther beziehend, auf das
Priestertum aller Gläubigen.
„Jeder ist berufen!“ – Das einzelne Gemeindeglied, jeder Christ kann sich
an der Arbeit beteiligen, mehr noch, es ist seine Pflicht, das Evangelium
durch Wort und Tat zu bezeugen und damit weiterzugeben (Priestertum aller
Gläubigen). Weil mich Jesus Christus berührt und verändert, „soll“ ich auch
anderen etwas von dieser guten Nachricht weitergeben, z. B. in der Familie,
in der Nachbarschaft, in der Schule, auf der Arbeit oder im Sportverein.
Dabei kann und soll gabenorientiert gearbeitet werden. (Vgl. auch Mt
28,16ff; Lk 10,1ff; Apg 4,20; 1. Kor 9,16; 1. Kor 12,1ff; Eph 4,11f)
Wichern ermutigt, christliche Vereine zu gründen oder sich solchen anzuschließen,
da dort das Priestertum aller Gläubigen besonders ausgelebt werden kann. Dabei
denkt er an ein Zusammenspiel zwischen Kirche und „freiem Werk“, um Kräfte zu
bündeln...
„…gemeinsam unterwegs!“ – In der Zusammenarbeit von Kirche und
christlichen Vereinen können das Amt der Kirche (durch den Pfarrer) und
das Priestertum aller Gläubigen (durch die Laien) verbunden werden. So
werden unterschiedliche Kräfte gebündelt und gemeinsam für das Reich
Gottes eingesetzt. Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich auch (über-)regional
mit Gleichgesinnten zu vernetzen, um voneinander zu lernen und sich
gegenseitig zu motivieren! (Vgl. auch Apg 15,1ff; Röm 16,16; 2. Petr 13,14)
Johann Hinrich Wichern unterscheidet zwischen „ehrenamtlichen“ und
„hauptamtlichen“ Mitarbeitern. Er wünscht sich mehr Leute, die ihren Dienst
hauptberuflich ausüben und legt darum auf die Förderung und Ausbildung solcher
Arbeiter einen großen Wert.
„Hauptamtliche fördern!“ – Um den Dienst der Laien zu unterstützen,
braucht es qualifizierte hauptamtliche Mitarbeiter, die andere ausbilden und
leiten können und sich darüber hinaus „jederzeit“ um die unterschiedlichsten
Bedürfnisse der Menschen ihrer Umgebung kümmern können. Wen können
wir als Kandidaten dazu (be-)rufen? Wie können wir zukünftige haupt-
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 28
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
amtliche Mitarbeiter auf ihre Ausbildung vorbereiten? Wo können wir
(theologische) Ausbildungsstätten unterstützen? (Mt 9,36ff; Mk 2,13f; Apg
1,15ff; Apg 9; 2.Tim 1,3ff; Tit 1,5)
5. Ausblicke
5.1 Von Wichern inspiriert – evangelische Jugendarbeit gestalten
Zwei Erlebnisse aus gelebter (kirchlicher) Jugendarbeit haben mich motiviert, sich
im Rahmen dieser Arbeit ausführlich mit der Person und dem Werk Johann Hinrich
Wicherns zu beschäftigen. Dabei bin ich der Frage nachgegangen, wie
Verkündigung, soziales Handeln und Bildung als eine Einheit gedacht und gelebt
werden können.
Mich haben die Wicherns Ansätze sehr angesprochen. Es ist leicht, viele Parallelen
von Wicherns Zeit in unsere Gegenwart zu ziehen, sein Wirken kann heute aktuell
ein Vorbild für unsere Arbeit werden. Darum sollen nun, nach dem Forschen in den
Schriften Wicherns und dem Übertrag auf unsere Zeit, die oben erarbeiteten Thesen
als Grundlage dienen für ein Konzept evangelischer Gemeindearbeit.
In meinem zukünftigen Dienst möchte ich einen Schwerpunkt auf Jugendarbeit
legen, sodass ich im Folgenden skizzenhaft darstellen möchte, wie evangelische
Jugendarbeit gestaltet werden kann – inspiriert durch Johann Hinrich Wichern.83
83
Vgl. dazu im Anhang das Impulspapier: „Evangelische Jugendarbeit gestalten, Verschiedene
Anregungen – inspiriert von Johann Hinrich Wichern“
Seminararbeit: Johann Hinrich Wichern / Seite 29
Sven Körber, Evangelistenschule Johanneum / Mai 2011
6. Literaturliste
Bunke, Ernst: Johann Hinrich Wichern – Der Vater der Inneren
Mission (Band 96/97 der Sammlung „Zeugen des
gegenwärtigen Gottes“), Gießen u.a. 1956
Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V.:
Johann Hinrich Wichern 200 Jahr Mitten im Leben,
Fliegende Blätter des Diakonischen Werkes der EKD
zum Jubiläumsjahr, Stuttgart 2008
Meinhold, Peter: Verschiedene Kommentare in: Johann Hinrich Wichern
– Sämtliche Werke, Band I-III: Die Kirche und ihr
soziales Handeln (Hrsg. Peter Meinhold), Berlin u.a.
1962-1968
Prokasky, Herbert: Das Zeitalter der Industrialisierung und die Utopie der
bürgerlichen Gesellschaft (Geschichts-Kurse für die
Sekundarstufe II, Hrsg. Herbert Prokasky u.a.),
Paderborn 1999
Teschner, Klaus Das Volk – Die Vereine – Die Kirche, Wicherns erste
Schritte zur inneren Mission (in: Theologische Beiträge
39. Jg., Hrsg. Heinzpeter Hempelmann u.a.), Witten
2008, Seite 72-91
Wichern, Johann Hinrich: Johann Hinrich Wichern – Sämtliche Werke, Band I: Die
Kirche und ihr soziales Handeln (Hrsg. Peter Meinhold),
Berlin u.a. 1962
– Johann Hinrich Wichern – Sämtliche Werke, Band II:
Die Kirche und ihr soziales Handeln (Hrsg. Peter
Meinhold), Berlin u.a. 1965
– Johann Hinrich Wichern – Sämtliche Werke, Band III/1:
Die Kirche und ihr soziales Handeln (Hrsg. Peter
Meinhold), Berlin u.a. 1968