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SVH Folio
Hahnemann – der Begründer der Homöopathie
Zeitschrift des Schweizerischen Vereins für Homöopathie 1 / 2003
Schweizerischer Verein für Homöopathiewww.verein-homoeopathie.ch
S H
Christian Friedrich Samuel Hahnemann*10. April 1755 in Meißen, † 2. Juli 1843 in Paris
ArzeimittelbildPyrogenium
FallbeispielLungenentzündung
Für Sie gelesenEine traurige,aber wahre Geschichte
In dieser Ausgabe u.a.
SVH Folio 1/2003
Inhalt
EditorialZur ersten Ausgabe 3
SVH-NachrichtenEinladung zur 71. Generalversammlung des SVH vom 20. März 2003 3
LeitartikelHahnemann – der Begründer der Homöopathie 4Dr. Hans Kritzler-Kosch über dasLeben von Christian Friedrich Samuel Hahnemann
Arzneimittelbild:Pyrogenium – das «homöopathische Antibiotika» 20
Kasuistik: Das aktuelle FallbeispielLungenentzündung 24
Antiquariat: Für Sie gelesenEine traurige, aber wahre Geschichte 26von Dr. med. Jean Balzli
NotiertVereinsexkursion nach Basel 27«Die Homöopathie unter dem Aspekt des Heilens als Kunstim Zusammenhang zur Medizingeschichte»
VereinslebenProgramm 2003 29
1/2003 SVH Folio
3
Lukas Bruhin, Präsident
Editorial
Zur ersten AusgabeAlle Vereinsmitglieder sind herzlich dazu auf-
gefordert, am Folio mitzuarbeiten. Die Re-
daktion nimmt gerne Artikel, Leserbriefe,
Kritik oder einfach Meinungen entgegen. Das
Folio soll Sie über aktuelle Themen orientie-
ren und auch als Diskussionsplattform für
fachliche Fragen dienen.
Wir setzen uns für die Homöopathie ein und
ich danke allen, die dabei mitmachen.
Einsiedeln, 17. Januar 2003
Wir laden alle Mitglieder höflich zur 71. Ge-
neralversammlung des SVH ein. Sie findet
im Volkshaus Zürich (grüner Saal) statt am
Donnerstag, 20. März 2003, 20:00 Uhr.
SVH-Nachrichten
Einladung zur Generalversammlung
Einladung zur 71. Generalversammlung des SVH vom 20. März 2003
Editorial • SVH-Nachrichten
Lukas Bruhin, Präsident
Die Traktanden1. Begrüssung, Präsenz, Genehmigung der
Traktandenliste, Wahl der Stimmenzähler2. Protokoll der letzten Generalversammlung3. Jahresbericht des Präsidenten4. Jahresrechnung 2002, Bericht der Revisoren5. Wahlen des Präsidenten, der weiteren
Vorstandsmitglieder und der Revisoren6. Jahresprogramm 2003/20047. Festsetzung der Mitgliederbeiträge8. Anträge
(Anträge sind 20 Tage vor der General-versammlung beim Präsidenten einzureichen)
9. Verschiedenes
Nicht ganz ohne Stolz haben wir beschlos-
sen, ein eigenes Mitteilungsblatt für unsere
Mitglieder herauszugeben – getauft «SVH
Folio».
Sie halten eben die erste Ausgabe in Ihren
Händen. Es ersetzt künftig die separaten Aus-
schreibungen des Vereins sowie die Zeit-
schrift «Homöopathie aktuell».
Die 9. und letzte Ausgabe der «Nervenkrank-
heiten» von Dr. Zweig liegt diesem Folio bei.
Das eigene Vereinsblatt hat Tradition: Von
1943 bis 1967 – also während 24 Jahren –
erschien monatlich die Zeitschrift «Homöo-
pathie», herausgeben von den Herren Paulz
und Wagenbach. Jetzt – nach 36 Jahren –
packen wir diese Aufgabe wieder an.
Das Jahresprogramm 2003/2004, das unter
Traktandum 6 näher vorgestellt wird, ist nach-
folgend abgedruckt (siehe Seiten 29 und 30).
Wir hoffen, Sie an der Generalversammlung
begrüssen zu können. Dies nicht zuletzt auch,
um im Anschluss daran weitere Gedanken
austauschen und sich besser kennenlernen zu
können.
Wir freuen uns auf eine gute Beteiligung und
grüssen Sie freundlich
Schweizerischer Verein für Homöopathie
4
SVH Folio 1/2003
Leitartikel
Hahnemann – der Begründer der Homöopathie
Christian Friedrich Samuel Hahnemann* 10. April 1755 in Meißen, † 2. Juli 1843 in Paris
Meine Damen, Meine Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir gedenken heute – mit uns viele Tausende
von Ärzten aller Kulturvölker und unzählige
dankbare Patienten der ganzen Welt – des
Begründers der Homöopathie in Liebe, Ver-
ehrung und Bewunderung. Einer Gipfel-
gestalt wie Hahnemann kann eine kurze Fei-
erstunde unmöglich gerecht werden! Wir, de-
nen sein Erbe zu getreuen Händen anvertraut
ist, können nur voll Ehrfurcht seinem
Schicksalsweg nachgehen. «Ecce medicus!»
– mit diesen zwei grandiosen Worten huldigt
ihm der kühle Engländer James ComptonBurnett, «El Sol de Meissen» – mit diesem
Ehrentitel bekränzen ihn die homöopathi-
schen Ärzte Spaniens, Portugals und Latein-
amerikas noch heute.
Die von Christian Friedrich Samuel Hahne-
mann begründete Homöopathie ist eine über-
zeitliche universelle ärztliche Weisheit, der
anderthalb Jahrhunderte nichts von ihrer grü-
nenden Jugend, nichts von ihrer bleibenden,
immer noch neu schenkenden Fruchtbarkeit
zu nehmen vermochten!
Wir können und dürfen Hahnemann nicht an
uns messen, nicht den Stand der Heilkunde
unserer Epoche zum kritischen Maßstab sei-
nes Werkes machen, vor dem wir alle ganz
klein und winzig sind.
Hahnemanns Leistung ist titanisch! 21 grö-
ßere, zum Teil sehr umfangreiche Werke aus-
ländischer Literatur hat er übersetzt, bearbei-
tet, kritisiert und erläutert! 140 eigene Auf-
sätze und Bücher, darunter große mehr-
bändige, zu seinen Lebzeiten wiederholt auf-
gelegte Werke, entflossen seiner unermüdli-
chen Feder und haben noch heute dem Leser
unveränderliche Wahrheiten zu sagen! Was
er gewirkt hat – als medizinischer Schrift-
steller, Forscher und Reformator, als Chemi-
ker, Hygieniker, Pharmakologe, Toxikologe,
Psychiater, Diätetiker, populärer Erzieher und
nicht zuletzt als ärztlicher Praktiker – das ist
heute hier nur skizzenhaft andeutbar!
Dieser Artikel stammt von Generalarzt Dr. HansKritzler-Kosch, Frauenarzt, Zülpicherstraße 5,Bonn/Rhein und wurde in der Deutschen Homö-opathie-Monatsschrift, 1955, Heft 12, Seiten531 bis 550, veröffentlicht. Er beruht auf einerFestrede, gehalten anlässlich der Feier zur 200.Wiederkehr von Hahnemanns Geburtstag am10. April 1955 vor dem Verein der homöopa-thischen Ärzte des Landes Nordrhein-Westfa-len in Bad Pyrmont. Die Monatsschrift schlossdas Jubiläumsjahr 1955, das so ereignisreich inder ganzen Welt verlief, ab.
Leitartikel
1/2003 SVH Folio
5Leitartikel
Sein Werk ist einmalig! Er übertrifft wohl
alle und alles in der Geschichte der Heilkun-
de. Seine Lebensleistung stellt Hahnemann
an die Seite der größten Ärzte aller Völker,
aller Zeiten! Was Hahnemann wie ein Fer-
ment unvermerkt und doch unbezwingbar le-
bendig für die Entwicklung der Heilkunde
gewirkt hat, ist nur zu ahnen!
Nur wenige Ärzte haben so zahlreiche, ihm
innerlich so verbundene Biographen gefun-
den wie Hahnemann in Richard Haehl, RudolfTischner, Herbert Fritsche, Martin Gumpert– nicht zu gedenken der vielen Verfasser klei-
nerer Lebensbeschreibungen und der Auto-
ren französischer, englischer, amerikanischer,
spanischer, italienischer, mexikanischer, in-
discher und anderer historischer Werke. Die
Aufsätze über sein Leben und sein Werk, die
Festreden an homöopathischen Erinnerungs-
tagen sind Legion!
Von keinem Arzt vor und nach ihm haben
Künstlerhände so viele Bildnisse, Gemälde,
Schaumünzen, Plaketten, Büsten und Denk-
mäler geschaffen! Das imposanteste, über-
zeitlich edelste Monument steht in Washing-ton; als einzigem Nichtamerikaner wurde
Hahnemann die Ehre eines Denkmals in der
Bundeshauptstadt der Vereinigten Staaten
zuteil!
Schauen wir vom heutigen Ostersonntag
zweihundert Jahre zurück – ins Jahr des Herrn
1755! Die Turmuhren des friedlich schlafen-
den Meißen haben den alten von dem neuen
Tag geschieden. Das trutzige Massiv der Alb-
rechtsburg ragt, die alte Elbstadt und ihre
liebliche Umgebung schirmend, in die Früh-
lingsnacht des 10. zum 11. April. Die stolze
Festung, noch vor wenigen Jahren das uner-
bittliche Gefängnis des Goldmachers und
Porzellanerfinders Johann Friedrich Böttger,
schaut auf ein bescheidenes Vorstadthaus am
Fleischsteg.
Geistert die ungestillte Menschensehnsucht
nach dem Stein der Weisen, nach dem Elixier
des Lebens unsichtbar und magisch durch die
Fachwerkmauern?
Die Hebamme legt den nach der Sitte der
Zeit eng und warm gebündelten neugebore-
nen Sohn des Porzellanmalers ChristianFriedrich Hahnemann neben das Kopfkissen
der erschöpften Mutter. Voll ungewisser
Furcht steht der Vater vor dem breiten Ehe-
lager. Hat ihm doch vor knapp 6 Jahren der
unerbittliche Sensenmann die erste Frau we-
nige Stunden nach einer Zwillingsgeburt ent-
rissen. Der 35jährige hat das blutige Bild der
grausamen Operation und des erfolglos sich
mühenden Stadtchirurgen nie aus der Erinne-
rung löschen können. Er schaut auf das Kind,
das ihm die zweite Gefährtin soeben ge-
schenkt hat. Das zarte Menschlein verspricht
kein langes Leben.
Eiligst bestimmt man den übernächsten Tag
zur Taufe. Die wichtige Wahl standesgemä-
ßer Paten muß hintangesetzt werden. Die
Stelle, an der sich ihre behäbig-selbstbe-
wußten Namen spreizen sollten, bleibt im
Taufbuch der Frauenkirche leer.
Keiner von denen, die die ersten Stunden des
schwächlichen Christian Friedrich Samuelbetreuen, sieht, wie sich Athene, die Göttin
der Weisheit und der Wissenschaft, spendend
über das Kind beugt – keiner ahnt, daß hier
einer der Göttlichbegnadeten atmet, einer der
großen, unsterblichen Ärzte und Helfer der
Menschheit!
15 Jahre später! Samuel, das dritte von vier
Kindern, ist trotz seiner Schwächlichkeit groß
geworden. Außergewöhnlich ist seine geisti-
ge Begabung, unstillbar seine Lernbegier, ei-
sern sein Fleiß. Lange vor seinem Schulein-
tritt hat er, unterwiesen von den wohlmeinen-
den Eltern, spielend Schreiben, Lesen und
Rechnen gelernt. Zwei Erbströme fließen in
ihm zusammen – Künstler- und Soldatenblut
– die scharfe Beobachtungsgabe und Wahr-
nehmungsfähigkeit von Vater, Großvater und
Oheim, die alle drei Maler waren, und der
6
SVH Folio 1/2003
pflichttreue, diszipliniert-klare Ordnungssinn
des mütterlichen Großvaters, des Fürstlich
Sachsen-Weimarschen Kapitäns und Regi-
ments-Oberquartiermeisters Johann KarlSpieß. Durch das ganze Leben hindurch ist in
Hahnemanns zielsicherer, beharrlicher Arbeit
diese glückliche Erbmischung zu verfolgen.
Früh zeigt sich sein Sprachtalent. Fast noch
ein Kind, beherrscht er überdurchschnittlich
Form und Geist der beiden klassischen Spra-
chen. Schon mit zwölf Jahren gibt er älteren
Schülern griechischen Unterricht. Heimlich,
gegen den Willen des fürsorglichen Vaters,
studiert er in kalter Dachkammer; den Ker-
zenhalter hat er sich selber aus Ton geformt,
damit man das Fehlen eines Leuchters nicht
bemerke. Samuel hat das Zeug zum Gelehr-
ten, zum Forscher. Aber der Vater will nichts
von einem studierten Beruf wissen. Mehr-
fach unterbricht er die Schulausbildung des
Sohnes, um ihn rasch einträglicher Hantie-
rung zuzuführen.
Die wirtschaftliche Lage ist, gerade in Sach-
sen, das die Hauptlast des Siebenjährigen
Krieges getragen hat, unendlich schwierig.
In Meißen hat der Sieger die großen wertvol-
len Porzellanvorräte, viele unersetzliche
Facharbeiter, das ganze flüssige Kapital der
Porzellanmanufaktur hinweggeführt. Der Va-
ter hält, mit stark vermindertem Einkommen,
mühsam seine Stelle und will deshalb seine
vier Kinder möglichst bald versorgt sehen.
Dabei ist Vater Hahnemann kein Tyrann und
alles andere als ein kleinbürgerlicher Banau-
se. Im Gegenteil, er ist ein besinnlicher, bele-
sener, fortschrittlicher Kopf, Anhänger der
Rousseau‘schen Aufklärung, der Verfasser ei-
ner Schrift über Aquarellmalerei. Er hatte,
wie Hahnemann 1791 in einer kleinen Selbst-
biographie schreibt, die «gesündesten und
edelsten Begriffe über das Urwesen der
Schöpfung» – «über die Würde und die Be-
stimmung des Menschen aus sich selbst ge-
funden». «Wo etwas Gutes zu tun war, da
war er, oft unbemerkt, mit Leib und Seele
dabei. Sollt' ich ihm nicht folgen?» – «Beim
Lesen und Hören nie der leidende Teil zu
sein» – «Handeln und Sein, ohne zu schei-
nen» – das sind seine Wahlsprüche, die er
seinem Sohn immer wieder einprägt. Um ihn
zu selbständigem Denken zu erziehen,
schließt er ihn oft in verdunkelter Stube ein,
gibt ihm einen Satz zum Überlegen und läßt
sich Rechenschaft über das Durchdachte ge-
ben.
Trotzdem schickt der Vater den Sohn in die
Lehre zu einem Leipziger Materialwaren-
händler. Der hochstrebende Junge bäumt sich
bald gegen diesen nüchternen Beruf auf und
entläuft seinem Meister. Die Mutter versteckt
den Flüchtigen mehrere Tage, bis sie für ihn
die Verzeihung des erzürnten Vaters erreicht
hat. Magister Müller, der Samuel von der
Stadtlateinschule her kennt und kurz vor sei-
ner Berufung an die Meißener Fürstenschule
St. Afra steht, nimmt ihn ohne Entgelt als
Famulus in seine Familie auf. Durch ihn
kommt Samuel an das berühmte Lehrinstitut.
Ein kurfürstlicher Gnadenerlaß, wohl durch
die Verbindungen der verständnisvollen Mut-
ter erreicht, ermöglicht endgültig die begehr-
te kostenlose Ausbildung an dieser hochste-
henden Bildungsanstalt, aus der, neben ande-
ren bedeutenden Männern, auch Gellert und
Lessing hervorgegangen sind. Samuel dankt
seinem Gönner mit nie erlahmendem Fleiß
und hingebendem Arbeitseifer, was ihm, dem
gesundheitlich Schwächlichen, «beinahe das
Leben gekostet hat», wie er 1813 in dem
Brief an einen überarbeiteten Philologie-
studenten schreibt. Er dient dem Magister
nicht nur als Haushaltskraft. Sein ungewöhn-
liches Wissen verschafft ihm eine Sonder-
stellung. Er ist dem Magister beim Unterricht
und bei den Korrekturen behilflich, er wird
von den Lehrern zur Auslegung der alten
Schriftsteller hinzugezogen und disputiert mit
ihnen über fachlich-sprachliche Probleme. Ja,
Leitartikel
1/2003 SVH Folio
7
er darf sogar selbst bestimmen, welchen Un-
terrichtsstunden er fernbleiben will. Nach 5
Jahren nimmt er Abschied von St. Afra. Im
Anschluß an ein Dankgedicht in vollendetem
Französisch hält er bei der Entlassungsfeier
eine klassischedle lateinische Abgangsrede
«Über den wundervollen Bau der menschli-
chen Hand».
Zwanzigjährig bezieht Hahnemann 1775 als
Studiosus der Arzneigelehrtheit die Universi-
tät Leipzig – mit zwanzig Talern, dem letzten
Geld, das er aus väterlicher Hand empfangen
hat. Der Meißener Bergrat, Chemiker und
Arzt Dr. Poerner erwirkt ihm Befreiung vom
Kolleggeld bei allen medizinischen Profes-
soren.
Die Studienzeit wird so ernst, so reich an
Arbeit und Entbehrung wie seine Jugend im
beengten Elternhaus und in der Famulusstelle
an St. Afra. Durch Sprachunterricht an Aus-
länder, Nachhilfestunden, Übersetzungen ver-
dient er seinen kärglichen Unterhalt. Schon
als Student ist er kein stumpfsinniger Ver-
deutscher. Wie in allen seinen späteren Über-
setzungen fügt er in oft sehr ausführlichen
Fußnoten den Originaltexten Erklärungen,
Vervollständigungen, bibliographische Hin-
weise, ja sogar ablehnende kritische Hinwei-
se zu, die seine ungeheure Belesenheit dar-
tun.
Für Hahnemann gibt es keine Freuden und
Entspannungen, wie sie die Studenten da-
mals, oft genug in zügelloser Liederlichkeit
und Völlerei, genossen. Nur von ferne sieht
er das lärmende, überhebliche Treiben seiner
Kommilitonen, die mit federwallenden Ba-
retten, in hohen Stulpenstiefeln, in bunten
Pikeschen, den Raufdegen an der Seite, durch
die Straßen stolzieren. Er gehört nicht zu je-
nen, «die vom Breiten Stein nicht wankten
und nicht wichen, die ohne Moos, bei Bier
und Wein den Herrn der Erde glichen.» Wie
in der Jugend hat der in sich verschlossene
Hungerleider keine Freunde. Für Spiel und
Trunk und Weiber hat er weder Zeit noch
Geld noch Sinn. Alles hält er asketisch weit
von sich. Aber er vergißt nicht, wie er später
betont, «sich durch körperliche Übungen,
durch Bewegung in frischer Luft gesund zu
erhalten und sich diejenige Munterkeit und
Stärke zu verschaffen, bei der allein fortge-
setzte geistige Anstrengung mit Glück beste-
hen kann». Zielbewußt setzt er dem Meiße-
ner Raubbau an Körper und Geist ein Ende.
Leipzig, obwohl damals die besuchteste deut-
sche Universität, ist für Hahnemann eine her-
be Enttäuschung. Es gibt hier keine prakti-
sche ärztliche Ausbildungsstätte, keine leben-
dige Beobachtungs- und Behandlungs-
möglichkeit am Krankenbett, nur trockne the-
oretisch-systematische Vorlesungen, – tote,
verstaubte Gelehrsamkeit. Keiner der medi-
zinischen Lehrer Leipzigs hat nachhaltigen
Eindruck auf den Wissensdurstigen gemacht.
Allein dem Altphilologen Zeune bewahrt er
dankbare Erinnerung. Er besucht nur die Kol-
legs, die ihm dienlich scheinen, und liest
«unermüdet, aber nur das Beste» und «soviel
er verdauen kann», der weisen Lehren seines
Vaters eingedenk.
Hier in Leipzig regt sich Hahnemanns erster
Zweifel an dem Wert und der Daseinsberech-
tigung der Heilkunde seiner Zeit.
1777, also schon nach vier Semestern, geht
Hahnemann nach Wien. Hier hat van Swieten,
ein Schüler des großen Boerhave, der ver-
traute Arzt und Berater der Kaiserin MariaTheresia, nach dem Vorbild der LeydenerUniversität, eine berühmte medizinische
Lehrstätte geschaffen. Hahnemann gewinnt
die Freundschaft des Leibarztes von Quarin,
eines erfahrenen, eklektischen Praktikers, der
sich vor Jahren an den Arzneiversuchen
Stoercks beteiligt hat und später Direktor des
weltbekannten Wiener Allgemeinen Kranken-
hauses wird. Er sieht bei von Quarin die ers-
ten Sektionen, er darf ihn als einziger bei
seinen Privatbesuchen begleiten. «Dem Spi-
Leitartikel
8
SVH Folio 1/2003
tal der Barmherzigen Brüder und dem großen
praktischen Genie, dem Leibarzt von Quarin,
verdanke ich, was Arzt an mir genannt wer-
den kann», so schreibt er später in dankbarer
Erinnerung.
Die spärlichen Geldmittel, die er von Leipzig
mitgebracht, es sind 68 Gulden und 12 Kreu-
zer – er nennt sie selbst «übrig gebliebene
Brosamen» – halten trotz zäher Sparsamkeit
nur 9 Monate vor. Keine zwei Gulden die
Woche! – Wie jämmerlich mag er gelebt und
gehaust haben!
Er muß sich bald wieder nach Broterwerb
umsehen. von Quarin vermittelt ihm die Be-
kanntschaft des Gouverneurs von Siebenbür-
gen, des Barons Samuel von Bruckenthal, der
ihn als Hausarzt und Bibliothekar nach Herr-mannstadt mitnimmt. In dieser Stellung ist
Hahnemann aller Sorgen ledig. Zum ersten
Male in seinem Leben darf er sich an ge-
pflegter Tafel sattessen. Er ordnet die große
Bücherei und die Münzsammlung des Statt-
halters. Er studiert unermüdlich in dem gro-
ßen Bücherschatz, erlernt nebenbei noch «ei-
nige, dienliche Sprachen», praktiziert, ob-
wohl erst Kandidat der Medizin, in der leb-
haften Stadt, lernt in dem sumpfreichen Land
das Wechselfieber – auch am eigenen Leibe –
kennen und erwirbt die ersten selbständigen
ärztlichen Erfahrungen.
Durch von Bruckenthal wird er in die dortige
Freimaurerloge aufgenommen. Wo er später
die höheren maurerischen Grade erworben,
ist unbekannt. Sein unstetes Wanderleben und
seine Armut haben wohl einer intensiveren
Logentätigkeit entgegengestanden. Seine
Logenzugehörigkeit, die er mehrfach in sei-
nen Privatbriefen betont, hat später gewiß
öfters bei seinen Bewerbungen und bei der
Wahl seiner Niederlassungsorte eine Rolle
gespielt. In Leipzig findet sich 1817 sein
Name als Meister in der Liste der dortigen
Loge «Minerva zu den drei Palmen». Inner-
lich dem Freimaurertum verbunden, war sein
äußeres Verhältnis zu ihm sehr locker. Nach
all den Jahren des Darbens muß dem armen
Schlucker die Herrmannstädter Zeit im Pa-
last des reichsten Mannes des Landes wie ein
Garten Eden vorgekommen sein. Manch an-
derer wäre in solcher Sinekure kleben geblie-
ben wie die Fliege im Honigtopf. Aber hier
zeigt sich die faustische Natur, der
paracelsische Wandertrieb, als ob schon un-
bewußte Unruhe die Geburt großer Gedan-
ken ankündige. Im Frühjahr 1779 reißt sich
Hahnemann los, um mit dem ersparten Geld
in Erlangen den Doktorhut zu erwerben. Er
wählt diese Universität, weil sie als billig
bekannt ist. Gleichzeitig erweitert er dort sei-
ne botanischen Kenntnisse. Am 10. August
1779 promoviert er mit einer «Betrachtung
der Ursachen und Behandlung von Krampf-
zuständen», die nur dadurch bemerkenswert
ist, daß er bei Zahnschmerzen die damals
heissumstrittene magnetische Behandlung
Messmers empfiehlt.
Als Doctor medicinae kehrt er in die sächsi-
sche Heimat zurück. Die erste Stufe auf der
steilen, mühseligen Leiter seines Arzt- und
Gelehrtenlebens ist erklommen!
1779 läßt sich der 24jährige – hoffnung-
geschwellt wie jeder junge Arzt – in Hettstädtnieder, im Mansfeldischen Grubenrevier, wo
seit dem 12. Jahrhundert Kupfer gefördert
wird. Den Chemieinteressierten zieht der
Bergbau mit seinen verborgenen Erdgeheim-
nissen an wie einst den großen Scheide-
künstler Paracelsus Bombastus von Hohen-heim. Viel Gleiches und Ähnliches verbindet
die beiden Arztreformatoren.
Die Praxis in Hettstädt ist keine Goldgrube,
die kupfernen Kreuzer der arm selig leben-
den Bergarbeiter fließen nur spärlich. Und
was viel schlimmer ist, der stolze junge Dok-
tor muß herunter von seinem hohen Roß. Sei-
ne Kranken kommen zu ihm mit staub-
zerfressenen, schwindsüchtigen Lungen. Sei-
ne wohlüberlegten, langen Rezepte helfen
Leitartikel
1/2003 SVH Folio
9
nicht und die Schröpfköpfe und Aderlässe
nehmen den Hilfesuchenden oft genug die
letzten Lebenskräfte. Das Arztsein macht ihm
keine Freude. Bedrückt und mutlos beginnt
er wieder zu übersetzen und zu schriftstel-
lern. Sein Name wird allmählich in der Ärzte-
welt bekannt.
In den ärmlichen Städtchen war es, so schreibt
er, «unmöglich, Inneres und Äußeres zu er-
weitern». Enttäuscht verläßt er Hettstädt und
zieht im Frühjahr 1781 – fast immer ist es das
Frühjahr, das ihm den Wanderstab in die Hand
zwingt, – nach der nahen anhaltischen Resi-
denzstadt Dessau, wo er «besseren Umgang
und erleichterte Kenntnispflege» findet. Auf
kleinen Reisen vervollkommnet er sich in der
Hüttenkunde – das Wissen um die tiefen, ge-
heimnisvollen Schätze der Erde ist von je der
Mutterschoß der arzneischenkenden Alche-
mie. – Er arbeitet fleißig chemisch und phar-
mazeutisch im Laboratorium des kenntnis-
reichen Apothekers Joachim Heinrich Haese-ler. In der Apotheke mit dem spaßigen
sonnenschirmbewehrten Mohren über der
Türe findet Hahnemann in der 17jährigen
Stieftochter des Apothekers, Henriette Küch-ler, die Frau, die für fast 50 glückliche Ehe-
jahre seine getreue Lebensgenossin werden
soll. 1781 bewirbt er sich mit Erfolg um die
Physikatstelle in Gommern bei Magdeburg,
die ihm nach anderthalb Jahren die Grün-
dung eines eigenen Hausstandes ermöglicht.
Aber auch hier wird die Hoffnung auf aus-
kömmliche Praxis enttäuscht. Er übersiedelt
1784 nach der Landeshauptstadt Dresden.
Hier vertritt er den erkrankten Stadtphysikus
Wagner und versieht ein Jahr lang sämtliche
Krankenhäuser der großen Stadt. Aber die
berechtigte Hoffnung nach Wagners Tode
dessen Nachfolger zu werden, zerschlägt sich.
Er zieht nach dem billigeren Lockwitz. Auch
hier findet er nicht rasch genug eine halbwegs
auskömmliche Praxis. Ende 1789 verlegt er
seinen Wohnsitz nach Leipzig. Schon in Dres-
den hat die schriftstellerische Tätigkeit die
ärztliche überwogen. In der Bücherstadt Leip-zig, dem geistigen Mittelpunkt Sachsens, gibt
er die ärztliche Praxis auf und widmet sich
nur der Schriftstellerei. Von 1785 bis 1789
hat der Unermüdliche weit über 2200 Druck-
seiten an Übersetzungen und selbständigen
Arbeiten veröffentlicht. Alles, wie in seinem
ganzen Leben, mit eigener Hand geschrie-
ben, in zierlicher, klarer, wie gestochener
Schrift.
Aber das Leben in Leipzig ist zu teuer. Er
zieht bald nach dem wohlfeileren, ländlichen
Vorort Stötteritz. Dort geht es mehr als dürf-
tig zu bei Hahnemanns. Oft droht nackte Ar-
mut, wenn die Honorare der Verleger spärli-
cher fließen oder sich verzögern. Vier Kinder
sind schon da und wollen ernährt sein. Wie
oft mag Frau Henriette geweint und gezetert
haben; sie hat sich die Ehe mit dem jungen
Arzt ganz anders gedacht. Der geplagte Fa-
milienvater hilft schuldbewußt im Haushalt,
knetet den Brotteig, schleppt Wasser und
Holz, um der überlasteten Frau zu helfen. Er
wäscht, wenn es an Geld für die Seife fehlt,
mit rohen Kartoffeln die Wäsche. Er wiegt
den hungrigen Kinderschnäbeln das Brot zu,
damit sie bei den knappen Rationen wenig-
stens sehen, daß es gerecht zugeht. Eines der
Kinder wird krank; es spart sich seine Zutei-
lung in einer Schachtel und vermacht, als es
glaubt sterben zu müssen, die kostbaren,
längst zu Stein gewordenen Stücke der Lieb-
lingsschwester. In dem engen, von Kinder-
geschrei, Küchendunst und Windelgeruch er-
füllten Armeleuthaushalt gibt erst der Abend
die notwendige Ruhe und Muße. Hahnemann
arbeitet jede zweite Nacht durch. Nur ein
Vorhang trennt ihn in der einzimmerigen
Wohnung von der schlafenden Familie.
Stötteritz war die Hölle seines Lebens!
Hahnemann erweitert seine Arbeitsgebiete.
Neben Übersetzungen englischer, französi-
scher, italienischer chemischer, medizini-
Leitartikel
10
SVH Folio 1/2003
scher, technischer, populärer Werke schreibt
er eigene Abhandlungen über Medizin, Che-
mie, Gesundheitspflege. Er empfiehlt mit
genauesten Anweisungen die damals noch
fast unbekannte Kohlenheizung, die Herstel-
lung von Koks, von «Kuchen aus Kohlen-
klein und Kohlenstaub». Seine Weinprobe zur
Erkennung von Verfälschungen findet den
Beifall der Chemiker und wird 1791 in Preu-
ßen amtlich eingeführt.
Hahnemanns chemische Leistungen müssen
besonders hervorgehoben werden. Der Che-
miehistoriker von Lippmann nennt 1926 sei-
ne analytischen Kenntnisse «überraschend»,
bezeichnet ihn als «seinen Zeitgenossen in
der Chemie weit überlegen» und als «den
besten Chemiker unter den Ärzten seiner
Zeit». Sein Mercurius solubilis, heute noch
in der Homöopathie unentbehrlich, gilt als
das beste, der Heilkunde damals zur Verfü-
gung stehende Quecksilberpräparat. Seine
Schrift «Über die Arsenikvergiftung» wür-
digt von Lippmann als wichtige Leistung.
Des lieben Geldes wegen übersetzt Hahne-
mann die tragische Liebesgeschichte von
Abälard und Heloise aus dem Englischen.
Die Vertreter der schönen Literatur empfeh-
len die «treue und fließende Übersetzung»,
ein Zeichen, daß Hahnemann kein einseitiger
Nurwissenschaftler ist. Aber der Verdienst
bleibt jämmerlich, trotzdem die großen Ver-
lage längst auf den fleißigen, kenntnisreichen
Übersetzer und Kommentator aufmerksam
geworden sind.
Die Leipziger Ökonomische Gesellschaft und
die Kurfürstlich Mainzische Akademie derWissenschaften ernennen Hahnemann zu ih-
rem Ehrenmitglied. In ohnmächtiger Wut zer-
reißt das «Mitglied gelehrter Gesellschaften»
die schwülstigen, siegelbeschwerten Perga-
mente und zündet mit ihnen das Herdfeuer
an.
Unverzagt und unverdrossen macht sich
Hahnemann an die angebotene Übersetzung
zweier großer englischer Werke, der Arznei-
mittellehre von Monroe und der Materia Me-
dica von Cullen, beides je zwei dicke Bände
von zusammen mehr als 2000 Seiten.
Das häusliche Elend hat ihn aber nicht klein
gekriegt. Von dem gottverlassenen Nest aus
geißelt er 1792 im «Gothaer Anzeiger» uner-
schrocken die sinnlose Aderlaßbehandlung,
mit der Kaiser Leopold II., der Bruder der
Königin Marie-Antoinette, in weniger als
zwei Tagen vom Leben zum Tode befördert
wird. Seine harten, unerbittlichen Worte
scheinen sich rächen zu wollen für die Ent-
täuschung, die ihm der ärztliche Beruf berei-
tet hat. Über Nacht wird sein Name dem deut-
schen Volke bekannt. Die angegriffenen Leib-
ärzte bleiben stumm. Sie wagen vor Hahne-
manns Hammerschlägen nicht, der Öffent-
lichkeit den versprochenen Rechenschaftsbe-
richt zu geben. Er hat sich damit einen gro-
ßen Teil der Ärztewelt zum Feind gemacht.
Von nun an fallen seine lieben Kollegen mit
unverhüllter Gehässigkeit über ihn her, so-
bald sie in seinen Veröffentlichungen den
kleinsten Irrtum, den geringsten Fehler zu
finden glauben.
Leitartikel
1/2003 SVH Folio
11
In die Stötteritzer Elendszeit fällt die Ge-
burtsstunde der Homöopathie!
Hahnemann liest in Cullens Werk, die China-
rinde wirke bei Wechselfieber heilend infolge
ihrer «auf den Magen ausgeübten stärkenden
Kraft». Diese fragwürdige, oberflächliche
Erklärung genügt dem kritischen Geist nicht.
«Des Versuches halber» nimmt er selber eini-
ge Tage zweimal täglich je 4 Quentchen pul-
verisierter «guter» Chinarinde zu sich – im
ganzen sind das etwa 14 g, die 1,0 bis 1, 5g
Chininalkaloid entsprechen – und beobachtet
die Wirkung. Sein Magen wird durchaus nicht
gestärkt. Verwundert stellt er an sich das Auf-
treten von Ohrensausen, Blutandrang, Be-
nommenheit, Ängstlichkeit, Durst, Steifheit
der Gelenke, Abgeschlagenheit, kalte Hände
und Füße, ein widriges taubes Gefühl am
Periost aller Knochen, Körperzittern fest, –
kurz, die ihm aus der Herrmannstädter Zeit
wohlbekannten Symptome des Wechselfie-
bers. Die «Morgenröte» der Heilregel «Ähn-
liches wird durch Ähnliches geheilt!» leuch-
tet auf – die bei Wechselfieber so zuverläs-
sig wirkende Chinarinde macht beim Ge-
sunden wechselfieberähnliche Symptome!
Dem suchenden Geist zeigt sich ein fernes
strahlendes Ziel! Bisher dunkle Stellen alter
und neuer Schriftsteller erhellen sich! Das
Ergebnis des Selbstversuches mit Chinarinde
läßt ihn nicht mehr los! Er hat den Mantel der
Wahrheit, der Erkenntnis am Saume ergrif-
fen! Manches, was er mehr intuitiv gefühlt
als bewußt gedacht hat, wird ihm klar! Vor
zweieinhalb Jahrtausenden hat Hippokratesden Similesatz klar und deutlich ausgespro-
chen! Paracelsus hat den gleichen Gedanken
in seinem «Magischen Simile» verkündet!
Unverstanden ist sein Sinn den Ärzten im
Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen.
Es ist keine jäh aufblitzende, auch keine ganz
neue Erkenntnis. Schon vor ihm haben große
Ärzte versucht, Krankheit mit Krankheit, Fie-
ber mit Fieber zu heilen. Arzneiversuche am
gesunden Menschen hat der große Schweizer
Arzt, Botaniker und Dichter Albrecht vonHaller theoretisch empfohlen, Stoerck, vonQuarin haben praktisch einige Arzneien am
Gesunden geprüft. Hahnemann selber hat vor
dem Chininversuch einige Arzneien wie
Ipecacuanha, Ignatia u. a. an sich geprüft.
Aber die Ergebnisse sind nicht weiter ver-
folgt worden. Es fehlte die praktische Aus-
wertung. Jetzt fügen sich mit dem Similesatz
die beiden einzelnen Glieder zu einem Gan-
zen.
Fortuna bietet Hahnemann die Hand. Die
Universität Wilna beruft ihn an die Stelle des
nach Mainz verpflichteten berühmten ärztli-
chen Weltreisenden Johann Georg AdamForster. Aber Hahnemann lehnt ab und bleibt
in dem proletarischen Milieu von Stötteritz.
Einige Jahre später, in Königslutter, lehnt er
den Ruf an die baltische Landesuniversität
Mitau, deren Gründung Zar Paul I. beabsich-
tigt, ab, obwohl er unter den drei in Aussicht
genommenen Hochschullehrern an erster
Stelle steht. Will er nicht abgelenkt werden
von dem Weg, der sich ihm mit der neuen
Erkenntnis verheißungsvoll zeigt? Oder will
er sich nicht trennen von der Heimat, die ihn
immer wieder unwiderstehlich anzieht? «Der
Hang eines Schweizers nach seinen schrof-
fen Alpen», so hat er 1791 in seiner Selbstbi-
ographie geschrieben, «kann nicht unwider-
stehlicher sein als der eines Kursachsens nach
seinem Vaterland!»
Hahnemann beginnt systematisch mit Arz-
neiversuchen bei seinen Familienangehöri-
gen, bei seinem Dienstpersonal, vorwiegend
an sich selbst. Vier volle Jahre verbringt er
mit diesen Versuchen, bis er 1796 seine erste
homöopathische Arbeit: «Versuch über ein
neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräf-
te der Arzneisubstanz nebst einigen Bli-
cken auf die bisherigen» in Hufelands Jour-
nal, der damals führenden deutschen Ärzte-
zeitschrift, veröffentlicht. Es ist seine 64. Pu-
Leitartikel
12
SVH Folio 1/2003
blikation!
Unermüdlich prüft, forscht und arbeitet er
weiter. Aber erst nach weiteren zehn Jahren,
1806, erscheint in der gleichen Zeitschrift
seine «Heilkunde der Erfahrung». 1810 über-
gibt er dann sein homöopathisches Lehrbuch,
das «Organon der rationellen Heilkunde»,
der Öffentlichkeit. 18 Jahre lang hat der ge-
wissenhafte Forscher gegrübelt, gedacht, ge-
prüft, behandelt, beobachtet, bis er dieses,
sein grundlegendes Werk in die Welt hinaus-
schickt. Voll Ehrfurcht und Spott – je nach
der Einstellung des Lesers – die «Bibel der
Homöopathen» genannt, verkündet es klar
und eindeutig, Wort und Inhalt wie in Stein
gemeißelt, in jeder neuen Auflage wie ein
Gesetzbuch immer straffer und unmißver-
ständlicher nach Paragraphen geordnet, die
neue Lehre, rechnet es unerbittlich mit allen
Unklarheiten und Verschwommenheiten, mit
allen Irrtümern und Fehlern der Heilkunde
seiner Zeit ab. Das Buch bewegt und erregt
die Ärzte weit über die deutschen Grenzen
hinaus, trifft auf schärfste Ablehnung und be-
geisterte Anerkennung. Vier Auflagen folgen
der ersten und bringen die durch neue Erfah-
rungen gefundenen Änderungen und Verbes-
serungen, die die unermüdliche kritische Ar-
beit ihres Autors erweisen. Von der zweiten
Auflage an nennt er es stolz und lapidar «Or-
ganon der Heilkunst».
Der Gedanke der Homöopathie – erst 1807
gebraucht Hahnemann den Ausdruck «homö-
opathisch» – ist der Ärztewelt von vornherein
nicht unsympatisch. Der große Hufeland in
seinem noblen, großzügigen Gerechtigkeits-
sinn steht dem Neuerer mit Wohlwollen ge-
genüber. Aber für vieles in der neuen Lehre,
wie für die sich erst im Laufe der Jahre erge-
bende Dosenfrage mit den immer höher wer-
denden Verdünnungen, ist die Zeit noch nicht
reif. Nur wenige vermögen Hahnemann zu
folgen, sind aber um so treuere Mitstreiter.
Die Apotheker, voll berechtigter Sorge, das
so einträgliche Geschäft der langen, kostspie-
ligen Rezepte zu verlieren, sind die rührigs-
ten und gefährlichsten Gegner. Es konnte ja
gar nicht anders sein – wie immer, wenn es
um das heiligste Gut der Menschheit, um den
Geldbeutel geht.
All dies Neue und Umwälzende, das den
Schaffenden seelisch tief aufrührt, ist nicht in
ungestörter, stiller Gelehrtenstube, nicht von
der sicheren Höhe eines unantastbaren Lehr-
stuhles entstanden! Es wächst unwidersteh-
lich heraus aus einem, zuerst geradezu jäm-
merlichen, Proletarierleben des unermüdli-
chen, genialisch getriebenen Mannes. Unauf-
hörlich arbeitet Hahnemann. Tag und Nacht
schafft sein Hirn, Tag und Nacht führt seine
frauenhaft kleine Hand den rastlosen Gänse-
kiel. Er muß die Zeit scharf einteilen. Die
groß gewordene Familie – in Torgau 1811
werden ihm mit dem Zwillingspaar Luise und
Lottchen das zehnte und elfte Kind geboren –
kostet immer mehr; die resolute und sicher
oft genug verzweifelnd schmälende Frau
braucht seine Hilfe; dazu muß er, da es oft
genug am Schulgeld mangelt, der Lehrer sei-
ner Kinder sein; Patienten wollen beraten
werden; ohne Unterlaß muß er auf wissen-
schaftliche Angriffe antworten; kleine schä-
bige demütigende Alltagssorgen fallen ihm
auf die Nerven, verständnislose, gehässige,
beleidigende Anwürfe rauben ihm die Ruhe
und nagen an seinem so starkentwickelten
Selbstbewußtsein – Prometheus und Sisyphuszugleich trägt er voll Würde und in uner-
schütterlichem Wissen um einen inneren ho-
hen, göttlichen Auftrag die Last seines Le-
bens. Die innere Rastlosigkeit treibt Hahne-
mann von Ort zu Ort, friedloser Wandertrieb
läßt ihn nirgends zur Ruhe kommen. Er
gleicht seinem großen Vorgänger Paracelsusin Art und Wesen, wie er ihm äußerlich äh-
nelt in der zarten Körpergestalt, dem massi-
gen, frühzeitig haarlos gewordenen Schädel
und der hohen, reinen Denkerstirn.
Leitartikel
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1792 verläßt er das trostlose Stötteritz und
gründet im Georgenthaler Schloß bei Gothaeine Anstalt für irrsinnige Standespersonen.
Dort heilt er, in unsagbar belastenden Mona-
ten, ohne körperliche Strafen und Fesseln, –
andere psychiatrische Mittel kennt seine Zeit
nicht! – den durch eine gemeine Verleum-
dung Kotzebues wahnsinnig gewordenen Ge-
heimen Kanzleisekretär Klockenbring, den
Polizeidirektor von Hannover. Trotz dieser
aufsehenerregenden Heilung bleibt das Sana-
torium leer, – der einzige Irre, der dort haust,
ist, wie seine Feinde spotten, Hahnemann sel-
ber. Der Fürst kündigt ihm bald den Aufent-
halt. Man zieht weiter, nach Molchleben.
Durch einen Reiseunfall, bei dem mehrere
Mitglieder der Familie verletzt werden, ver-
zögert sich die von Molchleben aus beschlos-
sene Übersiedlung nach Bad Pyrmont.Hahnemann kommt erst nach der Saison im
Herbst 1794 an, aber er verläßt nach wenigen
Monaten den Badeort, der ihm besondere
Aussichten versprochen hätte. Von hier zi-
geunert er nach Göttingen, Anfang 1795 nach
Braunschweig, 1796 Wolfenbüttel, im glei-
chen Jahr nach Königslutter. Nirgends kommt
der unrastige Mann zur Ruhe. Hamburg,
Altona, Mölln, Machern, Eilenburg, Witten-berg, Dessau, sind die nächsten Stationen.
Kein Ort vermag die erhoffte dauernde Nie-
derlassung zu gewähren. 1805 endlich läßt
sich Hahnemann trotz der Kriegswirren in
Torgau nieder, das ihn fast 7 Jahre hält. Na-poleon läßt Torgau befestigen; die Stadt ist
voll Soldaten und Nachschubstellen. Hahne-
mann erwirbt ein Haus mit Garten. Dies und
die vorherigen zahlreichen, damals so um-
ständlichen und kostspieligen Umzüge zei-
gen, daß es Hahnemann wirtschaftlich we-
sentlich besser ging, daß er zeitweilig eine
einträgliche Praxis ausübte. Aber der weitere
Aushau der Festung, die Napoleon zu einem
großen Waffenplatz ausgestaltet, vertreibt ihn
wieder. Sein Haus wird beschlagnahmt, er
muß es verkaufen. Bitter beklagt sich der
Vertriebene über die kriegerische Umgebung,
die seiner Arbeit so hinderlich ist. Er ahnt
nicht, daß der große Korse als Gefangener
auf St. Helena, von einem homöopathischen
Arzt behandelt, sich für die neue Heilmethode
stark interessiert und Pläne schmiedet, die
Homöopathie an allen französischen Univer-
sitäten einzuführen, falls er auf den Thron
zurückkehren sollte. Von Torgau geht Hahne-
manns erste Auflage des «Organon» in die
Welt.
Zum dritten Male in seinem Leben hält er
seinen Einzug in Leipzig, wo er von 1811 bis
1821 zehn seßhafte Jahre findet. Zwanzig
Umzüge hat er mit seiner Familie hinter sich!
Leipzig gibt ihm eine auskömmliche schrift-
stellerische und ärztliche Tätigkeit und nach
einem Jahre schon die Möglichkeit, als Do-
zent an der Universität seine neue Heil-
methode zu lehren. Am 26. Juni 1812, ein
halbes Jahr vor dem Ausbruch der Befrei-
ungskriege, habilitiert sich der jetzt 57jähri-
ge mit einer Arbeit «Über die Nieswurz (Hel-
leborus, Veratrum) der Alten». Zum ersten
Male in seinem kampfreichen Gelehrtenleben
ist er diplomatisch. Er hält sich eng an sein
Thema und verblüfft die Fakultät durch seine
ungeheuren botanischen, medizingeschicht-
lichen und sprachwissenschaftlichen Kennt-
nisse. Von der Homöopathie spricht er kein
Wort. Sein 26jähriger Sohn Friedrich, damals
gerade frisch approbiert, respondiert dem sei-
ne Arbeit verteitigenden Vater. Seine Zurück-
haltung, von der Fakultät unerwartet und des-
halb von ihr beifällig aufgenommen, zeigt,
wie sehr es Hahnemann am Herzen lag, die
Dozentur zu erreichen, um nun bei der Ju-
gend seine neue Heillehre bekannt zu ma-
chen.
Umbraust vom Kampflärm der Freiheitskrie-
ge, in dem Durcheinander durchziehender
und einquartierter Truppen der Verbündeten,
in dem Elend der Verwundeten und Seuchen-
Leitartikel
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SVH Folio 1/2003
kranken, die nach der Völkerschlacht die
Stadt überfluten, selber unermüdlich an La-
zaretten tätig, führt Hahnemann unbeirrt sei-
ne Lebensaufgabe weiter. Die im letzten Er-
gebnis doch recht kühle Aufnahme seines
«Organon» verbittert und verhärtet ihn. Sei-
ne Polemik verschärft sich, der Starrsinn des
nahenden Alters macht ihn, den von der Wahr-
heit seiner Lehre fanatisch Überzeugten, un-
nachgiebig und unduldsam. Seine wunderba-
ren Heilungen bei Unterleibstyphus und
Fleckfieber tragen ihm die Anerkennung der
Militärsanitätsbehörden, besonders der russi-
schen, ein.
Als ob er auf einer Insel lebe, unbeirrt von
dem widrigen politischen und kriegerischen
Tumult, beginnt er eine Arbeitsgemeinschaft
mit homöopathisch interessierten Schülern
zur Durchführung genauester, systematischer
Arzneiprüfungen. Die Ergebnisse finden ih-
ren Niederschlag in seinem sechsteiligen
Werk «Reine Arzneimittellehre», die von
1811 bis 1821 erscheint und noch zu seinen
Lebzeiten zum zweiten Male, im ersten Drit-
tel sogar in dritter Auflage verlegt wird. In
ihrer Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit
ist sie auch heute noch, nach 125 Jahren, der
Urquell und das Fundament aller homöopa-
thischen Arzneimittellehren der ganzen Welt!
Es gibt nicht viele Werke in der Geschichte
der Medizin, von denen man das gleiche be-
haupten kann!
Jede Vorlesung, zweimal in der Woche, Mitt-
woch und Sonnabend von 14.00 bis 15.00
Uhr, bedeutet Hahnemann öffentliches Be-
kennen seiner Lehre, deren Priester er sich
fühlt. Feierlich, mit steifer Grandezza betritt
er den Hörsaal. Wie ein Rituell spielt sich das
Niederlassen auf den Stuhl, das öffnen des
Organon, das Bereitlegen der Taschenuhr, das
einleitende Räuspern ab. Der sonst so
Schlichte ist auf das Sorgfältigste nach der
Mode gekleidet. Den meisten Musensöhnen
wird das Kolleg zum jugendlich törichten
Studentenulk. Man wartet gespannt darauf,
daß er sich in Feuer redet, daß sein Gesicht
sich rötet, daß die blauen Augen Blitze schie-
ßen, daß dem sonst so herbverschlossenem
Munde donnernde Bannflüche gegen die of-
fizielle Medizin entströmen. Nur wenige hor-
chen auf und spüren das Große in dem fanati-
schen Außenseiter. Seine Fakultätskollegen
hören mit selbstgefälliger Schadenfreude von
dem Spott, den er erntet.
Leitartikel
1/2003 SVH Folio
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Aber auch Leipzig soll nicht zum dauernden
Wohnsitz werden. Diesmal vertreibt ihn nicht
innerliche Unrast, sondern Haß und Neid.
Ende 1819 verklagen ihn die Apotheker der
Stadt, weil er durch die Abgabe selbsther-
gestellter Arzneien ihre geheiligten Privile-
gien verletzt und sie wirtschaftlich schädigt.
Gemäß den Medizinalgesetzen des Landes
entscheidet das Gericht gegen ihn. Ein Jahr
später bestätigt die Regierung das Urteil. Die
Selbstabgabe von Arzneien wird ihm verbo-
ten. Seine praktische homöopathische Tätig-
keit wird damit an der Wurzel getroffen. Die
Apotheker und mehrere Ärzte verlangen
sogar, daß er mit Polizeigewalt aus der Stadt
abgeschoben wird. Aber der Stadtrichter Dr.Volkmann und 40 angesehene Bürger –
darunter Dr. Moritz Müller, der Vater von Dr.Clotar Müller, –verhindern entrüstet diese un-
würdige Behandlung eines Universitäts-
lehrers und Arztes, der so vielen Gesundheit
und Leben erhalten hat.
Aus dieser schwierigen Lage befreit ihn –
Deus ex machina – Herzog Ferdinand vonAnhalt-Köthen, eine freimütige, energische
Soldatennatur. Als Regimentskommandeur
hat er sich nach der Niederlage von Jena undAuerstedt bewährt und sich später als Orga-
nisator der schlesischen Landwehr hoch-
verdient gemacht. Er nimmt den Vertriebe-
nen und Heimatlosen in den Schutz seines
kleinen, herzlich unbedeutenden Ländchens.
Er gibt ihm die Niederlassungserlaubnis und
das ihn von den Apothekern unabhängig ma-
chende Dispensierrecht. Nach einem Jahr ver-
leiht er ihm den Hofratstitel. Die Homöopa-
thie schuldet dem vorurteilsfreien Fürsten
wahrlich ehrlichen Dank!
Im Juni 1821 ist Hahnemann, nunmehr 66
Jahre alt, von Leipzig geschieden. Elf hoch-
bepackte Wagen bringen die Familie und den
Hausrat nach dem neuen Wohnort Köthen. Es
ist der 30. Ortswechsel Hahnemanns seit sei-
nem Weggang aus dem Elternhaus!
Ist Hahnemann ein unsteter, zigeunerhafter
Vagabund gewesen, wie seine Feinde hämisch
meinen? Wandertrieb lag im Blute der Fami-
lie. Der Oheim hat sich lange umhergetrie-
ben, bis er Wurzel schlug. Ist es das Künstler-
erbe? Der unglückliche Sohn Friedrich zeigt
den Wandertrieb ins Krankhafte verzerrt. Bei
Hahnemann sind es wohl die geistigen Er-
öffnungswehen, ausgelöst von den in ihm
drängenden, brodelnden Ideen, die ihn
nirgends Ruhe und Seßhaftigkeit finden las-
sen, ihn, den ausgeprägt bürgerlichen, nach
festem Heim und Sitz strebenden, sein säch-
sisches Vaterland über alles liebenden Mann.
Nur im Anfang war es leibliche Not, später
ist es rastlos machende seelische Unruhe, die
ihn von Ort zu Ort treibt. Dazu hat oft genug
Apothekerhaß und Kollegenneid den äuße-
ren Anlaß gegeben. Die Atmosphäre von Geg-
nerschaft und Feindseligkeit stört ihn in sei-
nem Werk, das immer mehr Besitz von ihm
ergreift. Fritsche deutet das ewige Hin- und
Herziehen bildhaft mit der homöopathischen
Verschüttelung, die in Hahnemann dynami-
sche Kraft entfesselt und potenziert; er kommt
mit diesem glücklichen dichterischen Ver-
gleich der Wahrheit sehr nahe. Hahnemann,
der ewige Ahasver – wird nach der befreien-
den Veröffentlichung seiner in jahrelangem,
hartem Ringen geborenen Lehre wieder zu
dem philosophisch beharrenden, seßhaften
Gelehrten, zu dem behäbigen, geruhsamen
Bürger – ja, fast zum Spießer. Er hängt in
tiefster Verbundenheit an seiner Familie, von
der er sich niemals trennt. Alles, was seine
Lieben trifft, bewegt ihn tief. Wenn es nur
irgend wirtschaftlich möglich ist, mietet oder
kauft er in jedem neuen Niederlassungsort
ein eigenes Haus, in dem er sich mit den
Seinen gegen die feindliche Außenwelt ab-
kapselt. Die Läden der Vorderfenster bleiben
stets geschlossen! Die Familie ist und bleibt
seine Zuflucht, seine Burg. Wie die westwärts
wandernden Pioniere Nordamerikas jeden
Leitartikel
16
SVH Folio 1/2003
Abend ihre Wagen zusammenschieben, so
baut sich auch Hahnemann in jedem neuen
Ort eine Festung. Es gilt sich abzuschirmen
gegen unaufhörliche Anwürfe und Angriffe,
gegen Ablehnung, Hohn, Spott, Haß und
Feindschaft. Und der Feinde sind unzählige!
Gelehrte führen ebenso unerbittlich Krieg ge-
gen Neuerer wie Indianer gegen eindringen-
de Blaßgesichter!
In Köthen strömen ihm nach bescheidenem
und beschwerlichem Anfang
Kranke aus allen Teilen Deutschlands und
des Auslandes zu. Die ewige Geldnot hat ein
Ende! Hahnemann kann sich ein Haus kau-
fen und ein für damalige Zeit nicht unbe-
trächtliches Vermögen erwerben.
Aber Streit und Kampf bleiben ihm auch
weiterhin nicht erspart. Zwist im eigenen La-
ger gesellt sich hinzu. Er bekämpft nicht nur
die zahlreichen Gegner, auch vielen seiner
Anhänger stößt er in starrer Unduldsamkeit
vor den Kopf. Hart gegen sich selbst und
gegen andere, duldet er kein Abweichen von
seiner Lehre. Die von ihm empfohlenen,
immer höher werdenden Verdünnungen er-
scheinen, gemäß den chemisch-physikali-
schen Kenntnissen jener Zeit, selbst homöo-
pathisch aufgeschlossenen Ärzten unver-
ständlich und unannehmbar.
Noch einmal überbrückt die eindrucksvolle
Feier seines «goldenen Doktorjubiläums»
am 10.August 1829 die Gegensätze. Durch
einmütigen Beschluß und opferwillige Spen-
den wird in Leipzig ein homöopathisches
Krankenhaus gegründet.
Die Anstalt wird, nicht zum wenigsten durch
Hahnemanns tyrannische, undiplomatische,
allen Kompromissen unzugängliche Art zum
ewigen Zankapfel, der dem homöopathischen
Gedanken unendlich im Ansehen der Ärzte-
welt schadet. Die leitenden Ärzte wechseln
häufig. Nach 13jährigem Bestehen muß das
Krankenhaus, das mit so viel Hoffnungen auf-
gebaut worden war, seine Pforten schließen.
Von 1828 bis 1830 entsteht sein vierteiliges
Werk «Die chronischen Krankheiten». 1839
fügte er ihm noch einen fünften Teil hinzu.
2305 Seiten sind es im Ganzen! Den Wert
des Buches haben nicht all zu viele erkannt.
Für den aber, der alte Weisheit zu lesen und
neuzeitlich zu deuten versteht, ist es noch
heute eine Fundgrube. Die meisten von uns
haben dies selten gewordene Werk nie in der
Hand gehabt!
1830 wird dem 75jährigen nach 48jähriger
Ehe die Lebensgefährtin Henriette entrissen,
ein nach der Lunge durchgebrochener
Leberabszeß macht ihrem an Leid, Entsagung
und Arbeit reichen, pflichtgetreuen Leben ein
Ende! Hahnemann ist allein! Sein ganzes Le-
ben hindurch hat der herbverschlossene Ein-
zelgänger keinen richtigen Freund gefunden.
Die, die er so nennt, sind ihm in Wirklichkeit
nur Genossen im Kampf um die Lehre!
An seinen 11 Kindern hat Hahnemann nicht
viel Glück erlebt! Sein Stolz und seine Hoff-
nung, der einzige Sohn Friedrich, hochbe-
gabt, aber von Jugend an schwächlich mit
rachitisch verkrümmten Brustkorb, vom 32.
Lebensjahr ab zeitweilig geistesgestört, ist
nach kurzer ärztlicher Tätigkeit in Wolken-stein im Erzgebirge außer Landes gegangen,
in Amerika verschollen, wohl während einer
Choleraepidemie bei St. Louis 1832 oder
1833 unerkannt verstorben. Der zweite Sohn
Ernst, das sechste Kind, ist als Säugling an
den Folgen des Wagenunfalles bei dem Um-
zug nach Bad Pyrmont gestorben. – Die äl-
teste Tochter Henriette, an einen Pfarrer ver-
heiratet, wird früh Witwe. – Die zweite Toch-
ter Wilhelmine, Frau eines Musikdirektors,
stirbt schon mit 30 Jahren. – Die dritte Toch-
ter Amalie, an den Arzt Dr. Süß verheiratet
und, nach dessen Tod an Typhus, zum zwei-
ten Mal verheiratet, aber bald wieder geschie-
den, hat einen Sohn Leopold. Er studiert spä-
ter mit Unterstützung englischer Freunde der
Homöopathie Medizin und wirkt 47 Jahre als
Leitartikel
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homöopathischer Arzt in London; er stirbt
während des ersten Weltkrieges. – Die vierte
Tochter Katharina, starb ebenfalls wie
Wilhelmine frühzeitig, lange vor dem Tode
der Mutter. – Die fünfte und sechste Tochter
waren Zwillinge, von denen eine, Friederike,
leben blieb! Zweimal kinderlos verheiratet,
fiel sie als Witwe einem Raubmord zum Op-
fer. – Die siebente Tochter Eleonore heiratet
einen Arzt, Dr. Wolf, von dem sie geschieden
wird. Auch sie wird ermordet, anscheinend
von einem Leipziger Rechtsanwalt, nachdem
sie diesem kurz vorher ihr Vermögen ver-
macht hat. – Die beiden letzten Töchter,
wieder Zwillinge, Charlotte und Luise – letz-
tere mit einem Arzt Dr. Moßdorf verheiratet
und nach dessen spurlosen Verschwinden ge-
schieden, führen dem ehrfurchtsvoll bewun-
derten Vater den Haushalt und betreuen ihn
mit rührender Hingebung. Nach dessen zwei-
ter Ehe und Abreise nach Paris bleiben sie
allein in Köthen zurück, zwei schüchterne
alternde Mädchen. Sie schlafen tags und wa-
chen nachts mit brennenden Lampen hinter
verrammelten Türen, stets in der krankhaften
Furcht, das Schicksal der beiden ermordeten
Schwestern zu erleiden.
Eine erschütternde Familiengeschichte! Das
Schicksal hat Hahnemann nichts erspart! Am
tiefsten hat ihn das ungeklärte Ende des ein-
zigen Sohnes in fremdem Lande getroffen.
Hat er ihn durch die unregelmäßige Jugend,
durch das ewige Hin und Her auf den Pfad
nach abwärts gestoßen? Hat er mit Friedrich
seiner Lehre den Isaak geopfert? Wie oft mag
diese Frage sein Vaterherz gequält haben!
Ein Jahr nach dem Tode der Frau steht Hahne-
mann, ungebeugt von allem, was ihm das
Schicksal auf die Schultern gelegt, körper-
lich und geistig rüstig, im Kampf gegen die
Cholera, die 1831-1832 ganz Europa er-
schreckt und verheert. Ein halbes Jahrhun-
dert vor der Entdeckung des Kommabazillus
durch Robert Koch vermutet Hahnemann mit
seiner untrüglichen ärztlichen Witterung die
Ursache dieses Würgengels in «mörderisch
feindlichen, unendlich feinen, unsichtbaren
lebenden Wesen». Er ist der einzige Arzt sei-
ner Zeit, der Entstehung und Quelle der Seu-
che intuitiv erahnt. Die furchtbare Epidemie
ruft ihn, den 76jährigen, in den Kampf. In
zahlreichen Aufrufen, Sendschreiben, Denk-
schriften gibt er den erschreckten Menschen
durch Aufklärung und Behandlungsvor-
schriften Trost und Mut. Ärzte, Behörden und
Fürsten mahnt er mit trefflichen hygienischen
Ratschlägen an ihre Pflichten. Er empfiehlt
hauptsächlich den in rascher Folge gegebe-
nen Kampfer in Tropfenform – hier Ehrlichund Fleming vorausschauend – energische
Quarantäne- und Desinfektionsmaßnahmen.
Die erstaunlichen, auch statistisch erwiese-
nen Erfolge der homöopathischen Ärzte mit
Kampfer, Arsen, Cuprum, Veratrum, Carbo
vegetabilis, verglichen mit der jämmerlich-
negativen der Schule, machen die homöopa-
thische Heilmethode bei Ärzten und Laien
bekannter als alle gelehrten Schriften ihrer
Anhänger und Widersacher.
Hahnemann ist alt geworden und ruhiger. Er
ist des Haders im eigenen Lager, des ewigen
Kampfes gegen die vieltausendköpfige Hy-
dra seiner Gegner müde. Aber er hat noch
nichts von seinem Feuergeist, nichts von der
unerbittlichen Schärfe und vernichtenden
Schlagfertigkeit, nichts von seiner Überzeu-
gungstreue verloren, wenn es gilt, gegen die
Feinde der Homöopathie und gegen jene, die
er noch mehr haßt, gegen die «Halb- und
Bastardhomöopathen» zu Felde zu ziehen.
Unerschütterlich steht er zu seiner Lehre wie
ein Soldat zu seiner Fahne, von einer inneren
dämonischen Kraft getrieben und erhoben.
Seine Lebensaufgabe ist ihm zum höheren
Auftrag geworden, zum kategorischen Impe-
rativ. Tischner nennt ihn mit Recht den «Kant
der Medizin». Sein ganzes Leben hindurch
hat Hahnemann – auch hier des Vaters Bei-
Leitartikel
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spiel folgend – einem nicht dogmatischen,
konfessionell ungebundenen, seinem Wesen
jedoch tief verwurzelten innigen Gottesglau-
ben angehangen. Dankbar und gläubig hat er
sein ganzes Leben hindurch die führende
Hand des höchsten Wesens gespürt, immer
stärker durchströmt von der Gewißheit, der
Apostel einer göttlichen Sendung zu sein.
Immer wieder klingt dies aus seinen Schrif-
ten.
In dem kleinen Haus in Köthen lebt er sein
auf die Minute eingeteiltes Leben; empfängt
seine Patienten, darunter unentgeltlich eine
bestimmte Zahl von Armen, die nicht vor den
zahlenden Klienten zurücktreten müssen,
sondern in der Reihenfolge ihres Kommens
vorgelassen werden; mit zierlicher Hand-
schrift notiert er jede Kleinigkeit in seinen
ungeheuer gewissenhaften, sämtlich noch er-
haltenen Krankenjournalen; unaufhörlich ar-
beitet und schreibt er an seinen Schriften und
an der überreichlichen persönlichen Tages-
post. Aus seiner engen,; bescheidenen Gelehr-
tenstube verbreitet sich die homöopathische
Lehre in wenigen Jahren über die ganze kul-
tivierte Welt.
Am 8. Oktober 1834 geschieht etwas Uner-
wartetes, Unglaubliches. In dem kleinen Re-
sidenzstädtchen trifft – wie man erzählt, in
der modischen Reiseverkleidung eines jun-
gen Mannes – eine französische Aristokratin,
eine Pariser Malerin Marie, Melanied'Herville-Gohier ein. Sie will, für die Ho-
möopathie interessiert, Hahnemann kennen-
lernen und konsultieren. Aus der Patientin
wird rasch eine vertraute Freundin. Sie be-
lebt den Greis, der mit patriarchalischem
Hauskäppchen auf dem kahlen Haupt und
mit Filzschuhen an den Füßen hinter dem
wärmenden Ofen langsam dem Ende entge-
genzutreiben schien. Schon nach vier Mona-
ten heiratet die 35jährige schöne, elegante
junge Frau den 80jährigen und reist nach
halbjähriger Ehe mit ihm nach Paris. Dort
verschafft sie ihm durch ihre gesellschaftli-
chen Verbindungen gegen den erheblichen
Widerstand der Akademie die Praxis-
erlaubnis, eröffnet ihm die vornehme Gesell-
schaft führt ein glänzendes Haus und ist, sich
gelehrig in die Homöopathie einarbeitend,
seine geschäftstüchtige, kluge, ihm alle
Schwierigkeiten aus dem Weg räumende
Assistentin in der rasch anschwellenden luk-
rativen Praxis.
1839 wird sein diamantenes Doktorjubi-
läum unter der Teilnahme der französischen
und ausländischen Homöopathie und der
großstädtischen Gesellschaft glanzvoll gefei-
ert. Deklamationen von Jubelgedichten, Dar-
bietungen des berühmten Violoncellisten MaxBohrer und der gefeierten Pianistin KlaraWiek der Braut Robert Schumanns, umrah-
men das eindrucksvolle Fest, das Hahnemann
in voller Frische bis nachts 3 Uhr genießt.
Nur die deutschen Homöopathen fehlen mit
Ausnahme des treuen Jahr. Hat man ihn dort
schon vergessen, froh des ewig mahnenden
unduldsamen Kämpen ledig zu sein?
Die Hungerjahre, die regelmäßige, spartani-
sche Lebensweise und sicher auch die
funktionsanregende Reizwirkung seiner zahl-
reichen, dauernden Arzneiprüfungen an sich
selbst haben ihm eine eiserne Gesundheit ver-
liehen und ihn bewahrt vor dem Doppelkinn,
dem Specknacken, dem Schmerbauch, vor
dem überernährten Schlagflußtyp, den so vie-
le Ärzte seines Jahrhunderts aufweisen. Nie
hat ihn eine ernsthafte Krankheit befallen,
bis zu seinem Tode hört er scharf und braucht
keine Brille. Das blaue leuchtende Auge mit
dem breiten weißen Greisenbogen hat etwas
Adlerartiges. Erst ganz gegen das Ende sei-
nes Lebens klagt er über Stauungskatarrh
infolge des allmählich nachlassenden Kreis-
laufes.
Neun Jahre steht Hahnemann unter der
pflegsamen Obhut seiner ihm ganz ergebe-
nen, aber geltungsbedürftig an seinem Ruhm
Leitartikel
1/2003 SVH Folio
19
teilnehmenden Frau. Ein Jahr vor seinem
Tode stellt er die 6. Auflage seines «Orga-
non» mit maßgeblichen Änderungen und Er-
weiterungen fertig, die 1920 von RichardHaehl der homöopathischen Welt übergeben
wird. Als Hahnemanns letzte Stunde kommt
– er hat die Schwingen des Todes mit unbe-
stechlicher Sicherheit erkannt und nimmt kei-
ne Arznei mehr – drückt ihm Frau Melanie
die Augen zu. Niemanden von seinen Freun-
den und Bewunderern läßt die eigenartige
Frau zu dem Sterbenden. Erst kurz vor sei-
nem Tode gewährt sie seiner Tochter Amalie,
der Witwe Süß, und deren Sohn Leopold, die
seit Wochen in Paris weilen und vergeblich
seinen Ruf erwarten, den Zugang zu dem
Sterbenden. Sie lädt die Leiche einbalsamie-
ren und behält sie mit polizeilicher Erlaubnis
noch acht Tage in der Wohnung. Sie begräbt
den geliebten Toten in aller Herrgottsfrühe
am 11. Juli 1843 fast heimlich in würdeloser
Eile in einem Grabe auf dem Montmartre-
friedhof, in dem sie bereits zwei väterliche
Freunde, den Maler Le Thière und den Mi-
nister Gohier, bestattet hat. Außer der Toch-
ter und dem Enkel ist nur der im Hause als
Apotheker beschäftigte junge Le Thière, ein
Sohn (?) des Malers, zugegen. Paris erfährt
von dem Hingang des großen Arztes erst, als
alles vorüber ist. Das Grab, um das sich Frau
Melanie merkwürdigerweise bis zu ihrem
1878 erfolgten Tode nicht mehr kümmert,
obwohl sie an der Seite Hahnemanns bestat-
tet wird, verkommt.
Eine opferwillige Sammlung der homöopa-
thischen Ärzte der ganzen Welt ermöglicht
die Überführung der Überreste Hahnemanns
und seiner zweiten Frau auf den Friedhof
Père Lachaise. Über der Grabstätte wird ein
würdiges Denkmal errichtet und während des
Internationalen Homöopathischen Kongres-
ses in Paris im Juli 1900 feierlich eingeweiht.
Hahnemann – entsprossen dem Herzen unse-
res Vaterlandes – war ein Deutscher! Wir
sind stolz darauf! – Aber er gehört der gan-
zen Welt!
Seine Gebeine ruhen auf dem weltbekannten
Friedhof Père Lachaise in der Stadt des
Lichts. Dort schläft er den ewigen Schlaf!
Bartholmés ergreifendes Kunstwerk «Der Tri-
umph des Todes» gibt dem stillen Gottesa-
cker feierliche Weihe! In der nächsten Nähe
seiner Grabstätte ruhen: Donizetti, Rossini,Auber, Racine, Lafontaine, Molière, Gay-Lussac, Arago, Gall, die Marschälle Ney und
Davoust – große, unsterbliche Namen!
Hahnemann ist dieser Gefährten im Tode wür-
dig!
Unter dem ewigen Sternbild des Simile-
gesetzes hat Hahnemann gelebt, gedacht, ge-
kämpft, gelitten, gewirkt und geschaffen!
Diese Idee macht ihn unsterblich!
Noch in ferne Zeiten wird sein stolzes Wort
leuchten:
«ICH HABE NICHT UMSONST GELEBT!»
Leitartikel
20
SVH Folio 1/2003
Arzneitmittelbild
Pyrogenium – das «homöopathische Antibiotika»
lang allmählich an und sinkt dann ebenso
allmählich wieder. In tödlichen Fällen
steigt sie schnell auf 40 Grad Celsius und
sinkt dann schnell unter normal.
2. Durch eine tödliche Dosis: Es kommt zu
Darmblutung, Purgieren, Kollaps und Tod.
Bei der Obduktion findet man Austritt von
Blut ins Herz, die Pleura und ins Perikard;
die Milz ist vergrössert und voller Blut.
Die Schleimhaut des Magens und Dünn-
darms ist intensiv injiziert mit abgelöstem
Epithel und Austritt einer blutigen Flüssig-
keit, die den Darm auftreibt. Das Blut ist
dunkel, die Blutkörperchen sind dabei in
Klumpen statt in Rollen, und viele sind in
der Blutflüssigkeit aufgelöst. Die weissen
Blutkörperchen sind zum Teil zersetzt.
Drysdale stellte eine Tinktur von Pyrogenium
her – wobei er es vorzog, sie Pyrexin zu
nennen, da sie nicht nur Fieber hervorrufend
ist; andere nannten sie Sepsin, aber dies ist
zu dicht an Septicaemin, ein Name, der einer
verwandten und vielleicht identischen Nos-
ode gegeben wurde: Ich habe mich entschie-
den, den Namen Pyrogen beizubehalten, un-
ter dem das Mittel in der Homöopathie am
besten bekannt ist – und setzte seinen eige-
nen Vorschlag in die Praxis um. Sein Erfolg
war sehr ermutigend. Doch da er weiterhin
die Urtinktur und die niedrigsten Potenzen
verwendete, waren die Schwierigkeiten, das
Präparat frisch zu halten, nicht gering.
Das Mittel kam erst zu verbreiteter Anwen-
dung nachdem Burnett 1888 seine Broschüre
über «Pyrogenium in Fevers and Blood-
poisoning» (Pyrogenium bei Fiebern und
Pyrogen wird auch Pyrexin oder Sepsin ge-
nannt. Ein Zersetzungsprodukt aus gehack-
tem, magerem Rindfleisch in Wasser, das man
zwei bis drei Wochen in der Sonne stehen
lässt.
1880 war John Drysdale der erste, der vor-
schlug, diese Substanz als Medikament zu
benutzen. Burdon Sanderson erklärte 1875,
dass nur Flüssigkeiten, die Bakterien enthal-
ten oder eine ausgesprochene Neigung in
bezug auf deren Produktion haben» in der
Lage seien, Pyrexie (Fieber) auszulösen. Die-
se Anmerkung beeindruckte Drysdale, und
obwohl er natürlich «nur» der Feststellung
nicht zustimmen konnte – viele dem Homöo-
pathen bekannte Mittel lösen Fieber aus –
sah er, dass man sich diese Tatsache zunutze
machen könnte.
Sanderson definiert Pyrogen des weiteren als
«eine chemische, nicht lebendige Substanz,
die von lebenden Bakterien gebildet wird,
aber auch von lebenden Eiterkorpuskeln, oder
den lebenden Blut- oder Gewebeproto-
plasmen aus denen diese Korpuskeln ent-
springen». In Sandersons Experimenten mit
Pyrogenium wurden folgende Wirkungen be-
obachtet:
1. Bei einer nicht tödlichen Dosis: Das Tier
fröstelt und fängt an, ruhelos umherzuge-
hen. Die Temperatur steigt um zwei bis
drei Grad, das Maximum wird in drei Stun-
den erreicht. Es setzen Durst und Erbre-
chen ein, gefolgt von trübem, dünnem
Schleim und schliesslich blutige Diarrhoe
und Tenesmus. Nach fünf Stunden begin-
nen diese Symptome abzuklingen, und das
Tier erholt sich mit wunderbarer Geschwin-
digkeit. Wenn es zum Tode kommt, dann
durch Herzversagen. In nicht tödlichen Fäl-
len mit Symptomen aus dem Magen-Darm-
Bereich steigt die Temperatur vier Stunden
Quelle: Clarke J. H., «Der Neue Clarke», EineEnzyklopädie für den homöopathischen Prakti-ker. Burgdorf-Verlag. Illustration von HansjürgJenzer, Buchrain.
Arzneimittelbild
22
SVH Folio 1/2003
Arzneimittelbild
Blutvergiftung) veröffentlichte. Burnett be-
nutzte hauptsächlich die C 6, die völlig harm-
los ist und die sich unbegrenzt hält. Heath,
der eine der Präparationen herstellte, die Bur-nett benutze, gab Swan etwas davon, der sie
bis zu Hochpotenzen verdünnte. Ein grosser
Teil der amerikanischen Erfahrungen wurde
mit Swans Potenzen gemacht, einschliesslich
einer Prüfung durch Sherbino. Yingling sam-
melte Symptome aus vielen veröffentlichten
Fällen und ordnete sie zusammen mit den
Prüfungssymptomen an. (Yingling beschreibt
fälschlicherweise Pyrogenium als Präparati-
on aus dem «Eiter aus einem septischen Abs-
zess». Das ist Septicaemin. Er bezieht sich
jedoch auf Burnetts Broschüre und auf Fälle,
die mit Pyrogenium geheilt wurden, was über
die wirklich verwendete Substanz keinen
Zweifel lässt. H. C. Allen, der die Prüfung
und die meisten der Fälle im Med. Adv. ver-
öffentlichte, beschreibt Pyrogenium korrekt
als ein «Produkt der Sepsis»). DrysdalesOriginalfälle enthalten eine Anzahl, bei de-
nen drohender Typhus abgewendet wurde, ei-
nen Fall von Tabes mesenterica, der geheilt
wurde, und ein Fall von Ulzeration des Ko-
lons, der sehr gebessert wurde.
Bei Burnetts Fällen handelte es sich um voll
entwickelten Typhus, der in allen Fällen auf
dem Höhepunkt von Pyrogenium C6, das alle
zwei Stunden verabreicht wurde, vorzeitig
beendet wurde. Seine Broschüre enthält auch
eine erfolgreiche Erfahrung von Dr. Should-ham mit Pyrogenium C6 in zwei Fällen von
Diphtherie. Ich hatte reichlich Gelegenheit,
die Macht von Pyrogenium über Typhus und
typhoide und hektische Zustände zu beob-
achten, einschliesslich eines Falles eines Ab-
szesses mit Absonderung in Zusammenhang
mit Malum Potti.
T. M. Dillingham berichtet vom Fall einer
jungen deutschen Jüdin, die wegen parenchy-
matöser Nephritis in verschiedenen Kranken-
häusern behandelt worden war, unter ande-
rem am Hahnemann Hospital in New York.
In dieses wurde sie am 14. März 1890 wieder
aufgenommen, wo sie zum ersten Mal zu Dr.Dillingham in Behandlung kam. Der Urin
wies eine enorme Menge Eiweiss und ver-
schiedene Harnzylinder auf. Füsse und Un-
terschenkel stark geschwollen, Gesicht auf-
gedunsen. Pochende Kopfschmerzen, oft be-
gleitet von reichlichem Nasenbluten, Übel-
keit und Erbrechen; schlimmer durch Bewe-
gung und Licht; abnormal leuchtende Augen,
weit geöffnete Pupillen. Belladonna linderte
vorübergehend; aber am 31. Mai war der Zu-
stand verzweifelt. Dillingham brachte nun in
Erfahrung, dass die Beschwerden von einem
grossen Abszess her datierten, der die Folge
eines aufgeschnittenen und schlecht versorg-
ten Panaritiums am dritten Daumen war. Sie
war durch diesen Abszess sechs Wochen lang
krank, wobei sie, wie ihr ihre Ärzte sagten,
«Blutvergiftung» hatte. Bald danach began-
nen ihr Gesicht und ihre Füsse anzuschwel-
len. Am 31. Mai war der Zustand folgender-
massen: Füsse, Unterschenkel und Genitali-
en stark angeschwollen. Schreckliche, po-
chende Kopfschmerzen, starke Besserung
durch ein straffes Band, das ständig getragen
wird. Starke Besserung durch Hitze; heisse
Bäder tun ihr sehr wohl. Die Kopfschmerzen
zeigten schreckliche Verschlimmerungen, die
zwei bis vier Tage lang anhielten, während-
dessen sie weder im Bett liegen noch sich
aufsetzen konnte, sondern in ständiger Be-
wegung war, wobei sie stöhnte mitleider-
regend um Hilfe schrie. Es wurde eine Gabe
Pyrogenium MM (Swan) verabreicht und kei-
ne weiteren Mittel, obwohl die Patientin bei
einer Gelegenheit flehte, etwas gegen die
Schmerzen zu bekommen. Im Verlauf des
Juni begann sich ihr Zustand zu verbessern,
und am 20. Oktober wurde sie geheilt entlas-
sen. In Sherbinos Prüfung wurde dieser im
Nebeneffekt davon geheilt, dass er sich des
Herzens und seiner Tätigkeit bewusst war,
1/2003 SVH Folio
23Arzneimittelbild
ebenso von Herzklopfen durch die geringste
Erregung oder Angst, schlimmer zu Beginn
der Bewegung; Blutandrang zum Kopf, als
würde es zu Apoplexie kommen. Cactus hat-
te nicht geholfen.
Sherbino heilte mit Pyrogenium:
1. Einen Fall von Kindbettfieber, wobei er
durch die hohe Pulsfrequenz darauf kam.
2. Einen Rückfall bei Typhus, Puls 140, Tem-
peratur 38,9 Grad Celsius; beide waren in-
nerhalb von 24 Stunden wieder normal.
3. Eine 17jährige junge Dame von Fieber, mit
schmerzenden Knochen, wobei sich das
Bett sehr hart anfühlte. Taubes, gelähmtes
Gefühl. Sobald das Fieber verschwand,
stieg der Puls weiter hoch an. Pyrogenium
MM (Swan), jedes mal wiederholt, wenn
die Wirkung aufhörte, heilte.
Pyrogenium ist eines der bakteriellen Mittel
der Materia Medica. Hat man erst einmal den
Gedanken seiner essentiellen Wirkung er-
fasst, wird eine unendliche Zahl von Anwen-
dungen augenscheinlich. Wie Drysdale es for-
muliert: «Die summarischste Anzeige für Py-
rogenium wäre, es das Aconitum der typhus-
artigen oder typhoiden Qualität der Pyrexie
zu bezeichnen», und wo immer eine Vergif-
tung durch bakterielle Produkte stattfindet
(z.B. im hektischen Fieber der Tuberkulose),
ist es wahrscheinlich, dass Pyrogenium Gu-
tes tun wird. Sepsis ist die Essenz der Wir-
kung von Pyrogenium.
H. C. Allen nennt folgende Anzeige für sei-
nen Gebrauch in septischen Zuständen:
«Wenn die bestgewählten Mittel dabei versa-
gen zu lindern oder permanent zu bessern» –
analog zur Wirkung von Psorinum und Sul-
fur in anderen Zuständen. Ebenso: «Latente
pyrogenische Prozesse, bei denen der Patient
nach dem offensichtlichen Simillimum stän-
dig Rückfälle hat.» Da Pyrogenium ein Pro-
dukt von Aas ist, ist der aashafte Geruch der
Körperausdünstungen, Absonderungen und
Exkrete eine Keynote für seine Anwendung.
Weitere Leitanzeigen sind: Ruhelosigkeit;
muss sich ständig bewegen, um die Wundheit
der Körperteile zu bessern. «Obstipation
durch das Steckenbleiben der Fäzes bei Fie-
bern; Stuhl gross, schwarz, aashaft.» «Frost
beginnt im Rücken, zwischen den Schulter-
blättern.» «Heftiger, generalisierter Frost von
Knochen und Extremitäten.» «In allen Fällen
von Fieber, die mit Schmerzen in den Glie-
dern beginnen,» so Swan. «Puls krankhaft
schnell, unproportional hoch im Vergleich zur
Temperatur.»
Pyrogenium C5, fünf Tropfen in Wasser
nachts und morgens, half Burnett bei der Hei-
lung eines Falles von Analfisteln. Unter sei-
ner Wirkung verschwand Schwitzen am Ge-
säss, unter dem ein Mann viele Jahre lang
litt; und die Haut der Hände, die zu trocke-
nem Ekzem neigen, bekamen ein viel reine-
res Aussehen.
J. S. Hunt berichtet von fünf Fällen von Ul-
cus varicosum, die alle unter der Wirkung
von Pyrogenium schnell heilten. Bellaris gab
einer älteren Frau, die seit Jahren an einem
geschwürigen Unterschenkel litt, Pyrogenium
C200, wobei der Unterschenkel von tiefen,
unterhöhlten Wunden durchlöchert war, die
extrem schmerzhaft waren und starke Abson-
derungen aufwiesen. Hepar sulfuris, Silicea,
Arsen und Hamamelis halfen nicht. Unter
Pyrogenium ein- bis zweimal täglich bildete
sich «ein grosser Furunkel» an der Wade und
leerte seinen Inhalt aus, wonach das Ulcus
varicosum direkt abheilte.
Die Symptome sind viel besser durch Hitze
(Trinken von heissem Wasser; heisse Bäder).
Besser durch enges Bandagieren des Kopfes.
Besser durch Ausstrecken der Gliedmassen;
Umhergehen; Sich-Herumdrehen oder Wech-
seln der Lage. Die Herztätigkeit und der Hus-
ten sind schlimmer durch Bewegung. Augap-
fel ist schlimmer bei Bewegung des Auges.
Husten schlimmer durch Bewegung und im
warmen Zimmer. Schlimmer beim Aufsetzen
im Bett; durch Aufstehen.
24
SVH Folio 1/2003
Kasuistik: Das aktuelle Fallbeispiel
Lungenentzündung
Kasuistik: Das aktuelle Fallbeispiel
Ein Mann fühlt sich seit Tagen nicht mehr so
richtig wohl, er berichtetet: Schmerzen in Mus-
keln und Knochen, wie zerschlagen, vom Kopf
bis zu den Füssen. Das Bett fühlt sich hart an,
wie ein Brett. Hustet grosse Mengen rostfarbe-
nen Sputums aus. Beim tiefen Einatmen ste-
chender Schmerz in der Mitte der Brust. Husten
nach Bewegungen schlimmer. Hält sich die
Brust beim Husten. Atmung geht schwer, will
die Fenster offen haben. Angst, im Schlaf zu
ersticken. Sein Gesicht hat eine dunkelrote Fär-
bung, beim Atmen bewegen sich die Nasenflü-
gel mit. Ist extrem müde und schläfrig, schläft
auch tagsüber im Sitzen, sei auch schon beim
Brief schreiben eingeschlafen. Mehrmals täg-
lich übel riechender Stuhl.
LösungZuerst muss entschieden werden, ob es sich um
ein akutes oder ein chronisches Leiden handelt.
Dies ist in diesem Fall recht einfach. Es ist klar
ein akutes Problem.
Welches sind denn nun die dem §153 entspre-
chenden Symptome?
• Angst, im Schlaf zu ersticken.
• Die sich bewegenden Nasenflügel
• Die grosse Schläfrigkeit
Ferner können wir noch folgende Symptome
für die Repertorisation verwenden:
• Das sich wie ein Brett anfühlende Bett
• Stechender Schmerz beim Einatmen
• Die dunkelrote Gesichtsfarbe
Wenn wir diese Symptome repertorisieren, sieht
dies folgendermassen aus:
1/2003 SVH Folio
25Kasuistik: Das aktuelle Fallbeispiel
Nachdem man das Mittel in der Materia medica nachgelesen hat, wird man hier Babtisia
tinctorum verschreiben.
26
SVH Folio 1/2003
Antiquariat: Für Sie gelesen
Eine traurige, aber wahre Geschichte
Von Dr. med. Jean Balzli
Arme Kranke behandelte Hahnemann kos-
tenlos. Das tat er auch noch, als er später in
Paris lebte und berühmt war. Der Beruf des
Arztes ist etwas Heiliges, ganz besonders der
Beruf des homöopathischen Arztes. Wir kön-
nen in der Homöopathie keine «Gschäftli-
macher» brauchen, die Krankheiten in die
Länge ziehen, um mehr Geld zu verdienen.
«Ärzte» dieser Art wären besser Hintertrep-
pen-Geldverleiher. Die Dame wollte wohl
dem jungen Arzte sagen, er solle nicht das
ähnlichste, sondern ein nur teilweise passen-
des Mittel verordnen, um den Kranken hin-
zuhalten. Als ich diese unerhörte Geschichte
vernahm, bedauerte ich, dass es keine Galgen
mehr gibt.
Aus: Zeitschrift «Homöopathie»,No. 12 / 6. Jahrgang, Zürich, Dezember 1949.
Antiquariat: Für Sie gelesen
Das Ereignis, das ich hier schildern werde,
hat sich vor mehr als 15 Jahren zugetragen.
In einer kleinen Stadt von etwa 9000 Ein-
wohnern mit reicher Landwirtschaft ist ein
Arzt tätig, der alle Methoden anwendet, von
denen er reden hört oder von denen er durch
Lektüre Kenntnis erhält. Auch die Homöopa-
thie gehört zu seinem «Rüstzeuge». Dieser
Arzt macht jedes Jahr 4 Wochen Ferien und
lässt sich in dieser Zeit von einem jungen
Arzte vertreten. Einem dieser jungen Ärzte,
den ehrliche Begeisterung für die Homöopa-
thie erfüllte, ist folgendes widerfahren: Die
Gattin des Arztes, der sich vertreten lässt, ist
zu Hause geblieben. Jeden Abend fragt sie
bei Tisch den jungen Vertreter ihres Mannes
aus: «Wer ist heute in die Sprechstunde ge-
kommen? Was fehlt den Kranken, die Sie
untersucht haben? Was haben Sie den Leuten
verordnet?» Zuerst nahm der junge Mann an,
die Gattin des Kollegen nehme von Herzen
Anteil an der Tätigkeit ihres Mannes und am
Ergehen der Kranken. Auch bildete er sich
ein, die Dame interessiere sich für die Homö-
opathie. Da ihm aber jeden Abend die glei-
chen Fragen vorgelegt wurden, stiegen ihm
Bedenken auf. Er blieb nicht lange ratlos.
Nach einer neuen Ausfragerei erklärte die
Dame dem jungen Arzte in sehr grobem und
vorwurfsvollem Tone: «Sie geben viel zu gute
Verordnungen! Die Kranken werden ja viel
zu schnell gesund werden! Wenn mein Mann
heimkommt, wird er nichts mehr zu tun ha-
ben!»
Hahnemann, der Vater der Homöopathie, hat
das Heilen als die einzige Aufgabe des Arztes
bezeichnet. Das Geschäftemachen lag Hahne-
mann fern. Viele Jahre lang lebten Hahne-
mann und die Seinen in bitterster Armut.
1/2003 SVH Folio
27
Notiert
Vereinsexkursion nach Basel
«Die Homöopathie unter dem Aspekt des Heilens als Kunstim Zusammenhang zur Medizingeschichte»
während in Basel Jacob Sarasin ein Labora-
torium einrichtet um Gold zu machen. Die
Alchemie fasste dort Fuss, wo die damalige
europäische Elite der Wissenschaft - seit der
Erfindung des Buchdrucks und der damit ver-
bundenen Druckerzeugnisse, welche in Basel
durch die Familie Froben gut repräsentiert
wurden - sich immer wieder versammelt hat-
te, in einer weltoffenen Stadt. Immanuel Kant
veröffentlicht in Hahnemanns Geburtsjahr die
«Allgemeine Naturgeschichte und Theorie
des Himmels». Die letzten Hexen in Europa
sind noch nicht verbrannt! Das «heliozentri-
sche» Weltbild des Mittelalters wird durch
ein neues, «homozentrisches» ersetzt. Galileo
Galilei und Kopernikus entdeckten das Son-
nensystem, welches die Erde aus dem Mittel-
punkt verdrängte. Der Mensch rückte wieder
ins Zentrum des Geschehens. «Aude sapere!»
rief Hahnemann in die Welt und plädierte für
ein ebenso neues, wie revolutionäres, eige-
nes Verständnis in der Medizin: Er führt das
hippokratische Ähnlichkeitsgesetz «Similia
Similibus curentur» in die «Materia Medica»
ein und beschrieb die «eigentümliche Natur
der chronischen Krankheiten und ihre homö-
opathische Heilung». Seine Beobachtungen
und Anwendungen wichen jedoch zu weit
von der allgemeinen Ideologie der Wirklich-
keit ab und lösten ökonomische Eifersucht,
machtpolitische Missgunst und «wissen-
schaftliches» Unverständnis aus.
,,Es ist das Amt des Menschen, dass er die
Dinge erfahren und nicht blind darin sein
soll!", liess bereits Paracelsus hier in Basel
verlauten und «dass er aus der Natur der Din-
ge und aus eigenen Erfahrungen lehren wer-
de und als "wahrer Arzt" die blendenden
Auf Einladung des SVH trafen sich am Frei-
tag den 30. August 2002 zehn interessierte
Personen um 10.30 Uhr vor dem Rathaus am
Marktplatz in Basel. Das rege Treiben und
Handeln mit Gemüse, Obst, Blumen und
Frischwaren auf dem Platz mahnte an die
wirtschaftliche Bedeutung dieser Stadt. Wie
zentral der wissenschaftliche Einfluss auf das
Schicksal der Geschichte der Medizin mit
diesem Ort zusammen hängt, erfuhren wir
später, gleich um die Ecke, zwischen engen
Gassen im Hinterhof des Hauses «zum vor-
deren Sessel» am Totengässlein. Hier ist ein
geschichtsträchtiger Ort, in dem berühmte
Menschen wie Erasmus von Rotterdam und
Paracelsus von Hohenheim, ein- und ausgin-
gen. Wir nahmen im alten Hörsaal der phar-
mazeutischen Fakultät der Universität Basel
Platz und wurden sogleich nach der
Begrüssung und unter fachkundiger Betreu-
ung durch Herrn Dr. Kessler, Pharmazie-
professor der ansässigen Hochschule, in die
Zusammenhänge der damaligen Weltordnung
eingeführt. Die Zeit, in der Samuel Hahne-
mann gelebt und geforscht hatte (1755-1843)
war eine bewegte, von Veränderungen und
Entdeckungen geprägte Umwandlungsphase,
was sich nicht bloss im technischen Fort-
schritt zeigte, sondern ebenso in der kulturel-
len und geistigen Entwicklung der Mensch-
heit am Übergang aus dem späten Mittelalter
zur Renaissance. In Frankreich herrschte die
Revolution, in Amerika wurde zum ersten
Mal ein Präsident nach Verfassungsrecht,
Die Sonderausstellung «Homöopathie – eineandere Heilkunst» wurde gezeigt vom 26. Aprilbis 31. Oktober 2002.
Notiert
28
SVH Folio 1/2003
Öffnungszeites des Museums:Dienstag bis Samstag, 10-17 Uhr.Internet: www.pharmaziemuseum.chGeorg M. Kissling, Schwyz
Notiert
Doktortitel gering schätze.» ,,Folgt nicht
Galen, nicht Hippokrates, nicht Rhazes, folgt
nicht eurer Geldgier, nicht eurem Macht-
hunger. Eure einzige Schulmeisterin sei die
Natur! Sehen müsst ihr, nicht sinnieren, nicht
berechnen, sondern sehen! Sehen mit den
Augen des Geistes, wenn die Natur uns er-
leuchtet. Denn das will ich bezeugen mit der
Natur. Die Natur ist der wahre Arzt. Horche
auf den Gesang der Natur. Gehorche ihren
Wirkungen. Nur so kannst du heilen".
Der deutsche Arzt Samuel Hahnemann, mit
seinem akribischen Studium der Arznei-
wirkungen und genauer Beobachtung von
Krankheitsbildern, entwickelte ein Heilver-
fahren, das im Vergleich zur damaligen me-
dizinischen Praxis und wissenschaftlichen
«Strömung» abermals revolutionär war. Ein
wesentlicher Vorteil seiner Therapie lag in
der sehr geringen Dosierung der Medikamen-
te, die deshalb keine schädlichen Nebenwir-
kungen haben sollten. Schnell verbreitete sich
seine Lehre über die ganze Welt. Die univer-
sitäre Doktrin allerdings hatte ihren Nutzen
bisher hartnäckig despektiert. Bis heute hat
sich die homöopathische Therapie als Alter-
native zur allopathischen Medizin jedoch
weltweit etabliert.
Die Ausstellung führte uns die interessanten
Facetten dieser medizinischen Diskussionen
vor Augen und zeigte verschiedene Argumen-
te auf. Sie zeigte die Besonderheiten der ho-
möopathischen Heilkunde und erläuterte
Prinzipien der homöopathischen Therapie
und ihr ganzheitliches Verständnis vom
Krankheitsgeschehen. Die zentrale Ähnlich-
keitsregel wird ebenso vorgestellt wie die
Produktion und Lagerung homöopathischer
Medikamente aus Tierpräparaten, minerali-
schen Substanzen und pflanzlichen Drogen.
Der historische Rückblick begann mit der
Vorgeschichte der Homöopathie innerhalb der
Entwicklung der modernen Medizin und en-
dete bei Museumsgegenständen, wie etwa der
militärischen Feldapotheke des schweizeri-
schen Truppenarztes aus der Zeit um 1918,
womit eindrücklich der praktische Wert und
Nutzen der Homöotherapie zur demonstriert
ist.
Nach dem Konzept der gemeinsamen Aus-
stellung des Deutschen Hygienemuseums
Dresden und des Instituts für Geschichte der
Medizin der Robert-Bosch-Stiftung Stuttgart,
die 1996 zum 200-jährigen Bestehen der Ho-
möopathie gezeigt wurde, ist auch die Basler
Homöopathieausstellung aufgebaut. Im übri-
gen zeigt das «Schweizerische Apotheken-
museum» eine der weltweit grössten Samm-
lungen zur Geschichte der Pharmazie. Dazu
gehören Apotheken, historische Medikamen-
te, ein ganzes Alchemistenlabor, eine «Mate-
ria Medica obsoleta» aus alten Kulturen und
eine berühmte Sammlung von Apotheken-
keramik; was wir alles ausgiebig nach einem
gemütlichen Mittagessen auf einer
Restaurantterasse hoch über dem Rhein, zu
Gemüte geführt haben.
1/2003 SVH Folio
29
Vereinsleben
Programm 2003Samstag, 23. August, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Die homöopathische HausapothekeReferent: Daniel Trachsel
Kosten Fr. 110.- (SVH-Mitglieder Fr. 80.-)
Dienstag, 26. August, 20:00 – 22:00 Uhr
Volkshaus Zürich
Die homöopathische KonstitutionsbehandlungReferent: Lukas Bruhin
Kosten: gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Dienstag, 16. September, 20:00 – 22:00 Uhr
Volkshaus Zürich
KinderkrankheitenReferentin: Sabina Bischoff
Kosten: gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Mittwoch, 24. September, 20:00 – 22:00 Uhr
Volkshaus Zürich
Im Namen der ImpfungReferentin: Anita Petek
Kosten: Fr. 20.-
Samstag, 27. September, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Lösen von FällenReferentin: Sabina Bischoff
Kosten: Fr. 170.-
Mittwoch, 29. Oktober, 20:00 – 22:00 Uhr
Volkshaus Zürich
RadioaktivitätReferent: Daniel Trachsel
Kosten: gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Samstag, 8. November, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Hausapotheke, Fortsetzung ...Referent: Daniel Trachsel
Kosten Fr. 110.- (SVH-Mitglieder Fr. 80.-)
Dienstag, 25. November, 20:00 – 22:00 Uhr,
Volkshaus Zürich
Das NeugeboreneStillen – praktische TippsReferentin: Sabina Bischoff
Kosten: gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Freitag, 12. Dezember, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Die Behandlung von chronischenKrankheiten – die MiasmenReferent: Lukas Bruhin
Kosten Fr. 110.- (SVH-Mitglieder Fr. 80.-)
Samstag, 8. März, 10:00-18:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Tag der offenen Tür
Donnerstag 20. März, 20:00 Uhr
Volkshaus Zürich
Generalversammlung SVH
Mittwoch, 26. März, 20:00 – 22:00 Uhr
Volkshaus Zürich
HeuschnupfenReferent: Daniel Trachsel
gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Freitag/Samstag, 4./5. April, 9:00 – 17:30 Uhr
Rapperswil
Fachfortbildung: AllergienReferenten: Lukas Bruhin und Daniel Trachsel
Kosten: 350.-
Donnerstag, 10. April, 13:30 – 17:00 Uhr,
Wanderung im Naturschutzgebiet Schwantenau
ParacelsusReferenten: Lukas Bruhin und Daniel Trachsel
Kosten: gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Samstag, 12. April, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
HeuschnupfenReferentin: Sabina Bischoff
Kosten: Fr. 170.-
Samstag, 10. Mai, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Die homöopathische HausapothekeDaniel Trachsel
Kosten Fr. 110.- (SVH-Mitglieder Fr. 80.-)
Montag – Freitag, 26. – 30. Mai
Tessiner Homöopathiewoche im
Hotel Castello-Seeschloss, Ascona
Dr. Phosphorus– das grosse HomöopathiespielReferenten: Lukas Bruhin und Daniel Trachsel
Kosten Fr. 700.- (inkl. Mittagessen)
Samstag, 14. Juni, 10:00 – 17:00 Uhr
Wanderung im Naturschutzgebiet Schwantenau
Verschiebedatum: Samstag, 21. Juni (Wetter !)
Der Weg der Arznei zur 30. PotenzReferenten: Lukas Bruhin und Daniel Trachsel
Kosten: Fr. 20.- pro Person / Familie
Dienstag, 17. Juni, Dienstag, 9:00 – 17:00 Uhr
Volkshaus Zürich
Medizinisch für alleReferent: Rolf Nick
Kosten: Fr. 80.- (SVH-Mitglieder Fr. 60.-)
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Vereinsleben
30
SVH Folio 1/2003
Vereinsleben
Anmerkungenzu den Kursen und VorträgenTag der offenen Tür in EinsiedelnDer Tag der offenen Tür des Museums und der Akademie
der homöopathischen Heilkunst in Einsiedeln gibt Ihnen
Gelegenheit, das Museum mit seinen Schätzen zu besich-
tigen oder sich über das Ausbildungsangebot der Akade-
mie zu informieren.
Fachfortbildung: AllergienAsthma, Heuschnupfen, Insektenallergie, Nesselfieber –
oder sonst allergisch? Das Thema gewinnt an Brisanz und
oft ist die Homöopathie die «letzte Chance». Lernen Sie
die wichtigen Akutmittel für den Notfall kennen und die
Regeln für die Behandlung des zugrundeliegenden chro-
nischen Problems. Die Fachfortbildung ist für alle Inter-
essierten geeignet – homöopathische Grundkenntnisse
sind von Vorteil.
Die homöopathische HausapothekeDie akuten Krankheiten werden durch potenzierte Mittel
aus der Hausapotheke gezielt geheilt. Am Morgen erhal-
ten Sie eine Einführung in das homöopathische Denken
und lernen die wichtigsten Akutmittel bei Unfällen und
Verletzungen kennen und anwenden. Am Nachmittag wer-
den die weiteren Mittel und ihre Anwendungen bespro-
chen. Sie lernen die Möglichkeiten und die Grenzen der
homöopathischen Selbstbehandlung kennen.
Ein Einführungskurs zur Hausapotheke für verantwor-
tungsbewusste Eltern, medizinisches Hilfspersonal und
für alle interessierten Laien.
Hausapotheke, Fortsetzung ...Sind Sie im Gebrauch der homöopathischen Hausapothe-
ke schon erfahren? Dieser Kurs richtet sich an alle, die im
Alltag die Verantwortung für sich selber oder ihre Kinder
tragen und auch in gestressten Situationen richtig han-
deln wollen. Nebst den Ihnen schon bekannten Arzneien
aus der Hausapotheke lernen sie weitere wichtige Mittel,
Tipps und Tricks kennen – für alle Notfälle. ist die Ho-
möopathie nicht machtlos. Ein Erkenntniskurs.
Die Behandlung von chronischenKrankheiten – die MiasmenWas steckt hinter der homöopathischen Behandlung von
chronischen Krankheiten wie Rheuma, Krebs oder Aller-
gien? Die Miasmenlehre gibt uns Antworten auf diese
Fragen.
Sie erhalten einen Einblick in die verschiedenen chroni-
schen Krankheiten und ihre richtige Behandlung, die
Psora, die Sykosis, die Syphilinie und die Tuberculinie.
Das Ähnlichkeitsgesetz – similia similibus curantur –
gewinnt neue Aspekte, durch welche die therapeutischen
Möglichkeiten enorm er-weitert werden. Auch bei ange-
borenen, vererbten Krankheiten.
Medizinisch für alleAuf spielerische Art lernen, die Sprache des Arztes zu
verstehen. Begriffe aus der Krankheitslehre, der Anato-
mie, Diagnose und Therapie.
Medikamentennamen verstehen. Spass mit dem Phan-
tom. Vielfältige Unterrichtsmittel. Selbstbewusstsein im
Umgang mit medizinischen Wörtern und Ausdrücken.
Tessiner Homöopathiewoche:Dr. Phosphorus – das HomöopathielernspielSpielerisch lernen statt widerwillig pauken! Unter diesem
Motto steht diese Woche im romantischen Hotel-Castello-
Seeschloss in Ascona. Sie lernen die Wissenschaft der
Homöopathie, Arzneimittel, Geschichte, Organon, Her-
stellung – und eben Spielen. Der Kurs ist geeignet für
alle, die schon mit der Homöopathie vertraut sind und
gerne mehr lernen möchten – spielend leicht. Die
Teilnehmerzahl ist auf 25 beschränkt.
Wanderung im Naturschutzgebiet Schwantenau:Der Weg der Arznei zur 30. PotenzWir wandern, botanisieren und sammeln giftige Pflanzen,
um aus ihnen eine Tinktur herzustellen und von Hand bis
zur 30. Potenz zu dynamisieren. Wir erleben die faszinie-
rende Umwandlung vom Gift zum Heilmittel. Das Ziehen
im Arm am nächsten Tag ist ein Zeugnis für die Kraft der
Schüttelschläge. Als Belohnung dürfen Sie ihre ersten
selbstgemachten Globuli nach Hause nehmen. Wander-
schuhe, Regenschutz und gute Laune erforderlich. Ein
Erlebniskurs für den Wahrheitssucher.
Mittwoch, 21. Januar 2004, 20:00 – 22:00 Uhr
Volkshaus Zürich
MenstruationsbeschwerdenReferent: Daniel Trachsel
Kosten: gratis, freiwillige Kollekte für den SVH
Samstag, 14. Februar 2004, 9:00 – 17:00 Uhr
SVH, Hauptstrasse 68, Einsiedeln
Die homöopathische HausapothekeReferent: Lukas Bruhin
Kosten Fr. 110.- (SVH-Mitglieder Fr. 80.-)
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Programm 2004 Anmeldungen mindestens zehn Tage im voraus mitbeiliegendem Talon anSchweizerischer Verein für Homöopathie, Hauptstrasse 68,8840 Einsiedeln oder Tel 055-412 57 10 / Fax 055-412 87 67 oderwww.verein-homoeopathie.ch
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www.verein-homoeopathie.ch
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Ich möchte im SVH Mitglied werden
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1/2003 SVH Folio
RedaktionSchweizerischer Verein für Homöopathie
Daniel TrachselHauptstrasse 688840 Einsiedeln
Tel: 055-412 57 10Fax: 055-412 87 67
e-mail: [email protected]
• Unser Ziel ist, die Freunde der Homöopathie zusammenzuführen undmit der Heilkunst von Dr. Hahnemann vertraut zu machen.
• Wir streben die Verbreitung der Homöopathie und die Aufklärung allerBevölkerungsschichten an.
• Wir sind politisch und religiös neutral.
• Bei uns sind Sie willkommen, ob Sie nun Laie, Homöopath oder Arzt
sind, ob Patient oder Therapeut; wir dienen der gemeinsamen Sache, derHomöopathie.
• Schnuppern kostet nichts; wir laden Sie ein, unverbindlich einen Vortragbei uns zu besuchen.
• Unser Jahresprogramm gibt Ihnen Auskunft über Vorträge, Kurse oderandere Veranstaltungen.
• Mit einem Jahresbeitrag von Fr. 55.- sind Sie bei uns Mitglied.Profitieren Sie!
• Wir freuen uns, Sie bei uns begrüssen zu dürfen.
SVHSchweizerischer Verein für HomöopathiePräsidiumHauptstrasse 68
8840 Einsiedeln
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Schweizerischer Verein für Homöopathiegegründet 1930
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Medizin der Zukunft