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Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

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Der Mensch ist trotz der Fortschritte der Zivilisation von einem erfüllten Leben heute anscheinend weiter entfernt denn je. Was hindert ihn an der vollen Entfaltung seines menschlichen Potentials? Es ist die Art und Weise, wie wir uns und unsere Welt wahrnehmen und damit unsere Wirklichkeit schaffen - so zeigt Tarthang Tulku -, die uns immer wieder in enttäuschende und destruktive Kreisläufe fuhrt. Doch die Grenzen, an die wir in allen Lebensbereichen stoßen, haben wir uns selbst gesetzt, indem wir eine bestimmte Weltanschauung akzeptiert haben und sie nun für die einzig mögliche halten. Und diese Weltanschauung läßt unser Potential verkümmern und lenkt uns in falsche Bahnen. Um aus diesem Teufelskreis ausbrechen zu können, brauchen wir eine neue Sicht der Wirklichkeit. Dieses revolutionäre Buch ist eine Einübung in eine neue Wirklichkeitsschau, die uns neue Dimensionen der Welterfahrung erschließt. So öffnet sich uns der Weg zu einer neuen Vision der Wirklichkeit und einem Denken, das zum erstenmal in der Geschichte als gemeinsame Grundlage für alle religiösen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Wege zur Erkenntnis dienen kann. Für die Taschenbuchausgabe hat der Übersetzer, ein langjähriger Schüler von Tarthang Tulku, eine neue Einführung geschrieben, die dem Leser den Einstieg in dieses Buch erheblich erleichtert. Der Autor: In Tibet geboren und aufgewachsen, wurde Tarthang Tulku von frühester Kindheit an von den größten geistigen Lehrern seines Landes in Philosophie, Medizin, Psychologie und der Erforschung des Bewußtseins durch meditative Techniken geschult. Vor einem Jahrzehnt gründete er in Berkeley, Kalifornien, das interdisziplinäre «Nyingma Institut», an dem sich Forscher aller Disziplinen treffen, um ganzheitliche Wege zur Freisetzung des menschlichen Potentials zu entwickeln. Sein Buch war Anlaß zu einem internationalen Symposium führender Wissenschaftler (darunter einige Nobelpreisträger). Es ist heute Pflichtlektüre an zahlreichen amerikanischen

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Zu diesem Buch

Der Mensch ist trotz der Fortschritte der Zivilisation von einem erfüll­ten Leben heute anscheinend weiter entfernt denn je. Was hindert ihn an der vollen Entfaltung seines menschlichen Potentials? Es ist die Art und Weise, wie wir uns und unsere Welt wahrnehmen und damit un­sere Wirklichkeit schaffen - so zeigt Tarthang Tulku -, die uns immer wieder in enttäuschende und destruktive Kreisläufe fuhrt.Doch die Grenzen, an die wir in allen Lebensbereichen stoßen, haben wir uns selbst gesetzt, indem wir eine bestimmte Weltanschauung ak­zeptiert haben und sie nun für die einzig mögliche halten. Und diese Weltanschauung läßt unser Potential verkümmern und lenkt uns in falsche Bahnen. Um aus diesem Teufelskreis ausbrechen zu können, brauchen wir eine neue Sicht der Wirklichkeit.Dieses revolutionäre Buch ist eine Einübung in eine neue Wirklich­keitsschau, die uns neue Dimensionen der Welterfahrung erschließt. So öffnet sich uns der Weg zu einer neuen Vision der Wirklichkeit und einem Denken, das zum erstenmal in der Geschichte als gemeinsame Grundlage für alle religiösen, philosophischen und naturwissenschaft­lichen Wege zur Erkenntnis dienen kann.Für die Taschenbuchausgabe hat der Übersetzer, ein langjähriger Schüler von Tarthang Tulku, eine neue Einführung geschrieben, die dem Leser den Einstieg in dieses Buch erheblich erleichtert.

Der Autor: In Tibet geboren und aufgewachsen, wurde Tarthang Tulku von frühester Kindheit an von den größten geistigen Lehrern seines Landes in Philosophie, Medizin, Psychologie und der Erfor­schung des Bewußtseins durch meditative Techniken geschult.Vor einem Jahrzehnt gründete er in Berkeley, Kalifornien, das inter­disziplinäre «Nyingma Institut», an dem sich Forscher aller Diszipli­nen treffen, um ganzheitliche Wege zur Freisetzung des menschlichen Potentials zu entwickeln. Sein Buch war Anlaß zu einem internationa­len Symposium führender Wissenschaftler (darunter einige Nobel­preisträger). Es ist heute Pflichtlektüre an zahlreichen amerikani­schen Universitäten.

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Tarthang Tulku

Raum, Zeit und Erkenntnis

Aufbruch zur neuen Erfahrung von Welt und Wirklichkeit

Aus dem Amerikanischen von Matthias Dehne

rororo

transformation

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rororo transformation Herausgegeben von Bernd Jost und Jutta Schwarz

Umschlagentwurf: Peter Keller

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg, Oktober 1986Lizenzausgabe mit Genehmigung des Otto Wilhelm Barth Verlags, im Scherz Verlag, Bern und MünchenDie Originalausgabe erschien unter dem Titel »Time, Space and Knowledge« bei Dharma PublishingCopyright © 1983 by Scherz Verlag, Bern, München, Wien für das Otto Wilhelm Barth Programm»Time, Space and Knowledge« © 1977 by Dharma PublishingAlle Rechte VorbehaltenGesamtherstellung Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany1080-ISBN 34.99180995

Scan & OCR von Shiva2012

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Inhalt

Buch und Vision - über den Umgang mit Raum, Zeit und Erkenntnis

Vorwort

Einführung

Motto

Erster Teil: RAUM

I

11

18

23

1.

2.

3.

4.

5.

Die Anwesenheit des Raumes - Offenheit und feste Oberflächen

Der Körper und die menschliche Verkörperung

Der Geist und der Ursprung von Erscheinung

Die Welt und andere Grundlagen

In der Welt sein - RAUM und ZEIT sein

27

41

62

79

95

Zweiter Teil: ZEIT

6.

7.

8.

9.

Die Anwesenheit von ZEIT — befreiende Kraft und zwingende Muster

Der Weg von der gewöhnlichen Zeit zu GROSSER ZEIT -ein Überblick

Zwischenformen der »Zeit«-Erfahrung

Eine Vision, die sich selbst in Frage stellt - die Öffnung für GROSSE Z E I T

119

133

158

180

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Dritter Teil: WISSEN

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Die Möglichkeit des WISSENS als gebietende Einsicht

Die verdunkelnde Natur gewöhnlicher Erkenntnis

Niederes Wissen - ein Hindernis und eine Gelegenheit

Das Hervortreten von GROSSEM WISSEN

GROSSES WISSEN - sein Wert und seine alldurchdringende Eigenschaft

Wissen und Totalität

WISSEN, SEIN und Menschsein

197

202

213

227

236

249

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Anhang:

Ein zusammenfassender Überblick über die Übungen

Glossar

Register

269

277

288

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Buch und Vision—über den Umgang mit Raum, Zeit und Erkenntnis

Wer als erster Wasser entdeckt hat, können wir nicht mehr feststellen. Aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit war es kein Fisch. Dafür ist das Wasser dem Fisch zu nah. Vielleicht fallt es uns aus demselben Grund so schwer, »Raum« und »Zeit« gewahr zu werden: Sie sind für alle Existenz noch grundlegender als das Wasser für den Fisch. Raum, Zeit und Erkenntnis kann über diese Schwierigkeit hinweghelfen. Das Buch, aber mehr noch die Erfahrungen mit den Übungen führen uns an ein unvoreingenommeneres, »offeneres Sehen« heran, ein würdi­gendes Gewahrsein, das von »Raum«, »Zeit« und »Wissen« ausgeht und nicht von einem »Jemand«, der »etwas« sieht oder in anderer Weise wahrnimmt. RAUM, ZEIT und WISSEN sind primär, nicht Subjekt und Objekt, nicht »Dinge« in Raum und Zeit. Dieser Schwer­punktverlagerung können wir nur schwer folgen. Sie geht gegen jede Gewohnheit, um so mehr, da sie schon in der Formulierung und Art der Darstellung angestrebt wird. So verweisen die Schreibweisen: Raum, »Raum« und RAUM auf die drei Ebenen von RAUM, die im Text behandelt werden. Ja, wir können sagen, daß die uns stellenweise vielleicht befremdliche Ausdrucksweise eine direkte Folge dieser Schwerpunktverlagerung ist: RAUM, ZEIT und WISSEN be­schreiben sich selbst, und Leser, Autor sowie alle Aussagen sind »darin« verwoben. Dies erzeugt eine hohe Spannung zwischen den Ausführungen des Buches und den Grundanschauungen, auf die wir, zum großen Teil unbewußt, unsere gesamte Existenz gründen.Aus welchem Grund aber sollten wir überhaupt den Versuch unter­nehmen, die Wirklichkeit gemäß dieser Vision als RAUM, ZEIT und WISSEN zu leben? Warum sie nicht länger vom Standpunkt des »Ich« in der »Welt« scheinbar beherrschen und doch erleiden? Diese Frage beantwortet sich von selbst, wenn wir uns anschauen, wo wir als

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Menschheit und Individuen stehen, wie wir gelebt haben und weiter­hin leben, von kleinen individuell, kultur- und sozialbedingten Abwei­chungen einmal abgesehen.Fragen wir uns einfach ehrlich: Wovon sehen und erfahren wir mehr, Freiheit oder Unterdrückung? Oder: Hat es in der bisherigen Ge­schichte dauerhafte Perioden gegeben ohne Haß, ohne Kriege, ohne institutionalisierte Gemeinheit? Oder: Wie viele Menschen können ihr Leben als Gelegenheit begreifen, ihre besten Eigenschaften und tiefsten Werte zu verwirklichen?Die Kernfrage aber lautet: Haben unsere bisherigen Modelle von Le­ben und Wirklichkeit soweit getaugt, daß sie uns erfüllen und dem Leben insgesamt dienen? Wir scheinen eine tiefsitzende Abneigung dagegen zu haben, die Grundbausteine unseres Lebens und Erken- nens zu überprüfen, vielleicht weil wir befürchten, überprüfen hieße ablehnen. Diese Annahme ist falsch. Raum, Zeit und Erkenntnis stellt zwar den Absolutheitsanspruch des Standpunktes vom »Ich« in der »Welt« und andere solche Gegensatzpaare in Frage, jedoch ohne ir­gend etwas abzulehnen oder gar zu verdammen.Raum, Zeit und Erkenntnis ist vielseitig: Daseinsanalyse und festliche Würdigung der fundamentalen Dimensionen jeglicher Existenz, praktisches Lese- und Übungsbuch und lebendige Vision in einem. Ja, es kann sogar vollwertiger Gesprächspartner sein und in der Aus­einandersetzung mit seinen Ausführungen und Übungsvorschlägen durchaus eine aktive Rolle übernehmen. Es handelt sich nicht nur um ein Buch, auf das wir unsere Vorstellungen und Gedankenketten pro­jizieren, sondern um ein sehr dynamisches Medium, das mit uns nicht weniger arbeitet als wir mit ihm. Intensive Beschäftigung mit Text und Übung wird dies zeigen.In Raum, Zeit und Erkenntnis wird nicht über »dynamische Wechselwir­kungen«, über »ganzheitliche Ansätze«, »Paradigmenwechsel« und so weiter als äußerliche von uns getrennte Phänomene geredet, die wir irgendwo »draußen« bewerkstelligen müssen. Es wird sogleich damit gearbeitet. Und zwar direkt: manchmal mit formaler Strenge, manchmal spielerisch, voll beißender Kritik und grimmigem Humor zuweilen, immer jedoch mit liebevoller Hinwendung zu unserem Dasein, unserer unmittelbaren Erfahrung. Daraus wächst mit der Zeit ganz organisch tiefere Erlebnisfähigkeit, eine verwandelte Wirklichkeitsschau.Sollte vielleicht besser heißen: kann erwachsen. Ob oder ob nicht, dar­über entscheidet allein, wie wir uns dazu stellen, wie wir mit dem Buch und seiner Vision umgehen.

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Erkenntnis wird allgemein als ein Sich-Aneignen des Sinngehalts von erlebten oder wahrgenommenen Zuständen und Vorgängen verstan­den. So auch beim Lesen. Diese Einstellung, die Erkenntnis mit Ein­verleibung von Information gleichsetzt, könnte sich bei der Lektüre von Raum, Zeit und Erkenntnis als Sperre erweisen.Von Sachbüchern und akademischen Abhandlungen und selbstver­ständlich auch aus Werken der schönen Literatur (vielleicht zum Teil mit Ausnahme der Dichtkunst) sind wir gewohnt, daß der Autor im Rahmen einer allgemein anerkannten Weltordnung seinen Stand­punkt darlegt, indem er sich auf andere Standpunkte darin bezieht, auf ihnen aufbaut, indem er andere Autoren zitiert oder zu erkennen gibt, auf welchen theoretischen und weltanschaulichen Hintergrund sich sein Werk bezieht.Raum, Zeit und Erkenntnis geht im wesentlichen anders vor. Es fehlen Referenzen und Fußnoten (nur jede Menge versteckte Anspielun­gen gibt es, die man erst noch als solche erkennen muß). Es fehlt ferner die Verankerung in einem Teilgebiet, in einer Weitsicht. Statt dessen konzentriert sich der Text auf RAUM, ZEIT und WIS­SEN und die Tatsache ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit; besser noch: die Unmöglichkeit, sie nicht zu erfahren. Kurz: Raum, Zeit und Erkenntnis ist kein Buch, das im Rahmen unserer Weltordnung Aspekte dieser Weltordnung behandelt, sondern ein Kommentar von RAUM, ZEIT und WISSEN über die Begrenztheit und Of­fenheit von Weltordnungen - ein Kryptogramm der allumfassenden Wirklichkeit. Diese Radikalität mag manchmal schwer verdaulich sein; zu brennend und intensiv, als daß man sie einfach ertragen könnte.Wahrnehmungs- und Entwicklungspsychologie lehren, daß wir am besten mit Reizen fertig werden, die weder zu neu und unbekannt noch zu alt sind und zu häufig wahrgenommen wurden. Die alten langweilen uns, also blenden wir sie aus; die völlig neuen bleiben un­verständlich, so daß wir sie gar nicht erst an uns heranlassen. Wenn wir mit dem Text von Raum, Zeit und Erkenntnis Schwierigkeiten haben, dann vielleicht aus diesem Grund: die Art der Darstellung ist zu neu und ungewohnt.Weshalb wir uns am besten langsam und allmählich mit dem Buch anfreunden. Wir können seinen »Informationsgehalt« ohnehin nicht wie eine Trophäe besitzen. Insofern gleicht es dem prozeßorientierten, organischen »Wissen«, aus und von dem es spricht.Welche praktische Konsequenzen ergeben sich daraus für den Um­

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gang und die Arbeit mit dem Buch? Der Autor empfiehlt, es zu behan­deln wie einen Gefährten - immer wieder darin zu lesen, vor allem kleinere Abschnitte; die gestellten Fragen wirklich nachzuvollziehen, die Aussagen hin- und herzuwenden und im Lichte der eigenen Erfah­rung zu betrachten. Das heißt, wir sollten anders lesen als gewohnt: gleichzeitig im Text, zwischen den Zeilen und in uns. Verbirgt sich vielleicht etwas hinter den Worten des Buches? Sprechen mich diese Worte direkt an?Wir werden außerdem um so mehr vom Lesen haben, je mehr wir dabei auf unsere Empfindungen und Erfahrungen achten und je mehr wir dafür sorgen, daß wir diese klarer wahrnehmen können.So seltsam dies im Zusammenhang mit scheinbar abstrakten Begrif­fen wie Raum, Zeit und Erkenntnis klingen mag, ein Schlüssel zum Verständnis vieler Aussagen des Buches ist der Atem: setzen wir uns beim Lesen von Raum, Zeit und Erkenntnis entspannt hin, in einer Hal­tung, die lockere Konzentration erlaubt, und atmen wir ebenso ent­spannt. Versuchen wir nicht unbedingt, die Worte zu verschlingen, sondern öffnen uns ihnen, wie wir uns dem Atemfluß geöffnet haben. Achten wir auf alles, was das Buch uns sagt, und darauf, was dies in uns bewirkt. Auf diese Weise wird das Lesen zur Meditation und uns all­mählich mit der R A U M - Z E I T - W I S S E N - Vision vertrauter ma­chen.Vielleicht geht das aber gar nicht so leicht; vielleicht stellen wir fest, daß der Atem nicht natürlich fließt, nicht völlig lebendig ist, sondern eher mechanisch und strukturiert — ein Muster, das uns gleichzeitig einschnürt und vorwärtstreibt, wie andere Verhaltens­muster es ebenfalls tun. Ja, vielleicht ist er auf seiner Oberfläche eine jener rigiden Strukturen, die in Raum, Zeit und Erkenntnis unter­sucht werden.Stellen wir dies fest, können wir erfahrungsmäßig die Beziehung zwi­schen »Raum« und Atem ausloten. Fühlen wir einfach in den Atem­prozeß hinein: Wo hört der Raum auf, aus dem wir die Atemluft ein­saugen? Wo beginnt der Atem? Wie spielen Atemraum und Brust- und Bauchraum zusammen? Und wie spüren wir dann den Raum, der uns umgibt? Zusätzlich hat der Atem natürlich eine vitale Dynamik. Ein- und ausströmend manifestiert sich in ihm die Energie der »Zeit«, die uns ihre schöpferischen Impulse dadurch überträgt. So erfahren, wird der Atem zur »In-Spiration« im eigentlichen Sinne des Wortes. Seine unendlichen Nuancen nähren und entspannen uns, so daß wir klarer wahrnehmen und weiträumiger - großzügiger und doch präziser -

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denken können. Diese Präzision wiederum ist für ein Verständnis der Nuancen von Raum, Zeit und Erkenntnis unerläßlich.Noch einige weitere Hinweise zum Lesen: Das Buch ist weniger linear als zirkulär aufgebaut. Es ist deswegen nicht notwendig, daß man es sogleich von Anfang bis Ende durchliest, um es kennenzulernen. Sie können anfangen, wo immer Sie wollen. Vielleicht fühlen Sie sich von einigen Kapitel- und Übungsüberschriften besonders angezogen. Fangen Sie dort an oder, je nach Veranlagung, auch dort, wo Sie einen Widerstand spüren, wo Sie eigentlich nicht hinschauen wollen. »WISSEN, SEIN und Menschsein«, das klingt verlockend; »Die An­wesenheit von ZEIT - befreiende Kraft und zwingende Muster« tönt hingegen eher herausfordernd. Ganz gleich wo Sie anfangen, sollten Sie den Text jedoch in seiner Gesamtheit durcharbeiten.Wenn Sie sorgfältig lesen, werden Sie außerdem bald entdecken, wie häufig der Text Ihnen Fragen beantwortet, sei es zur Lektüre oder zu den Übungen. Es sind an vielen Stellen kleine Hinweise und Ver­ständnishilfen eingebaut. Man sieht sie nur nicht sofort. Manchmal offenbaren sie sich auch erst, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Das Buch gleicht in dieser Hinsicht einem verborgenen Schatz, der auch nach seiner Veröffentlichung noch ein wenig versteckt bleiben möchte und sich dem allzu eifrigen Plünderer entzieht. Man muß seine raubgierige Ungeduld nach »Erkenntnissen« oder »Erleuch­tungen« schon ein wenig zügeln, wenn man wirklich etwas aus dem Buch lernen möchte.

Wollen Sie in konzentrierter Form etwas über den Umgang mit Buch und Übungen wie über die Tragweite der Vision erfahren, ist eine wiederholte Lektüre von Vorwort und Einleitung des Autors hilfreich sowie der zusammenfassende Überblick über die Übungen. Für mich persönlich waren die Kapitel 11 und 16 besonders motivierend, die Vision als Übungsweg zu praktizieren. Andere bekommen vielleicht durch andere Stellen den Anstoß dazu. Die Kapitel 1, 6 und 10 fassen jeweils die Ausführungen des folgenden Teiles des Buches zusammen. Der Text selbst hebt zwar alle solchen Vorbehalte aus den Angeln, trotzdem kann man nicht genug betonen, daß Raum, Zeit und Erkenntnis nicht das Ziel hat, den Leser oder Übenden in irgendwelche trance­artigen »Räume« hineinzumanövrieren oder anderweitig am Gängel­band zu fuhren. Es geht nicht per se um besonders transzendente und erleuchtende Erfahrungen, sondern um eine ernsthafte Untersu­chung. Diese Untersuchung zeigt, daß selbst die unvorstellbarsten

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Zustände »veränderten Bewußtseins« noch geöffnet werden können und - als RAUM, ZEIT und WISSEN - nicht vom Menschsein zu trennen sind. Das heißt: sie sind letztlich nicht »transzendenter« als »wir«, obwohl sie vielleicht diese Tatsache unserer in diesem Sinne ungewöhnlichen »Transzendenz« erlebbar machen. Und trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - haftet der Vision eine besondere Ma­gie an, die sich und uns über die Ebene der Phänomenologie und des Existentialismus hebt. Wie, das können Sie vielleicht mit Hilfe der Ausführungen über das »Zeitigen« sowie den ZEIT-Übungen nach­vollziehen.Die Arbeit an der Übersetzung von Raum, Zeit und Erkenntnis hatte wesensmäßig sehr viel mit seinen Übungen gemein. Es war eine Übung, die sich über gut 18 Monate hinzog. Die Übungen ergänzen den Text. Sie lassen uns unsere eingefahrenen Wahrnehmungsstruk­turen und letztlich selbstzerstörerischen Verhaltensmuster in Frage stellen, durchschaubar machen und transzendieren. Dies ist beim Übersetzen zumindest in dem geringen Maße geschehen, das ich zulassen konnte - und fühlte sich keineswegs immer angenehm und leicht an.Die Übersetzung lief durch zahlreiche Fassungen. Viele haben daran mitgewirkt. Nicht jede Hilfe war zuerst willkommen. Manchmal fühlte sich das Ich des Übersetzers arg gekränkt und mißverstanden, wenn es vorhatte, was es immer vorhat: seine Position und Meinung verfestigen und bloß keinen Zentimeter Boden preisgeben! Die Strate­gie ist bekannt. So leben wir.Ich hatte doch den Übersetzungsauftrag bekommen. Ja, ich war sogar ans Nyingma-Institut Tarthang Tulkus in Berkeley gereist, um das Buch zu übersetzen. Da wurde mir vom Lehrer jemand zur Seite ge­stellt, der ein gänzlich anderes Sprachverständnis besaß als ich und zudem eine ausgeprägte Kritikfähigkeit. Reibereien konnten nicht ausbleiben. Nicht nur mein Übersetzungsstil wurde zerzaust, sondern meine ganze Einstellung wurde in Frage gestellt und transparent gemacht. Schmerzlich war das, ja wäre wohl unerträglich geworden, wenn nicht allabendliches Üben und Aussprechen im Rahmen eines zehnmonati- gen Intensivprogrammes Raum, Zeit und Erkenntnis hätten lebendig werden lassen.Als ich das Manuskript überarbeiten wollte, gab es eine neue Überra­schung. Ich sollte einem meiner Lehrer, Hal Gurish, meine gesamte Übersetzung Wort für Wort mündlich ins Amerikanische zurücküber­setzen. Ich war wütend. Dies hielt ich für ausgemachten Schwach­sinn, weil überflüssig; es war ja alles schon in bester Ordnung, kein

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Grund, noch viel zu ändern. Und: hatte ich nicht bereits alles verstan­den? Zudem war Hai unerbittlich. Im Zweifelsfall lautete seine Ma­xime: Kannst du nicht näher am Originaltext bleiben? So wurde das Manuskript nochmals völlig durchgepflügt und war danach kaum wiederzuerkennen. Aber es hatte unendlich viel gewonnen: an lebhaf­tem, keineswegs einseitigem Dialog, die vielen Erläuterungen haupt­sächlich an gelebter Erfahrung. RAUM, ZEIT und WISSEN waren keine starren und überhöhten Begriffe mehr; vielmehr vibrierten sie und waren ganz nah: zu nah, um sie zu greifen. Auf diese mündliche Rückübersetzung folgten noch zwei Überarbeitungen, die die Lesbar­keit verbesserten, eine in Berkeley, eine letzte in Zusammenarbeit mit dem deutschen Lektor.Sie sehen, an dieser Übersetzung haben viele gute Freunde mitgear­beitet (erstaunlich bleibt, daß wir uns über dieses Projekt nicht zer­stritten, sondern letztlich zusammengefunden haben). Wie das Ori­ginal reflektiert also auch die deutsche Fassung nicht nur eine Posi­tion im »Raum«, sondern die positionslose Sicht der Vision. Diese positionslose Sicht ist allerdings nur möglich, wenn wir Wissen nicht als unseren Besitz betrachten, sondern in »Wissen« mit ande­ren kommunizieren. Alle werden dadurch reicher, keiner verliert et­was.Die Übungen lehren uns, viele Standpunkte, Meinungen und An­schauungen zu durchleuchten. Sie bringen versteckte Faktoren ans Licht, die unser Leben beherrschen, die wir aber gewöhnlich nicht einmal wahrnehmen. Allerdings gehen weder Text noch Übungen so­weit, uns eine neue, »ideale« Seinsweise der ersten Ebene vorzugeben. Es geht nicht um Patentrezepte für unsere gewöhnliche Existenz, son­dern darum zu sehen, wie RAUM, ZEIT und WISSEN durch alles hindurchscheinen und unserem Dasein damit eine ganz unerwartete Wende geben: der RAUM, den wir überall suchen, ist »mit uns«; die ZEIT, die uns immer entgleitet, ist »mit uns«; das WISSEN, das außer unserer Reichweite scheint, ist »mit uns«.Am Anfang scheint es wichtig, daß beim Üben alle Elemente des sich in uns verkörpernden »Wissens« mitspielen. Dazu sind Atem und Haltung wichtig. Konzentriert und doch entspannt; hellwach, aber ruhig; offen und präzise zugleich — so sollen wir sitzen und uns mit der von den Übungen vorgegebenen, weitmaschigen Struktur auseinan­dersetzen. Dabei werden viele, ganz unterschiedliche Erfahrungen auf­tauchen, die wir alle in Betracht ziehen. Es geht nicht darum, daß wir ein besonderes Erlebnis anstreben. Es geht vielmehr darum zu sehen,

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was eigentlich passiert, wenn wir die Grundelemente unserer Erfah­rung der RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision aussetzen.Wenn uns die Übungen dann vertrauter sind, können wir sie auf viele Situationen anwenden. So können Sie zum Beispiel Übung 30 unend­lich variieren. Was geschieht, wenn Sie bei dieser Subjekt-Objekt- Umkehrung einem Berg gegenübersitzen oder einem Baum, oder Ih­rer Partnerin, Ihrem Partner, einem Fremden, einer Mauer, einem Grab, einem Marien- oder Buddhabildnis, oder gar durch ein Waren- haus eilen, durch einen U-Bahnhof und so weiter? Wie fühlt man sich bei Übung 30 in den verschiedenen Umgebungen? Welche Rück­schlüsse ziehen Sie daraus für Ihr Leben?Raum, Zeit und Erkenntnis wird uns wenig geben können, wenn wir dar­aus nur neue Anschauungen, mehr gewöhnliche Erkenntnisse gewin­nen wollen. Setzen wir uns seiner Vision jedoch aktiv aus, werden wir vielleicht »sehen«, daß das in Kapitel 16 angesprochene SEIN überall ist und alles durchdringt. Und zwar in einer Weise, die uns und unsere gewöhnliche Erfahrung einschließt. Wir müssen nicht zwischen einem unfaßlichen SEIN und unserem gewöhnlichen Dasein wählen. Das wäre nur die Vergewaltigung des »Gewöhnlichen« durch soge­nannte »Spiritualität« — ein weiterer verengter »Raum«, der zudem aggressiv besetzt sein könnte.Soviel mehr ließe sich noch erläutern, näher ausführen. Auch wenn Raum, Zeit und Erkenntnis für sich selbst spricht, ist es eine Freude, dies zu tun, und für die Praxis und Arbeit mit Buch und Vision vielleicht hilfreich. Dies hoffe ich zumindest.In der R A U M - Z E I T - W I S S E N - Vision steckt ungebändigte Le­benskraft. Claudio Naranjo fand nach seiner längeren Begegnung mit ihr sehr schöne Worte dafür. Sie verdeutlichen, warum sich der sorg­fältige und intensive Umgang mit diesem Buch vielleicht lohnt: «Die Zeit, und nur die Zeit wird zeigen, welchen Eindruck dieses Buch in unserer Kollektivseele hinterlassen kann. Wird es ein Geheimnis blei­ben, das sich selbst schützt, verfügbar zwar, aber nicht wirklich assi­miliert? Wird man seinen Wert erkennen, anerkennen, daß es die höchsten Lehren in einer für unser Zeitalter angemessenen Form kommuniziert? Wird es vielleicht das Bewußtsein vieler beeinflussen, weil es einige wenige heilt und erleuchtet? Wir wissen es nicht. Die Zeit wird es zeigen.»

Geitendorf, im Juni 1986 Matthias Dehne

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Vorwort

Im Grunde braucht die R A U M - Z E I T - W I S S E N - Vision kein Vor­wort, denn man könnte mit einiger Berechtigung sagen, daß sie sich selbst geschrieben hat. Auf einer anderen Ebene war es ein gewalti­ges Projekt, dieses Buch zu schreiben, ein Projekt, das viele Jahre lang im Brennpunkt meiner Aufmerksamkeit stand. Aus diesem Grunde möchte ich dem Leser gern etwas von dem Hintergrund vermitteln, der sowohl diese Wirklichkeitsschau selbst als auch ihre Ausformulierung möglich gemacht hat. Zu diesem Zweck mag es hilfreich sein, etwas von meinem Leben zu erzählen.

Ich wurde in A-skyong im Zentrum von Golok in Osttibet gebo­ren, wo die Leute ihre Herkunft auf die frühen tibetischen Könige zurückführen. Mein Vater, Sog-po Tulku, ein inkarnierter Lama, war in vielen der wichtigsten spirituellen Traditionen Tibets ausge­bildet und übte gleichzeitig das Amt des Dorfarztes aus.

Ich war dazu ausersehen, die Familientradition fortzusetzen, und deshalb widmete man mir sehr viel Aufmerksamkeit und kümmerte sich sehr um meine Ausbildung. Meine Mutter lehrte mich bereits im frühen Kindesalter lesen und schreiben, und von meinem sech­sten bis zu meinem zwölften Lebensjahr erhielt ich von mehreren ausgezeichneten Lehrern Privatunterricht. Mein Vater fungierte ebenfalls als mein Lehrer; er unterwies mich in einer Reihe von meditativen Disziplinen und wies mir den Weg spiritueller Integra­tion. Er war der mitfühlendste Mensch, den ich kenne.

Als ich zwölf Jahre alt war, wurde ich zum Kloster Tarthang geschickt, um dort unter der Obhut meines älteren Bruders zu stu­dieren. Da ich mit diesem Kloster sowohl durch eine Inkarnationsli­nie als auch durch die Mitgliedschaft meines Vaters besonders ver­bunden war, wurde ich vom dortigen Dekan für akademische Stu­

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dien unterrichtet und von ihm durch eine ganze Reihe von traditio­nellen philosophischen Schriften geführt. Zusätzlich erhielt ich Un­terricht in Disziplinen, die eine Spezialität der Nyingmapa (Anhän­ger der ältesten Schule des tibetischen Buddhismus) sind. Darüber hinaus hatte ich Gelegenheit, so unterschiedliche Fächer wie Litera­tur, bildende Kunst, Dichtkunst, Kalligraphie und Medizin zu stu­dieren. Obwohl die Schulung und die Disziplin im Kloster sehr streng waren, habe ich später ihren großen Wert schätzen gelernt.

Als meine Schulung in der buddhistischen Lehre und Medita­tionspraxis zunehmend an Hefe und Intensität gewann, führte eine ungewöhnliche Entscheidung dazu, daß ich in meinem siebzehnten Lebensjahr auf Reisen geschickt wurde, um mich unter Lehrern in entfernten Gegenden Tibets weiterzuschulen. Ich besuchte etwa vierzig Hauptklöster und erhielt von vielen erleuchteten Meistern Unterweisungen. Dabei lernte ich die Hauptaspekte der meditati­ven Traditionen dieser Zentren kennen.

Während ich älter wurde und meine Schulung voranschritt, öffne­ten sich mir immer mehr Gebiete der Philosophie und der meditati­ven Praxis, und ich hatte die - selbst in Tibet - seltene Gelegenheit, von erleuchteten Meistern, den direkten Bewahrern fast erloschener Linien mündlicher und textlicher Überlieferungen, persönliche Un­terweisungen zu empfangen. Mein Hauptlehrer, Khentse Tschöki Lodrö, war wegen der Unermeßlichkeit seines Wissens und der Tie­fe seines Mitgefühls einer der geachtetsten Lamas in ganz Tibet. Meine Einsicht war natürlich begrenzt; doch dank der unendlichen Güte meiner Lehrer erlangte ich zumindest einen allgemeinen Überblick über die grenzenlose Weite ihres Wissens. Es ist mein größter Wunsch, diese tiefen Lehren, soweit es in meinen Kräften steht, zu erhalten und mit anderen zu teilen.

Nach Jahren der intensiven Schulung zwangen mich die Wirren in Tibet dazu, meine Heimat als Flüchtling zu verlassen. Ich war da­mals gerade fünfundzwanzig Jahre alt. Unter der Schirmherrschaft der indischen Regierung erhielt ich 1963 einen Lehrauftrag für buddhistische Philosophie an der Sanskrit-Universität in Benares. Zu jener Zeit wurden sich die Indologen zunehmend des reichen Materials bewußt, das im Sanskrit-Original verlorengegangen und nur in tibetischer Übersetzung erhalten und verfügbar ist. Gleichzei­tig nahm auch das Interesse an originär tibetischen Werken zu. Zum Verständnis dieser beiden Komplexe schriftlicher Überlieferung ist ein mündlicher Kommentar durch jemanden, der in der entspre­

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chenden Tradition geschult ist, unbedingt erforderlich. Aufgrund dieser Stellung an der Universität, die ich über sechs Jahre innehat­te, war ich also in der Lage, mein Verständnis der tibetischen Tradi­tion mit Gelehrten aus Ost und West zu teilen.

Obwohl das Interesse an der tibetischen Tradition zu wachsen begann, bestand zu jenem Zeitpunkt doch die Gefahr, daß viele tibetische Schriften verlorengehen würden. Es war anzunehmen, daß selbst die wenigen Texte, die die Flüchtlinge aus Tibet mitbrin­gen konnten, bald dem indischen Klima zum Opfer fallen würden. Ich gründete deswegen eine Verlagsanstalt und Druckerei, um eini­ge seltene, aber wichtige Texte verfügbar zu machen.

Mein erster Kontakt mit der westlichen Wissenschaft und mein Interesse an ihr gehen ebenfalls auf jene Zeit zurück. Und eben dieses Interesse, meinen Hintergrund mit jenen zu teilen, die aus den westlichen Traditionen kommen, führte mich schließlich vor mehr als einem Jahrzehnt zusammen mit meiner Frau in die Verei­nigten Staaten. Diese Jahre in Amerika sind sehr reich und frucht­bar gewesen. Viele Menschen haben mit mir und meiner Familie daran gearbeitet, das gewaltige Erbe der tibetischen Tradition zu erhalten. Hier konnte ich meine Absicht verwirklichen, ein Forum für unterschiedliche Wege zu Erkenntnis und Wissen zu schaffen. Seit seiner Gründung im Jahre 1973 hat das Nyingma Institut in Berkeley, Kalifornien, als ein solches Forum fungiert. Hunderte von Psychologen, Natur- und Geisteswissenschaftlern haben sich am Nyingma Institut getroffen, um das Wesen des menschlichen Da­seins zu erforschen.

Als ich mit dem westlichen Gedankengut, insbesondere mit den naturwissenschaftlichen Vorstellungen und Begriffen näher vertraut wurde, sah ich die Möglichkeit, ein visionäres Medium zu entwik- keln, welches es den verschiedenen Wissenschaften und Religionen ermöglicht, in ihrem Streben nach Erkenntnis einen gemeinsamen Grund zu entdecken. Das Auffinden eines solchen gemeinsamen Grundes könnte dazu dienen, die Wertschätzung der einzelnen Gruppen füreinander zu vertiefen und damit die Erkenntnissuche selbst zu erleichtern. Meine Ausführungen sollen also keine Darle­gung des traditionellen buddhistischen Denkens sein; sie lassen sich nicht unter die Rubrik irgendeiner bestimmten Philosophie oder Religion einreihen. Sie mögen jedoch helfen, einige der Fragen zu klären, die von den traditionellen meditativen Disziplinen aufge­worfen werden.

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Bald nachdem die Idee in mir gereift war, diese Wirklichkeits­schau in Buchform vorzustellen, entspann sich eine enge Zusam­menarbeit mit meinem langjährigen Schüler Steve Tainer, in deren Verlauf ich ihm die Einzelheiten dieser Vision darlegte. Seine Ver­trautheit mit der westlichen Philosophie sowie seine Fähigkeit, Vor­stellungen in Worte zu fassen, die den Rahmen der gewöhnlichen Sprache oder Philosophie sprengen, sind eine unschätzbare Hilfe gewesen.

Mehr als dreitausend Seiten mündlicher Darlegungen der neuen Wirklichkeitsschau wurden von Bandaufnahmen transkribiert und bildeten die Grundlage für das ursprüngliche Manuskript. Durch einen mühsamen Prozeß, in dessen Verlauf eine Reihe von Zwi­schenfassungen und Umarbeitungen entstanden und während des­sen jede Zeile, jeder Satz sorgfältig überprüft wurden, haben wir es schließlich geschafft, diese Seiten in die vorliegende Form zu brin­gen. Während der verschiedenen Stadien dieses Prozesses haben viele Freunde und Kollegen das Manuskript gelesen, und ihre wert­vollen Hinweise wurden in die endgültige Fassung eingearbeitet. Dies ist also wahrhaft ein Werk, das aus der Geduld und Hingabe vieler guter Freunde erwachsen ist.

Um diese Wirklichkeitsschau in gewöhnlicher Sprache formulieren zu können, war es notwendig, von vertrauten Begriffen auf eine neue Art und Weise Gebrauch zu machen. So beziehen sich zum Beispiel die Begriffe »Raum«*, »Zeit«* und »Wissen«* auf besondere Be­reiche der Einsicht und auf subtile Facetten der Erscheinung. Unser gewöhnlicher Raum und unsere gewöhnliche Zeit sind uns vertraute Aspekte eines fundamentaleren »Raumes« und einer fundamenta­leren »Zeit«, die in ihnen wirksam sind. Diese Begriffe verweisen zudem auf bestimmte Ebenen von »Raum« und »Zeit«, wie sie von einem bestimmten »Wissen« wahrgenommen und gewürdigt werden- einem »Wissen«, das alle Aspekte der Erfahrung »umfängt«. Ob­wohl wir uns gewöhnlich auf einer bestimmten Ebene »einrichten«, bleibt uns doch die Gelegenheit, andere Ebenen zu erforschen, wenn wir dies wünschen. Und überdies bieten die »Dimensionen«, die wir als G R O S S E N R A U M * , G R O S S E Z E I T * und G R O S S E S

* Das Glossar im Anhang gibt Hinweise darauf, wie bestimmte Begriffe in diesem

Buch verwendet werden; ihre volle Bedeutung erschließt sich jedoch erst durch

den Überblick über den Gesamtkontext des Buches. Begriffe, die bei ihrem ersten

Auftreten im Text mit einem hochgestellten * gekennzeichnet sind, werden im

Glossar erläutert.

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W I S S E N * bezeichnen, die Möglichkeit, derartige »Räume«, »Zei­ten« und alle begrenzten Formen von »Wissen« gänzlich zu trans­zendieren.

Da diese Vision drei sich überschneidende Aspekte hat und sich weniger linear als zirkulär darbietet, mag zuweilen der Eindruck der Wiederholung entstehen. Die immer wiederkehrenden Themen gleichen jedoch den verschiedenen Facetten eines Kristalls. Durch langsames (und wiederholtes) Lesen lassen sich auch die durch jede dieser Facetten »gebrochenen« subtileren Eigenschaften der hier dargebotenen Vision würdigen. Wie man jedoch den ganzen Kristall sehen muß, um seine volle Wirkung zu erfassen, so läßt sich auch diese Wirklichkeitsschau nur dann in ihrer ganzen Fülle erfassen, wenn man das Buch als ein Ganzes betrachtet. Hier können wir nur eine allgemeine Idee von seinem Ziel vermitteln: Als eine geeinte Sichtweise des Daseins könnte diese Vision eine gelebte Erfahrung des ganzen Spektrums menschlicher Werte ermöglichen, mag sie uns begreiflich machen, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Um dem Leser die direkte Erfahrung dieser Vision zu erleichtern, wurden der theoretischen Darstellung fünfunddreißig Übungen bei­gegeben. Die theoretische Diskussion und die praktische Übung ergänzen sich derart, daß sie bei fortschreitender Beschäftigung mit dieser Sicht der Wirklichkeit auf immer neue Art und Weise inein­andergreifen und immer umfassendere Bereiche der Erfahrung er­schließen. Wiederholtes Lesen wird zu verschiedenen Zeiten jeweils ein anderes Verständnis hervorbringen und drei hauptsächliche Ebenen der Einsicht freilegen. Einige Passagen und Übungen mö­gen zu Anfang schwierig und undurchsichtig erscheinen. Durch fort­gesetztes Lesen und Üben werden die verschiedenen Facetten des Kristalls jedoch zunehmend klarer werden.

Die Begriffe RAUM, ZEIT, WISSEN und SEIN sind die Angel­punkte dieser Wirklichkeitsschau. Was hier zu jedem einzelnen dieser Begriffe gesagt wird, klingt auch in den Ideen verschiedener anderer zeitgenössischer Wissensgebiete und Theorien an. Wenn Ihnen je­doch solche Parallelen auffallen, mag es sich als hilfreich erweisen, die Ausführungen und Übungen einer noch näheren Betrachtung und Untersuchung zu unterwerfen, um sowohl die Unterschiede als auch die Ähnlichkeiten in bezug auf die Hefe der Einsicht, den Zusammenhang und die Anwendung zu erkennen, die zwischen den hier geäußerten Ideen und anderen bestehen. Auf diese Weise las­sen sich vorschnelle Interpretationen vermeiden, so daß Sie die

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Nutzanwendung, die Werte und Resultate, die für diese Vision ei­gentümlich sind, sehen und in die Praxis umsetzen können.

Visionen wird zumeist in einer dichterischen Sprache Ausdruck gegeben, und vielleicht wäre die besondere Qualität, die wir ge­wöhnlich mit Visionen assoziieren, deutlicher hervorgetreten, wenn das Buch mehr die Form einer Dichtung angenommen hätte. Eine dichterische Sprache ist jedoch zu wenig präzise für einige der Kern­fragen, die ich hier zu behandeln wünschte, insbesondere für jene Gesichtspunkte, die den Bereich der modernen wissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen betreffen.

Deswegen schienen für die erste Darbietung dieser Wirklichkeits­schau die Sprache und der Stil, die in der Philosophie allgemein üblich sind, besonders geeignet. Sie erlauben uns, eine Wirklich- keitsschau darzustellen, die auf der Ebene der Ratio und der Analy­se ansetzt und dann weiterwächst und sich aus sich heraus entfaltet. Eine solche rationale, systematische Untersuchung kann zu einer meditativen Erforschung beitragen und ist sogar unbedingt erfor­derlich, wenn wir unseren vollen Wert als menschliche Wesen wahr­nehmen und würdigen wollen.

Eine integrierte, natürliche Intelligenz, die nicht in Verstand, Ge­fühle, Empfindungen und Intuition aufgesplittert ist, stellt unseren größten Schatz dar und ist unser Schlüssel zum Fortschritt. Den Bereich unserer Erfahrung mit einer solchen Intelligenz zu erfor­schen, kann ein inspirierendes Unternehmen sein. Wird zum Bei­spiel beim Lesen dieses Buches eine solche offene Intelligenz ins Spiel gebracht, dann kann selbst der Lese- und Denkprozeß zu ei­nem visionären Pfad werden. Indem wir einen theoretischen mit einem eher erfahrungsorientierten Ansatz kombinieren, können wir beginnen, unser Leben tatsächlich zu verändern.

Es scheint, daß jetzt die Zeit gekommen ist, die Zeit für ein neues Wagnis, für eine Vision, die alle Aspekte des Seins integriert und vereinigt und damit ein breites, unendlich offenes und kraftvolles würdigendes Gewahrsein des Lebens anregt. Raum und Zeit selbst haben nun eine solche Wirklichkeitsschau dargeboten, und ich hoffe, daß diese der Welt von heute eine Hilfe sein wird. Dieses Geschenk von RAUM und ZEIT in eine Sprache und in Begriffe zu über­setzen, die uns verständlich und geläufig sind, war eine schwere Aufgabe. Aber ich würde sehr glücklich sein, wenn meine grundle­gende Absicht - eine neue und erfüllendere Einstellung zum Leben anzuregen - sich auch nur in bescheidenem Maße verwirklicht. Je­

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des menschliche Wesen hat die Gelegenheit, zu dieser Sicht der Wirklichkeit zu gelangen . . . und wenn sie einmal verwirklicht wur­de, dann ist sie in allen Situationen, die das Leben mit sich bringt, zugänglich und bedeutsam.

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Einführung

Die Möglichkeiten, in unserem Leben und in unseren zwischen­menschlichen Beziehungen Erfüllung zu finden, sind unendlich. In­dem wir lernen, mit der Essenz unseres Seins unmittelbar in Verbin­dung zu treten, können wir eine grenzenlose Freiheit entdecken, die nicht nur ein Freisein von irgendwelchen äußeren Beschränkungen, sondern der dynamische Ausdruck der Bedeutung und des Wertes des menschlichen Seins ist. Wird diese eigentliche Freiheit zu einer gelebten Wirklichkeit, so ergeben sich daraus ganz natürlich alle anderen Freiheiten.

Um diese höchste und schöpferischste Dimension unserer Erfah­rung zu erforschen, benötigen wir zuerst ein durchdringendes und umfassendes Verständnis unserer Situation - sowohl auf der persön­lichen als auch auf der globalen Ebene. Die Situationen, in denen wir uns finden, sind jedoch oft dermaßen komplex, daß wir uns, auch wenn wir uns wünschen mögen, auf die bestmögliche Weise zu handeln, in Kreisläufen gefangen finden, die enttäuschend und un­produktiv zugleich sind. Zu wirklich konstruktivem Handeln benöti­gen wir größere Klarheit und ein umfassenderes Wissen.

Daß es uns an einem solchen Wissen und Verstehen fehlt, ist - auf vielen verschiedenen Ebenen - die Wurzel unserer Probleme. Der nichtwissende Geist* verewigt ein Gefühl der Getrenntheit unserer »persönlichen« Welt* von der Welt der »anderen«. Diese Aufspal­tung und Ent-Zweiung ist auf der sozialen und mehr noch auf der globalen Ebene offensichtlich. Umgekehrt wird unsere Bewußtheit für unseren persönlichen Raum und für unsere persönliche Zeit um so enger, je achtloser wir für die Faktoren werden, die unser soziales Umfeld und unsere Umwelt ausmachen.

Wir verfangen uns in den Komplikationen unseres Lebens, und es

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fällt uns immer schwerer, uns wirklich für etwas zu interessieren, das sich außerhalb unserer persönlichen Sphäre befindet. Die Gesell­schaft setzt den Rollen, die wir zu spielen haben, so enge Grenzen, daß wir der tieferen Werte und uns offenstehenden Möglichkeiten des Lebens nicht mehr gewahr sind. Anstatt unsere innige Verbun­denheit mit allen anderen anzuerkennen, errichten wir vereinzelte Festungen der Ichbezogenheit, deren Aufrechterhaltung und Ver­teidigung unsere dauernde Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Diese Verfestigung und Verteidigung des Ich führt zu einem Gefühl der Isoliertheit und des Ungleichgewichts - zu einem Verlust der Menschlichkeit - und beschränkt unser gegenseitiges Verstehen da­mit noch mehr.

In dem Versuch, unsere Isoliertheit zu durchbrechen, mögen wir uns in die verschiedensten Vergnügungen stürzen oder uns durch persönliche Macht und persönlichen Besitz Genugtuung zu ver­schaffen suchen. Anstatt uns jedoch Wachstums- und entwicklungs­fähige Lösungen für unsere Probleme zu bringen, engen solche Be­strebungen uns - und unsere Perspektiven - nur noch mehr ein. Manchmal hat es den Anschein, daß wir in einem Labyrinth von Formalitäten und undurchdringlichen Oberflächen umherwandern. Wir büßen die Fähigkeit ein, die natürliche Anwesenheit* und den Fluß der Kommunikation wahrzunehmen und zu würdigen, und da­mit den Raum, der alle unsere künstlichen Schranken durchdringt.

Die Disharmonie unseres Lebens spiegelt sich in unseren Versu­chen wider, unsere Umwelt zu kontrollieren, und ebenso in den Zuständen, die sich daraus ergeben. Allzu häufig versuchen wir, die Welt um uns herum zu unserem unmittelbaren Nutzen und unserer persönlichen Bequemlichkeit auszunutzen, ohne dabei irgendeine breitere Perspektive in Betracht zu ziehen. Indem wir solche eng­stirnig konstruierten Absichten in die Tat umsetzen, stören wir das natürliche Gleichgewicht in einer Weise, die für uns und andere gegenwärtige und zukünftige Probleme verursacht.

Die Auswirkungen, die unsere begrenzten Perspektiven auf unse­re Umwelt haben, werden immer offensichtlicher. Wenn uns das Wissen (und vielleicht auch die Motivation) fehlt, diese Auswirkun­gen auszugleichen, machen wir manchmal einfach nur den technolo­gischen Fortschritt für den Mangel an Gleichgewicht in unserem Leben und im allgemeinen Zustand der Welt verantwortlich. Wir würden gern zu einfacheren und weniger chaotischen Zeiten zu­rückkehren. Wir können jedoch die Bedeutung der Technik als Mit­

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tel zur Verwirklichung unserer Ziele nicht bestreiten, und in der Tat sind Technik und materieller Fortschritt nicht an sich zerstörerisch.

Die Bevorzugung eines Ansatzes, der mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie die Wirklichkeit verstehen und Probleme lösen möchte, hat dermaßen beeindruckende und nützliche Ergebnisse hervorgebracht, daß der größte Teil der Welt begonnen hat, diesem Beispiel zu folgen. Damit sind jedoch viele Kulturen nun im Begriff, ihr Erbe aufzugeben, auch wenn dieses kulturelle Erbe oft Einsich­ten einschließt, die für eine ausgewogene Lebensperspektive - und sogar für den Erfolg der wissenschaftlichen Methode zur Lösung von Lebensproblemen - unbedingt erforderlich sind.

Die hochentwickelten Industrienationen haben die Welt dazu verleitet, diesen Weg (unter Ausschluß anderer Ansätze) einzu­schlagen. Wir sollten uns nun unserer Verantwortung dafür bewußt werden, ein Gleichgewicht wiederherzustellen, eine Integration von materiellem Fortschritt und den tieferen Werten der Menschheit. Wenn zwischen diesen beiden Arten zu denken ein Gleichgewicht herrscht, kann die Technologie als eine sehr wertvolle und schöpfe­rische Kraft genutzt werden.

Es ist unzweifelhaft ein Erfolg der Wissenschaft, daß sie uns eine gewisse Freiheit geschenkt hat, indem sie uns in die Lage versetzte, unsere Umwelt zu beherrschen. Diese Herrschaft ist jedoch nur dann befriedigend, wenn sie durch eine eher persönliche oder indi­viduelle Freiheit ergänzt wird. Und natürlich läßt uns auch eine solche persönliche Freiheit immer noch in vieler Hinsicht einge­schränkt. Die denkwürdigsten dieser Beschränkungen sind ein grundlegender Mangel an Raum, um darin zu leben, an Zeit, um davon Gebrauch zu machen, und an Wissen, um sich seiner zu er­freuen. Um wahre Unabhängigkeit und Erfüllung zu finden, müssen wir eine innere Freiheit entwickeln, die sich auf die Verfügbarkeit eines Zuganges zu diesen drei Dimensionen des Lebens gründet. Man könnte meinen, daß sich auf der Grundlage der gesellschaftlich verbrieften Freizügigkeit - Bewegungsfreiheit und Freiheit des Denkens - eine solche innere Freiheit ganz natürlich entwickelt; dies muß jedoch nicht der Fall sein.

Um uns unserer natürlichen Intelligenz zu öffnen, müssen wir zuerst unser Verstehen »freisetzen«. Wir müssen die Möglichkeiten, die uns von Raum, Zeit und Wissen dargeboten werden, wahrneh­men und würdigen. Wenn wir unsere Betrachtungsweise entspre­chend erweitern, werden wir sehen, daß uns jederzeit weiter Raum,

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befreiende Zeit und einfühlsames Wissen zur Verfügung stehen. Deswegen ist diese innere Freiheit die Inspiration aller anderen Freiheiten und liegt ihnen zugrunde.

RAUM und ZEIT sind nicht nur Hintergründe oder stützende Medien für unsere gewöhnlichen Bestrebungen und Erfahrungen. Sie können für eine ganz eigene und unmittelbare Stärkung unseres Menschseins* oder unserer menschlichen Natur sorgen, die sonst nur indirekt durch die Jagd nach sinnlicher und emotionaler Befrie­digung Nahrung zugeführt bekommt. Unsere Einstellungen, Emo­tionen und sogar unsere Handlungen sind gewöhnlich ziemlich »be­engte« Seinszustände. Wir können Wissen dazu benutzen, Raum und Zeit aufzuschließen und persönliches Wachstum und persönli­che Integration anzuregen. Die befreiende Anwesenheit von Raum und Zeit zeigt uns daß in allen stagnierenden und bedrückenden Gegebenheiten tatsächlich noch Spielraum für Bewegung und Wachstum ist. Wir brauchen also nicht aus diesen Situationen zu flüchten. Wissen vermag eine neue Seinsweise anzuregen, in der man die üblichen Schwierigkeiten und Konflikte, welche in unserem alltäglichen Leben auftreten - und die zur gegenwärtigen Situation der Welt zu gehören scheinen -, in einem neuen Licht sehen kann. Sie sind nicht mehr so festgefahren und unlösbar. Wenn diese Erfah­rungen eine offenere und durchscheinendere Qualität gewinnen, sind wir eher dazu in der Lage, auf natürliche Weise in unserem Leben und auf der Welt Gleichgewicht und Harmonie herbeizu­führen.

Öffnen wir alle unsere Perspektiven und Sinne und lernen wir, das Leben ganzheitlich zu betrachten, können wir sehen, daß die Zeit, der Raum und das Wissen, welche uns einengende Grenzen gesetzt haben, dies nur tun konnten, weil sie unzureichend hinter­fragt, erforscht und gewürdigt wurden. Was immer wir erfahren, wir können lernen, es als Raum und Zeit anzuerkennen.

Während sich unsere Wahrnehmung von Zeit und Raum öffnet, beginnen wir, eine neue Art des Wissens zu würdigen, ein Wissen, das über alle Dualität und alle Dichotomien hinausgeht und all­durchdringend ist. Dieses Wissen kann uns lehren, das spielerische Wesen aller Situationen zu begreifen. Wir vermögen uns der natürli­chen Tendenz unserer Energien* zu öffnen, in Richtung auf eine Erforschung von Verstehen und Schönheit zu fließen - hin zu den tieferen Werten des Menschseins.

Ist unsere Perspektive einmal hinreichend geöffnet, vermag man

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alle Erfahrung als das dynamische Spiel von RAUM, ZEIT und WISSEN zu erkennen. Die der Erscheinungswelt innewohnende Schönheit, die der Tanz von ZEIT, RAUM und WISSEN ist, entfal­tet sich dann natürlich vor und mit uns. Dann ist es uns möglich, unser Sein, das sich als dynamische und vollkommene Freiheit ma­nifestiert, unmittelbar zu erfahren. Auf diese Weise entdecken wir, was es bedeutet, wahrhaft ein Mensch zu sein.

Indem wir unser Vermögen des würdigenden Gewahrseins noch weiter entwickeln, beginnen wir schließlich, unsere Situation in ei­ner globaleren Perspektive zu sehen. Wir gewinnen eine ausgewoge­nere Sichtweise der Grenzen unserer Bevorzugung des Materiellen sowie einen Blick für das, was nötig ist, diese einseitige Ausrichtung zu ergänzen und zu vervollständigen. So erlangen wir schließlich ein wahres Gleichgewicht. Indem wir die Fähigkeit des würdigenden Gewahrseins vergrößern - die sich auf die breitestmögliche Basis gründet und trotzdem vollkommen flexibel bleibt kann die ganze Menschheit Erfüllung finden und geeint werden.

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Motto

Können wir sehen, ohne einengende Positionen einzunehmen, dann ist als innerstes Herz der Wirklichkeit eine wunderbare Vision ver­fügbar. Diese Vision kreist um RAUM, der ursprünglich friedvoll und offen ist. Diese Offenheit manifestiert sich als ein Zulassen vieler verschiedener Sichtweisen, die alle im RAUM hervorquellen, dahin­fließen und einander begegnen. Obwohl in vollkommener Ruhe, ist RAUM doch von Erscheinungen angefüllt. Aus diesem Grunde ist RAUM nicht statisch, sondern eine friedvolle Explosion sich weiter und weiter entfaltender Kreativität, die alle Äonen von Vergangen­heiten und Zukünften ausfüllt, ohne damit seine Offenheit zu er­schöpfen oder seiner Befähigung Grenzen zu setzen, eine noch grö­ßere Fülle von Anwesenheiten zu offenbaren.

In seinem Hervortreten ist alles Teil eines Balletts, das vom RAUM getanzt wird. Der Tanz ist grenzenlos, weitschwingend, ja unermeß­lich. Jeder Tänzer springt auf, sondert sich ab und tritt wieder zurück, ohne jemals von der Offenheit des RAUMES getrennt zu sein.

Farben, Formen, alle Erfahrung-Kunst, Musik, Philosophie­sind Ausdrucksweisen des RAUMES. Auch wenn sie in ihrem Tanz ineinander verwoben sind und sich gegenseitig vollkommen durch­dringen, bleiben sie doch eine freifließende Anwesenheit durch­scheinender Konturen und Oberflächen. Jede Verwicklung, jedes Zusammentreffen ist ein tiefes und geheimnisvolles Spiel von zen­traler Wichtigkeit, welches das nicht nachweisbare, mittelpunktlose Zentrum der Wirklichkeit markiert. Jede individuelle Anwesenheit ist dieses unbegrenzte, mittelpunktlose Zentrum . . . RAUM.

Wenn eine einzelne Feder und tausend Welten In gleichem Maße dieser Raum sind.Wer kann dann noch sagen, welches das Enthaltende Und welches das Enthaltene ist?Wer kann die Grenzen ausfindig machen,Die die Fülle und den Reichtum Des Lebens einengen könnten?

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Erster Teil

RAUM

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Die Anwesenheit von RAUM - Offenheit und feste Oberflächen

1. Kapitel

Was immer wir tun, wohin wir auch gehen, was auf dieser übervöl­kerten Oberfläche von Interaktionen, die unsere Welt konstituieren, auch geschieht - da ist auch noch der Himmel. Der Himmel ist vielleicht das naheliegendste Beispiel für Raum, zudem jedoch ein sehr wichtiges Symbol. Ganz gleich wie verwickelt, beengt und an­gespannt unser Tun sein mag, der Himmel ist ebenfalls anwesend . . . unmittelbar über allem.

Der Himmel ist ein vertrauter - wir könnten vielleicht sogar sa­gen »lokaler« - Vertreter des Raumes und hat als solcher Anteil an dem für uns typischen Interesse für Abgrenzungen. Auch wenn er sich in seiner Weite, seiner Offenheit und Hefe betrachten läßt, stellen wir uns selbst den Himmel als eine Abgrenzung vor - als eine uns einschließende sphärische Oberfläche. Sobald wir ihn jedoch auf diese Art und Weise ansehen, werden wir durch eben diesen Akt an die wesentlich weiteren und offeneren Räume des Sonnensy­stems, der Milchstraße und des Universums erinnert.

Auch inner- oder unterhalb der undurchlässigen und harten Oberflächen, die uns und unsere Begegnungen definieren, ist Raum. Nicht greifbare, unermeßliche psychische Räume machen die Per­son aus, deren Körper wir als abgegrenzt und lokalisiert ansehen. Im Innern jedes Körpers oder Objekts sind makroskopische und mi­kroskopische Räume. Und alle Räume scheinen wiederum für die Anwesenheit von Objekten zugänglich zu sein. Die Gedanken sind »in« den Bewußtseinsräumen. Organe, Moleküle, Atome und sub­atomare Teilchen einerseits, Planeten, Sterne und Milchstraßen an­dererseits . . . alle bewegen sie sich in ihren Räumen.

Unsere Wahrnehmung verschiedener Räume und »Dinge«* re­flektiert unterschiedliche Ebenen und Arten der Betrachtung. Nur

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weil wir eine ganz bestimmte »Brennweiteneinstellung«* oder Per­spektive aufrechterhalten, kommen auf jeder Ebene der Betrach­tung Objekte zum Vor-Schein. Der fundamentale, absolute oder undurchlässige Charakter, den einige Dinge für uns haben, beruht auf unserem Widerstreben, an dieser auf einer bestimmten »Brenn­weiteneinstellung« beruhenden Sichtweise etwas zu ändern oder auf unserer Annahme, eine solche Änderung sei unmöglich.

Es gab eine Zeit, da niemand daran dachte, zum »Innern« des Atoms vorzudringen. Aber schließlich versuchte man es und ent­deckte dort ungeheure Räume und Energien, fand zu einem neuen und durchdringenden Verständnis der makroskopischen Welt. Neue Zeiten bringen neue Möglichkeiten mit sich, und unsere gegenwärti­ge Zeit läßt uns vielleicht neue Räume in Gebieten entdecken, in denen zu suchen früher undenkbar gewesen wäre. So mag es zum Beispiel möglich sein, in enger Verbindung mit jedem jener Gedan­ken*, jener Sinneseindrücke, jener Oberflächen, jener begrifflichen Kategorien, die unsere erlebte Welt ausmachen, eine Art Raum zu entdecken. Die Verfügbarkeit solcher Entdeckungen ist einzig und allein eine Frage unserer besonderen »Brennweiteneinstellung« oder Perspektive.

Was wir aufgrund einer gegebenen »Einstellung« (= »Brennwei­teneinstellung«), als feste oder undurchsichtige »Dinge« wahrneh­men, definiert als Gegensatz das, was wir als den »Raum« dieser betreffenden Ebene wahrnehmen. Wenn wir nur den scheinbar fe­sten Dingen und dem Raum, von dem sie sich abheben, Beachtung schenken, wie diese von einer bestimmten Einstellung hervorge­bracht werden, können wir weder das tatsächliche Wesen des Da­seins noch das der Erscheinung* erkennen.

Im Laufe der gesamten Geschichte haben wir eine starre und einengende »Brennweiteneinstellung« aufrechterhalten, ohne uns dessen auch nur bewußt zu sein. Auch wenn die uns bekannte Welt völlig von dieser »Einstellung« abzuhängen scheint, brauchen wir nur die Einstellung zu wechseln, um ein phantastisches neues Wis­sen vom Leben erwerben, es auf phantastische Weise neu wahrneh­men und würdigen zu können.

Der Gedanke, neue Räume zu entdecken, mag auf den ersten Blick als ein rein abstraktes, intellektuelles Unterfangen erscheinen. Tatsächlich wurzelt er jedoch in dem dringenden Bedürfnis, zu dem Gefühl des Eingeengtseins und der Beschränkung, das jeder von uns tagein, tagaus erlebt, eine Alternative zu finden. Innerhalb der mo­

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dernen Gesellschaften hat dieses Gefühl eines Mangels an Raum auf der persönlichen psychischen sowie auf der zwischenmenschlichen gesellschaftlichen Ebene zu der Erfahrung von Verwirrung, Kon­flikt, Ungleichheit und einer allgemein negativen Lebenseinstellung geführt. Wir müssen feststellen, daß wir sowohl als Individuen als auch als größere Gruppen oder Nationen unsere Grenzen streng definieren und festlegen und einen Großteil unserer Energie darauf verwenden, diese Grenzen zu sichern und zu verteidigen. Beginnen wir jedoch, unsere Perspektive zu öffnen und in unseren unmittelba­ren Erfahrungen neue Dimensionen des Raumes zu entdecken, dann nehmen Angst und Frustration, Folgeerscheinungen unseres Gefühls der Begrenztheit, ganz von selbst ab. Wir sind zunehmend befähigt, auf uns selbst, auf andere und auf unsere Umwelt feinfüh­lig und wirkungsvoll einzugehen.

Wenden wir neue Brennweiteneinstellungen an und sehen, auf welche Art und Weise sie wirken, mögen wir ein allumfassendes Verstehen erreichen, welches selbst eine Art Raum ist. Darüber hin­aus erklärt dieses »Verstehen«, welches auch ein »Raum« ist, alles, bringt alles zum Ausdruck und ist alles. Auch wenn eine solche Vorstellung unserer gewöhnlichen Weitsicht zu widersprechen scheint - ein Verstehen, eine »Vision«, kann selbst die offenbarende Grundlage aller Wirklichkeit sein. Schon eine einfache Betrachtung unseres gewöhnlichen Raumes mag uns helfen offenzulegen, daß diese umfassende Vision des »Raumes« in etwas begründet ist, das GROSSER RAUM genannt werden könnte.

Nicht nur über und jenseits von uns ist Raum, Raum ist auch in uns und umgibt uns. Die Objekte sind niemals wirklich hartgefro­ren. In allen Objekten und um alle Objekte ist Raum, Platz für Geschehen . . . und so sind sie in Bewegung, auch wenn sie einfach bloß dasind. Woher kommen sie? Wo sind sie? Wohin gehen sie? Es scheint, auch darauf lautet die Antwort wiederum »Raum«. Schau­en Sie sich um und denken Sie darüber nach. Lassen Sie Ihre Wahr­nehmung von den Assoziationen hervorgelockt werden, die wir mit dem gewöhnlichen Begriff »Raum« verbinden.

Raum zu finden, scheint gar nicht schwierig zu sein. Aber: Was ist Raum eigentlich? Wenn wir uns diese Frage gewöhnlich auch nicht stellen, käme uns darauf doch wahrscheinlich die folgende Antwort in den Sinn: Raum ist etwas, das Objekten und Ereignissen »Raum gibt«. Diese simple Definition scheint jedoch nicht ganz zutreffend

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zu sein, denn physikalischer Raum tut eigentlich gar nichts. Ferner stehen der wahrgenommene Raum und sein Inhalt in einer Wechsel­beziehung und definieren sich gegenseitig, so daß der Raum, der in einer Situation sichtbar wird, nicht grundlegender ist als die Objek­te. Vielleicht gibt es also gar keinen »Raum an sich« - oder doch zumindest keinen, der irgendeinen positiven Sinn hat.

Es gibt jedoch Grund genug, diese Schlußfolgerung in Frage zu stellen: Wenn eine eingeengte Brennweiteneinstellung auch Objek­te zeigen mag, enthüllt eine Änderung der Einstellung doch Raum. Überdies »benötigen« die Objekte der Ausgangssituation Raum, um existieren zu können, und das »Sehen der Objekte und des Raumes« findet ebenfalls in einer Art Raum statt. Raum ist überall, und er ist an sich durchaus wichtig, auch wenn sich einige seiner Aspekte nicht losgelöst von Objekten und von Ereignissen definie­ren lassen.

Es ist also zumindest recht und billig zu sagen, daß der Raum - ebenso wie die »Dinge« - auf einer bestimmten Ebene einer Be­trachtung wert ist, und daß der Raum-Aspekt unermeßlicher als der Ding-Aspekt ist. Er umfaßt alles, was uns bekannt ist, und führt uns darüber hinaus . . . uns immer weiter und weiter rufend. Anstatt jedoch diesem unendlichen und transzendenten Charakter des Rau­mes Beachtung zu schenken, beschäftigt sich die Energie des Ver­standes lieber mit dem Versuch, mit dem ungeheuren Reichtum an Informationen Schritt zu halten, die über die Objekte erhältlich sind. Unterdessen bleibt Raum, anders als die Objekte, auf eine unauffindbare und unfaßliche Art und Weise unendlich.

Auf jeder Ebene der Betrachtung können wir Objekte entdek- ken, die uns locken, unser Interesse wecken und uns beschäftigen, aber wir finden dort auch unermeßlich mehr Raum. Und indem wir über diesen Raum nachsinnen, mag es uns möglich werden, uns zu öffnen und eine Ebene der Entspannung und der Befriedigung zu erfahren, mit der wir aufgrund unserer Vorliebe für die Dinge nor­malerweise nicht in Berührung kommen können. Versuchen wir je­doch, diesem Raum an sich nachzugehen, dann mögen wir in Ver­wirrung stürzen oder in eine Art von »Bewußtlosigkeit«. Während uns Raum um die Objekte herum gewissermaßen angemessen, not­wendig und beruhigend erscheint, mag uns Raum in den Objekten schon beunruhigen. Und Raum an sich betrachtet, mag sinnlos oder vielleicht sogar bedrohlich erscheinen.

Da sich unsere gewöhnliche Weitsicht durch eine ihr eigentümli­

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che Vorliebe für greifbare Dinge - Existenz, Existentiale*, Interak­tionen, Ursachen und ihre Wirkungen sowie Ereignisse - auszeich­net, ist es schwierig, Raum an sich zu betrachten. Wollen wir erklä­ren, »wie die Dinge sind«, dann müssen wir für die von uns vorge­schlagenen Erklärungen gewöhnlich irgend etwas aus dem bekann­ten Bild mit seiner »Ding-als-Ursache«-Orientierung auswählen. Es wäre jedoch hilfreich, diese Ausrichtung zeitweilig umzukehren und mehr auf die Bedeutung der Anwesenheit des Raumes zu achten.

Die Objekte scheinen in vieler Hinsicht vom Raum abhängig zu sein, wenn es auch zutreffend ist, daß sie den sie umgebenden Räu­men - zumindest nach allen üblichen Sichtweisen - weder unterge­ordnet sind noch von ihnen verursacht werden. Aber sie sind, wie sich der mikroskopischen Betrachtung enthüllt, faktisch größtenteils Raum. Die die Makro- oder Mikro-Ebene konstituierenden Ele­mente »brauchen« Raum, um anwesend zu sein, und es stellt sich außerdem heraus, daß sie selbst größtenteils Raum sind.

An einem gewissen Punkt mögen wir uns nun fragen, ob die für uns typische Hervorhebung der »Objekte« und unsere relative In­differenz dem Raum gegenüber nicht etwa fehlgeleitet sind. Ist Exi­stenz* »im Grunde« tatsächlich Raum? Könnte der Raum selbst vielleicht jenes grundlegende Wesen der Wirklichkeit sein, nach dem wir an anderem Orte suchen oder um das wir uns einfach nicht kümmern?

Wir haben gesehen, daß es schwierig ist, gewöhnliche Arten von Raum als unabhängig oder als Grundlage der Existenz abzusondern, denn wahrgenommener Raum hängt eng mit der Vorstellung des wahrgenommenen Objekts zusammen, während physikalischer Raum an der für unsere »normale« Sicht der Wirklichkeit typischen Dichotomie von Existenz und Nichtexistenz teilhat. Die Objekte sind da, existieren, aber der physikalische Raum ist »nichts« - Nichtexistenz. Ein »Nichts« kann weder in irgendeiner sinnvollen Weise für sich selbst stehen, noch kann es für irgend etwas anderes als Ursache dienen.

Doch selbst die gewöhnlichen Vorstellungen von Raum können in mancher Hinsicht durchaus wesentlich sein. Was den physikalischen Raum angeht, ist das offensichtlich, denn wir haben das Gefühl, daß er zumindest insofern fundamental ist, als er ohne die Objekte exi­stieren kann. Der umgekehrte Fall wird gewöhnlich nicht für wahr gehalten, das heißt: Die Objekte sind von der Anwesenheit des Raumes »abhängig«. Außerdem mag sogar im Falle des wahrge­

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nommenen Raumes, in dem die Wahrnehmung von Raum im Ge­gensatz zu den Dingen ein einziger Vorgang ist (in welchem die beiden Aspekte einander ergänzen), eine Art »Raum« oder Offen­heit gegeben sein, die für das Auftreten der Wahrnehmung von Anwesenheiten oder Abwesenheiten grundlegend und notwendig ist.

Wir können die allgemeinen Beziehungen und Kontraste, die nach unserer Betrachtungsweise gewöhnlich zwischen dem Raum und den Dingen bestehen, als einen interessanten und aufschlußreichen Aspekt unseres gesamten Erfahrungsbereiches sehen. Sie mögen uns darauf aufmerksam machen, daß unsere gewohnte Wirklichkeit ein Ausdruck oder eine Erscheinungsform einer anderen, geeinte­ren Wirklichkeit sein könnte, sich jedoch in einer Weise entfaltet hat, die dualistischen Kategorien große Bedeutsamkeit beimißt, so daß wir die Wirklichkeit in den Begriffen von »Etwas« und »Nichts« auffassen. Und doch kann Information, die eine höhere, geeintere Ordnung betrifft, niemals in endgültigem Sinne verlorengehen. Sie kann höchstens neu angeordnet oder in eine Form gegossen werden, die Doppeldeutigkeit zuläßt. Dies würde bedeuten, daß die Per­spektiven auf höherer und niederer Ebene auf solch doppeldeutige Darbietungen* gegründet sind.

Es ist eine sehr nützliche und positive Folge dieser Doppeldeutig­keit, daß selbst die konventionellen Dichotomien in einem symboli­schen oder »inspirierten« Sinn den Ausdruck einer Einheit höherer Ordnung bewahren. Es ist sehr aufschlußreich, daß Raum und Ob­jekte koexistieren, wobei der Raum entspannend wirkt und uns erlaubt, uns zu öffnen, während er eine erschreckende, beängstigen­de Leere darstellt, wenn wir ihm an sich nachgehen. Die Koexistenz von Raum und Objekten wird noch vielsagender durch die Tatsa­che, daß wir unsere Brennweiteneinstellung verändern und Raum entdecken können, wo wir vorher Objekte gesehen haben und sogar Objekte, wo wir vorher Raum gesehen haben. Auch hierbei hebt sich der entspannende Charakter des Raumes in interessanter Weise von der Tendenz der Objekte ab, uns in endlose und geistig be­schränkte Unterfangen hineinzulocken. Diese Überlegungen brau­chen nicht bloß poetische Tagträume zu bleiben; wir müssen sie uns nur auf eine bestimmte Art und Weise nutzbar machen. Sie können heilende und treffende Symbole einer Wirklichkeit* sein, die sich nicht aussperren läßt, ob sie nun in ihrer Erscheinung unserer kon­ventionellen Weitsicht entspricht oder nicht.

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Diese symbolträchtigen Darbietungen unserer Wirklichkeit kön­nen praktisch nutzbar gemacht werden. Betrachten wir das Dasein mit der Wahrnehmung unseres »geistigen Auges« - ihm »innen« und »außen« und »hin« und »zurück« nachgehend - so scheint es, daß wir keine andere Wahl haben, als eine Art von Raum als grund­legend anzusehen. Je gründlicher und eingehender wir diese Erfor­schung durchführen, desto stärker macht sich diese Tendenz be­merkbar. Raum scheint der Ursprung und der Ruhepunkt aller Exi­stenz zu sein.

Wir wollen einmal für einen Augenblick alle logischen Analysen beiseite lassen und damit fortfahren, das Kommen und Gehen der Dinge mit unserem »geistigen Auge« zu betrachten. Es scheint fast, daß ein Objekt, welches »hier« ist, aus einem vergangenen Zustand von leerem Raum in Erscheinung getreten ist, diesen Raum benö­tigt, um »hier«* zu sein, und von einem zukünftigen Zustand abge­löst wird, der wiederum leerer Raum, »Nichtexistenz« ist.

Es scheint, als würde Raum in Raum hineinprojizieren - das ist alles! Selbst das, was den Raum als ein in der Gegenwart existieren­des Objekt auszufüllen scheint, ist ebenfalls Raum. Das heißt also:

RAUM PROJIZIERT RAUM IN DEN RAUM

Überdenken Sie dieses Bild allen Daseins und allen »Geschehens« für einige Zeit.

In den meisten konventionellen Anschauungsweisen ist dieses Bild des »Raumes, der Raum in den Raum projiziert«, entweder unan­nehmbar oder nur in einer Weise richtig, die keine praktischen Kon­sequenzen hat. Trotzdem ist es eine interessante Wahrnehmung, auch wenn sie durch die konventionellen Vorwegnahmen zu den Begriffen »Raum«, »Objekt«, »Existenz« und »Nichtexistenz« un­annehmbar gemacht wird. Diese neue Betrachtung von Raum küm­mert sich nicht um konventionelle Wahrheiten. Sie gibt uns auch keine reduktionistische Antwort, etwa dadurch, daß sie die gewöhn­liche Vorstellung »Raum« zum primären Faktor der Wirklichkeit erwählt. Statt der konventionellen Ebene des Zweckdenkens, der »Dinge« und des »Raumes«, verhaftet zu bleiben, können wir uns die Tatsache zunutze machen, daß derartige gewöhnliche Gegen­stände machtvolle Symbole einer höheren und primäreren Ebene bleiben. In einem ganz bestimmten Sinn läßt sich der gewöhnliche

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Raum - durch eine Wahrnehmung oder besser noch eine »Vision« - als mit dem Urgrund aller Existenz verwandt erfahren.

Machen wir uns Gedanken über den Raum, weil wir unsere Un­tersuchung der Existenz so weit wie möglich vorantreiben wollen, dann wird unsere Bewußtheit in neue Arten von Räumen geführt, bis wir schließlich eine Art von Raum erreichen können, der - in mehr als nur symbolischem Sinne - der Grund von allem ist. An­fänglich ist es jedoch wichtig, dem Raum Beachtung zu schenken, wie wir ihn gewöhnlich erfahren, denn ein solches Gewahrsein kann eine Pforte sein, die zu einem umfassenderen Bereich des Verste­hens und damit zur Lösung von gewöhnlich unlösbaren Problemen führt.

Unter den Gegebenheiten unserer relativ fixierten Reaktionsmu­ster ist es anfänglich schwierig, unser Verstehen mit Hilfe einer Betrachtung von Objekten zu vertiefen. Es ist deswegen hilfreicher, unsere Aufmerksamkeit auf den Raum selbst zu richten. Sogar auf dieser gewöhnlichen Ebene ist der Raum nicht einfach ein »Nichts«. Auf den Raum zu achten, kann deswegen für die menschliche Be­wußtheit eine machtvolle und heilsame Erfahrung sein.

Eine derartige Beschäftigung mag, wenn sie auf die richtige Art und Weise durchgeführt wird, zu einer neuen Art von »Brennwei­teneinstellung« führen - einer Art von Brennweiteneinstellung, die nicht bloß eine Makro- oder Mikroanpassung innerhalb eines be­stimmten Raumes ist. Im Gegensatz zu der alten öffnet diese neue Art der Brennweiteneinstellung tatsächlich qualitativ neue »Räu­me«, in denen die gewöhnliche Bewußtheit und ihre schwerfälligen begrifflichen Strukturen unwirksam sind.

Wenn man von diesen »höheren Räumen« aus schaut, erkennt man, daß Ketten von Ereignissen - selbst jene, die sich innerhalb unseres gewöhnlichen Raumes abspielen - nichts anderes als eine Art von »Raum« sind, der »Raum« in den »Raum« projiziert. So­lange wir jedoch nicht wirklich von dieser höheren Ebene von Raum aus sehen können, wird eine derartige Orientierung nur annähernd korrekt sein, vielleicht ein Symbol oder eine Arbeitshypothese. Und als solche scheint sie zu den gewöhnlichen Kategorien und Unter­scheidungen in Gegensatz zu stehen - es sei denn, wir haben ein Gespür für ihren Zweck und die ungeheure Weite ihrer Anwen­dungsmöglichkeiten .

Neben dem gewohnten wahrgenommenen Raum »unseres Berei­ches«* ist, als eine Funktion einer ganz bestimmten Brennweiten­

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einstellung, stets auch noch eine durchdringendere Bedingung an­wesend, die »niederer Raum«* genannt werden könnte. Solange wir nicht alternative Einstellungen oder Anpassungen entdeckt haben, bemerken wir nicht, daß diese Bedingung des »niederen Raumes« wirksam ist. Haben wir niederen Raum jedoch einmal durchschaut, wird uns klar, daß diese Bedingung alles beeinflußt, was auf unserer Welt geschieht. Wie die neue Vorstellung von »Raum«, die von einigen Zweigen der modernen Physik vertreten wird, diesen als ein aktives strukturierendes Medium ansieht, das nicht von den »Ob­jekten im Raum« isoliert werden kann, ist dieser »niedere« oder »lokale« Raum für den Charakter der Erscheinungen und Ereignis­se verantwortlich, die man »im Raum« wahrnimmt.

Nehmen wir alles, was sich in unserem Bereich ereignet, dem Augenschein nach an und sind uns nicht der strukturierenden Macht dieses niederen Raumes bewußt, dann wird die Entscheidung un­wahr und täuschend in dem Sinne, daß uns dann ihre erfüllenderen und bedeutsameren Dimensionen entgehen. Es ist, als würden wir von einem kleinen lokalen Beamten manipuliert, dessen Macht ei­gentlich von einer höheren Regierungsstelle herrührt und dessen Handlungen nur die Absichten dieser Regierung vollstrecken. Die­ser kleine Beamte informiert uns weder über die Quelle noch über den Zweck seiner Anordnungen - vielleicht maßt er sich ja auch heimlich Regierungsgewalt an -, und so können wir unsere Lage nicht der Wirklichkeit gemäß einschätzen. Wir sprechen einer In­stanz Kräfte und Verbindungen zu, die sie eigentlich gar nicht oder doch nur sekundär besitzt.

Dieses Bild eines versteckt »regierenden Beamten« stellt nicht nur unsere besondere Existenzbedingung des niederen Raumes dar, sondern trifft in unterschiedlichem Maße auch auf andere Räume zu. Es gibt unendlich viele Räume, die auf verschiedene »Brennwei­ten« - oder erkenntnismäßige Einstellungen zurückgehen. Jeder Raum hat seine eigene, auf subtile Weise begrenzende Dynamik. Wir könnten unsere Brennweiteneinstellung öffnen, um jeden ein­zelnen dieser Räume freizulegen, und sie endlos lange erkunden. Es geht jedoch nicht einfach nur darum, andere Räume zu entdecken, jeden mit seiner eigenen Sichtweise. Vielmehr kann eine richtig geleitete Reise durch einige dieser Räume zu der Wahrnehmung führen, daß sie sinnvoll geordnet werden können - »höhere« und »größere« Räume im Gegensatz zu »niederen« und »kleineren« Räumen.

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Höher bedeutet umfassender, offener und einschließender. Hö­here Räume schließen niedere Räume in dem Sinne ein, als sie nicht so sehr darauf bedacht sind, einen Inselcharakter zu bewahren - sie sind gewährender, können mehr beherbergen. Aus eben diesem Grund spiegeln sie den Großen Raum wider. Einsichten, die wir in höheren Räumen gewinnen, sind deshalb auch in niederen Räumen gültig - sie sind nicht einfach nur Beschreibungen der Topographie eines bestimmten Gebietes im Gegensatz zu der eines anderen.

Dies ruft ein Bild konzentrischer oder ineinander ruhender Räu­me hervor; jeder dieser Räume läßt mehr zu als der Raum unter oder in ihm. Versuchen wir zum ersten Mal, uns in einen anderen Raum zu begeben, scheint es, daß wir wegen der relativen Undurch­lässigkeit oder Unduldsamkeit unseres gegenwärtigen Raumes dort­hin durchstoßen und mit Gewalt Vordringen müssen - daß wir die »Gesetzmäßigkeiten«* unserer Ebene »durchbrechen« müssen, um »ausbrechen« zu können. Im allgemeinen scheint uns eine strenge Entweder-oder-Logik zu gelten - entweder sind die Dinge »so« oder sie sind »anders«. Deswegen mögen sich unsere ersten Bemü­hungen um Transzendierung ein wenig extrem ausnehmen, und der neue Raum mag für einige Zeit seltsam aussehen. Haben wir uns jedoch an den neuen Raum gewöhnt und schauen von dieser neuen Warte zurück auf unseren alten Raum, dann mag uns der alte Raum fremd Vorkommen. Unsere Fähigkeit zuzulassen, zu beherbergen, muß größer und ausgeglichener werden.

Auch wenn das Ordnungsprinzip hier Offenheit oder Aufnahme­fähigkeit ist, ist GROSSER RAUM - als der höchste Ausdruck dieses Prinzips - auf ziemlich einmalige Weise offen. Das Bild inein­andergeschachtelter Räume - alle voneinander verschieden, mehr oder weniger beherbergend, höhere und niedere - bricht sowohl hinsichtlich der höheren Räume als auch im Hinblick auf GROS­SEN RAUM in sich zusammen. Im allgemeinen zeichnet sich das Zulassen der höheren Räume dadurch aus, daß sie in geringerem Maße als niedere Räume als für sich allein bestehende und geson­derte Gebiete abgegrenzt sind.

Lernen wir also, uns in höhere Räume zu begeben, gewinnen wir ein besseres Verständnis der Probleme, die in den niederen Räumen zwar relevant, dort aber unlösbar sind. Dichotomien wie »Existenz« und »Nichtexistenz«, »Objekt« und »Raum« werden im Licht ande­rer - und zudem exakterer - Auffassungen aufgelöst. Es gibt Pro­bleme, die sich nicht auf der Ebene der Vorstellungen lösen lassen,

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auf der sie formuliert wurden, und zu verschiedenen Ebenen von Raum gehören verschiedene Antworten und verschiedene »unbe­antwortbare Fragen«.

Diese Dichotomien und Fragen sind oft die besten Hinweise dar­auf, welche Facetten einer höheren Botschaft lokal blockiert oder verstümmelt wurden. Wenn wir sie, anstatt sie für schwer zu bewäl­tigende Probleme zu halten, als interessante Symbole und Fingerzei­ge ansehen, helfen sie uns vielleicht, uns zu öffnen. Verschiedene Kanäle, die in unserem Bereich zwar verfügbar, jedoch blockiert sind und brachliegen, werden sich vielleicht öffnen und wieder funk­tionieren . . . wir können weiter und weiter reisen, uns immer mehr öffnend.

Schließlich mögen wir einen Raum entdecken, der keine begriffli­chen Vorstellungen mehr mit sich bringt, denn begriffliche Vorstel­lungen sind nur Anzeichen der relativen Undurchsichtigkeit und des relativen Widerstandes eines bestimmten Raumes. Gedanken, be­griffliche Vorstellungen und Unterscheidungen sind das Produkt ei­nes »Raumes«, der als eine Kammer gedacht werden kann, die nach allen Seiten abgeschlossen ist und die Einwirkungen von »außen« filtert und hemmt - die Schatten wirft und verursacht, so daß es innerhalb ihrer Mauern zu Echos oder Zusammenstößen, Beschie­ßungen und Zersplitterungen kommt. Raum sollte zulassen, er sollte für die Dinge offen sein und ihnen Raum geben. Aber in unserem gewöhnlichen Raum ist »Raum geben« zu »einen Raum machen« geworden - niederer Raum gleicht einer auf allen Seiten geschlosse­nen Einfriedung.

Gelingt es, die Mauern oder Wände durchlässig zu machen, ohne daß neue Mauern und Standpunkte errichtet werden, wird die Vor­stellung von einem Außen und einem Innen abgeschwächt, und inne­re Zusammenstöße und Interaktionen werden nicht mehr erfahren. Dies kommt dann GROSSEM RAUM nahe. Obwohl dieser offenere und beherbergendere Raum von unserem üblichen Zustand grundle­gend verschieden zu sein scheint, treffen derartige Vergleiche und Unterscheidungen auf ihn nicht zu. Sie werden nur von dem begren­zenden Standpunkt des niederen Raumes aus wahrgenommen. Dies will nicht nahelegen, daß es »im« Großen Raum, anders als in den niederen Räumen, keinerlei funktionale begriffliche Vorstellungen und Unterscheidungen gibt. Großer Raum ist kein bestimmter Zu­stand, der sich durch die Anwesenheit oder Abwesenheit bestimm­

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ter Dinge auszeichnet. Er kennt keine begrifflichen Vorstellungen und folglich auch keinen »Großen Raum, der durch die Abwesen­heit begrifflicher Vorstellungen gekennzeichnet ist«. Großer Raum ist nicht ein »Ding« und ist nicht von unserem niederen Raum ver­schieden.

Die Eigenschaft des Gewährens, deren höchste Entwicklung der GROSSE RAUM darstellt, vollendet sich genau an dem Punkt, an dem die Vorstellung von einem Raum einstürzt, der in größerem oder geringerem Ausmaß ein Ding zuläßt oder beherbergt. Die Of­fenheit und die gewährende Eigenschaft des GROSSEN RAUMES sind am größten, wenn sie nicht durch die Vorstellung von einem »Ding, das zuläßt«, gefiltert werden.

Man sagt oft, zu wirklicher Großzügigkeit gehöre zu geben, ohne irgendwelche Erwartungen zu hegen und ohne sich selbst für den Wohltäter eines anderen zu halten. Obwohl wir dabei die Logik von »Gebender«, »Geben« und »Empfänger der Gabe« nicht in Frage stellen, fühlen wir, daß es stimmig und angemessen ist, den Geben­den nicht hervorzuheben. Diese allgemein anerkannte Intuition kann uns ein Symbol sein, das das Wesen einer höheren Ebene reflektiert. Auf dieser Ebene findet ein »Erschaffen«, ja sogar eine »göttliche Fürsorge« auch dann statt, wenn es eigentlich keinen »Ausführenden« oder Wohltäter mehr gibt, der der grenzenlosen Fürsorge Grenzen setzen könnte.

Während in niederen Räumen trennende begriffliche Vorstellun­gen und Unterscheidungen vorhanden »sind«, »sind sie nicht« auf der Ebene des GROSSEN RAUMES, und es gibt auch »keinen« gesonderten GROSSEN RAUM. Diese Negierungen sind dem »ist« und »sind«, die wir mit den niederen Räumen assoziieren, nicht entgegengesetzt. Sie weisen vielmehr darauf hin, daß die Fähigkeit, zu akzeptieren und zu beherbergen, größer geworden ist. Wir kön­nen Oberflächen und Mauern als gegeben hinnehmen, ohne mit ihnen zusammenzustoßen oder von ihnen zurückgeworfen zu wer­den. Auf diese Weise können die Oberflächen als Oberflächen er­scheinen und trotzdem transparent sein, denn sie »reflektieren« - in gewisser Hinsicht - den Grad unseres eigenen Entspanntseins.

GROSSER RAUM ist nicht etwas, das von unserem eigenen Raum oder Zustand verschieden ist, aber dies läßt sich durch eine verbale Erklärung schwer begreifbar machen. Die gewöhnlichen Sprachen besitzen Eigenheiten, die sogar bei der ausdrücklichen Negierung von Unterscheidungen erneut subtile Unterscheidungen

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einführen. Eine weitere Schwierigkeit, dieses Gefühl der Vereini­gung wirklich zu begreifen, ist, daß GROSSER RAUM - sogar dieser Beschreibung nach - ganz anders zu wirken scheint. Solange wir das Problem also nur von der Orientierung unseres »kleinen« Raumes her angehen - von einer Orientierung, die noch nicht durch die Anschauung des Raumes von einer höheren Warte aus modifi­ziert wurde -, vermögen wir über die Entweder-oder-Logik nicht hinauszugelangen. Wir sind dann dauernd versucht, Grundzüge un­seres Bereiches auszusondern und hervorzuheben, so daß sie sich von der Offenheit des GROSSEN RAUMES und dem ihm eigenen Nichtvorhandensein von Interaktionen deutlich unterscheiden: »Seht euch doch an, was in der Welt geschieht; betrachtet die Ereig­nisse der Vergangenheit und Gegenwart, die Veränderungen, die die Zukunft bringen wird - was sind sie im Vergleich zum GROSSEN RAUM!«

Wann immer etwas scheinbar vom GROSSEN RAUM verschie­den ist - es läßt sich doch mit dem GROSSEN RAUM versöhnen. Die Wirklichkeit für-sich-allein-stehender Wesenheiten, die durch undurchlässige Oberflächen und Grenzlinien definiert werden, muß im Lichte des bedingenden Raumes betrachtet werden, der diese Grenzlinien festsetzt. Dieser bedingende Raum ist seinerseits ein Ausdruck von GROSSEM RAUM. Das heißt, daß die »Dinge« (durchaus nicht in einem verkleinernden oder herabsetzenden Sin­ne) »nichts als Raum« sind.

Wir müssen also das augenscheinliche Für-sich-allein-Stehen im »niederen« oder »bedingenden« Raum aufbrechen, bis es in einem »offeneren geistigen Rahmen« wiederum beherbergt werden kann. Es gibt viele Wege, dies zu versuchen. Selbst eine Betrachtung der bekannten wechselseitigen Beziehungen, die die individuellen »Dinge« definieren, kann dabei weiterhelfen. Verschaffen wir uns einen Überblick über den unermeßlichen, verbindenden und wech­selseitig bestimmenden dynamischen Komplex, von dem die Physik nachgewiesen hat, daß er jegliches Ding bedingt, mag das unseren Sinn für eine ausgewogene Perspektive wiederbeleben.

Unglücklicherweise kann gerade diese Art der Betrachtung auch die Vorstellung von »Dingen« bekräftigen - von Dingen, die aufein­ander einwirken, die einander verursachen, sich gegenseitig beein­flussen -, anstatt sie abzuschwächen. Dies liegt teilweise daran, daß es sehr schwierig ist, von alltäglichen Themen auf eine neue Weise Gebrauch zu machen, denn die Erkenntnis, die Sprache und die

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Bilder einer Ebene können allein die Einsicht einer höheren Ebene niemals ganz und gar wiedergeben. Ohne die umfassenderen Per­spektiven höherer Räume sind transzendierende Synthesen nicht vollziehbar.

Aber es muß etwas geschehen, denn die niederen Räume, die wir bewohnen, haben alle Arten von Bedrängnis, Verwirrung, Ermü­dung und Kommunikationsschwierigkeiten verursacht. Es ist drin­gend nötig, daß wir uns der Begrenzungen bewußt werden, die wir aufgrund unserer beschränkten Perspektiven und Vorwegnahmen passiv hingenommen haben, wenn wir sowohl in uns als auch in unserem Verhältnis zu anderen einen Sinn für Harmonie und Be­friedigung wiedergewinnen wollen. Sobald diese Bewußtheit eine gewisse Klarheit erreicht hat, ergibt sich daraus ganz natürlich die Fähigkeit, sich neuen Dimensionen zu öffnen - und diese neuen Dimensionen werden Integration und Kreativität anregen.

In unserer gewöhnlichen Erfahrung werden wir vom Kontakt mit den unendlichen Dimensionen, die uns zur Verfügung stehen, weg­geführt. Deswegen fließen - gleiten - wir nicht richtig. Unsere Sin­ne, unser Denken und unsere physische Leistungsfähigkeit sind in vieler Hinsicht blockiert. Ein strukturierender Raum niederer Ord­nung bringt diese Probleme hervor, gewährt uns aber nicht die Fä­higkeit, sie zu durchdringen. Diese Probleme sind darauf zurückzu­führen, daß wir weder die Natur des niederen Raumes noch sein Verhältnis zum GROSSEN RAUM begreifen. Wir erkennen ein­fach nicht, daß die undurchlässigen Oberflächen, die die für-sich- allein-stehenden Dinge definieren - und die frustrierenden menta­len und physischen Blockierungen, die wir erfahren im Grunde zusammengehören. Beide Arten von »Mauern« sind »Raum« . . . ein niederer Raum, der sich zu GROSSEM RAUM öffnen läßt. Selbst der Abgrund, der Subjekt und Objekt voneinander trennt, ist transzendierbar. Gelingt es uns, einen höheren und offeneren Raum zu erreichen, lassen sich alle Schwierigkeiten auflösen.

All dies ist natürlich nicht mehr als nur eine Zusammenfassung, aber schon die Erwägung solcher Bilder und Möglichkeiten mag uns dabei helfen, uns der Wirklichkeit des GROSSEN RAUMES zu öffnen. Um den Weg noch weiter freizulegen, wird in den folgenden Kapiteln ein mehr erfahrungsorientierter Ansatz dargeboten.

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2. Kapitel

Der Körper und die menschliche Verkörperung

Die Dinge sind nicht nur in gewöhnlichem Sinne von Raum durchdrungen, sie sind GROSSER RAUM - unbegrenzt, offen, ohne andere Dinge vom Dasein auszuschließen. GROSSER RA UM wird nicht zu etwas. Nichts entsteht aus ihm. Nichts kann ihn verfälschen. GROSSER RAUM bleibt unbegrenzt, beherbergt alles und errichtet doch nichts, tut überhaupt nichts.

Unser »Körper«* ist ein Hauptbrennpunkt unserer menschlichen Erfahrung. Es ist deswegen wichtig, sorgsam zu untersuchen, was für unsere Vorstellung vom Körper typisch ist, denn das Typische wird nur allzuoft als selbstverständlich hingenommen. Die folgende Übung kann dazu beitragen, die Tendenz umzukehren, die Dinge vertraut zu machen, eine Tendenz, die uns für viele der volleren und reicheren Seiten unserer Erfahrung blind macht. Diese Übung ist besonders wertvoll, um zu einem intensiveren würdigenden Ge­wahrsein unseres Körpers zu gelangen. Aus einer Art erfahrungs­orientierter Überprüfung und Infragestellung unserer vorgefaßten Meinungen kann sich eine neue Perspektive ergeben, deren Grund­lage die unmittelbar gefühlte Wirklichkeit ist.

Übung 1: Der Riesenkörper

A. Lassen Sie vor Ihrem geistigen Auge das Bild eines riesenhaften menschlichen Körpers männlichen oder weiblichen Geschlechts ent­stehen. Halten Sie das Bild dort fest. Visualisieren Sie diesen Körper als sehr lebendig und wirklich, und versuchen Sie, die physische Gestalt so detailliert wie möglich zu sehen. Bleiben Sie bei aller Konzentration sehr empfänglich und nehmen Sie sich die Zeit, ein klares Bild aufzubauen. Wenn Sie die Übung über einen Zeitraum von mehreren Tagen oder Wochen immer wieder durchführen, dann wird das Bild zunehmend klarer - eine Präzision, die für den Erfolg dieser und zukünftiger Übungen wichtig ist.

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B. Lassen Sie Ihre Bewußtheit, die im Vergleich zu den gigantischen Dimensionen des Riesenkörpers nur einen winzigen Raum ein­nimmt, näher an den Riesen herangehen, sobald sich das Bild ein wenig stabilisiert hat. Untersuchen Sie die Oberfläche des Riesen­körpers von allen Seiten und aus verschiedenen Entfernungen, bis Sie mit seiner Gestalt wirklich in Berührung kommen. Da Sie selbst ganz klein sind, werden Sie entdecken, daß Sie sich ungehindert durch die Poren der Haut des Riesenkörpers hindurchbewegen kön­nen. Sie können nun dazu übergehen, seine innere Struktur zu er­forschen - den Magen, die Kehle, den Mund, die Nase, die Ohren, die Lunge, den Darm, die Adern und Knochen. Widmen Sie dieser Übung der äußeren und inneren Erforschung mindestens eine Woche.

Übung 2: Innere Einzelheiten

A. Konzentrieren Sie sich nun mehr auf die Organe des Körpers und auf die Adern, Gewebe und Flüssigkeiten. Für die Erforschung die­ser Ebene der körperlichen Zusammensetzung wäre es nützlich, ein Lehrbuch der Physiologie zur Hilfe zu nehmen. Versuchen Sie, die Oberflächen dieser miteinander in Beziehung stehenden Strukturen in allen Einzelheiten so lebendig und wirklichkeitsgetreu wie mög­lich zu visualisieren.

B. Untersuchen Sie nun die inneren Einzelheiten jeder einzelnen dieser Strukturen. Stellen Sie sich vor, daß Sie winzig genug sind, die Zellen, Moleküle, Bakterien und so weiter beobachten zu können, die die Gewebe und Flüssigkeiten ausmachen. Ein Lehrbuch der Mikrobiologie oder ein Buch mit Bildern, die den inneren Aufbau des menschlichen Organismus zeigen, können Sie bei dieser Erfor­schung inspirieren.

Kommentar zu Übung 2Weder der Körper noch irgendeine seiner Strukturen oder irgendei­nes seiner Systeme und Untersysteme sind feste »Dinge«. Sie sind keine Regionen, die von undurchlässigen Oberflächen abgegrenzt und innen mit dichtem, unbelebtem Stoff ausgefüllt sind. Eine Ver­änderung unserer gewöhnlichen Brennweiteneinstellung zeigt, daß jede der für-sich-allein-stehenden Strukturen oder Regionen größ­

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tenteils Raum ist. Dieser Raum beherbergt Interaktionen zwischen anderen (kleineren) Strukturen oder Regionen, die ihn gleichzeitig in seiner Ausdehnung definieren. Diese kleineren Strukturen lassen sich ihrerseits auf die gleiche Weise betrachten.

Übung 3: Die Mikro-Ebene

Bewegen Sie sich durch die »Wände« oder Oberflächen hindurch, die die einzelnen Zellen und Moleküle voneinander abgrenzen. Un­tersuchen Sie die Mikrowelt der Atome und subatomaren Teilchen. Fotografien und Abbildungen aus einem Lehrbuch der Physik kön­nen uns in die Lage versetzen, auf jeder Ebene dieser Teilchen eine ausführliche Entdeckungsreise zu unternehmen.

Kommentar zu Übung 3Diese drei Übungen stellen einen Weg dar, jene Systeme und Kom­ponenten des Körpers herauszustellen, die für sein Funktionieren besonders wichtig sind. Andere Modelle des Körpers sind möglich. Im physiologischen Modell jedoch, das unserer Untersuchung bis­her als Leitfaden gedient hat, wird der fühlende und empfindende Körper als eine Ansammlung unbelebter, physikalischer Systeme angesehen.

Diese Systeme bestehen im wesentlichen aus Anhäufungen sub­atomarer Teilchen, deren Bewegung von der menschlichen Sinnes­und Erkenntnisfähigkeit nicht unmittelbar beobachtet werden kann. Daraus folgt, daß jede bewußte Erfahrung im allgemeinen als eine Funktion von Systemen betrachtet wird, die selbst nicht Teil des Inhalts dieser Erfahrung sind und sein können.

Als eine Alternative zu dieser Sicht der Dinge könnte es auch sein, daß eine Art von »Wissen« die primäre Tatsache der Verkörpe­rung darstellt. Die »bekannten«, »unbekannten«, »nicht-erkennen- den« und (unmittelbar) »nicht-erkennbaren« Dinge (wie die sub­atomaren Teilchen) würden sich dann aus bestimmten Standpunkten ergeben, die dieses »Wissen« einnimmt. Dies mag als eine schwer zu begreifende Vorstellung erscheinen. Sie wird jedoch mit der konti­nuierlichen Ausführung dieser Übungen zunehmend klarer werden.

Wir sollten allerdings beachten, daß die Feststellung eines derarti­gen Verhältnisses zwischen »Wissen« und Verkörperung nicht besa­gen will, daß die Atome tatsächlich »wissen«. Man kann solch kon­

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ventionellen Elementen nicht einfach unkonventionelle Eigenschaf­ten zuschreiben. Vielmehr soll hier die Tatsache betont werden, daß unsere Fähigkeit zu erkennen im allgemeinen als die Funktion eines Körpers betrachtet wird, dessen Struktur und Wirkungsweise von eben jenem Erkennen untersucht und erfaßt werden. Es ist jedoch möglich, daß unser »gewöhnliches Erkennen«* und die von ihm beobachtete empfindungslose physische Grundlage beide das Er­gebnis eines »Wissens« höherer Ordnung sind, das einen bestimm­ten Standpunkt oder eine bestimmte Position eingenommen hat. Dieses »Wissen« würde demnach als das vertraute Paar - gewöhnli­ches Erkennen und der Körper - verkörpert und von den Prinzipien niederer Ordnung, die dieses Paar beherrschen, eingefroren oder dauerhaft gemacht.

Unsere Einstellung zu unserem Körper ist häufig recht rigide, und wir neigen deswegen dazu, unser Potential als verkörperte Wesen zu beschränken. Diese Einstellung und unsere Art und Weise, den Körper zu untersuchen, verfestigen oft eine völlig mechanistische oder »Geist-in-der-Maschine«-Perspektive. Eben diese Einstellung sorgt auch dafür, daß sich das Erkennen nicht qualitativ verändern oder zu »Wissen« reifen kann, sondern ein ziemlich isoliertes Vor­kommnis in einer im Grunde genommen nicht-erkennenden Welt bleibt. In diesem Bild ist das »Selbst«* das einzige Ding, dem »zu erkennen« erlaubt ist. Alles, was das Selbst angeblich umgibt und mit ihn interagiert, muß als Objekte gesehen werden, die bloß »er­kannt« werden. Dieses ziemlich eingefrorene Bild läßt sich jedoch auftauen. Es ist möglich, die isolierten Erscheinungen von »Kör­per«, »Geist« und »Welt« durch ein größeres Maß an Lebendigkeit, Klarheit und Vertrautheit mit unserer Umwelt zu ersetzen.

Um unsere Welt der Erscheinung aufzutauen und das »Wissen« zurückzugewinnen, das beim Aufbau dieser Welt eingefroren wur­de, müssen wir herausfinden, was wir sind. Wir müssen mit dem augenscheinlich Nächstliegenden arbeiten und es auftauen. Deswe­gen zielen Übung 4 und alle anderen Übungen dieser Sequenz auf eine Reorientierung in Hinsicht auf die vertrauten »Erkenntnisob­jekte« ab. Visualisieren ist ein notwendiger Bestandteil dieser Re­orientierung, sollte jedoch nicht bloß als eine »Imaginationsübung« betrachtet werden.

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A. Nehmen Sie in dieser Übung die Untersuchung der Strukturen und Systeme des Körpers wieder auf, und gehen Sie dazu zuneh­mend in die Einzelheiten. Betrachten Sie wiederum, daß alle Struk­turen mit anderen Strukturen interagieren, und daß jede besondere »Struktur« selbst nur eine Region ist, die durch (kleinere) aufeinan­der einwirkende Strukturen gekennzeichnet ist. Diese individuellen Strukturen sind ihrerseits ebenfalls Regionen und so weiter.

Gebrauchen Sie diese Form der Untersuchung, um alle undurch­lässigen Oberflächen, die eine »Struktur« oder ein »Ding« umgren­zen, zu öffnen und in sie einzutreten. Gehen Sie immer weiter durch diese abgrenzenden Oberflächen hindurch, bis diese alle völlig offen sind . . . bis sie keine Schranken und Hindernisse für Ihre untersu­chende Bewußtheit mehr darstellen. Lassen Sie die Eigentümlich­keit und Bestimmtheit der Oberflächen bestehen - aber nun als leuchtende Konturen, als durchscheinende Grenzen und Berüh­rungsflächen. Bewegen Sie sich ungehindert durch diese Berüh­rungsflächen hindurch.

B. Nehmen Sie eine Position außerhalb des Körpers ein und be­trachten Sie ihn in diesem durchscheinenden Aspekt - Konturen eingebettet in andere Konturen. Versuchen Sie, den Aufbau des gesamten Körpers mit dieser Vision gleichzeitig zu erfassen.

C. Erwägen Sie die Möglichkeit, diese Vision aufrechtzuerhalten, ohne sie auf einen einzigen Blickwinkel oder Ausgangspunkt der Betrachtung zu begrenzen. Versuchen Sie, den Körper von allen Richtungen und auf allen Ebenen gleichzeitig zu sehen.

Kommentar zu Übung 4Wollen wir die Fähigkeit, auf eine neue Art zu »wissen«, entwik- keln, müssen wir der üblichen Tendenz zur Betonung von unverän­derlichen und undurchlässigen »Dingen« entgegenwirken. Wir kön­nen dies erreichen, indem wir unser Interesse an Interaktionen und ein würdigendes Gewahrsein des Durchscheinens ermutigen.

Die »Dinge« sind von einer bestimmten Art der Betrachtung abhängig, die von einem bestimmten Gesichtspunkt her vorgenom­men wird. Oft sind die Dinge Sammelbegriffe oder Kürzel für mög­liche Arten des Sehens (und von Dingen, die zu sehen sind), die uns

Übung 4: Nur Interaktionen und leuchtende Konturen

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zeigen, was wir zu einer bestimmten Zeit antreffen oder betrachten wollen. Unser »Interesse« verrät auch, welche Art von Bewußtheit bei dieser Gelegenheit zum Tragen kommt.

Mit Übung 4 können wir einen Modus des »Sehens« entwickeln, der auf keine bestimmte Position und keinen bestimmten Gesichts­punkt begrenzt ist. Da die Augen die Verkörperung einer Form des Erkennens sind, das eine Position einnehmen muß, um überhaupt wahrnehmen und erkennen zu können, versuchen Sie am besten, diese Übung durchzuführen, ohne Ihre Augen zu gebrauchen und ohne darauf zu pochen, daß das, was Sie »sehen«, mit den gebräuch­lichen Vorwegnahmen über das, was unser Gesichtssinn uns zu ver­mitteln habe, übereinstimmt. Diese Vorwegnahmen sollen im weite­ren Verlauf unserer Betrachtungen herausgestellt und hinterfragt werden.

Die Anweisungen zu den einzelnen Übungen arbeiten mit be­kannten Elementen und Eigenschaften. Aber vielleicht werden, während Sie mit diesen Elementen arbeiten, neue Erkenntnisse und Einsichten auftauchen, die sich nicht auf die konventionellen Ob­jekte oder Eigenschaften beschränken und sich nicht mit den An­nahmen vereinbaren lassen, die das gewöhnliche Erkennen re­gieren.

Die Übungen mögen zwar mit einem bloßen »Imaginieren« be­ginnen, doch können wir darüber hinausgehen und lernen, auf eine neue und unleugbare Weise zu wissen. Unser »Erkennen« besteht gewöhnlich nur darin, bereits bekannte Elemente heraufzubeschwö­ren. Jetzt lernen wir statt dessen mehr darüber, wie die konventio­nelle Welt der Erscheinung im Sinne von »Körpern«, »Erkennen­den« und »erkannten Dingen« hervortritt und sich entfaltet. Dieser neuen Form von Wissen geht es vielleicht mehr um ein offenes Feld oder eine Dimension, welche es möglich macht, verschiedene Ge­sichtspunkte einzunehmen, als um die beobachteten Objekte, die sich aus solchen bestimmten Gesichtspunkten ergeben. Wir müssen unsere Untersuchung weitertreiben, bevor wir dazu etwas Defini­tives sagen können. Vielleicht läßt sich ja auch ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Ausrichtungen finden.

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A. Der Riesenkörper ist jetzt als ein unendlich komplexes Bündel durchscheinender Konturen anwesend. Diese Konturen sollten je­doch nicht nur einfach »Linien im Raum« bleiben. Intensivieren Sie die durchscheinende Beschaffenheit des Körpers, indem Sie die Konturen leuchtend aufstrahlen lassen, sie lebendig und ungreifbar machen, so daß sie Ihrer wissenden Anwesenheit nicht hinderlich sind. Geben Sie der Erfahrung der Konturen schließlich eine ek­statische Beschaffenheit; dies ist für die »Feinabstimmung« des Bil­des äußerst wichtig.

B. Begeben Sie sich nun in den Raum, der von den Konturen selbst »eingenommen« wird. Bewegen Sie sich durch diese »Linien im Raum« hindurch und öffnen Sie sie, bis sie alle ein »Raum« werden, der von allen Eigenschaften, Standpunkten, voneinander abge­grenzten Regionen und Mengenvorstellungen vollkommen frei ist. Der Körper ist verschwunden. Er ist zu einem vibrierend lebendigen und trotzdem vollkommen offenen »Raum« freigesetzt.

Kommentar zu Übung 5Die Übung 5 A wird dazu beitragen, der Erscheinung wieder eine offenere und lebendigere Dimension zu geben. Erscheinung wird gewöhnlich nur »erkannt« und nimmt infolgedessen definierende Grenzen an. Sie büßt dadurch ein gewisses Maß an Lebendigkeit ein, kann nur leben, wenn es einen »Erkennenden« gibt. Indem wir die Bilder, begrifflichen Vorstellungen und Eigenschaften, die uns leiten, bis zu einer ursprünglichen und unvoreingenommenen Be­gegnung zurückverfolgen, können wir zu einer Dimension höherer Ordnung zurückfinden.

Die Übung 5 B führt die Entdeckung, daß definierende Oberflä­chen »Raum« sind, noch weiter aus und führt diese Enthüllung zu einem ungewöhnlichen Schluß. Dies ist der erste Versuch, den Raum höherer Ordnung (die offenere Dimension) freizulegen, in dem man jedweden bestimmten Gesichtspunkt einnehmen kann (was bestimmte Dinge als »erkannt« hervorbringt). Dieser »Raum« ist vom gewöhnlichen Raum verschieden. Er ist frei von den Eigen­schaften und Vorwegnahmen, die wir gewöhnlich mit dem Raum verbinden. Und er unterscheidet sich auch von den gewöhnlichen »Dingen« wie sie im allgemeinen verstanden werden. Wir sind jedoch

Übung 5: Zu Raum freigesetzt

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durch eine Betrachtung von Dingen zu ihm vorgestoßen. Also könn­ten wir vielleicht sagen, daß die Dinge im Grunde nichts anderes sind als dieser »Raum«, diese Offenheit.

Übung 6: Undurchlässigkeit und Durchscheinen - eine Gegenüberstellung

Kehren Sie zu der anfänglichen Betrachtungsweise des Riesenkör­pers zurück, wie sie in den Übungen 1 bis 3 vorgestellt wurde, und lassen Sie nun wieder alle dichten und undurchlässigen Strukturen anwesend sein. Erfahren Sie diese Dichte und Undurchlässigkeit so direkt wie möglich. Vergleichen Sie diese Erfahrung mit der des durchscheinenden Aspekts des Körpers. Ist es möglich, daß beide Varianten, während sie unmittelbar erfahren werden, gleichermaßen eine Art »Raum«-Erfahrung sind? Gehen Sie beiden Erfahrungen einfühlsam nach und fragen Sie sich, ob in der strukturierten Va­riante der Erfahrung etwas vorhanden ist, das Sie auf irgendeine Weise davon abhält, vollständig offen zu sein.

Kommentar zu Übung 6Übung 6 versucht, einen »Raum« zu entdecken, der alles ist, und zwar auf eine Weise, die nicht indirekt ist, also eine bloß theoreti­sche Reduktion auf das, was die Dinge auf einer verborgenen Ebene »im Grunde« sind. Darüber hinaus deutet Übung 6 an, daß der Raum (das Feld) höherer Ordnung durch das Erscheinen für-sich- allein-stehender Objekte nicht verfälscht oder zu Blöcken geformt wird. Wir dürfen also sagen, daß das Wissen höherer Ordnung den konventionellen Gegenständen und Perspektiven Beachtung schenkt. Dies geschieht jedoch auf eine Art und Weise, die ihre Teilhabe an einem Raum höherer Ordnung würdigt. Übung 6 ist nur ein erster vorbereitender Versuch, dieses »Wissen« und das würdi­gende Gewahrsein von »Raum« zu entwickeln. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn Sie sich ohne gleich eine Antwort zu finden, mit der Frage herumschlagen, die von dieser Übung aufgeworfen wird. Entspannen Sie sich einfach, während Sie die Übung ausführen, und werden Sie sich der Implikationen dieser Frage für Ihre Erfahrung bewußt.

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Um die in Übung 6 gestellte Frage beantworten zu können, die Frage, ob sowohl der undurchlässige als auch der durchscheinende Riesen­körper gleichermaßen »Raum« sind (und um mit dem »Raum« und dem »Wissen« in Berührung zu kommen, die in Übung 6 angespro­chen werden), müssen wir damit beginnen, uns auf den Riesenkörper in seinem Aspekt einer verkörperten Person zu beziehen, anstatt ihn nur als komplexe physische Struktur oder als einen Organismus anzusehen. Wir werden auch lernen müssen, unsere eigene Rolle in Betracht zu ziehen, die wir beim Beobachten dieses Körpers spielen. Dies ist wesentlich, wenn wir einen umfassenderen und weniger ausschließenden »Raum« finden wollen.

Jede Betrachtung dessen, was eine »Person« ausmacht, verlangt, daß der Entwicklung der Person und der Welt, in der sich diese Person entwickelt und der sie gegenübersteht, Rechnung getragen wird. Die konventionelle Sichtweise neigt jedoch dazu, jene Dimen­sionen und Thematisierungen der Erfahrung zu verstärken, die uns in einer begrenzenden Ausrichtung gefangenhalten.

Die konventionellen Sichtweisen gehen von der Voraussetzung eines konventionellen Raumes und einer konventionellen Zeit, von unserer bekannten Welt, als dem a priori der Person aus. Danach existiert ein Individuum bis zu einem gegebenen Augenblick in der Zeit noch nicht. Dann kommen ein paar Zellen zusammen und entwickeln sich nach genetischen und biochemischen Prinzipien. Das Ergebnis ist die Geburt eines Säuglings, der, nachdem er die richtige Erziehung genossen hat, erwachsen wird und den entsprechenden Status und die damit verbundene Verantwortung übernimmt. Wenn der Körper dieses fühlenden Wesens zerfällt, hört die »Person« auf zu existieren - vielleicht mit Ausnahme einer Seele in irgendeinem Nachleben. Die Welt jedoch scheint zu allgemein und zu dauerhaft zu sein, um vom Verschwinden dieser Person sonderlich betroffen zu werden.

Nach einer ganz anderen Sichtweise ist es unrichtig, eine vorherge­hende Welt, einen genormten Raum und eine genormte Zeit anzu­nehmen. Für sie gibt es eine solche Welt gar nicht. Aber diese Tatsa­che ist selbst keine Spezifikation eines vorangegangenen Zustandes, denn ein »Vorher« gibt es nicht. Zwischen dieser und unserer kon­ventionellen Sichtweise scheint keine klare Verbindung zu bestehen. Trotzdem gibt es eine Art Progression, die von dieser »offenen Unge­bundenheit« zur Starre der gewohnten Orientierung führt.

Machen wir uns eine ganz bestimmte Perspektive zu eigen, können

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wir sagen, daß in der Tatsächlichkeit der Ungebundenheit Tenden­zen hervortreten, die sich zu Empfindungen und Vorstellungsbil­dern entwickeln. Diese bringen die Möglichkeit mit sich, zu inter­pretieren und zu assoziieren. Das läßt wiederum einen konsolidie­renden Schub entstehen, der darauf gerichtet ist, schließlich das gesamte Muster eines »Individuums, das einer Welt begegnet« oder »eines verkörperten Subjekts, das physische Objekte er­kennt« zu erzeugen. In gewissem Sinn ist dieses Muster ein Ein­frieren dessen, was (in einem nicht-zeitlichen Sinne) offen und flie­ßend »war«.

Ist ein erstarrtes Muster von der eben erwähnten Art vorhanden, dann sind auch eine Welt und eine bestimmte Raum-Zeit-Struktur als Hintergrund für das Leben und die Erfahrung der Person anwe­send. »Wo« es »vorher« keine Ereignisse, keine Zeit und keinen (quantifizierbaren) Raum für Interaktionen gab, gibt es nun Ereig­nisse und Ereignisketten, welche existieren und auf eine eindeutige Weise miteinander verbunden zu sein scheinen. Daraus leitet sich die konventionelle Sichtweise ab: »Es gibt dieses, das hier und jetzt existiert, und andere Weltordnungen oder Wirklichkeiten sind als Möglichkeiten ausgeschlossen.« Die Person sieht Dinge, lokali­siert sie im Raum, durchquert die dazwischenliegende Entfernung und berührt sie. Die Person fühlt sich in ihrer Integrität als ein bestimmtes Wesen bestärkt, das, nachdem es einmal geboren ist, (bis zu seinem Tod) kontinuierlich fortbesteht.

Das alternative Modell legt nahe, daß die Person allem Anschein zum Trotz kein kontinuierliches Wesen ist, das ein für alle Mal in eine Welt hineingeboren wurde. Vielmehr könnte die »Person in einer Welt« richtiger als eine Tendenz zur Konsolidierung in dem oder als das gesehen werden, was für jene Welt aufeinanderfolgen­de »Momente« sind. Die Person ist dann eine zusammenfassende Vorstellung, die das Gesamtbestreben beschreibt, ein erstarrtes Muster oder eine Serie von Augenblicken hervorzubringen, die auf ausschließliche Weise miteinander verbunden sind und im Gegen­satz zu einem offeneren und umfassenderen »Raum« stehen. Da­mit gibt es also:1. Die gewöhnliche Weitsicht: Eine Person wird als das Ergebnis zeitlich vorausgehender Bedingungen in jene Welt hineingeboren (oder tritt ins Dasein), indem sie sich bis zum Zeitpunkt der Ge­burt (dem Beginn der individuellen Existenz) auf gesetzmäßige Weise entwickelt.

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Dem können wir die folgenden nicht-konventionellen Sichtwei­sen hinzufügen:2. Auch wenn (für gewöhnliche Perspektiven) die linearen Verbin­dungen innerhalb einer Welt immer ausreichen mögen, jedes Ge­schehen örtlich festzulegen und zu erklären, stellen diese Welt und ihre ununterbrochenen linearen Sequenzen trotzdem ein willkürli­ches und unnachgiebiges Muster dar, das seine Möglichkeiten und seine Energie aus einem offeneren »Raum« bezieht. Sobald dieses Muster einmal »eingerastet« ist, werden die ihm eigenen Kausal­prinzipien wirksam. Das erkennende Subjekt sieht lokalisierte Ob­jekte, und der »Raum« geht verloren oder wird ausgesperrt.3. Das oben angesprochene Muster ist eigentlich nur eine musterbil­dende Tendenz, die sich niemals wirklich konsolidiert und deshalb auch nicht dauerhaft werden kann. Ihre »Kausalprinzipien«, Perso­nen und Objekte sind nur sich auf niederer Ebene manifestierende Zusammenfassungen der andauernden Tendenz zur Erstarrung und zur Abgrenzung von der vollen Offenheit des »Raumes«.

Eine letzte Form des Verständnisses ist:4. Es gibt keine »einfrierende« oder anomale Tendenz, die sich in Gegensatz zum »Raum« eingestellt hat. Das erstarrte Muster ist nicht »eingefroren«, ja es ist nicht einmal ein »Einfrieren«. Welten, Dinge und Personen bleiben »Raum«, anstatt - wie in 3. - nur aus »Raum« abgeleitet zu sein.

Es ist wichtig, daß wir bei der Erforschung der hier vorgestellten Wirklichkeitsschau nacheinander die Wirkung jeder der vier Sicht­weisen erfahren. Die zweite stellt eine Neuformulierung der ersten dar. Sie fordert uns dazu heraus, unsere festgefahrene Gewöhnung an eine bestimmte Wirklichkeit abzuschütteln und zu versuchen, Erscheinung auf eine neue Art und Weise zu würdigen. Die dritte und die vierte Sichtweise schwächen diese Ausrichtung dahingehend ab, daß sie am Ende nicht zu einer Zurückweisung und Entstellung der gewöhnlichen, bekannten Welt der Erscheinung führt.

An dieser Stelle wäre es nützlich, die Übungen 3 bis 6 mit ihren Kommentaren nochmals im Licht dieser vier Betrachtungsweisen zu sehen.

Bedenken wir die soeben diskutierten, nicht-konventionellen Per­spektiven - die Einfrierungs- oder Konsolidierungstendenz und die »Welt« als Hintergrund von Erscheinung -, können wir die Übun­gen mit dem Riesenkörper dahingehend erweitern, daß sie auch den

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psychischen und gelebten Dimensionen der Verkörperung gerecht werden.

Übung 7: Körper-Geist-Gedanken-Wechselspiel

Erforschen Sie eine große Vielfalt von typischen Tätigkeiten und Situationen, wie zum Beispiel soziale Interaktionen, Vergnügungen, Lernerfahrungen, verschiedene Formen von Arbeit und Anstren­gung sowie emotionale Hochs und Tiefs. Achten Sie in jeder Situa­tion darauf, wie der Gesamtcharakter und die Ausprägung der Si­tuation in Ihrer psychophysischen Verkörperung reflektiert werden. Beobachten Sie die komplexe Wechselwirkung zwischen Sinnes­wahrnehmungen, »Geist«, »Gedanken«*, Gefühlen und Körper, die das jeweilige »Ich in einer Situation« ausmacht. Zum Beispiel: Der Geist empfängt Eindrücke. Er denkt Gedanken. Diese Gedan­ken haben eine Gefühlsdimension. Gefühle manifestieren sich kör­perlich an bestimmten Stellen (Magen, Kehle usw.). Eine solche Verkörperung führt zu Sinneswahrnehmungen, die sich wiederum mit bestimmten Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken und so weiter verbinden.

Untersuchen Sie die psychischen und physiologischen Mechanis­men und Interaktionen so differenziert wie möglich. Diese Untersu­chung könnte erfordern, daß Sie Ihren eigenen Körper als einen »Riesenkörper« behandeln und ihn nochmals als winziger Beobach­ter durchreisen.

Kommentar zu Übung 7Eine Einsicht in die Interaktionen von Körper, Geist, Gedanken und Gefühlen ist wichtig, um zu einer innigeren Bekanntschaft mit unse­rer Verkörperung und schließlich zu einer Transzendierung dersel­ben zu gelangen. Die Übungen im dritten und neunten Kapitel wer­den diese Einsichten noch vertiefen.

Übung 8: Die durchscheinende Person

Verfolgen Sie weiterhin das Körper-Geist-Gedanken-Wechselspiel, wie in Übung 7 skizziert wurde. Bewegen Sie sich dabei behutsam in den Raum oder in die Region hinein, die die »Körper«-, »Geist«-

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oder »Gedanken«-Komponente des erlebten Wechselspiels zwi­schen »Geist und Körper« oder »Geist und Gedanken« und so wei­ter ist. Öffnen Sie die undurchlässigen Oberflächen und Trennwän­de*, die jede einzelne Komponente definieren. Fahren Sie fort, auf diese Weise auf die Anwesenheit von »Körper«, »Geist« und »Ge­danken« zu antworten, bis Sie in all ihren Erscheinungsformen voll­kommen durchscheinend sind wie in Übung 4. Schließen Sie diesen Prozeß damit ab, daß Sie die durchscheinenden Konturen selbst öffnen, bis das gesamte Wechselspiel in eine Art Offenheit oder »Raum« verschwindet.

Übung 9: Als Beobachter beteiligt sein; als verkörperte Person beteiligt sein

A. Kehren Sie zu der in Übung 7 untersuchten Interaktion von Körper, Geist, Gedanken und Gefühlen zurück. Gehen Sie diesem Wechselspiel nochmals nach, aber versuchen Sie dabei, Ihrer eige­nen Anwesenheit als Beobachter all dieser Muster bewußt zu blei­ben. Arbeiten Sie eine Zeitlang sehr oft damit, bevor Sie zum näch­sten Stadium der Übung fortschreiten.

B. Öffnen Sie alles, was in Übung 9 A anwesend ist, und machen Sie auf diese Art und Weise alle abgrenzenden Regionen und Oberflä­chen durchscheinend, bis sie schließlich »Raum« werden. Nehmen Sie von diesem Prozeß nichts aus - selbst »öffnen«, »Durchschei­nen« und »Raum« müssen geöffnet werden, bis sie sich aufgelöst haben. Danach ist mit dem »Aufgelöstsein« ebenso zu verfahren. Schließlich muß noch die subtile Lokalisiertheit dieser Erfahrung als das Ergebnis eines Prozesses geöffnet werden, wie auch ihr Status als »Erfahrung«.

C. Achten Sie darauf, daß Sie die in 9 B entdeckte Art einer unein­geschränkten Offenheit nicht irgendeiner normierten Weltordnung* zuordnen. Lassen Sie die subtilen Verbindungen los, die diese Of­fenheit an das »Sie« jener normierten Welt binden. Bemühen Sie sich darum, nicht aus der Offenheit »herauszutreten«, um »diese« zu untersuchen. Wenn Sie dann doch heraustreten, was ungeachtet all Ihrer Versuche, dies zu vermeiden, geschehen wird, beobachten Sie diesen Vorgang sehr sorgfältig. Dies ist wichtig. Lösen Sie sich

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schließlich von allen verbleibenden Mengenvorstellungen, die die Größe dieses offenen Raumes mit der Größe der Strukturen in Verbindung bringen wollen, die dort während der früheren Stadien der Übung ansässig waren.

Kommentar zu Übung gDiese Übung soll uns helfen, von dem »Erkennen« der gewöhnli­chen Weitsicht (S. 50, Nr. 1) zu den ersten beiden der oben be­schriebenen nicht-normalen Sichtweisen der Welt (Nr. 2 und Nr. 3) überzugehen. Haben wir die Übung 9 in der richtigen Abstimmung lange genug geübt, ist es uns vielleicht möglich, das Hervortreten der Objekte und des gewöhnlichen »Erkennenden« als eine Ten­denz zur Einfrierung einer Dimension zu sehen, die eigentlich voll­kommen offen ist. Wir mögen neben der wahrgenommenen linearen Entwicklung und den Interaktionen, die innerhalb einer standardi­sierten Weltordnung zwischen den Gegenständen stattfinden, auch noch eine andere Art und Weise entdecken, unsere Wirklichkeit zu sehen.

Übung 10: Beteiligtsein und RAUM

A. Frühere Übungen haben dazu beigetragen, daß Sie für Ihre An­wesenheit als Betrachter des Riesenkörpers mehr und mehr Be­wußtheit entwickeln. Zu dieser Bewußtheit trägt besonders die Auf­merksamkeit bei, mit der Sie in Übung 9 das Heraustreten verfolgt haben. Betrachten Sie nun erneut die Vision der dichten und un­durchlässigen Form des Riesenkörpers. Versuchen Sie festzustellen, ob nicht auch in diesem Fall eine Tendenz, »herauszutreten«, in irgendeiner Form wirksam ist. Ist das beobachtende Selbst nur eine für-sich-allein-stehende Wesenheit, die dem Riesenkörper vorüber­gehend gegenübersteht, oder ist das Selbst etwa in einer integrierten Beziehung - die dazu neigt, sich Augenblick für Augenblick zu polarisieren - gemeinsam mit dem Riesenkörper gegeben?

B. Arbeiten Sie auch weiterhin mit der undurchlässigen Form, aber sehen Sie, ob Sie nicht »Ihre« Tendenz »herauszutreten« verringern oder ganz unterbinden können. Höchstwahrscheinlich werden Sie damit nicht viel Erfolg haben. In diesem Stadium der Untersuchung genügt es jedoch, dieser Tendenz einfach gewahr zu sein, so daß die

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Vorstellung eines festen, kontinuierlichen und unabhängigen »Selbst« zumindest in Frage gestellt wird.

C. Vergleichen Sie nun die differenzierte »Raum«-Vision von Übung 9 mit der undurchsichtigen Form des Körpers, wie sie in Übung 10 A und B angetroffen wird. Durch diesen Vergleich mag Ihnen durch eigene Erfahrung die Möglichkeit einsichtig werden, daß die dichten und undurchsichtigen Körperstrukturen - wenn sie im Licht Ihrer Rolle als der teilnehmende Beobachter oder als die verkörperte Person gesehen werden - eine Art offener »Raum« sein könnten.

Als Weiterführung der Erforschung von »Mengenvorstellungen«, wie sie in Übung 9 vorgestellt wurde, ziehen Sie nun die Möglichkeit in Betracht, daß die neue »Raum«-Dimension vielleicht eben jene Strukturen ist, ohne deshalb jedoch endlich zu sein, obwohl die Strukturen des Riesenkörpers ihrer Größe nach endlich sind. Ge­wöhnlich sind das Volumen eines Objektes und das Volumen des Raumes, den dieses Objekt einnimmt, identisch. Auf die neue »Raum«-Erfahrung trifft dies jedoch nicht zu.

Kommentar zu Übung 10Sprechen wir vom Raum als einer »Räumlichkeit«, einem »Platz« für wahrgenommene Objekte und Ereignisse, dann betonen wir ge- wöhnlich eine Unterscheidung zwischen weit offenem Raum und dem Raum, der mit bestimmten Dingen angefüllt ist. Zwischen dem »gewöhnlichen Raum«* und der »gewöhnlichen Zeit«* besteht eine wechselseitige Beziehung, und so bilden sie den Hintergrund für das, was wir gewöhnlich als »Erkennen« bezeichnen - ein Erken­nen, das sich an den Dingen orientiert und nach dem das Selbst das Erkennende ist.

Wollen wir einen »Raum« finden, der vollständig offen sein kann - durch die Anwesenheit von für-sich-allein-stehenden Dingen we­der erschöpft noch im Widerspruch zu ihnen befindlich -, müssen wir das zur gewöhnlichen Weitsicht (S. 50, Nr. 1) gehörende selbst­zentrierte Erkennen deaktivieren und das »Wissen« entwickeln, welches in der alternativen Betrachtungsweise (S. 51, Nr. 4) reflek­tiert ist. Diese Umstellung erfordert erhöhte Sensibilität für ein neu­es »Raum-Zeit«-Wechselspiel. Die bisher vorgeschlagenen Übun­gen werden diese Umstellung zumindest einleiten. Der »Raum« dieser Übung ist eine erste Annäherung an GROSSEN RAUM.

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Wie ernst können wir diese Visualisierungsübungen überhaupt neh­men? Die Physiologie und die Physik vertreten den Standpunkt, daß man die Räume in den Organen, Molekülen und so weiter nicht unmittelbar »sehen« kann, so wie wir sie hier zu sehen versuchen. Würden wir den Körper nur als eine verkörperte Person ansehen, dann könnte der von uns eingeschlagene Weg der Untersuchung als vertretbar und begründet gelten. Da wir jedoch von einem konven­tionellen physiologischen Bild ausgehen, dürfte der Raum, den wir dabei entdecken, eigentlich nur imaginärer Raum sein. Ist unsere Fähigkeit zu erkennen auch auf das Wirken von Atomen, Molekü­len und so weiter zurückzuführen, so können wir diese Mikroebene der Organisation doch nur mit Hilfe besonderer Instrumente erken­nen. Deswegen mag es den Anschein haben, daß wir das wissen­schaftliche Modell nur dazu benutzen, eine imaginäre Forschungs­reise zu unternehmen. Auf so einer Phantasiereise sind jedoch keine echten Begegnungen und Entdeckungen möglich, die etwas über die Natur des physischen Körpers aussagen könnten.

Bevor wir dies als definitives Urteil hinnehmen, sollten wir jedoch das von der Physik vertretene Körpermodell mit dem Körpermodell vergleichen, das im Rahmen dieser Übungen vorgestellt wird. Die Physik weist nach, daß der Körper größtenteils Raum ist, und er­klärt gleichzeitig, warum er uns als fest erscheint. Das Modell, wel­ches sich aus diesen Übungen herleitet, sieht den Körper ebenfalls als eine Tendenz, die aus einer Art Raum hervortritt, und es legt gleichermaßen nahe, daß die Festigkeit des Körpers eine bloße Er­scheinung ist, ein Spiegelbild der Begrenztheit unserer Beobach­tungskraft. Präziser formuliert: Dieses Modell geht von der Voraus­setzung aus, daß das Mentale, Emotionale und Physische voneinan­der verschiedene - doch ebenbürtige - Facetten einer subtilen, sich kontinuierlich vollziehenden Tendenz zur Musterbildung, einer Ten­denz zur Konsolidierung sind. Es behauptet, daß die Festigkeit des Körpers nur eine Erscheinung ist, die auf unserer Unfähigkeit be­ruht, sie als eine Tendenz zu sehen, die niemals zu einem endgülti­gen Abschluß kommt.

Nach demselben Modell ist die Begrenztheit unserer Fähigkeit der Beobachtung nicht absolut, denn es gibt ein empfängliches, pro- zeß-orientiertes »Wissen«, das mit jedem Stadium der Konsolidie­rungstendenz einhergeht. Alle Tätigkeit ist deswegen Träger einer »Wissens«-Dimension, die man aus der Sicht der Physik diesen Pro­zessen nicht zuschreibt. Überdies haben wir zu diesem »Wissen«

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Zugang. Wir - und auch das gewöhnliche physikalische Körpermo­dell - sind sozusagen die Oberfläche dieses »Wissens«, aber wir können ihm auch bis in seine Hefe nachgehen.

Indem wir mit dem gewöhnlichen physiologischen Modell des Körpers arbeiten, beginnen wir, dieses »Wissen« zu entdecken. Bei der Ausführung dieser Übungen sollten wir diesem Bild genau und getreulich folgen, denn es ist eine dichte Annäherung an die Struk­tur der subtileren musterbildenden Tendenz oder des Prozesses, der der Kern unserer neuen Sicht der »Person« ist.

Anfänglich ist der Raum, den wir dabei entdecken, nur eine Visua­lisierung. Aber allmählich werden wir durch die Visualisierung oder das Nachzeichnen der konventionellen physikalischen Struktur im­mer empfänglicher für das »Wissen«, das mit der zuvor erwähnten Tendenz in Richtung Verkörperung einhergeht. Dann können wir jene Tendenz, jenen Prozeß bis zu dem »Raum« zurückverfolgen, um den es hier eigentlich geht. Dieser »Raum« ist keine bloße Vorstel­lung, kein Objekt und keine Übung des gewöhnlichen Erkennens.

Es ist ein Grundprinzip unserer neuen Sichtweise, daß alles, was unser Hier-auf-der-Welt-Sein mit sich bringt, unmittelbar wißbar ist, niemals außer Reichweite . . . und es kann immer zu »Raum« zu­rückverfolgt werden.

Führen Sie die Übungen nochmals durch. Entdecken Sie auf diese »zurückverfolgende« Weise »Raum«. Wenn es Ihnen schließlich ge­lungen ist, »Raum« als die wesentliche Grundlage der Erscheinung und von physischen Strukturen zu entdecken, dann ziehen Sie fol­gendes in Betracht:

Ihre Entdeckung - »alles ist ›Raum‹« - ist selbst auch »Raum«!

Die bisher vorgestellten Übungen arbeiten alle mit den für den gewöhnlichen Raum charakteristischen Assoziationen, wollen uns dadurch jedoch nicht dazu bringen, eine Theorie über die Identität von Raum und Objekten anzunehmen, die zwar ungewöhnlich ist, aber immer noch dem »niederen Raum« angehört. Vielmehr benut­zen sie die Wahrnehmung von »Raumhaftigkeit« in gesundem Zu­sammenwirken mit der Wahrnehmung von physischen und menta­len Objekten dazu, den erstarrten Zustand unseres niederen Rau­mes aufzubrechen - womit sie einem Verstehen von GROSSEM RAUM erlauben, anwesend zu sein. Die Übungen sind darauf aus­

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gerichtet, »gewöhnliches Erkennen« - welches etwas ist, das »wir« besitzen - durch GROSSES WISSEN zu vervollständigen, das nicht von einem »Selbst« erworben werden kann und auch nicht irgend­welche einer niederen Ebene angehörenden Theorien stützt.

GROSSES WISSEN ist keine Trophäe, die »wir« gewinnen kön­nen. Wir, unser Raum, unsere Bewußtheit, entspringen alle einem höheren Raum, einem höheren Verstehen. Das Bindeglied ist nicht verlorengegangen. Wir können dies sehen, wenn wir das Verhältnis betrachten, das zwischen den verschiedenen Sichtweisen der Welt (S. 51, Nr. 3 im Gegensatz zu Nr. 1 und Nr. 2) besteht. Wir sind scheinbar abgeschnitten, auf einen einzigen Bereich beschränkt und darin ganz und gar erklärbar. Und gewißlich läßt sich das »Wir« dieser gewöhnlichen Ebene nicht von ihr abstrahieren und in eine höhere Ebene katapultieren - in dem Glauben, daß dies möglich sei, sind zu viele begrenzende Vorwegnahmen der niederen Ebene ver­körpert. Es ist jedoch möglich, daß es tatsächlich einen Zugang zu GROSSEM RAUM gibt, und wir können ihn entdecken, wenn wir die Übungen aufmerksam und entspannt durchführen.

Lassen wir zu, daß sich gemeinsam mit den Vorwegnahmen, mit denen wir an diese Übungen herangehen, alles öffnet, was »da« ist, dann wird unsere Erfahrung sich verändern. Dieses »Zulassen« ist ein großmütiges »Opfer« und ein wirkungsvoller Weg zu höheren Räumen, denn Zulassen ist die primäre Eigenschaft von RAUM.

Üben wir mit einer Grundhaltung des »Zulassens«, so kann unser Verstehen der Einheit der starren »Dinglichkeit« der Objekte und der Offenheit des GROSSEN RAUMES rasch reifen. Diese Einheit ist eine Dimension, die man durch unmittelbares Beteiligtsein »se­hen« (siehe Übung 4) oder wissen kann. Die offene, zulassende Be­schaffenheit des GROSSEN RAUMES gestattet Einsicht - GROS­SES WISSEN - in die Einheit von »Dinglichkeit« und Offenheit. Sie gestattet außerdem sich selbst, »Begegnungen mit Dingen und mit ›Raum‹« zu sein.

Gewöhnliche Dinge und gewöhnlicher Raum sind Gegebenheiten eines niederen Raumes - sie werden dort als Gegensätze und als von GROSSEM RAUM abgeschnitten gesehen. Aber gleichzeitig be­ruht die Tatsache, daß sie überhaupt in Erscheinung treten, auf irgendeiner Verbindung mit dem offenen, expressiven Wesen des GROSSEN RAUMES - die drei alternativen Betrachtungsweisen der Welt (S. 51, Nr. 2, 3 und 4) stehen für unterschiedliche Arten einer derartigen Verbindung. Wir können entdecken, daß wir selbst

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diese Offenheit sind. Wir können die »Dinglichkeit« des zum Vor­schein Kommenden als einen Ausdruck unseres Beteiligtseins an einem offeneren »Zulassen« empfinden, das durch kein Ding be­grenzt wird und zu keinem Ding in Widerspruch steht.

Diese Erscheinung von »Dingen« ist an sich nicht etwa eine be­grenzte Version, ein begrenzter Ausdruck von GROSSEM RAUM - sie ist unendliche Offenheit. Die grenzenlose, unvoreingenomme­ne Beschaffenheit des GROSSEN RAUMES ist inmitten der Er­scheinung und der abgegrenzten Dinge nicht verlorengegangen. Aus der Sicht des GROSSEN RAUMES hat sich nichts Grundlegendes geändert.

Die Grenzenlosigkeit, an der wir interessiert sind, ist eben deswe­gen grenzenlos, weil sie niemals erschöpft werden kann, weil es nichts gibt, das außerhalb von ihr stünde. Oben wurde bereits fest­gestellt, daß scheinbare Ereignisketten »Raum sind, der Raum in den Raum projiziert«. Wir können jetzt hinzufügen, daß die Dinge des gegenwärtigen Augenblicks - die Dinge, die aus dem Raum kommen und dorthin zurückkehren - nicht nur in gewöhnlichem Sinne von Raum durchdrungen werden, sondern GROSSER RAUM sind - unendlich, offen, das Sein anderer Dinge nicht aus­schließend.

Die ganze Tragweite dieser Sichtweise wird erst in späteren Kapi­teln ersichtlich werden; jetzt ist es erst einmal wichtig, der »Nicht- Dinglichkeit« der Strukturen des Riesenkörpers Beachtung zu schenken und gleichzeitig an Stelle einer ausschließenden eine ein­schließende Bewußtheit zu entwickeln. Um diesen Ansatz noch wei­ter zu entwickeln, wäre es hilfreich, den Sinn des »Öffnens und Durchscheinendmachens undurchsichtiger Trennwände« (Übungen 9 und 10) noch einmal in einem anderen Zusammenhang zu sehen. Anstatt - wie vorher - mit Ihrer erforschenden Bewußtheit durch die Trennwände hindurchzugehen, lassen Sie diese nun einfach an­wesend sein, mit den Dimensionen der Offenheit und »Nicht-Ding­lichkeit« vollkommen vereinbar. Da Sie damit die Betonung der »Festlegung« der Dinge abschwächen, wird die Durchführung von Übung 10 B wesentlich erleichtert. Außerdem sehen wir ein, daß eine besondere höhere »Raum«-Dimension der Erscheinung nicht dadurch verändert oder verbessert wird, daß man alle sichtbaren Strukturen des Riesenkörpers zu Raum öffnet.

Was hier gemeint ist, läßt sich noch auf eine etwas andere Art und Weise erklären, wenn man sich nämlich ansieht, welche Assoziatio­

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nen mit der Strategie einhergehen, die Dinge zu öffnen, bis sie in den Raum aufgehen. Folgen wir dieser Strategie, dann scheint alles zu verschwinden. Es wird alles weggeräumt. Gewöhnlich fragen wir uns dann: »Wohin ist denn alles verschwunden?« Die dem Geist der Übungen entsprechende Antwort lautet: »In den Raum.« Es fällt jedoch auf, daß Raum an sich gewöhnlich nicht für lokalisierbar gehalten wird. Er ist keine »Räumlichkeit«, er hat keinen bestimm­ten »Ort«. Lassen wir uns also von diesem Bild leiten, so scheint es, daß man - durch die ungewöhnliche Anwendung eines Übergangs- Prinzips - von den geöffneten Objekten sagen könnte, sie gingen nirgendwohin.

Eine ähnliche Beobachtung macht man auch in dem Fall, in dem die Objekte nicht weggeräumt, sondern vielmehr selbst während ihrer Anwesenheit als von gewöhnlichem Raum durchdrungen an­gesehen werden. Auch in diesem Falle sind - wenn wir uns auf das Übergangs-Prinzip berufen - die »Dinge-als-Raum« nirgendwo, denn Raum an sich hat ja keinen Ort, keine »Position«.

Diese Analyse ist in gewisser Hinsicht zweckdienlich, denn sie spiegelt - auch wenn sie nur eine Formulierung auf niederer Ebene ist - den erfahrungsmäßigen Fortschritt wider, der mit den bisheri­gen Übungen einhergeht. Je mehr Sie die Dinge öffnen - einschließ­lich Ihrer Vorstellung darüber, was dieses »öffnen« bedeutet desto mehr erfahren Sie sich selbst als GROSSEN RAUM, der keinen Ort, keine Position hat.

Zwischen dem Wort »Position« (im Sinne eines Synonyms für »Ort«) und seinem psychologischen und philosophischen Sinn - als »Orientierung«, »Gesichtspunkt«, »Disposition« und »Neigung« - besteht eine vielsagende Verbindung. Gewöhnlicher Raum an sich hat keinen Ort. GROSSER RAUM hat keine Position. Alle die bekannten Dinge, die die Welt der Phänomene ausmachen, sind unmittelbar - und nicht durch ein fernliegendes Bindeglied oder einen Übergang - GROSSER RAUM. Daraus folgt, daß sie - als GROSSER RAUM - keine Position haben. Indem sie sind, was sie sind, repräsentieren sie doch keine bestimmten Situationen oder Zustände, die auf eine bestimmte Art und Weise disponiert oder geneigt sind.

In ihrem Kommen-Aus, Aufgehen-In und Anwesend-sein-Als GROSSER RAUM sind sie »nirgendwo«, ja sie sind nicht einmal »vorgekommen«. Sie sind nicht in dem Sinne aus GROSSEM RAUM aufgetaucht, daß sie besondere und alles andere ausschlie­

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ßende Umstände darstellten. GROSSER RAUM wird nicht zu et­was. Nichts entsteht aus ihm. Nichts kann ihn verfälschen. GROS- SER RAUM bleibt unbegrenzt, beherbergt alles und errichtet doch nichts, »tut« überhaupt nichts.

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3. Kapitel

Der Geist und der Ursprung von Erscheinung

Wie Raum, so hat auch der Geist kein Fundament. Er ist kein greifbares, festes Ding, und er »tut« selbst gar nichts. Der Geist ist vielmehr das Anzeichen einer spezifischen Brennweiteneinstellung auf GROSSEN RAUM.

Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, daß die neue Wirklich­keitsschau, welche allmählich aktiviert wird, die Wahrheit (wenn auch nicht die Erscheinung) linearer Verbindungen und Ursachen als Erklärung für das Entstehen irgendeines bestimmten Existentials oder Ereignisses ablehnt. Die Quelle der Erfahrung ist nicht das Selbst, nicht der Geist, nicht irgendein psychophysisches System oder irgendeine andere Gegebenheit in der gewöhnlichen Weitsicht.

Indem wir den Status dieser konventionellen Elemente in Frage stellen, müssen wir gleichzeitig lernen, die Quelle der Erfahrung auf neue Weise zu sehen. Besonders wichtig dafür ist eine Neubewer­tung der Vorstellung, daß das Selbst ein unabhängiges Erkennendes ist, das Erfahrungen hat oder macht. Es ist ja gerade die verkörperte Annahme, daß es ein Selbst oder einen unabhängigen Geist als Quelle oder Grundlage der Erfahrung gibt, die den »Raum« ver­deckt, der in Wirklichkeit das erfahrene Geschehen und die erfahre­nen Zustände beherbergt.

Um seinen Status als eine kontinuierliche Wesenheit in einer fest­gefügten und sinnvollen Welt zu erhalten, nimmt das Selbst eine Position ein. Es muß diese Position dann einfrieren, indem es sie als eine absolut stabile und unverrückbare Plattform betrachten, von der aus die Veränderungen und Vorkommnisse der Welt betrachtet werden können. Diese Sichtweise entdeckt infolgedessen nur einen einzig und allein außen befindlichen Raum, der nicht mehr ist als eine »Räumlichkeit«, als Regionen oder Standorte.

Eingefrorenen Raum und aktiven Raum auf diese Weise gegen­überzustellen, ist nur vorübergehend zulässig. An dieser Stelle ist es jedoch ein nützliches Bild, denn es vermittelt uns die Einsicht, wel­che die Grundlage der nächsten Übungen ist. Um uns dem GROS-

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SEN RAUM annähern zu können ist eine Schwerpunktverlagerung in diesem Sinne notwendig. Bei den Übungen mit dem Riesenkör­per richteten wir unsere Aufmerksamkeit primär auf die vertraute Vorstellung des Raumes, der etwas »enthält« oder »durchdringt«. Nun werden wir die Erfahrung einer aktiveren Art von »Raum« entwickeln, die über die Vorstellung eines »Raumes, als eines Ortes oder einer Region, in der etwas enthalten ist«, hinausgeht. Wie wir sehen werden, war die Betonung des Beteiligtseins des Beobachters (in Übung 10) der Anfang einer Gegenbewegung gegen diese eher beschränkte Raumvorstellung.

»Raum« wird von nun an auf eine Dimension der Wirklichkeit verweisen, deren Offenheit sowohl eine Voraussetzung für alle er­fahrenen Vorkommnisse als auch eine gleichzeitig gegebene Eigen­heit dieser Vorkommnisse ist. Die Entdeckung dieser Art von Raum steht mit der nicht-linearen, »Keine-Quelle«-Sichtweise der Erfah­rung in Zusammenhang.

Die folgenden Übungen gehen über den geschlossenen Kreis der in Übung 7 angesprochenen Körper-Geist-Gedanken-Interaktion hinaus. Dadurch führen sie zu weiterem Fortschritt bei der Entdek- kung des »Raumes« von Übung 10 und des besonderen »Wissens«, das die Sichtweise Nr. 4 von Seite 51 ausmacht - von GROSSEM RAUM und GROSSEM WISSEN. Diese Übungen stellen einen Übergang von der ersten zur dritten der folgenden Sichtweisen dar:

a) Die Vorstellung, daß wir die Objekte als größtenteils Raum, als aus dem Raum kommend und in den Raum zurückkehrend betrach­ten können - »Raum, der Raum in den Raum projiziert« anstatt zwischen ihnen festgelegte Verbindungen und Interaktionen zu sehen.b) Das Vertrautsein mit einem Raum, der die erfahrene Interaktion zwischen den Objekten und zwischen dem Selbst und den von ihm erkannten Objekten beherbergt - und der diese ist. Da dieser Punkt nur schwer unmittelbar begreifbar ist, machen wir zuerst folgenden Zwischenschritt:c) Wir machen uns mit dem »Raum« vertraut, der das Durchziehen der Gedanken und das »Geist-Gedanken«-Wechselspiel beherbergt (Übungen 11 bis 14).

Dieser Übergang soll eine schrittweise Rückkehr zu der eigentli­chen Aufgabe des Menschseins darstellen: voll wahrzunehmen und zu würdigen, was anwesend oder »hier« ist. Durch die Übungen 11

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bis 13 nähern wir uns den erstaunlichen und wunderbaren Dimen­sionen dessen an, was »hier« ist, indem wir die dem Wachstum hinderlichen Ablenkungen und Abgrenzungen durchdringen. Wie auch in Übung 14 geht es in diesen drei Übungen um die dritte (c) der oben aufgeführten Sichtweisen, wohingegen es in Übung 15 um den allgemeinen Fall geht, der von der zweiten der oben formulier­ten Sichtweisen angesprochen wird.

Übung 11: Die Quelle der Gedanken

Die Ausführung der Übungen 1 bis 10 kann die Entwicklung einer weitergefaßten Perspektive, eines offeneren »Raumes« fördern. Versuchen Sie nun, mit dieser »Raum«-Perspektive einen Ur­sprungsort oder eine zeugende Quelle der Gedanken zu entdecken. Untersuchen Sie dann gleichermaßen, ob es einen Ort gibt, zu dem die Gedanken weiterziehen, wenn sie nicht mehr anwesend sind.

»Kommen« die Gedanken »von« einem Ort, der sich unserer unmittelbaren Betrachtung entzieht? Sind sie dort, bevor sie daraus hervortreten, bereits als Gedanken ansässig? Oder ist die Ansicht, daß »sie« sich vor ihrem Hervortreten irgendwoanders befinden, etwa gar nicht dienlich?

Es ist nicht nötig, daß Sie versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Bleiben Sie dieser Fragen nur gewahr, während Sie das Durchziehen von Gedanken erfahren. Nehmen Sie sich Zeit und machen Sie sich von Ihren gewöhnlichen Sichtweisen frei, so daß diese Fragen durch Ihre unmittelbare Erfahrung beantwortet werden.

Kommentar zu Übung 11Nicht ein Riesenkörper oder physische Trennwände sind Gegen­stand dieser Untersuchung, sondern vielmehr eine Gruppe sehr fun­damentaler gelebter Vorwegnahmen. Die grundlegende Vorweg­nahme, die hier in Frage gestellt wird, behauptet, der Geist oder irgendeine andere psychophysische Struktur sei der Ursprung der Gedanken. Vorwegnahmen dieser Art müssen »geöffnet« und »durchscheinend gemacht« werden. Dieses Infragestellen kommt jedoch nicht einer Widerlegung (im gewöhnlichen Sinne) der Vor­wegnahmen gleich, denn unsere Methodologie - unsere Berufung auf eine Untersuchung unserer unmittelbaren Erfahrung - wird ja

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im Rahmen dieser Vorwegnahmen gar nicht anerkannt. Wir können sie jedoch durch eine ganz neue Sichtweise tatsächlich in Frage stellen.

Es gibt zwei allgemein verbreitete Orientierungen dieser Art, mit denen wir uns auseinandersetzen und die wir transzendieren müssen. Sie sind einer näheren Betrachtung wert, denn sie stehen beide auf sehr bezeichnende Weise zu dem besonderen »Wissen« im Gegen­satz, welches die Übungen aktivieren sollen,

1. Rück-Bezugnahme und die Anschauung vom Geist als einer Kategorie:Angenommen, wir sind dazu entschlossen, an der Vorstellung festzu­halten, die den »Geist« als die zeugende Quelle der Gedanken und damit als irgendwie von den Gedanken verschieden betrachtet. Und weiterhin angenommen, wir benutzen eben diesen Geist dazu, die Quelle all jener Gedanken ausfindig zu machen, denen wir in der Gegenwart begegnen. Die Quelle, der Geist, mag dann zwar vorhan­den sein, doch kann er sich seihst nicht als die Quelle entdecken. Wenn wir mit dem Geist nach dem Geist suchen, können wir nur Geisteser­eignisse finden.

2. Die Theorie von der Identität von Geist und Körper:Diese Theorie ist eigentlich ein ganzes Bündel verschiedener Ori­entierungen und läßt sich deswegen nur sehr schwer in gedrängter Form darstellen. Ganz allgemein gesagt vertritt sie jedoch den Stand­punkt, daß es richtiger wäre, unser mentalistisches durch ein physika­lisches Vokabular zu ersetzen, das neurophysikalischen und elektro­chemischen Prozessen Rechnung trägt, wenn wir die wahren Kausal­zusammenhänge nachweisen wollen, die zu einem bestimmten Ereig­nis- auch einem Geistesereignis - geführt haben. Alle Ursachen und wirkenden Quellen sind dann im Grunde »physikalischer« Natur, dem »Geist« hat man diesen Status nur zugeschrieben. So wäre es also eine physikalische Interaktion, die die psychische Erfahrung des »untersuchenden Selbst«, der »Gedanken« und eines »die Gedan­ken denkenden Geistes« erzeugt oder eigentlich (auf nicht ganz durchsichtige Art und Weise) konstituiert. Diese physische Quelle existiert wirklich, nur ist sie - aufgrund der Natur ihres Verhältnisses zu dem, der dem Anschein nach die »Erfahrung macht« - nicht unmittelbar zu erfahren. Sie ist jedoch weder eine zeitlich vorausge­hende Ursache, noch befindet sie sich räumlich woanders.

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Diese beiden konventionellen Sichtweisen des Geistes bestreiten, daß man sich bei der Suche nach dem Geist auf die unmittelbare Erfahrung berufen darf. Sie postulieren eine Quelle, die in irgendei­nem nicht-räumlichen Sinne »außerhalb« oder »hinter« der Erfah­rung steht. Beide beinhalten Vorwegnahmen, die auf der gewöhnli­chen Ebene unserer Erfahrung Wirklichkeit werden. Sie sind plausi­ble Synthesen alltäglicher und wissenschaftlicher Beobachtungen, die dazu neigen, von den von ihnen vertretenen Ansichten abhängig zu sein oder sie vorauszusetzen. Wenn wir mit den Werkzeugen und Orientierungen des gewöhnlichen Bereichs arbeiten, werden wir die Dinge wahrscheinlich auf diese Art und Weise sehen. Wir müssen uns dann nur noch mit der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Körper herumschlagen, die sich aus dem Nebeneinander dieser bei­den einleuchtenden Betrachtungsweisen ergibt, und sehen, wie wir dieses Nebeneinander mit unserer Erfahrung in Einklang bringen können.

Die weitere Untersuchung mag klären, warum die beiden oben erwähnten Orientierungen zur Erklärung der gewöhnlichen Erfah­rung angemessen (und bis zu einem gewissen Grad auch verifizier­bar) erscheinen. Für die Durchführung von Übung 11 wird es je­doch hilfreich sein, sich von diesen beiden Vorstellungen für eine gewisse Zeit loszusagen, denn es ist wichtig zu untersuchen, ob die gegenwärtige Erfahrung mit Erfahrungen, Dingen oder Ursprungs­orten verbunden werden muß, die sich zeitlich oder auf eine andere Art und Weise »außerhalb« von ihr befinden (oder von ihr verschie­den sind).

Aus der Perspektive, die uns die in Übung 11 vorgenommene Untersuchung erschließt, und von der Warte des irgendwie offene­ren »Raumes« gesehen, zu dem wir inzwischen vorgestoßen sind, ist es angemessen zu bestreiten, daß man eine solche Quelle oder einen solchen Ursprungsort überhaupt finden kann. Es ist genauso ange­bracht zu behaupten, daß diese Tatsache - der Unauffindbarkeit einer Quelle - einen stichhaltigen Beweis für das Nicht-Vorhanden- sein einer derartigen Quelle darstellt, anstatt nur eine logische Folge aus der Existenz einer solchen Quelle zu sein (wie das in den beiden oben genannten konventionellen Theorien der Fall ist).

Diese Aussage, daß es »keine Quelle« gibt, ist keine Behauptung, die den beiden konventionellen Theorien wiederspricht, indem sie sich auf dieselbe Ebene der Beobachtung und Erklärung beruft. Vielmehr gründet sie sich auf die neuen Perspektiven der RAUM-

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ZEIT-WISSEN-Vision. Das ist unbedingt zu beachten, denn an­dernfalls würde diese Aussage tatsächlich nur einen gewöhnlichen Denkfehler darstellen - eine unzulässige Verwechslung der Katego­rien oder das Versäumnis, die Probleme der Rück-Bezugnahme in Betracht zu ziehen - oder aber sie würde sich auf die archaische Vorstellung berufen müssen, nach der einige Dinge tatsächlich einen Ursprungsort besitzen.

Die Beengtheit des niederen Raumes, der die Stätte unseres Wir­kens ist, disponiert uns dazu, lineare Kausalzusammenhänge, Quel­len und »Orte-von-denen-aus« anzunehmen und anzutreffen. Wir könnten also sagen, daß »niederer Raum« einen einengenden Ein­fluß ausübt. Er intensiviert die Komplexität und die Häufigkeit von Ereignissen oder Reaktionen innerhalb seines Bereichs, ähnlich wie ein Druckanstieg auf Gase in einem geschlossenen Behälter wirkt. Das führt dazu, daß unsere gewöhnliche Erkenntnisfähigkeit von den scheinbaren Interaktionen dieser Ereignisse und Reaktionen irregeführt wird. Diese Interaktionen weiten sich sehr schnell aus und werden plattgewalzt, bis sie einen scheinbar kontinuierlichen Strom oder eine Oberfläche bilden. Das verführt uns dann dazu anzunehmen, daß wir innerhalb dieses Ereignisstroms ein grund­sätzliches »Kommen und Gehen«, »Ursachen und Wirkungen« wahrnehmen können. Im Falle physikalischer Interaktionen ist die­se Täuschung fast vollständig, und gewöhnlich ist sie auch im Be­reich der geistigen Vorgänge wirksam.

Wollen wir dieser Täuschung entgegenwirken und ein wenig ge­nauer hinschauen, dann könnten wir der Analyse vielleicht dadurch eine neue Richtung geben, daß wir den Geist als die Quelle oder das verursachende Agens annehmen, das die Gedanken hervorbringt und sie in sinnvollen Relationen und Sequenzen ordnet. Eine noch eingehendere Untersuchung offenbart dann jedoch, daß wir den »Geist« niemals wirklich sehen können, sondern immer nur die Ge­danken. Entweder wir verzichten also ganz auf die Vorstellung von einem »Geist« zugunsten einer problematischen Reduktion auf die physikalische Ebene, oder wir geben uns damit zufrieden, daß dem Geist die Begrenzung inhärent ist, sich selbst nicht unmittelbar se­hen zu können, sondern immer nur die »Dinge« (d.h. Gedanken) einer anderen Ebene.

Solange nicht die empfänglichere Bewußtheit eines höheren Rau­mes ins Spiel gebracht wird, kann unsere Analyse nicht sehr viel

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weiter reichen. Die Einsicht höherer Räume kann jedoch auf unsere dem niederen Raum eigene Verwirrung Licht werfen, ohne daß man irgendwelche Schlußfolgerungen und Theorien formulieren müßte, die dem niederen Raum angehören. Auf dem Weg dahin wird sich ein neues und aufschlußreiches Verständnis der Unterscheidungen zwischen Geist und Körper, zwischen »Geist-Raum« und »Raum als Behälter physikalischer Objekte« ergeben. Auch solche Sach­verhalte wie das Unvermögen des Geistes, sich selbst zu erkennen, werden in neuem Licht erscheinen.

Haben wir erst einmal eine größere Bewußtheit entwickelt, be­ginnen wir zu sehen, daß den Ereignissen und Gedanken, die wir als kontinuierlichen Strom angesehen haben, nicht die dynamischen Zusammenhänge eigen sind, die wir gewöhnlich vermuten und ih­nen zuschreiben. Wir können uns also entspannen und uns ein wenig mehr öffnen. Wir müssen nicht dauernd alles in Ordnung bringen, indem wir unsere Gedanken ineinanderfügen und sie »plazieren«. Wenn wir uns an die Freiheit gewöhnt haben, nicht dauernd Buch führen zu müssen, kann ein subtileres Vermögen zu »wissen« her­vortreten, das nicht einem Selbst zugeordnet werden muß. Dies ist dann nicht mehr »unser« Vermögen, doch es ist auch nicht von uns und unserer Erfahrung getrennt.

Solches »Wissen« stellt eine breite und umfassende Basis für ein Verstehen der Faktoren oder Elemente der Erfahrung zur Verfü­gung, die wir im allgemeinen nicht sehen können. Sogar jene Facet­te der Erfahrung, die als das »Selbst«, der »Untersuchende« oder der »Zeuge« gewöhnlich für sich steht und seine Aufmerksamkeit nach außen, von sich weg, richtet, läßt sich durch dieses besondere »Wissen« umfassen und im Innersten verstehen.

Die Einsicht, die durch Übung 11 gefördert wird, verändert sich, wenn wir die grundlegenderen und subtileren Vorwegnahmen, die unsere Erfahrung strukturieren, noch weiter untersuchen und in Frage stellen. Das gründliche Nachforschen und Infragestellen kann seinerseits ebenfalls in Frage gestellt werden. Dieses neue Vermö­gen zu »wissen« bedarf jedoch keiner Rück-Bezugnahme, bei der etwas sich selbst als Objekt auffaßt. Dieses »Wissen« faßt überhaupt keine »Objekte« auf.

Die allmähliche Entwicklung einer breiteren und an Einsicht reicheren Basis, mit der man an die Grundzüge der gewöhnlichen Erfahrung herangehen kann, ist nichts anderes als eine wachsende Bekanntschaft mit einem höheren Raum. Mit dem in jenem Raum

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wirksam werdenden Vermögen zu »wissen« tritt ein autoritatives und sicheres Verstehen zutage, welches begreifen kann, daß die Gedanken »nirgendwoher kommen« und »nirgendwohin gehen«.

Die Vorstellung des »Irgendwoherkommens« steht in Zusammen­hang mit einer zeugenden Quelle und damit mit dem »Geist«, dem Subjekt-Pol der Erfahrung. In ähnlicher Weise wird die Vorstellung des »Irgendwohingehens« auf die Ausrichtung der Gedanken - ihre Bedeutung*, ihren Inhalt - und auf den Objekt-Pol der Erfahrung angewendet. Untersucht man sie sorgfältig, kann man sehen, daß die »Bewegung« der Gedanken eine ungeheure Überzeugungskraft mit sich bringt - die Gedanken erstrecken sich über die Welt der bedeutungsvollen Dinge, wählen Gegenstände aus, manipulieren sie, tun etwas und sind Träger einer Überzeugung. Die scheinbare Bewegung der Gedanken ist weitgehend auf ihren dynamischen Charakter als Bedeutungsträger zurückzuführen.

Im Zusammenhang mit dieser überzeugenden Dimension ist auch der Aspekt der »Bewegung« oder des »Durchziehens« der Gedan­ken zu sehen, der daraus entsteht, daß wir uns in ihrer Bedeutung verfangen. Wir stellen uns die Gedanken vor, als wären sie in der gegenwärtigen Zeit lokalisiert, ähnlich wie die Objekte, die sich auf ihrer Reise durch den Kaum ebenfalls für eine gewisse Zeit in einer Region nahebei befinden, bevor sie an uns vorüberziehen. Indem wir nun die Bewegung und Gerichtetheit der Gedanken in Frage stellen, öffnen wir uns dem Hervortreten eines »Wissens«, für das die Gedanken »nirgendwohin gehen«, »nirgendwohin gelangen« und auf nichts hinweisen.

Wir haben oben bereits angedeutet, daß die Erscheinung spezifi­scher Objekte oder Zustände aus der Perspektive des GROSSEN RAUMES gesehen nichts errichtet oder »feststellt«. Behandeln wir die Gedanken ebenso, entdecken wir vielleicht, daß sie und ihre Bedeutungen - in einem ganz anderen als dem gewöhnlichen Sinn - nichts »feststellen«.

Übung 12: Raum zwischen Gedanken

Die Übung 11 hat uns gezeigt, wie wir vermeiden können, durch die scheinbaren Kausalzusammenhänge zwischen dem Geist und den Gedanken und die scheinbaren Verbindungen zwischen den Gedan­ken und den Dingen irregeführt zu werden. Es mag uns nun möglich

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sein, eine Lücke oder einen Raum zwischen den Gedanken zu ent­decken.

Achten Sie, wenn Sie beobachten, wie Ihre Gedanken durchzie­hen, sehr genau auf den Augenblick, in dem sich ein Gedanke ver­flüchtigt und der nächste auftaucht. Dieser Übergang geschieht sehr schnell und ist außerordentlich subtil, er bringt jedoch die momen­tane Verfügbarkeit eines Raumes mit sich, mit dem Sie Kontakt aufnehmen und den Sie sogar ausdehnen können. Diesem Raum ist eine gewisse Offenheit zu eigen, die frei ist vom gewöhnlichen dis- kursiven und unterscheidenden Denken.

Kommentar zu Übung 12Wir sind mehr und mehr dazu in der Lage, alles, was »hier« ist, als GROSSEN RAUM wahrzunehmen und zu würdigen. Es mag uns zwar noch nicht möglich sein, uns dem »Hier« unmittelbar zu stel­len, aber wir haben die Möglichkeit, für die Dimension eines höhe­ren Raumes empfänglich zu sein, so daß wir gewahr werden, wie dieser unmittelbar um jeden Gedanken lokalisiert ist. Wenn dieser Raum in Erscheinung tritt, gibt es keine Gedanken, kein »Bewußt­sein«, keine Wahrnehmungen. Die Erfahrung ist vollkommen still - eine »Raum«-Erfahrung, die trotz ihres friedvollen Charakters eine ungeheuer befreiende Wirkung haben mag.

Sehen wir auf diese Art, wie der »gegenwärtige Gedanke ver­schwindet und sich eine Lücke zwischen ihm und dem nächstfolgen­den auftut«, so mag uns dieses »Sehen« selbst wieder wie ein Gei­stesereignis und ein Gedanke Vorkommen. In diesem Fall wäre das »Intervall der Stille« doch nicht von allen Gedanken frei. Das in diesen Übungen erweckte »Wissen« kann jedoch nicht von einem »Selbst« in Beschlag genommen werden. Es ist kein bestimmtes Ereignis, und es bedient sich keiner Bedeutungen. Im Gegenteil, es befreit uns von der Überzeugungskraft der Bedeutungen. Kommt dieses »Wissen« zum Tragen, so entspricht das auch keiner besonde­ren Form eines Geistesereignisses (so ist es zum Beispiel kein Gei­stesereignis, das »keine Bedeutungen« mit sich bringt).

Die übliche Subjekt-Objekt-Polarisierung der Erfahrung bein­haltet eine Faszination von einer Art »Von-Zu«-Ausstreuung. Das Subjekt schaut immer voraus und kann sich selbst und die Begrenzt­heit seiner Mittel und Wege des Erkennens in eben diesem Akt nicht in Betracht ziehen. Eine dieser Begrenzungen besteht darin, daß sich das Selbst immer einem Etwas aufdrängen und sein »Ge­

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dankendenken« dazwischenschieben muß, um jenes Etwas wahr­nehmen und würdigen zu können. Jedwede bestimmte Gegebenheit ist eine Gegebenheit für das Selbst und der Inhalt eines Gedankens oder einer Beobachtung. Durch diesen Zugang wird jedoch sehr vieles verdunkelt.

Übung 11 ebnet, indem sie von einer derartigen Orientierung absieht, den Weg für Übung 12, in der Seite an Seite mit dem Vorkommen von Geistesereignissen eine andere Art des »Sehens« entdeckt wird. Diese andere Art des »Sehens« unterbricht den Fluß der Ich-sagenden Gedanken. Sie ist eine tiefe Stille - Offenheit. Trotzdem ist sie zugänglich. Man kann an ihr teilhaben - aber ohne ein Selbst, das teilhat.

Obwohl es im Verlauf von Übung 12 möglich ist, tiefe Stille und Offenheit zu erfahren, werden erneut Gedanken auftauchen. Wir müssen uns also wiederum dem Raum und der Klarheit öffnen, die diese Gedanken zu umgeben scheinen. Dieses Muster wird sich wahrscheinlich immer und immer wieder wiederholen.

Daß wir immer noch derart von Gedanken bestürmt werden kön­nen, liegt daran, daß die Unterscheidungen zwischen der klaren Offenheit des Raumes und der verdunkelnden Macht der Gedanken und Wahrnehmungen weiterhin in Kraft sind. Bis jetzt ist nur die äußere Form GROSSEN WISSENS ans Licht gekommen. Um voll und ganz in der »Raum«-Dimension verweilen zu können, müssen wir noch mehr von diesem Wissen an die Oberfläche dringen lassen. Die Betrachtung der »Zeit«-Dimension im zweiten Teil dieses Bu­ches wird ebenfalls zu einer Steigerung des würdigenden Gewahr­seins des »Raumes« beitragen.

Übung 13: Gedanken als RAUM

Obwohl Übung 12 als eine vorübergehende Annäherung an »Raum« notwendig ist, sollte man im Anschluß daran der Beschaf­fenheit der Gedanken während ihrer unmittelbaren Anwesenheit Aufmerksamkeit widmen. Betrachten Sie - auf den »›Raum‹ als breitere Grundlage der Einsicht« (Übung 11) und Ihre Bekannt­schaft mit dem »›Raum‹ zwischen den Gedanken« (Übung 12) zu­rückgreifend - das Wesen der Gedanken so, als würden Sie sich zum ersten Mal damit beschäftigen. Versuchen Sie dabei jedoch nicht,

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die Gedanken zugunsten irgendeiner anderen »Wissens«-Fähigkeit zu transzendieren oder aufzuheben.

Kommentar zu Übung 13Mit allen gewöhnlichen Gedanken einhergehend - ja sogar als diese Gedanken - können Sie dieselbe Freiheit von der Aufspaltung in Subjekt und Objekt entdecken wie in Übung 11 und dieselbe Tran- szendierung »geistiger Ereignisse« wie in Übung 12. Gedanken, Bedeutungen und geistige Ereignisse sind möglicherweise eben je­ner »Raum«, der nicht mit Gedanken vollgestopft ist und eben jenes »Wissen«, das sich nicht von Bedeutungen täuschen läßt.

Nur GROSSES WISSEN versteht dies. GROSSES WISSEN ist nicht von der Anwesenheit des Selbst und »seiner« Gedanken ge­trennt. Wir müssen weder Gedanken und Unterscheidungen unter­drücken, noch müssen wir unfähig werden, in aller Klarheit und Schärfe wahrzunehmen - das wäre absurd. Alle diese Manifesta­tionen sind GROSSER RAUM, wahrgenommen von GROSSEM WISSEN. Die duldsame Offenheit dieses Raumes und die Stille und Klarheit dieses Wissens können nicht dadurch gewonnen werden, daß man eine Strategie der Unterdrückung verfolgt.

Die Anstöße aus Übung 13 sind offensichtlich von Bedeutung für die Bemühung in den Übungen 6 und 10, die gewöhnlichen Gegen­stände und die gewöhnliche Erfahrung in ihrer GROSSER-RAUM- Dimension zu sehen. Außerdem stehen sie mit der subtilen Erweite­rung des »Durchlässigmachens« in Zusammenhang, das auf S. 59 angesprochen wird.

Jetzt eröffnen sich uns weitere Möglichkeiten, mit der Idee, die Trennwände transparent zu machen sowie mit der Subjekt-Objekt- Polarisierung der Erfahrung zu arbeiten. In beiden Fällen begegnet ein wahrnehmendes Subjekt bestimmten Erfahrungen. Ausgehend von dem neuen »Raum« und dem neuen Vermögen zu »wissen«, welche sich inzwischen entfalten, können wir nun die Möglichkeit erwägen, daß wir diese Begegnungen anwesend sein lassen können, ohne damit der Vorstellung Vorschub zu leisten, daß es eine zwi­schen Subjekt und Objekt tretende und sie voneinander trennende Entfernung gibt.

Die Vorstellung von einer »Entfernung zwischen« ist noch funda­mentaler als die vom »Durchziehen«, die wir bereits früher ange­sprochen haben. Wir können sie neu bewerten, ohne damit die Un­mittelbarkeit dessen, was »hier« ist, zu unterbrechen. An dieser

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Stelle wäre es hilfreich, sich nochmals mit dem Abschnitt zu be­schäftigen, in dem es um die Tendenz des beobachtenden Selbst geht, »hervorzutreten«, und dann zu betrachten, wie sich die Idee »Keine Entfernung dazwischen« zu dieser Tendenz verhält. Dies wird die Grundlage von Übung 17 im zweiten Teil des Buches sein.

Aus der Perspektive des GROSSEN RAUMES gibt es weder eine verdunkelnde Trennwand noch irgendeine Entfernung, die »ein Ding« von einem »ändern Ding« trennt. Im gegenwärtigen Stadium können wir diese Idee nur auf den Fall der Phänomenolo­gie der Subjekt-Objekt-Begegnungen anwenden. Die folgenden Kapitel werden ihre Anwendungsmöglichkeit jedoch auch noch auf andere Fälle ausdehnen.

Die Dimension des GROSSEN RAUMES legt eine alles-ein- schließende Einheit offen, die - paradoxerweise - über keine Re­gion ausgebreitet ist. Damit erhalten wir eine unendliche Form oder Totalität, der trotzdem eine gewöhnliche räumliche Ausdehnung fehlt, und die deswegen kein unendliches »Ding« sein kann. Und während wir in Übung 12 GROSSEN RAUM aufzudecken versu­chen, indem wir nach der Lücke zwischen den Gedanken Ausschau halten, müssen wir über diesen Ansatz nun hinausgehen.

Wie wir im zweiten und dritten Teil dieses Buches sehen werden, ist die Aussage, daß es keine Lücken gibt, in vieler Hinsicht sehr tiefgründig. GROSSER RAUM ist nicht von endlichen Dingen ge­trennt, und er trennt sie auch nicht voneinander - ganz im Gegen­teil!

In den Übungen 11 bis 13 lassen sich zwei Hauptarten der Betrach­tung und Übung erkennen. Die eine ist besonders darauf ausgerich­tet, den »Geist« als Erzeuger oder Quelle der Erfahrung in Frage zu stellen. Bei der anderen geht es um eine allgemeinere und grund­sätzlichere Bemühung, verdunkelnde Trennwände und begrenzende Vorwegnahmen zu öffnen, transparent zu machen oder zu transzen­dieren.

Gewöhnlich gehen wir davon aus, daß es einen Geist gibt. Und so gibt es auch Gedanken, Vorwegnahmen und verschiedene »Geistes­zustände«. Durch die Übungen mögen wir jedoch entdecken, daß es einen solchen gewöhnlichen Geist tatsächlich nicht gibt. Wenn es einen derartigen Geist jedoch nicht gibt, was ist dann das Wesen unserer Gedanken; was sind Vorwegnahmen und was bedeutet es, sie umzuwandeln oder zu transzendieren? Unsere Antwort hängt

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davon ab, was wir meinen, wenn wir sagen, daß es »keinen Geist« gibt.

Aus der Sicht der bisher vorgestellten Übungen gibt es weder einen Geist noch seine gewöhnlich erfahrenen Begleiterscheinungen- sie existieren zusammen, und sie werden zusammen transzendiert. Wenn wir also dieser »Kein-Geist«-Einsicht folgen, sind Gedanken und Veränderungen in der Orientierung nicht länger problematisch. Ja, die Erscheinung von »Geist und Gedanken« unterstützte sogar die Verwirklichung von »kein Geist, kein Gedanke«. Es läßt sich nur schwer sagen, was sie bedeutet, denn sie ist keine gewöhnliche Behauptung über die Existenz oder Nichtexistenz irgendeines »Din­ges«. Für die Ausführung dieser Übungen bedeutet dieses »Kein Geist« anfänglich nichts anderes als »kein Geist als zeugende Quelle«.

Selbst wenn der Geist im gewöhnlichen Sinne als ein Agens, als der Erzeuger der Gedanken angesehen wird, tut er eigentlich gar nichts. Und weiter: Auch wenn der Geist durch eine bestimmte physische Verkörperung ausgestreut oder strukturiert ist, ist er selbst nicht in etwas anderem begründet (das die Gedanken denken würde).

Wie Raum, so hat auch der Geist kein Fundament.

Gerade darauf beruht die Fähigkeit des Geistes, Erscheinungen zu­zulassen und zu beherbergen.

Um jedoch zu dieser Einsicht zu gelangen, die unsere Sichtweise wandeln und unsere Vorwegnahmen in bezug auf den Geist ent­spannen sollen, müssen wir vorerst noch auf den Geist und das Vorkommen von Geistesereignissen Bezug nehmen. Diese Bezug­nahme auf den Geist und die Gedanken ist jedoch nur sinnvoll, wenn wir einschränkend feststellen, daß der Geist nichts tut, son­dern vielmehr zuläßt und beherbergt.

Der Geist ist kein greifbares oder festes Ding (nur wenn wir ihn mit Gefühlsfärbungen und anderen Geistesereignissen verwechseln, wird er dazu). Statt dessen ist es vielleicht am einfachsten zu sagen, daß der Geist Anzeichen einer spezifischen »Brennweiteneinstel­lung« auf den GROSSEN RAUM ist. Der Geist läßt sich mit dem Objektiv einer Kamera vergleichen. Er kann für den GROSSEN RAUM auf verschiedene Weisen und in unterschiedlichem Maße offen sein, die wir als verschiedene Brennweiteneinstellungen be­

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zeichnen könnten. Es sollte uns also nicht überraschen, daß dieser Geist so schwer zu finden ist - wie könnten wir wohl eine »Einstel­lung« orten?

Die Übungen 11 bis 13 tragen dazu bei aufzuzeigen, daß der Geist-als-aktive-Quelle zwar nicht zu orten ist, als Begrenzung oder Verzerrung der Offenheit des GROSSEN RAUMES jedoch - im passiven Sinne - alle gewöhnlichen Erscheinungen hervorbringt. Sie helfen außerdem, uns ein Gespür für die Tatsache zu vermitteln, daß eine bestimmte »Einstellung« in Kraft ist, und steigern unsere Ge­schicklichkeit, diese »Einstellung« zu verändern. Die Veränderung wird dadurch bewirkt, daß wir mit dem, was wir die »Leistung«* von bestimmten »Geistes-Einstellungen« nennen wollen, in einer Weise arbeiten, die für die jeweilige Einstellung nicht charakteristisch ist.

Solche Veränderungen der Einstellung können wir bewirken, in­dem wir die definierenden Trennwände des Objekt-Pols der Er­scheinung öffnen und später den Subjekt-Pol sowie das Wechsel­spiel zwischen beiden einbeziehen. Durch ein solches Öffnen ver­mögen wir über die begrenzte Offenheit und den für gewöhnliche Subjekt-Objekt-Beziehungen charakteristischen Spielraum hinaus­zugehen. Wir können uns des Gefühls der Freiheit erfreuen, das eine veränderte Brennweiteneinstellung mit sich bringt.

Die weitere Übung mag sogar zeigen, daß nicht die Erscheinung vertrauter Subjekt-Objekt-Beziehungen dafür verantwortlich ist, daß das »Zulassen« oder »Gewähren« des GROSSEN RAUMES verzerrt wird. Dies liegt vielmehr an der Tatsache, daß eine solche Erscheinung in ihrem Dasein nicht offen als identisch mit dem GROSSEN RAUM aufgenommen wird.

In den Bereich der Brennweiteneinstellung fällt auch das Vermö­gen zu begreifen, daß die Dinge eine Raum-Dimension haben, je­doch nicht die Fähigkeit zu begreifen, bis zu welchem Grad diese Dimension in Wahrheit ausgeblendet wurde. Wir müssen also das, was »wir« sehen, nicht verändern, um es raumhafter erscheinen zu lassen. Die offenste aller Brennweiteneinstellungen öffnet sich ganz und gar dem »Zulassen« des GROSSEN RAUMES, und dies ge­nügt, um die gewöhnlichen Dinge so wie sie sind als »völlig in Ord­nung« zulassen zu können.

GROSSER RAUM steht zu seinen Manifestationen nicht in einer zweiseitigen Beziehung. Der Geist, wie er gewöhnlich verstanden wird, steht allerdings zu »seinen Gedanken« in einer solchen Bezie­hung. Der »Geist-als-Brennweiteneinstellung« befindet sich in ge­

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wisser Hinsicht genau dazwischen - er ist etwas anderes als die Gedanken und ist doch nicht woanders als eine verschiedene aber immer noch zu einer gewöhnlichen Ebene gehörige Gegebenheit lokalisierbar. Außerdem läßt er sich erheblich modifizieren, wenn wir direkt mit den Gedanken arbeiten.

Der beobachtete Gegensatz zwischen dem Geist und den Gedan­ken wird aufrechterhalten, solange wir weiterhin an einem unabhän­gigen Selbst oder Subjekt-Pol festhalten. Das daraus entstehende Muster ist durch permanente Enttäuschung gekennzeichnet, denn der Geist ist in diesem Fall ein hinderlicher Faktor, der unsere Emp­fänglichkeit für die verfügbare Erfüllung des GROSSEN RAUMES im Wege steht. Stellen wir uns den Geist als das Agens oder den Ausführenden der Veränderung oder Vervollkommnung vor, so er­halten wir eine enge, beschränkende Brennweiteneinstellung auf­recht oder verengen diese sogar noch mehr.

Wollen wir zum Beispiel eine Erinnerung oder Einsicht, die zwar »vorhanden«, uns momentan jedoch entfallen ist, zurückholen, so ist es zumeist am wirksamsten, sich jedes bemühten Greifenwollens, jeder verkrampften Leistungsorientierung zu enthalten und sich passiver Empfänglichkeit zu überlassen. Indem wir den Geist zwanglos öffnen, erlauben wir dem verborgenen Element, seine An­wesenheit von selbst zu offenbaren. Aus diesem Grund überantwor­ten sich Künstler auf der Suche nach Inspiration dem Schlaf, in der Hoffnung, eine Muse werde sie aufsuchen und zu ihnen sprechen - und dann in ihrer Kunst durch sie. Menschen, die das Eingreifen einer göttlichen Macht einladen wollen, wissen von jeher, daß sie sich den göttlichen Absichten und Botschaften öffnen müssen, wie es im Gebet oder bei Orakelbefragungen geschieht. Alle diese ver­schiedenen Orientierungen betonen übereinstimmend die Wichtig­keit der Preisgabe des Selbst.

In der hier vorgestellten Wirklichkeitsschau müssen »wir« jedoch lernen, offen zu sein, ohne den Subjekt-Pol der Erfahrung auszu­sondern und ihn eine Haltung der Offenheit einnehmen zu lassen - denn dieser Prozeß ist nur teilweise und indirekt wirksam. Unser eigentliches Anliegen ist es, die beobachtete Isolierung eines Selbst zu transzendieren. Ein demütiges Selbst oder die Hingabe des Selbst mag vielleicht ein geringfügiges Öffnen der Brennweiteneinstellung darstellen. Solange wir jedoch weiterhin im Bereich der begrenzten Anschauung eines niederen Raumes operieren, die ein von dem »anderen« getrenntes »Selbst« wahrnimmt, wird unsere Erfahrung

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ein »selbst«-verewigender Teufelskreis der Besorgnis, Enttäu­schung, des Schmerzes und der Verzweiflung bleiben. Wir müssen die Perspektive eines »für-sich-allein-stehenden Selbst« völlig transzendieren, um an die Wurzel unserer emotionalen und psy­chischen Probleme heranzukommen und den GROSSEN RAUM voll zu erfahren.

Die vorangegangenen Übungen bieten eine gewisse Einsicht in die Tendenz, ein »Selbst« auszusondern. Sie helfen uns möglicher­weise auch, dieser Tendenz entgegenzuwirken, indem sie Situatio­nen herbeiführen, die es der »Selbst«-Perspektive zunehmend er­schweren, Fuß zu fassen und sich fortzusetzen, weil sie durchschei­nende Trennwände und Raum betonen.

Darüber hinaus können wir sogar der Vorstellung, daß das »Selbst« jemals »herausgekommen« ist, den Boden entziehen. Diese Einsicht führt, wenn sie voll und ganz ausgeglichen ist, zum Verste­hen des »Kein Geist«, dem Begreifen der Tatsache, daß der GROS­SE RAUM der wahre Grund und das Wesen der Erscheinung ist und daß es keine linearen und kausalen Zusammenhänge zwischen Fakten und Ereignissen gibt. Die Dimension des GROSSEN RAU­MES ist uns verfügbar. Sie stellt das Feld der Möglichkeit für den Gebrauch einer Art »Weitwinkelobjektiv« (GROSSES WISSEN) anstelle eines Objektives, dessen enger Blickwinkel der Anwesen­heit eines »erkennenden« und »handelnden« Geist-Selbst ent­spricht. Diesem Geist-Selbst fehlt es an einem genügend weiten Blickwinkel, um sich selbst in Betracht ziehen zu können, und sein Status als eine scheinbar unabhängige und potente Wesenheit ist eben von dieser Begrenzung abhängig.

Übung 14: Eine neue Brennweiteneinstellung auf RAUM

An dieser Stelle wäre es hilfreich, die Riesenkörper-Übungen noch­mals zu üben und die Einsichten aus den Übungen 11 bis 13 sowie die verfeinerte Strategie, den Objekt-Pol der Erfahrung durchschei­nend zu machen (siehe S. 59), auf sie anzuwenden. Achten Sie besonders auf die Anwesenheit des Beobachters oder Subjekt-Pols, öffnen Sie alle Körperstrukturen und den scheinbar beobachtenden Geist zu der Weite einer Art vitalen Raumes.

Kosten Sie das Freisein von »kleingeistigen« Vorurteilen, und betrachten Sie diese Freiheit als das Ergebnis einer neuen Brenn­weiteneinstellung auf GROSSEN RAUM. Überlassen Sie sich der

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Erfahrung der Einsicht, daß der Geist kein starres und kontinuierli­ches Ding ist, sondern nur eine willkürliche Einstellung. Sehen Sie, ob Sie die neue Einstellung beibehalten können, die mehr von der Beschaffenheit des GROSSEN RAUMES zuläßt, während Sie die Grundzüge des Riesenkörpers visualisieren. Sehen Sie außerdem, ob sich diese Betrachtungen des Körpers mit einer »Kein-Geist- keine-Gedanken«Orientierung vereinbaren lassen.

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4. Kapitel

Die Welt und andere Grundlagen

Das Fassungsvermögen des GROSSEN RAUMES wird niemals dadurch erschöpft oder aufs Spiel gesetzt, daß er sich einem bestimmten Trend oder einer bestimmten Welt­ordnung verschreibt. GROSSER RAUM kann alles zum Vorschein kommen lassen. GROSSER RAUM trägt eine unendlich große Auswahl von Perspektiven.

Wollen wir ein integriertes Verständnis der neuen Wirklichkeits­schau, die hier entwickelt wird, erlangen, dann müssen wir den Trend unserer Analysen in den Übungen 11 bis 14 auf das Körper- Geist-Gedanken-Wechselspiel anwenden, das in Übung 7 angespro­chen wurde. Auf diese Weise können wir unsere kritische Betrach­tung dessen, was es heißt, eine »Person« zu sein, vervollständigen. Die tatsächliche Transzendierung des geschlossenen Körper-Geist- Gedanken-Kreislaufs muß allerdings noch eine Weile auf sich war­ten lassen. Bevor eine derartige Transzendierung möglich ist, müs­sen wir zuerst von der Tendenz frei werden, die Erscheinungen in den Begriffen statischer Objekte und der Innen-Außen-Dichotomie zu strukturieren. Außerdem müssen wir auch die Annahme einer in hohem Maße geordneten Welt als einem unabhängigen und enthal­tenden Hintergrund für alle Dinge, Bedeutungen und Beobachtun­gen in Frage stellen.

Der »Geist« läßt sich philosophisch ohne große Schwierigkeit in Frage stellen, und es ist uns inzwischen möglich, diese Infragestel­lung auch erfahrungsmäßig zu fundieren. Beginnen wir jedoch, den Körper in Frage zu stellen, müssen wir bereit sein, alle halbherzigen Maßnahmen fallenzulassen und auch die »Weltordnung« - das Fun­dament und den Prüfstein der Wirklichkeit - in unsere Erwägungen einzubeziehen. Übungen, die in diese Richtung gehen, sind an die­ser Stelle noch verfrüht, obwohl die Möglichkeit solcher Erfahrun­gen bereits sichtbar wird, wenn man sich die Ablehnung linearer Zusammenhänge, welche die Erscheinung mit etwas verbinden, das »woanders«, »hinter ihr« oder »zeitlich vor ihr« liegt, vor Augen führt.

Die »Keine-Quelle-von-der-aus«-Vorstellung, die oben vorge­

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stellt wurde, läßt sich nun durch die einfache Formulierung erwei­tern:

»Keine Anlieger, keine Außenlieger.«

Die Vorstellung von »Anliegern« schließt alles ein, was räumlich, zeitlich oder auf irgendeine andere Art und Weise »hier«, das heißt sehr nahe ist. Das räumliche »Hier« und das zeitliche »Jetzt« sind Beispiele dafür. Das »Subjekt« im Gegensatz zum »Objekt« ist ein weiteres Beispiel. Ein Mikrokosmos von Zellen, Molekülen, Ato­men und so weiter in unserem Körper im Gegensatz zum Makrokos­mos außerhalb von uns könnte, wie der Körper selbst, ebenfalls als ein Anlieger betrachtet werden.

»Außenlieger« wäre dann alles das, was sich räumlich, zeitlich und so weiter außerhalb von uns befindet - einschließlich all dessen, was wir in einer Hierarchie der Macht oder der Werte als »höherste­hend« wahrnehmen. Zu den Außenliegern gehören also alle jene Dinge, mit denen wir interagieren können (wie »die Welt«), die jedoch unabhängig von uns bestehen und für unsere Wirklichkeit grundlegender sind als unser »bestimmtes beobachtendes Selbst«.

Wir müssen unser Infragestellen einer »Quelle-von-der-aus« auch auf alle Anlieger und Außenlieger ausdehnen. Wir dürfen da­bei drei Punkte nicht aus den Augen verlieren: Als erstes müssen wir unsere Tendenz neubewerten, einen ursprünglichen oder ersten Grund für unsere Welt anzunehmen und nach ihm zu suchen. Diese Tendenz, nach einer ersten Ursache zu suchen, ist auch im Kontext religiöser Verkündigungen zu finden. Einige Heilslehren geben ei­nen Anwärter für die Stellung der »ersten Ursache« an, während andere von einem uranfänglichen göttlichen Wesen sprechen, von dem wir herkommen und in das wir zurückkehren können. Auch für solche Fälle werden zusätzliche und nochmals überprüfte Perspekti­ven nötig sein.

Zweitens ist es nicht der Zweck des Infragestellens erster Ursa­chen, hervorzuheben, daß es keinen Anfang und deswegen nur ei­nen endlosen Prozeß gibt. Es geht hier vielmehr hauptsächlich dar­um, die Vorstellung in Frage zu stellen, daß eine bestimmte Welt durch eine definierende oder lokalisierende Kausalfolge errichtet und verewigt worden ist. Indem wir eine derartige Kausalkette in Frage stellen, überprüfen wir jene Beweisstücke, die uns die Errich­tung einer allgemeingültigen »Weltordnung« glaubhaft machen.

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Drittens stellt der obige Standpunkt sowohl die räumlich ausge­breitete als auch die zeitlich definierende Umwelt in Frage - den Hintergrund (Außenlieger), der ein »Hier« (Anlieger) festsetzt. Obwohl diese Gesichtspunkte rein abstrakt zu sein scheinen, haben sie, wie wir später noch sehen werden, eine große Wirkung auf unsere Erfahrung.

Es ist so charakteristisch für »unseren Bereich«, in Begriffen von Ursache-Wirkung-Reihenfolgen zu denken und zu beobachten, daß wir sogar diesen Bereich selbst für ein Ding halten, das eine ursprüngliche Ursache gehabt haben muß. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Annahme ergeben, sind jedoch wesentlich weniger sicher und beruhigend, als wir es gern hätten.

Solange wir nicht die »Keine-Quelle-von-der-aus«-These über­nehmen, scheinen wir an eine der Optionen gebunden zu sein, die auf die Betonung von Ursachen und Reihenfolgen zurückgehen. Es sieht so aus, als müßten wir uns dann entweder dafür entscheiden, daß ein bestimmtes Ereignis physikalischer Natur die Ursache für unseren Bereich war, oder dafür, daß es keine erste Ursache gege­ben hat, sondern nur eine anfanglose Abfolge. Die erste Option ist nur schwer auszudenken, denn ein physikalisches Ereignis oder ei­ne physikalische Ursache, die selbst keine Ursache hat, wäre in jedem konventionellen Kontext undenkbar. Die zweite Option ist zu diffus und verliert sich zu sehr ins Ungewisse. Sie erklärt unsere Welt um den Preis, sie zu verlieren - in einem uferlosen Kausalne­xus -, anstatt sie zu lokalisieren.

Ein sehr attraktiver Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, sich eine erste Ursache auszusuchen, die, anders als gewöhnlich physikalische Ursachen, nicht dem Axiom unterliegt, nach dem al­les, was eine Ursache ist, selbst in einem umfassenderen Kausalne­xus lokalisiert sein muß. Manchmal wird eine metaphysische We­senheit oder ein göttliches Wesen dazu erkoren, diese Schwierig­keiten zu beheben - wenn dies auch eine übermäßige Vereinfa­chung oder Entstellung des Sinnes derartiger religiöser Begriffe sein mag.

Für gewöhnliche Zwecke ist das zeitlich geordnete Ursache-Wir- kung-Schema als ein Werkzeug der Interpretation verläßlich ge­nug. Will man es jedoch dazu benutzen, die letzten oder funda­mentalen Grenzen unseres Bereiches aufzuzeigen und zu verste­hen, was jener Bereich eigentlich ist, sind seine Ergebnisse weniger befriedigend. Die Zuflucht zu einem göttlichen Wesen als Ursache

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oder Ausgangspunkt ist nicht so sehr eine Lösung oder Erklärung als vielmehr ein Spiegelbild unserer durch den niederen Raum be­dingten Vorlieben.

Damit soll nicht gesagt sein, daß es keine unendlichen und tiefen, ja sogar »göttlichen« Dimensionen gäbe, die für ein Verständnis der Wirklichkeit von grundlegender Wichtigkeit sind. Doch die Interpre­tationen religiöser Aussagen oder Einsichten werden im allgemeinen vom Standpunkt eines bestimmten Subjekts in einen bestimmten Raum vorgenommen und reflektieren damit die charakteristischen Merkmale eben dieses Raumes. Tiefe Einsichten und Dimensionen können, wenn sie mit einem spezifischen Gesichtspunkt (einer spe­zifischen Brennweiteneinstellung) konform gemacht werden, auf begriffliche Vorstellungen wie zum Beispiel »die von Gott erschaf­fene Welt« reduziert werden; dabei wird »Gottes Schöpfungsakt« dann auf jenen Zeitpunkt festgelegt, den man allgemein als den »Anfang« betrachtet.

Indem wir GROSSEN RAUM als den Grund unseres Bereiches wahrnehmen und würdigen, können wir den Ursache-Wirkung-Per­spektiven entgegenwirken, die die lebendigen und unendlichen Di­mensionen der unmittelbaren Erscheinung einengen. GROSSER RAUM ist kein gesondertes Ding und auch keine für sich stehende Ursache. Er ist nicht »woanders«, und sein »Schöpfungsakt« läßt sich auch nicht in einer längst vergangenen Zeit ansiedeln. Jedoch ist es aus ähnlichen Gründen ebenfalls unzulässig, ihn und seine »Potenz-als-Urgrund« im gewohnten »Hier« zu lokalisieren.

»Hier« ist logisch und phänomenologisch an eine Vielzahl von »Vorher«, »Noch-Nicht« und »Anderswo« gebunden. In einer Welt von Außenliegern ist das »Hier« nicht mehr als ein ablenkender Anlieger.

In gewissem Sinn ist GROSSER RAUM natürlich »hier«. Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus gesehen, wird die Nähe der Unendlichkeit jedoch auf eine Ebene herabgemindert, auf der sie für ein »Selbst« ertragbar ist - eine Ebene, die sich dazu eignet, das »Hier« »irgendwo« sein zu lassen. Die Unendlichkeit des GROS­SEN RAUMES entfaltet sich dann als eine bestimmte Welt, ein unendlich ausgedehntes Feld von Orten und Zeiten, das von unzäh­ligen Einzeldingen bevölkert ist.

In dieser Welt können wir überall und auf jeder Ebene der Analy­se eine »Unendlichkeit« von Einzelheiten und von Ausdehnung fin­den. Doch diese Unendlichkeit treibt uns weiter und immer weiter,

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anstatt uns im jeweiligen Moment Erfüllung zu schenken. Innerhalb dieser Welt hat das »Hier« eine andere Bedeutung als aus der Per­spektive des GROSSEN RAUMES, und so wird die Verfügbarkeit und die ursprüngliche gründende Beschaffenheit des GROSSEN RAUMES zum Geheimnis, zu einem quälenden Rätsel. GROSSER RAUM ist der nächstliegende und wichtigste und - für die gewöhn­lichen Perspektiven - zugleich auch der unzugänglichste und unbe­deutendste von allen Aspekten des Lebens.

Die »Ursache-und-Reihenfolge«-Orientierung vieler wissen­schaftlicher Modelle der Welt und ihres Ursprungs verstärken im allgemeinen unsere Tendenz, uns vorstellungsmäßig in einer räum­lich und zeitlich ausgedehnten Umwelt anzusiedeln. Diese Art von Weltbild hindert uns daran, die Unmittelbarkeit des GROSSEN RAUMES voll und ganz wahrzunehmen und zu würdigen. Manche religiösen und mythischen Modelle beinhalten diese Tendenz. Sie postulieren deshalb in ihren Schöpfungsmodellen Ursachen, die aus der Sicht wissenschaftlicher Betrachtung nicht fundiert erscheinen und die auch aus der Perspektive des GROSSEN RAUMES nicht akzeptabel sind.

Religiöse Einsichten sind jedoch insofern wertvoll, als sie Ver­haltensregeln und Prinzipien lehren, die uns dazu ermutigen, un­sere starke Tendenz in Richtung einer verengenden »Selbst«- Orientierung zu durchbrechen. Religiöse Orientierungen helfen uns, von allzu engen Brennweiteneinstellungen abzulassen, die (weil sie dazu neigen, sich zu verewigen und noch enger zu wer­den) die tieferen Dimensionen der Wirklichkeit auf gefährliche Art und Weise verdunkeln. Zu den Themen, die in dieser Hin­sicht heilsam sind, gehören unter anderem: die Übung, liebge­wonnenen Besitz aufzugeben; ein innerer Verzicht auf persönli­che Wünsche und eine Schwächung der »Ich-gegen-die-ande- ren«-Strategie zugunsten eines selbstlosen Dienstes an der Menschheit. Man sieht oft einen engen Zusammenhang zwischen diesem letzten und dem Dienst an Gott. Der natürliche Entwick­lungsgang dieser Themen leitet zu Themen über, die noch wei­terreichende Konsequenzen haben wie zum Beispiel: die Trans- zendierung der Unterscheidung zwischen Gott im Himmel und Mensch auf Erden; der Versuch, vollkommen zu sein, wie Gott es ist; das eigene Selbst in einer transzendenten Verschmelzung oder Vereinigung mit Gott zu verlieren.

Alle diese Themen stellen Stadien auf dem Weg dar, eine begren­

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zende Brennweiteneinstellung zur Unendlichkeit des GROSSEN RAUMES zu öffnen oder aufzulösen. Jede Stufe bringt eine Ent­spannung unseres Festhaltens an immer grundlegenderen Facetten der »Leistung« einer bestimmten Einstellung mit sich. Wir könnten sagen, daß zwischen der Brennweiteneinstellung und ihrer »Lei­stung« eine reziproke dynamische Verbindung besteht. Diese Tatsa­che erlaubt uns, die Einstellung zu verändern, indem wir von der Beharrlichkeit ablassen, mit der wir ihre Wirkungen zu verewigen pflegen.

Da das Ablassen von den oder die Transzendierung der Vorweg­nahmen und Strukturen unseres Bereiches zu Desorientierung und der Unfähigkeit führen kann, sich zurechtzufinden, werden sie ge­wöhnlich nicht ermutigt. Diese psychische Desorientierung ist je­doch nicht auf das Ablassen von den Vorwegnahmen an sich zurück­zuführen, sondern vielmehr auf die Unfähigkeit, die beiden außer­gewöhnlich starken Vorstellungen fallenzulassen, die »Welt« sei »da draußen« - eine ein für alle Mal feststehende Tatsache - und das Selbst sei etwas Grundlegendes. Wenn diese beiden Vorstellungen nicht »geöffnet« werden, bleibt alles übrige »öffnen« unausgewo­gen und unvollständig, denn es ist dann immer noch an eine Welt gebunden und wird von einem Selbst getan, und diese Widerstands­nester stehen in einem irreleitenden Widerspruch zu der neuen Wirklichkeitsschau. Religionen sorgen für eine Unterstützung ge­währende Umgebung, die es uns erlaubt, uns auf eine Weise zu öffnen, die über die gerade in Kraft befindliche Brennweiteneinstel­lung hinausgeht. Da sie uns dazu ermuntern, die Welt zu transzen­dieren und das »erkennende Selbst« (Gott) zu überantworten, trei­ben sie den Prozeß zumindest so weit voran, wie es innerhalb des Horizontes unseres Bereiches und seiner Vorwegnahmen möglich ist.

Für ein vollständiges Verstehen der zur Erscheinung gehörenden Faktoren ist es unerläßlich, die Einstellung so weit zu öffnen, daß GROSSER RAUM offenbar wird. So können die Techniken, die die Religionen zur Auflösung der Eingrenzungen anbieten, welche verdunkelnde Einstellungen mit sich bringen, als ein Beitrag zur Erkenntnissuche der Naturwissenschaften betrachtet werden. An­dererseits müssen die Beobachtungen dieser Wissenschaften nicht unbedingt die gewöhnliche Weitsicht und unsere Fixiertheit auf die zwischen den bestimmten Gegenständen bestehenden Kausalzu­sammenhänge verstärken. Wissenschaftliche Entdeckungen können

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Einsichten enthalten, die uns darauf hinweisen, daß wir unsere Ein­stellung öffnen müssen, und die damit indirekt das religiöse Streben ergänzen.

Obwohl eine Betrachtung der Entdeckungen der Naturwissen­schaften von einer konventionellen religiösen Warte aus - und zur Stützung der gewöhnlichen religiösen Perspektiven - vielen Wissen­schaftlern unzulässig erscheint, braucht man »religiöse« und »säku­lare« Ansätze nicht als unvereinbar anzusehen. Sie können beide in der umfassenderen und vereinenden Perspektive des GROSSEN RAUMES zugelassen und beherbergt werden.

Die Diskussion in diesem Kapitel hat auf verschiedene Weise das Verhältnis des GROSSEN RAUMES zu unserem gewöhnlichen Bereich beleuchtet. GROSSER RAUM kann helfen, die Anwesen­heit unseres Bereiches zu erklären, und unser Bereich kann seiner­seits als Pforte zu einer Begegnung mit GROSSEM RAUM dienen. In beiden Fällen können jedoch Schwierigkeiten auftreten. Wie wir gesehen haben, neigen wir im allgemeinen dazu, an »Außenlieger« zu glauben. Deshalb scheint es uns natürlich zu versuchen, das schöpferische Wirken des GROSSEN RAUMES entweder auf den »Anfang« einer linearen zeitlichen Abfolge oder in die »Gegen­wart« zu verlegen. Solche Ansätze wären jedoch irregeleitet.

Wir können ebenso vom anderen Ende dieses Verhältnisses aus­gehen - bei der gefühlten Anwesenheit unseres wahrgenommenen Bereiches ansetzen - und versuchen, eine Rückkehr zum würdigen­den Gewahrseins des GROSSEN RAUMES herbeizuführen, indem wir die verdunkelnde »Einstellung« dieser Warte öffnen. In diesem Fall besteht die Schwierigkeit darin, daß wir anscheinend versuchen müssen, dies in der Gegenwart zu vollbringen. Wir, hier und jetzt, würden es tun. Untersuchen wir diese Orientierung näher, mag sie uns ziemlich selbstbegrenzend erscheinen. Sie bringt es mit sich, daß die Veränderung der Einstellung in den Begriffen der vertrauten Grundzüge - der »Leistung« - der alten Einstellung strukturiert wird, wodurch dieselbe Einstellung aufrechterhalten wird.

Oben wurde bereits angedeutet, daß die Tendenz, an einem Selbst festzuhalten, durch gewisse religiöse Praktiken auf ein Mini­mum reduziert wird. Dies wird im allgemeinen jedoch um den Preis erreicht, daß die Vorstellung von einem Schöpfer in einer »höheren Welt« und einem hier befindlichen Selbst, welches sich auf irgendei­ne Art und Weise hingeben muß, letztlich außer Frage bleibt. Dieser

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Ansatz zur Wiederherstellung eines Kontakts mit höheren Dimen­sionen der Wirklichkeit ist jedoch nicht der einzige verfügbare.

Der Prozeß des Öffnens, Durchlässigmachens und Infragestellens der bisher empfohlenen Übungen zielt im wesentlichen auf eine solche Wiederherstellung des Kontaktes. Zugegeben, auch in diesen Übungen gehen wir noch von der Betrachtungsweise aus, die im Grunde ein Selbst, die Welt und das »Hier und Jetzt« als primäre Gegebenheiten voraussetzt. Wir konnten diese fundamentalen Ele­mente nur in dem Sinne in Frage stellen oder öffnen, daß wir sie nachträglich zu beseitigen oder sie zu transzendieren vermochten, nachdem wir sie erst einmal angenommen hatten.

Mit weiterer Übung und Aufmerksamkeit mag es jedoch möglich werden, die »Leistung« der Brennweiteneinstellung fallenzulassen, ohne durch diesen Prozeß festzustellen, daß jene »Leistung« ur­sprünglich überhaupt existiert hat. Das »Fallenlassen« ist dann kein Akt, kein Ereignis und auch keine Veränderung von Umständen in einem gewöhnlichen Sinne.

Dies stellt eine Erweiterung unseres Blickwinkels in Hinsicht auf die »Welt als Hintergrund« und das unmittelbare »Hier und Jetzt« dar, die wir als primäre Beispiele für Außenlieger und Anlieger anführten. Zusätzlich zu der Beobachtung, daß GROSSER RAUM nicht woanders und auch nicht im gewöhnlichen Sinne »hier« ist, können wir nun - mit Hilfe der Übungen, die uns zur Perspektive eines GROSSEN RAUMES zurückkehren lassen - entdecken, daß das gewöhnliche »Hier« gar nicht so grundlegend ist. Es ist kein nicht mehr in Frage zu stellender »Ausgangspunkt«.

Die Problematik der Gegenüberstellung von GROSSEM RAUM (mit seinem »Schöpfungsakt«) und dem gewöhnlichen (erschaffe­nen) Bereich ergibt sich gerade aus unseren Annahmen über die Existenz der Welt und darüber, was sich aus dieser Existenz ergibt. Diese Annahmen - in wissenschaftlichem und philosophischem Kontext werden sie gewöhnlich nicht in Frage gestellt - müssen losgelassen werden, wenn uns daran liegt, die Dimension des GROSSEN RAUMES zu entdecken.

Wollen wir uns GROSSEM RAUM annähern, müssen wir zuerst unsere »gewohnte Weltordnung« und die »Hier«-Orientierung aus dem Weg räumen. Wir können von der Vorstellung ablassen, daß diese unseren Ausgangspunkt darstellen und Gegebenheiten sind, die im Gegensatz zum GROSSEN RAUM stehen. Ist dies gesche­

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hen, so werden wir die Themen einer ewigen Gottheit und einer Weltschöpfung durch diese Gottheit in einem anderen Licht sehen. Dies trifft ebenfalls auf die buddhistischen Themen eines Ur-Bud- dha und einer ursprünglichen unendlichen Vollkommenheit zu, die von Anbeginn makellos und rein ist, sowie für das allgemeinere religiöse Thema einer Erlösung »am Ende«, die auf ein Streben nach Selbstvervollkommnung folgt.

Hinsichtlich dieser Themen kommt nun die Perspektive des GROSSEN RAUMES zum Tragen. Von der Warte des niederen Raumes scheint es, daß in der »niederen Zeit«* tiefe und unendli­che Dimensionen lokalisiert sind - allerdings nur an ganz besonde­ren Punkten, wie zum Beispiel dem Anfang der Welt oder dem Ende unseres Kampfes um Vervollkommnung. Vor uns und nach uns erstreckt sich dann die Zeit, die uns von diesen höchst bedeutsa­men Punkten trennt. In einer höheren Perspektive gesehen hat uns die Struktur und das scheinbare Vergehen der Zeit weder von unse­rem unendlichen Ursprung getrennt noch die Möglichkeit unserer Erfüllung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.

Trotzdem mag es scheinen, daß der dazwischenliegende zeitliche Abstand eine wirkliche Kluft aufreißt. Wollen wir diese scheinbare Kluft überbrücken, müssen wir eine Orientierung entwickeln, die nicht länger die Vorwegnahmen von Außenliegern und Anliegern bekräftigt, denn diese Vorwegnahmen haben die Kluft überhaupt erst aufreißen lassen. Ziel- und Fortschrittsorientierung müssen au­ßer Kraft gesetzt werden. Dann können wir sehen, daß uns sowohl die ursprüngliche Vollkommenheit als auch das Ziel der Erlösung oder Verwirklichung unmittelbar verfügbar sind. Doch schon indem wir diese »Tatsache« aussprechen, verfälschen wir das, worum es geht, indem wir uns auf die Vollkommenheit als ein Potential bezie­hen, das sich unmittelbar verwirklichen läßt. Ursprüngliche Voll­kommenheit und der Vollzug der Selbstvervollkommnung sind je­doch beides Aspekte dessen, was in gewissem Sinne tatsächlich »hier« ist und eben »jetzt« geschieht.

Im dritten Kapitel wurde die Idee eingeführt, daß zwischen dem Gerichtetsein der Zeit und der Gerichtetheit der Gedanken ein Zu­sammenhang besteht (siehe Übung 11). Suchen wir die mysteriöse »Anwesenheit« und Verfügbarkeit des GROSSEN RAUMES, so müssen wir uns einer äußerst diffizilen Herausforderung stellen. Es reicht nicht aus, daß wir uns - mittels einer Intensivierung unseres gewöhnlichen Erlebens der »Gegenwart« oder von Uhrzeit-Augen­

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blicken - einer auf Außenlieger gerichteten Orientierung widerset­zen. Eine derartige Intensivierung (die Trance-Zustände hervor­bringt) verstärkt nur die einschränkende »Einstellung« (die Fixie­rung), die uns in die Knechtschaft der gewöhnlichen Zeit führt; doch dem wollen wir ja gerade entgegenwirken!

Allgemein verstehen wir die Zeit nur als eine Struktur, in die sich die Zustände von Objekten einordnen lassen - was beinhaltet, daß wir uns die Objekte als in einen Zeit-Raster eingebettet vorstellen. In dieser Sichtweise befriedigt der Zeit-Raster das für den niederen Raum typische Bedürfnis, Ereignisse in einer linearen, ursachenorientierten Reihenfolge zu ordnen. Damit neigt er jedoch dazu, das Wesen und den Grund von Ereignissen zu verfälschen, indem er sie zu »Dingen« in bestimmten Augenblicken der Zeit macht (eine Parallele zu den »Dingen, die Raum einnehmen«), die in darauffolgenden Augenblik- ken gewissen Zustandsveränderungen unterworfen sind.

Damit werden sowohl die Augenblicke in der Zeit, die nicht gerade »Gegenwart« sind, als auch die Zeit selbst als der Hintergrund für Ereignisse zu »Außenliegern« gemacht. Wie im Falle der räumlichen Entfernung zeigt uns die Perspektive des GROSSEN RAUMES, daß alles wesentlich einheitlicher ist-eine unendliche Form ohne unend­lich ausgedehnte Zeit-Dimension (siehe S. 73). Aus dieser Sicht bringen verschiedene Zeiten nur eine Offenheit und ein Zulassen des GROSSEN RAUMES zum Ausdruck; sie setzen keine zeitliche Abfolge fest, keine für-sich-allein-stehenden Augenblicke und keine »Dinge in der Zeit«.

Es gibt keine Dinge, die in der Zeit steckenbleiben oder von der Zeit gebunden werden. Es ist deswegen wichtig, die »Gegenwart« nicht als einen für-sich-bestehenden Ausschnitt eines unabhängigen Rasters zu betrachten, »in dem wir uns aufhalten«. Wir müssen alle die scheinbaren Ebenen, Unterscheidungen und Unterschiede, die die Welt der Phänomene konstituieren, in Betracht ziehen, jedoch ohne an ihnen zu haften oder eine Facette auf Kosten einer anderen übermäßig zu betonen. Dieses sanfte und ausgewogene Zulassen ist der Schlüssel zum »Öffnen von Einstellungen«.

Um diese Art des Öffnens von Einstellungen zur Entdeckung der Dimension des GROSSEN RAUMES auch der Erfahrung zugäng­lich zu machen, ist es hilfreich, die Übungen 1 bis 14 nochmals zu üben und die Formulierung dieser Ideen in den sich anschließenden Kapiteln über die ZEIT aufmerksam zu studieren. Lassen Sie uns

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noch einmal einige fundamentale Aspekte unserer Erforschung for­mulieren. Eine ihrer zentralen Einsichten ist: Insoweit alles, was unseren Bereich und unsere Existenz ausmacht, als die Funktion einer bestimmten Brennweiteneinstellung von gleicher Art ist, ist es auch unauflöslich miteinander verbunden - ist es »gemeinsam gege­ben«. Es ist ein verführerischer, aber irreführender Rückschluß, daß diese wechselseitige Abhängigkeit dem Selbst oder Geist eine Son­derstellung einräumt, in dem Sinne, daß das Selbst einen Gesichts­punkt oder eine »Brennweiteneinstellung« eingenommen hat, jene aber auch verändern kann. Das »Selbst« ist, wie wir gesehen haben, schließlich nur ein Teil dessen, was wir die »Leistung« einer solchen Brennweiteneinstellung nennen. Es besitzt keinen Sonderstatus.

Die folgende Liste soll uns helfen, die Beziehungen zwischen ver­schiedenen konventionellen Sichtweisen und der Perspektive der neu­en, in diesem Buch vorgestellten Wirklichkeitsschau deutlicher zu er­kennen; sie verweist auf die subtilen Vorwegnahmen, die ein erfolgrei­ches »öffnen der Brennweiteneinstellung« beeinträchtigen können:

☆ Einige konventionelle Betrachtungsweisen postulieren einen sub­jektiven Idealismus oder Mentalismus. Aus der Sicht dieser neuen Wirklichkeitsschau besteht die Welt jedoch keineswegs»nurimGeist«.

☆ Eine geläufige These zur Relativität behauptet, daß lineare Kau­salzusammenhänge und andere Grundzüge unserer Welt nur das sind, »als was die Dinge von einer bestimmten Warte aus für einen bestimmten Typus von Beobachter erscheinen«. Es läßt sich jedoch aufzeigen, daß zwischen dieser These und dem »Gemeinsam-Gege- bensein« ein subtiler und tiefgreifender Unterschied besteht. Als eine einfache Illustration dieses Unterschieds sollten wir die Mög­lichkeit in Betracht ziehen, daß es, übereinstimmend mit früheren Ausführungen, kein gewöhnliches »Hier«, keine wirklich festste­hende Warte geben mag, von der aus sich die Welt erklären ließe.

☆ Diese neue Wirklichkeitsschau bestätigt nicht die Ansicht, daß unsere gewöhnlichen Werkzeuge der Wahrnehmung und Erkenntnis »die Welt erschaffen«. Diese Fähigkeiten mögen einige Grundzüge der »Welt« strukturieren oder sogar verfälschen, aber sie »erschaf­fen« diese nicht. Gewöhnliches »Erkennen« - wie es in unseren konventionellen Modellen verstanden wird - ist nicht selbst die ein­schränkende Brennweiteneinstellung, sondern nur eine Facette der

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»Leistung« dieser Einstellung. Die Welt ist nicht nur ein Gedanke oder eine Vorstellung im gewöhnlichen Sinne.

☆ Konventionelle Sichtweisen schreiben dem »Hier« oder der Po­sition des beobachtenden Selbst oft besonderen Vorrang zu. Nach unserer neuen Sichtweise besitzen jedoch weder das »Hier« oder beobachtende Selbst noch das »Hier-und-dort-Draußen« einer un­abhängigen oder »objektiven« Weltordnung einen derartigen Vor­rang.

☆ Obwohl verschiedene konventionelle Sichtweisen den Stand­punkt vertreten, daß es einen Ursprung oder einen ursprünglichen dynamischen Faktor für unsere vertraute Weltordnung gegeben hat, geht die hier vorgestellte Wirklichkeitsschau davon aus, daß diese Weltordnung die »Leistung« einer Brennweiteneinstellung auf den GROSSEN RAUM oder einer fakultativen Perspektive des GROS­SEN RAUMES ist. Diese Weltordnung ist nicht ein Zustand, der- indem er ist - ein für alle Mal für sich errichtet wurde, nicht einmal in dem Sinne, daß er eine wirkliche Verfälschung des GROSSEN RAUMES darstellt. Andere Perspektiven oder Einstellungen sind möglich, und sie konstituieren, da sie in all ihren verschiedenen Verkleidungen GROSSER RAUM bleiben, keine sich gegenseitig ausschließenden Zustände. Sie sind nicht nur möglich, sondern sie sind in gewissem Sinne tatsächlich, denn sie stehen einander nicht im Weg.

Das Fassungsvermögen des GROSSEN RAUMES wird niemals dadurch erschöpft oder aufs Spiel gesetzt, daß er sich einem be­stimmten Trend oder einer bestimmten Weltordnung verschreibt. GROSSER RAUM kann alles zum Vorschein kommen lassen. Es gibt keine Ebene und kein Kriterium, auf der und durch das sich die verschiedenen »Darbietungen« vergleichen und als unvereinbar oder unverträglich beurteilen ließen. GROSSER RAUM trägt eine unendlich große Auswahl von Perspektiven.

☆ Die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision stellt das konventionelle Für-wahr-Halten von Sinnesdaten in Frage. Ihre Ablehnung eines gewöhnlichen »Hier« wie auch der anderen Grundzüge unseres be­obachteten Bereiches fußt nicht auf irgendeiner Sinnesdaten-Theo- rie, nach der die beobachtete Weltordnung und das »Hier« bloße Konstrukte sind, welche von Sensa, grundlegenden Sinnesdaten, ab­

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geleitet wurden. Sensa selbst sind nicht unbezweifelbar wirklich, nur weil sie - nach der konventionellen Hypothese - den Wahrnehmun­gen und Interpretationen zugrunde liegen, die die menschliche Er­fahrung konstituieren. Der Begriff »Sensum« gehört zu einer be­stimmten Gruppe von epistemologischen Theorien, die sich zwar durch Beweise stützen lassen mögen, welche innerhalb eines niede­ren Raumes gültig sind, die jedoch alle durch das »Keine-Außenlie- ger«-Prinzip hinfällig werden.

Die Grundlage lautet: Wie kommt Erfahrung oder die Erkenntnis der Wirklichkeit zustande? Das psychophysiologische Modell, das »emittierende Regionen« in der »Außenwelt« als gegeben annimmt- wobei die emittierte (ausgesandte) Strahlung oder Stimuli Entfer­nungen durchqueren, auf sensible Oberflächen (die Sinnesorgane) auftreffen und dann verarbeitet und interpretiert werden, was zur Wahrnehmung eines Objektes oder einer Situation führt -, mag für gewöhnliche Zwecke gut genug sein. Doch die gewöhnliche »Wirk­lichkeit« und die gewöhnliche »Erfahrung« lassen sich so grundle­gend und dermaßen stichhaltig in Frage stellen, daß eine Berufung auf Erklärungen, die Aspekte jener Wirklichkeit voraussetzen, nicht mehr hinreichend ist.

☆ Das populäre meditative Gebot »Sei jetzt hier!« kann - aus der Sicht des GROSSEN RAUMES - irreführend sein. Einerseits kann es auf eine Weise interpretiert werden, welche die gewöhnliche Auf­fassung des »Hier« und der »Gegenwart« heraufbeschwört. Zum anderen könnte es den Anschein erwecken, daß es sich auf so etwas wie ein flüchtiges, makelloses sensum-gleiches »Hier« bezieht, wel­ches es zu begreifen gilt. Solche Orientierungen verewigen nur die beschränkende Brennweiteneinstellung, ihre Betonung von Lokali­sierung und so weiter.

Außerdem könnte dieses Gebot eine Leistungs- und Selbst-Ori­entierung fördern, die darauf hinausläuft, daß wir uns zu dem Be­mühen aufgefordert sehen, »hier« zu sein oder etwas ganz Nahelie­gendes zu ergreifen. Oder wir könnten es als Versicherung auffas­sen, daß alles zum Besten steht und wir die Dinge »nur ihren Lauf nehmen lassen müssen«. In beiden Fällen wird die unmittelbare Anwesenheit des GROSSEN RAUMES »hier« und eine wahre »Öffnung« zum GROSSEN RAUM verfehlt, denn wir bleiben da­durch an kleinen Ebenbildern begrenzter Einstellungen hängen, die in Wirklichkeit Fälschungen sind.

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☆ Aus der Sicht der neuen Wirklichkeitsschau muß die konventio­neller Religiosität entsprechende Aufgabe des Selbst und der Welt auf eine neue Art und Weise vollzogen werden, so daß diese Aufga­be die gewöhnlichen Perspektiven nicht bloß in einer Weise tran­szendiert, die eben diese Perspektiven bestätigt.

Um uns mehr und mehr über diese konventionellen Sichtweisen hinaus zu öffnen, so daß wir die Perspektive des GROSSEN RAU­MES wahrnehmen und würdigen können, wäre es an dieser Stelle hilfreich, nochmals den Prozeß des Einfrierens und Auftauens zu betrachten, der im zweiten Kapitel angesprochen wurde, und uns erneut mit dem Durchlässigmachen zu beschäftigen, das wir in den Übungen 1 bis 14 geübt haben. Bei all diesen Sichtweisen und Übungen scheint es um Dinge zu gehen, die wir - hier - getan haben oder tun sollen. Diese Auffassung muß jedoch durch sorgsames und aufgeschlossenes Üben allmählich außer Kraft gesetzt werden.

Indem wir die »Leistung« einer Einstellung in Frage stellen und »öffnen«, wobei wir mit dem einen oder anderen Aspekt dieser Leistung arbeiten, können wir die Brennweiteneinstellung selbst verändern. Die »Leistung« ist strenggenommen ein einheitliches Ding, wie ein komplexes Bild, das durch eine Linse oder ein Guck­loch gesehen wird. Alles das, was eine bestimmte Situation - die »Leistung« - konstituiert, ist »gemeinsam gegeben«, auch wenn wir gewöhnlich nur ausgewählte Einzelheiten davon sehen.

Die Übungen 1 bis 14 haben die Fähigkeit, die Dinge auf ausgewo­gene und umfassende Art und Weise als »gemeinsam gegeben« wahr­zunehmen, schon zu einem gewissen Grad vorweggenommen und her­angebildet. Diese Fähigkeit steht zu GROSSEM WISSEN in Bezie­hung, und das »Zusammen-Gegebensein« ist ein Grundzug dessen, was wir GROSSE ZEIT nennen werden. Wie man diese dazu ge­braucht, eine Brennweiteneinstellungzu verändern, wird eingehender in einem der folgenden Kapitel diskutiert; weiterführende Übungen werden es uns dann ermöglichen, diese Erfahrungen und Fähigkeiten (wie GROSSES WISSEN) in vollem Maße zu entwickeln. Grundsätz­lich läßt sich jedoch bereits jetzt sagen, daß der Verewigung einer will­kürlichen Einstellung, die auf einer Fixierung auf oder der Betonung von ausgewählten Einzelheiten der »Leistung« beruht, der Boden ent­zogen werden kann, wenn wir die »Leistung« als etwas Einheitliches ansehen, dessen sämtliche Elemente »gemeinsam gegeben« sind.

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Zu diesem Zweck müssen wir zuerst einige fundamentale und subtile Aspekte dessen auffinden, was als wir und unser Bereich »gemeinsam gegeben« ist. Dann können wir lernen, diese Aspekte durch eigene Erfahrung in Frage zu stellen, und schließlich ihre Trennwände durchdringen, so wie wir es mit dem Riesenkörper getan haben. Das Infragestellen von Außenliegern und Anliegern, von Weltordnungen und örtlichen Festlegungen, von Ursprüngen, die sich woanders, über und jenseits von uns befinden, dient der Unterstützung dieses Prozesses und sollte nicht einfach nur als ein Problem für die Wissenschaft, Philosophie oder Logik angesehen werden.

Nachdem wir gelernt haben, die Trennwände dieser Aspekte der »Leistung« zu durchdringen, können wir lernen, das Durchlässig­machen zu vollenden, indem wir die Trennwände dasein lassen, ohne sie als unvereinbar mit der Offenheit des GROSSEN RAUMES zu sehen. Die »Dinge sein lassen« zu können, bedeutet, sie rückhaltlos und unvoreingenommen anzunehmen. Die Weltordnung und ande­re bestimmte Außenlieger (einschließlich von Zeit und Zeiten) ver­anschaulichen näher, was diese »Totalität« beinhaltet. Alle Außen­lieger existieren gemeinsam mit uns und können unmittelbar be­rührt, verwandelt und befreit werden.

Sind wir einmal bewußt genug, um die Dinge derart annehmen zu können, dann sehen wir die »Leistung« einer Brennweiteneinstel­lung als eine »Leistung«, deren Inhalte »gemeinsam gegeben« sind. In diesem Licht können wir zu einem Einstellungswechsel gelangen, der sich über die gewöhnliche Erscheinung hinaus zur Unendlich­keit des GROSSEN RAUMES öffnet, oder zu einer subtileren Ver­schiebung der Einstellung, die uns die Beziehung der »Leistung«, von der wir ausgehen, zu ihrer bereits anwesenden GROSSER- RAUM-Dimension wahrnehmen läßt.

Diese beiden Arten von Einstellungswechsel reflektieren unter­schiedliche Reifegrade der Bezugnahme auf die Dimension des GROSSEN RAUMES. Beide Orientierungen entdecken GROS­SEN RAUM - die erste, indem sie die gewöhnliche Erscheinung transzendiert, die zweite, indem sie GROSSEN RAUM als eben jene Erscheinung wahrnimmt und würdigt. Auch schon bevor wir die eigentliche Fähigkeit erlangen, solche Einstellungswechsel tat­sächlich zu vollziehen, kann das bloße Erwägen solcher Verände­rungen schon eine hilfreiche Veränderung unserer Haltung herbei­führen - denn anfänglich haben wir keine andere Wahl, als mit

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Haltungen zu arbeiten, die wir einnehmen. So können wir zum Bei­spiel die Selbst-Orientierung zurücknehmen wie auch unsere bloß auf isolierte »Dinge« gerichtete Aufmerksamkeit und so weiter.

Unsere gewöhnliche Sichtweise ist oft von dem klaustrophobischen Gefühl begleitet daß wir durch komplexe Ebenen und Schichten, die aus Außenliegern und Anliegern bestehen, gefesselt, eingesperrt oder in die finsterste Ecke einer Höhle verbannt sind. Doch allein schon die Botschaft: »Es gibt keine Höhle!« kann eine ungemein befreiende Wirkung haben. Die beiden oben erwähnten Arten von Einstellungswechsel laufen auf ein Entkommen aus dem beengen­den, höhlenartigen Raum hinaus, in dem wir uns finden. Der erste Einstellungswechsel stellt eine Bewegung dar, die aus der Höhle hinausführt. Der zweite durchdringt die verdunkelnden Höhlen­wände und läßt sie schließlich anwesend sein, ohne daß sie als ver­dunkelnde Wände anwesend wären - was wir für eine Höhle hielten, ist letztlich gar keine Höhle!

Wir haben noch kaum damit begonnen, die Möglichkeiten zu erfor­schen, die uns Zeit und Wissen darbieten. Doch mag es angesichts dessen, was wir bisher von der neuen Wirklichkeitsschau kennenge­lernt haben, möglich erscheinen, daß es mit der richtigen Art von Wissen sehr viel Raum für uns geben kann, in dem wir nach Her­zenslust leben, spielen, tanzen und lernen können. Tatsächlich gibt es nichts außer »Raum«.

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5. Kapitel

In der Welt sein, RAUM und ZEIT seinDie Lebendigkeit der GROSSEN ZEIT ist der unmittelbare Ausdruck oder das Zeugnis der Offenheit des GROSSEN RAUMES. GROSSE ZEIT lotet die Tiefen und die Weite GROSSEN RA UM ES aus. Wie ein gewöhnlicher Klang Raum benötigt, um sich auszubreiten, und seinerseits die Weite jenes Raumes bezeugt, so »erschallt« GROSSE ZEIT im GROSSEN RA UM, bezeugt seine Unendlichkeit und lo­tet sie aus.

Die Menschen haben auf vielen verschiedenen Wegen Erfüllung gesucht. Im allgemeinen bemühen wir uns darum, einen kleinen persönlichen Raum abzustecken, die Energien unserer Umwelt zu zügeln, und wir wollen Objekten einer bestimmten Art begegnen und sie erwerben, wohingegen wir jene von einer anderen Art meiden.

Vielleicht gibt es jedoch noch einen anderen, sinnvolleren Weg zur Erfüllung. Die winzigen Regionen des Raumes, die wir bewoh­nen, und die festen undurchsichtigen Flächen, die solche Räume (zu denen wir selbst und alle anderen Dinge gehören) definieren, sind ihrem Wesen nach weder einengend noch enttäuschend. Sie sind in gewisser Hinsicht »Raum«, und dieser »Raum« ist eine offene und befreiende Dimension.

Es gehört zu unserem einzigartigen Erbe als menschliche Wesen, daß wir zu dieser Dimension Zugang haben. Es jedoch nur möglich, diesen Zugang zu gewinnen, wenn wir uns von unserer gewöhnli­chen Erfolg-Orientierung abwenden. Die konventionellen Vorstel­lungen von einer »Person« und der »Welt« sind nämlich zu starr, als daß sie uns den »Raum« entdecken ließen. Vermögen wir, diese inflexiblen Sichtweisen durch ein anderes Modell zu ersetzen, wel­ches dann zu einer befreienden neuen Wirklichkeitsschau aufblühen mag, so können wir die Freude und Erfüllung verwirklichen, die das »Menschsein« mit sich bringt. Diese Wirklichkeitsschau ist in funda­mentalere Begriffe eingebettet als jene Sichten der Wirklichkeit, die einfach nur Leute, Plätze und Dinge gelten lassen. Und doch ist es eine Vision, die wir als menschliche Wesen durch unmittelbare Er­fahrung entdecken können.

Aber selbst »Erfahrung« ist an Vorwegnahmen gebunden, die

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sich auf diese Wirklichkeitsschau nicht anwenden lassen. Deswegen ist, als eine Art Frühjahrsputz, ein gründliches Infragestellen sämtli­cher Grundzüge unserer Existenz notwendig. Wir müssen etwas wirklich Neuem den Weg freimachen.

Das Infragestellen ist in diesem Falle nicht bloß eine Maßnahme, die noch lebendigere Erkundungen vorbereiten soll. Vielmehr kann es selbst der Weg zu GROSSEM RAUM sein. Starre und undurch­lässige Trennwände definieren phänomenologisch alle Dinge und Orientierung unseres Bereiches. Dieselben Trennwände sind aber auch Pforten zu höheren Räumen. Aus diesem Grunde ist es hilf­reich, physische, einstellungsmäßige und gedankliche Trennwände aufzuzeigen und in Frage zu stellen, während wir gleichzeitig auch noch der Vorwegnahmen gewahr werden, die zu unserem »Infrage­stellen« gehören, und uns darüber hinaus »öffnen«.

Es gehört eine gründliche Reorientierung dazu, bevor man alle strukturierenden Faktoren, die als Erfahrung anwesend sind, sehen kann. Vermag man sie allesamt in Betracht zu ziehen, so werden sie zu einer besonders unmittelbaren »Pforte« zu GROSSEM RAUM. Bis wir so weit sind, werden wir uns - indem wir mit dem arbeiten, was wir für individuelle Gegebenheiten halten - den anderen zur gewöhnlichen Erscheinung gehörenden Faktoren zuwenden, in die wir dann »hineingehen« und die wir neubewerten müssen. Deswe­gen sind wir zuerst geneigt, GROSSEN RAUM im Innern ausge­wählter Gegebenheiten - in den Objekten der gewöhnlichen engen Brennweiteneinstellung unserer Aufmerksamkeit - zu suchen. Der Versuch, diese Gegebenheiten zu durchdringen - sie als Pforten und GROSSEN RAUM als eine »Tiefen«-Dimension zu verstehen -, hilft uns auch, auf die anderen Faktoren aufmerksam zu werden, die in Betracht gezogen werden müssen, wenn eine wirkliche Verände­rung herbeigeführt werden soll.

Dies hilft uns, einen weiteren, umfassenderen Blickwinkel zu er­langen, wodurch auch das würdigende Gewahrsein des GROSSEN RAUMES wächst, weil dieser »Raum« die Dimension ist, welche Interaktionen und erfahrene Ereignisse begründet und umfaßt. Wir haben gesehen, daß GROSSER RAUM nicht ein bloßer Behälter für isolierte Dinge ist. Wenn unsere Perspektive an »Weite« ge­winnt, können wir unsere Aufmerksamkeit von den zwar subtilen aber machtvollen Kräften abziehen, die die Erscheinung strukturie­ren. Dann können wir in Neuland Vordringen und neue »Tiefen« erreichen.

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Gerade auch weil GROSSER RAUM mit Interaktion zu tun hat, laufen an einem gewissen Punkt »Weite« und »Tiefe« auf ein und dasselbe hinaus. Haben wir jenen Punkt erreicht, dürfen wir von einer wirklich bedeutsamen Veränderung der »Brennweiteneinstel­lung« sprechen, einer Veränderung, die zu GROSSEM RAUM durchstößt, indem sie die Situation, so wie sie ist - nämlich als GROSSEN RAUM - beherbergt. Neben der engen Perspektive der Situation, die wir haben, gibt es noch eine andere, breitere Perspek­tive, die von der Situation als ganzer untrennbar ist, und die man weder haben noch erlangen kann. Sie »ist« bereits - als ein würdi­gendes Gewahrsein der nicht zu bewerkstelligenden und ungestör­ten Offenheit von RAUM.

Mit Hilfe der Übungen 1 bis 6 haben wir bereits begonnen, die nicht zu bewerkstelligende »Raum«-Perspektive freizulegen. Diese Übungen erlaubten uns, in die Tiefe von ausgewählten Gegebenhei­ten einzudringen, indem wir zu ihrer Tiefendimension - GROSSEM RAUM - vordrangen. Die restlichen Übungen des zweiten und dritten Kapitels haben eine Ausweitung unseres Blickwinkels geför­dert, indem sie die konventionellen Konstituenten von Situationen noch näher untersuchten. Im vierten Kapitel wurde die Liste solcher »Weiten«-Faktoren dahingehend vervollständigt, daß auch subtilere Außenlieger und Anlieger eingeschlossen wurden.

Der nächste Schritt besteht nun darin, ein würdigendes Gewahr­sein der »Tiefen«-Dimension in die »Weiten«-Faktoren aus dem vierten Kapitel zu integrieren. Dies zu tun erfordert eine Intensivie­rung des würdigenden Gewahrseins von »Raum« und ein lebendige­res, existentiell gefühltes Infragestellen von Außenliegern und An­liegern. Übung 15 ist darauf ausgerichtet.

Übung 15: Eine Meditation auf dem Berg

A. Suchen Sie sich auf einem Berg oder Hügel einen Platz, der Ihnen behagt. Der blaue Himmel sollte von dort aus gesehen fast Ihr gesamtes Blickfeld einnehmen. Der Himmel sollte tiefblau, aber nicht blendend hell sein. Herbst und Winter sind für diese Übung die idealen Jahreszeiten. Setzen Sie sich in einer bequemen Haltung nieder, den Rücken aufrecht, den Mund ein wenig geöffnet. Ihr Atem sollte sanft und ungezwungen fließen; ihre Augen sollten ge­

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öffnet, aber möglichst entspannt sein. Versuchen Sie, so wenig wie möglich zu blinzeln, ohne daß Sie deswegen Ihre Augen überan- strengen.

Konzentrieren Sie sich in dieser Gebirgsumgebung während des ersten Tages auf die Übungen mit dem Riesenkörper (Übungen 1 bis 13). Visualisieren Sie diesen Riesenkörper vor sich im Himmel etwas oberhalb Ihrer Blicklinie.

Achten Sie während der nächsten Tage dann nur auf die Anwe­senheit des Himmels. Entspannen Sie Ihren Blick und Ihre Konzen­tration auf das Sehen. Atmen Sie, während Sie so in den Himmel schauen, den blauen Raum vor Ihnen ein. Das heißt: Atmen Sie entspannt durch Nase und Mund gleichzeitig ein, und stellen Sie sich dabei vor, daß es tatsächlich der blaue Himmel selbst ist, der in Sie eintritt. Saugen Sie diesen Raum sanft in Ihren Körper ein, bis er jede Ebene der physischen Organisation durchströmt, die wir in den Riesenkörper-Übungen näher untersucht haben. Wenn Sie ausat­men, stellen Sie sich vor, daß Ihr »Atem« mit dem Himmel ver­schmilzt. Üben Sie wenigstens einige Tage lang auf diese Weise.

B. Lassen Sie den Raum, der in Sie eintritt, Ihre Gedanken, Gefüh­le, Wahrnehmungen, Urteile und Erinnerungen sowie jede Zelle Ihres Körpers durchdringen. Erlauben Sie, daß alle definierenden Trennwände für diesen lebendigen Raum durchlässig werden.

C. Nachdem Sie 15 A und 15 B mehrere Tage lang geübt haben, sehen Sie nun, ob der blaue Himmel über, vor, hinter und zu beiden Seiten von Ihnen nicht - in Verbindung mit Ihrem Atem - in jeden Teil Ihres Körpers und Ihrer Gedanken eintreten kann. Lassen Sie diesen »Raum« beim Ausatmen durch jede Pore Ihres Körpers in den äußeren Raum zurückkehren, so daß Sie ein ungehindertes In­einanderfließen erfahren.

Kommentar zu Übung 15 A - CDie Übungen 1 bis 14 haben dazu beigetragen, unsere Erfahrung der Verkörperung fließender zu machen und für die nun stattfinden­de Begegnung mit dem »Raum« empfänglich zu machen. Übung 15 gibt den Einsichten aus den vorangegangenen Übungen noch mehr Leben. Sie macht unser inneres Sein ein wenig mit der unendlichen Energie bekannt, die »hier« ist. Diese Energie ist wirklich, greifbar und kann praktisch genutzt werden.

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Gewöhnlich suchen wir, uns Nahrung und Energie auf eine ziel­gerichtete und leistungsorientierte Art und Weise zuzuführen. Wir greifen in einer Weise nach dem, was »hier« ist, die es auf den Status eines Punktes reduziert, eines Ortes, der völlig zu entleeren ist, bevor man auf der endlosen Suche nach Erfüllung zum nächsten Punkt weitergeht. Dies ist ein verarmender Ansatz. Die Arbeit mit den vorangegangenen Übungen und Darlegungen mag helfen sicherzu­stellen, daß derartige Mißverständnisse über das »Hier« und seine »Leistung« nicht in Kraft sind, wenn wir uns an Übung 15 versu­chen.

Führen Sie die Übungen 15 A - C wohlabgestimmt über einen Zeitraum von drei Wochen etwa fünf Stunden am Tag aus, so wer­den Sie entdecken, daß »Raum« tatsächlich eine Nahrung ist, die Sie essen oder von der Sie sich ernähren. Vielleicht machen Sie sogar die Erfahrung eines »vollen Magens« - völlige Sättigung. Der Körper und die Sinne wirken dann harmonischer zusammen und fühlen sich erfüllter. Unbegrenzte Nahrung und Erfüllung sind »hier« verfügbar. Sie brauchen sich bloß der Präsenz des GROS­SEN RAUMES zu öffnen. Der tiefblaue Himmel kann die Pforte zu einem solchen Kontakt sein.

D. Fahren Sie damit fort, das Ineinanderfließen zu üben, wie es in 15 C beschrieben wurde. Lassen Sie sich so vollständig von »Raum« durchdringen, daß er auch Ihr Lokalisiertsein - Ihre subtile Wahr­nehmung einer Position in bezug auf den Sie umschließenden Him­mel und Ihr Lokalisieren einer Vergangenheit und einer vorwegge­nommenen Zukunft - durchdringt. Geben Sie alle Positionen auf - das »Hier«, das Sie einnehmen, wie auch die Sie umschließende räumlich-zeitliche Umwelt, die Sie und Ihr Sinnen und Trachten enthält. Dabei geht es nicht darum, irgend etwas zu negieren. Achten Sie einfach auf die subtilen strukturierenden Faktoren, und lassen Sie zu, daß die befreiende Beschaffenheit des Raumes sie durch seine Berührung verzaubert.

Kommentar zu Übung 15 DHier geht es wiederum um das Problem der Außenlieger und Anlie­ger - der Gerichtetheit, die mit jeglichem Lokalisiertsein gegeben ist. Wenn das »Hier« nur ein »Antrieb«* ist, auf etwas ausgerichtet zu sein, etwas zu bekommen, und wenn es im Gegensatz zum »Da- Draußen« existiert, dann ist es dürftig, zerbrechlich, ängstlich und

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unersättlich - es ist einfach zu klein, um wirkliche Erfüllung zu beherbergen.

E. Nachdem Sie diese Übung eine Zeitlang durchgeführt haben, werden Sie vielleicht auf die subtilste Ausdrucksform des Lokali­siertseins aufmerksam - das mit dem »Erfahren« selbst einhergeht. Sogar dieses Lokalisiertsein ist loszulassen. Die von dieser neuen Wirklichkeitsschau ermöglichte Erfüllung ist keine »Erfahrung«.

Kommentar zu Übung 15 E.Während der Ausführung dieser Übung mag es zu allen möglichen, wundervollen »Erleuchtungs«-Erfahrungen kommen. Sie sollten je­doch an diesen Vorkommnissen nicht festhalten - auch nicht an der oben erwähnten »Sättigung«.

Wir können uns einer Dimension öffnen, die kein Tun ist, kein Erlangen, kein Erfahren, kein Geschehen, ja nicht einmal eine loka­lisierbare Besonderheit. »Lokalisierung«, »Richtung«, »Ding« und »Erfahrung« - sie alle sind auf vielen Ebenen miteinander verbun­den. Die Welt der Gegenwart ist den Veränderungen in der Zeit, der Gerichtetheit der Zeit unterworfen; jede bestimmte Position inner­halb dieser Welt ist es ebenso.

Sprechen wir von gelebten Positionen und »Örtlichkeiten«, in denen man lebt, ist jede einzelne Position nach außen und nach vom ausgerichtet. Die Welt ist der lokalisierende Bezugsrahmen und der Hintergrund, auf dem alle Bezugnahmen beruhen. Die Welt verleiht allen Wünschen und Gedanken Sinn und Bedeutung. Bedeutungen sind nach außen auf eine sie bestätigende Welt und, in der Vorweg­nahme eines Kontakte oder eines Ergebnisses, nach vorn gerichtet. Alle Erfahrungen werden in den Begriffen ihrer Bedeutung ausge­drückt; man gibt ihnen eine Position und eine Richtung. Die Welt als Hintergrund und das »Hier« als Vordergrund konstituieren ein polarisiertes Feld, ein »Gemeinsam-Gegebensein« als eine Bedeu­tung.

Gewöhnlich dürfen wir nur sagen, daß die Welt Bedeutungen begründet; nach der unkonventionellen Orientierung, die hier vor­gestellt wird, ist die Welt jedoch eine »Bedeutung« - in dem beson­deren Sinn dieses Begriffs, der durch die Ausführung von Übung 15 allmählich begreiflich wird. Und genauso wie Bedeutungen und Er­fahrungen gerichtet sind, muß auch diese Welt selbst, die etwas bedeutet und die erfahren wird, in Bewegung sein oder vergehen,

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muß Veränderungen unterliegen, die von der Zeit hervorgebracht werden.

F. Nachdem Sie auf dem Berggipfel zu einem allesdurchdringenden und befreienden würdigenden Gewahrsein von »Raum« erwacht sind, stürzen Sie sich nun in eine dichtbevölkerte, ja sogar hektische Umwelt, wie sie im modernen Stadtleben überall zu finden ist. Ver­suchen Sie auch dort dieselbe ausgedehnte und entspannende An­wesenheit von »Raum« zu entdecken, mit der Sie auf dem Berggip­fel vertraut geworden sind.

Kommentar zu Übung 15 FDie Wahl der Umgebung ist besonders für die »Raum«-Übungen und für die Beschäftigung mit der »Raum«-Komponente dieser neuen Wirklichkeitsschau zum anfänglichen Verständnis wichtig. Das im allgemeinen sehr gedrängte Gewebe unserer Umwelt und unserer Verpflichtungen mit all dem dazugehörigen Druck und den sich daraus ergebenden Reflex-Reaktionen macht es uns sehr schwer, »Raum« wahrzunehmen und zu würdigen. Unsere Auf­merksamkeit, unsere Gewohnheiten und Emotionen - das Nerven­system selbst - sind alle zu einem zerrissenen und verdunkelnden Muster erstarrt, welches sich durch ununterbrochenen Druck aus­zeichnet. Haben wir jedoch einmal die »Raum«-Dimension geko­stet und den subtilen Aspekt des »Weitergehens« aller Erfahrung transzendiert (wie es in Übung 15 E geschieht), dann können wir diese Freiheit und Entspannung auch mitten in unseren alltäglichen Aktivitäten entdecken und genießen.

Um die Verbindung zwischen der Gerichtetheit der Zeit und der Gerichtetheit von Bedeutungen zu verstehen, müssen wir beginnen, »Zeit« als die zweite grundlegende Facette der »Existenz« in Be­tracht zu ziehen. GROSSER RAUM ist unbegrenzte Offenheit. Diese Offenheit ist kein bloßes Potential; sie ist vielmehr durch die Dynamik, welche durch die Offenheit selbst möglich gemacht wird, erfüllt, vollendet und zum Ausdruck gebracht. Das heißt: Da GROSSEM RAUM keine Grenzen oder hinderlichen Faktoren ei­gen sind, ist die Dynamik, die dieser RAUM möglich macht, eben­falls unbegrenzt. Dieser dynamische Aspekt ist GROSSE ZEIT.

Die Lebendigkeit der GROSSEN ZEIT ist der unmittelbare Aus­druck oder das Zeugnis der Offenheit GROSSEN RAUMES.

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GROSSE ZEIT lotet die Tiefen und die Weite GROSSEN RAU­MES aus. Wie ein gewöhnlicher Klang Raum benötigt, um sich auszubreiten, und seinerseits die Weite jenes Raumes bezeugt, so »erschallt« GROSSE ZEIT im GROSSEN RAUM, bezeugt seine Unendlichkeit und lotet sie aus. Alle Erscheinung ist GROSSER RAUM. Wenn wir uns etwas ausführlicher damit beschäftigen, kön­nen wir sehen, daß, auch wenn alle Formen und Abgrenzungen GROSSER RAUM sind, das Gegebensein und das Abgrenzen oder Ausarbeiten der Form zu bestimmten Konfigurationen GROSSE ZEIT ist.

GROSSE ZEIT zeigt oder vermittelt (sowohl im gewöhnlichen übertragenen als auch im instrumentalen Sinn) GROSSEN RAUM, indem sie unendliche Vielfalt zur Schau stellt. Alles, was »ist«, ist von GROSSEM RAUM und GROSSER ZEIT abhängig.

Wird das, was die GROSSE ZEIT aus dem GROSSEN RAUM hervorruft, durch eine beschränkte Art des Erkennens als »Dinge« und »Existenziale« verstanden, dann wird es auch notwendig, davon auszugehen, daß ein niederer Raum und eine niedere Zeit in Kraft sind. Einerseits bietet GROSSE ZEIT ihre unendlichen Verschie­denheiten dergestalt dar, daß diese nicht »Teile« des GROSSEN RAUMES darstellen und sich nicht gegenseitig im Weg stehen - sie sind alle unmittelbar der volle GROSSE RAUM, und sie fließen alle ineinander. Andererseits erkennt das gewöhnliche Erkennen nur Dinge, Momente und Existenziale - und diese sind alle ziemlich ausschließlich: Wo eines »ist«, »ist« ein anderes »nicht«.

Aus der Perspektive der Existenz kann man sich der Unendlichkeit GROSSEN RAUMES und seiner Vielfalt nur dadurch annähern, daß man unendlich viele bestimmte Existenziale aufzählt, die in einer Reihenfolge Vorkommen. Obwohl GROSSE ZEIT alles in einer umfassenden, nicht ausgedehnten Weise umfängt, muß die niedere Zeit der ausgestreuten, »Eins-nach-dem-anderen«-Sichtweise ent­sprechen, die allein ein beschränktes Erkennen auffassen kann.

Zeit auf der niederen - oder als die niedere - Ebene scheint diffus und ausgestreut. Anstatt die Offenheit GROSSEN RAUMES zum Ausdruck zu bringen, »zeitigt«* sie Dinge, Unterschiede, Unter­scheidungen und Eigenschaften. Ihre Ausdruckskraft wird zu einem linearen Strom von Bezeichnungen, die sich in ihrer selbstbehaup­tenden Art gegenseitig ausschließen und einander verdunkeln. Aus dem durchdringenden Hervorrufen der GROSSEN ZEIT wird ein verschwommenes Feld von Bedeutungen, die uns nach außen ziehen

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und mit sich fortreißen, ohne jemals zum Eigentlichen, der Anwe­senheit des GROSSEN RAUMES, vorzudringen.

Bedeutungen können GROSSEN RAUM nicht aufzeigen, eben weil sie uns nach außen ziehen und den Sinn »hier« von dem »Da- Draußen«, dem »Bevorstehenden« und dem »In-der-Vergangen­heit-Zurückliegenden« abhängig machen. Das »Vergehen« der Zeit ist darauf zurückzuführen, daß sie es mit Bedeutungen und Existen- zialen zu tun hat, mit »Dingen«, die auf ausschließliche Weise »hier« hingestellt sind und die alternative oder entgegengesetzte Umstände aussperren. Zeit und Bedeutungen erschaffen abgrenzende Oberflä­chen, die eher undurchlässig und verdunkelnd als offenbarend sind.

Die Alternative dazu scheint eine Durchdringung oder gar Besei­tigung dieser Oberflächen zu sein. GROSSE ZEIT braucht jedoch nicht im Sinne eines »Hindurchgehens« zu durchdringen - sie ist ungehindert und nicht - ausgestreut. Auch muß sie keine Erschei­nung zurückweisen oder negieren, denn selbst die »Existenziale« sind - wenn sie als GROSSE ZEIT gesehen werden - mit der be­sonderen »Nichtexistenz« GROSSEN RAUMES vereinbar und sind im Grunde gar keine »Existenziale«. Bedeutungen und Exi­stenziale stehen anderen Bedeutungen und Existenzialen nur dann im Wege, wenn sie in gewöhnlicher Zeit als solche gesehen werden.

Bedeutungen und Existenziale lassen sich auch aus der Perspekti­ve des GROSSEN WISSENS, der GROSSEN ZEIT sehen. In die­sem Fall sind »wir«, unsere Position, Zielorientiertheit und Erfah­rung - alles Bedeutungen, die auf subtile Weise lokalisiert und aus­gerichtet sind - allesamt nicht-geschehend und nicht-lokalisiert.

Für die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision sind Ziele nicht von Be­lang. Die Berg-Meditation kann uns helfen, den grundlegend selbst­begrenzenden und verarmenden Charakter zielgerichteter Erfah­rung zu enthüllen. Sie geht dann noch weiter und zeigt die grenzen­lose Dynamik, die für GROSSE ZEIT »hier« ist, ohne daß GROS­SE ZEIT dadurch zu einer bloßen lokalisierten und gerichteten Be­deutung unter anderen wird oder zu einer »Erfahrung jenseits aller Erfahrungen und Bedeutungen«.

Wir sind dazu verführt worden zu glauben, die Wirklichkeit bein­halte greifbare Existentiale - »etwas«, das sich im Scheinwerferlicht von dem dunklen Hintergrund des »Nichts« oder leeren Raumes abhebt. Dem energiedurchpulsten Leben stellen wir den statischen Tod gegenüber (ein Nicht-Seiendes, ein Nicht-Ereignis). Aber selbst die scheinbar »positiven« Elemente solcher Gegensatzpaare

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drängen sich auf eine abtötende Weise vor, solange wir nicht mit GROSSEM WISSEN ihr GROSSE-ZEIT-Wesen schauen.

Die Verlebendigung der Erfahrung durch Übung 15 ermöglicht es, die Transzendenz allen Vorkommens und aller Erfahrungen auf neue Weise zu verstehen. Die Verwirklichung eines alldurchdrin­genden »Nicht-Vorkommens« bringt keine Abwesenheit mit sich, keine Lücke in der linearen Serie von Vorkommnissen. Die »Nicht­existenz« GROSSEN RAUMES ist der Stifter des Lebens und der Anwesenheit der Wirklichkeit - und nicht etwa eine Bedrohung dafür.

Die Verbindung von »Bedeutungen« mit »Zeit« und von »Zeit« mit Kommunikation läßt sich im Rahmen der konventionellen Defini­tionen dieser Begriffe nicht ausreichend erklären. Im Kontext dieser neuen Wirklichkeitsschau erhalten »Bedeutung«, »Position« und »Gerichtetheit« jedoch alle einen neuen Sinn.

Kehren wir zu den dem niederen Raum angehörenden Vorstel­lungsbildern einer Plattform oder einer Warte für die Beobachtung sowie zu dem Bild der »enthaltenden Kammer« zurück, so sehen wir, daß die Bedeutungen, um etwas zu bedeuten, eine relativ stati­sche Position benötigen, die durch eine ähnlich statische Umgebung (Behälter) definiert wird. Bedeutungen befassen sich mit den »Din­gen«, wie sie »gemeint« sind, und jene »Dinge« müssen dann not­wendigerweise von lückenlosen Grenzen und undurchlässigen Trennwänden abgegrenzt werden. Bedeutungen sind von Grenzen abhängig, die unserer Aufmerksamkeit hinsichtlich der Dynamik und des Prozesses der Abgrenzung gesetzt werden.

Wir bemerken nicht, daß alle definierenden Oberflächen immer noch weißglühend und schmiedbar sind. Diese Einsicht wäre uns zu bedrohlich, denn wir und unsere Position würden dann ja derselben Beobachtung unterliegen. Jede auf ein Selbst ausgerichtete Ori­entierung benötigt eine solide Verschanzung, die nur in einem ziem­lich erstarrten Energiezustand existieren kann. Niederer Raum ist ein Behälter, ein beengendes Gefängnis, aber eines, für das wir dankbar sind. Er verweigert uns gnädig den Spielraum für eine aus­reichend weite Perspektive, mit der wir das Ganze sehen könnten, das unsere Wirklichkeit mit sich bringt. Wir können nicht aus uns heraustreten, um einen vollständigen Überblick zu gewinnen, und wir wollen dies auch gar nicht.

Betrachten wir niederen Raum als eine Kammer, dann können

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wir uns die Bedeutungen als Echos denken, die die Wände der Kammer ausloten. Tatsächlich loten die Echos die Wände jedoch nicht nur aus - sie definieren sie. Die Kammer selbst ist eine Bedeu­tung, oder genauer: Sie ist mit allen anderen Dingen von der Zeit als eine Serie von Bedeutungen gegeben. Aus diesem Grunde stehen die Wände des Behälters mit den Wänden in Beziehung, die die Oberflächen der enthaltenen Objekte umgrenzen. Wir müssen also, um die eine Art von Wänden zu durchdringen, die andere durch­dringen (einschließlich jener Wände, die unser »Selbst« umgren­zen). Wir müssen unser persönliches Hoheitsgebiet transzendieren.

Niederer Raum ist ein äußerst ich-zentrierter Schoß, eine schüt­zende Einfriedung, die trotzdem eine Art von Reibungs- oder Wi­derstandsphänomen mit sich bringt. Bedeutungen bewerkstelligen die Interaktionen zwischen den beiden eben erwähnten Arten von Wänden. Aber diese Interaktionen sind zu starr, als daß sie harmo­nisch und befriedigend sein könnten. Zwar sind Bedeutungen kom­munikativ, jedoch in einer Weise, die eine Art »Knirscheffekt« mit sich bringt.

Auf dieser Ebene werden alle Kommunikationen und Umgren­zungen von der »Zeit« gewirkt. Aber das Geplapper der Zeit, wel­ches unseren ich-zentrierten Bereich strukturiert und aufteilt (auf eine Art und Weise, die immer ein beunruhigendes »Knirschen« mit sich bringt), wird von einem offeneren Raum zum Schweigen ge­bracht. Solch ein offenerer »Raum« stellt keine Kammer dar, die irgendjemandes persönliche Vorstellungsbilder und Botschaften re­flektiert.

Obwohl die nicht hinterfragte (und für einen niederen Raum nicht hinterfragbare) Stellung des Selbst es mit sich bringt, daß das Selbst Urteile fällt, gibt es »da draußen« nichts, das ein unabhängi­ges Objekt wäre, welches richtig oder falsch beurteilt werden könn­te. Allgemeiner ausgedrückt: Es ist wichtig einzusehen, daß wir nicht zu etwas gehören und auch nicht von etwas definiert werden, das wirklich von uns verschieden und woanders ist (wie z . B . die »Welt«). Daraus ergibt sich eine weitere Einsicht, die uns hilft, so­gar die Vorstellung von einem »Selbst«, welches »hier« ist und »nicht zu etwas anderem gehört«, zu transzendieren.

Ein derartiges Verstehen bringt selbst keine Bedeutungen mit sich. Paradoxerweise mag uns dieses Verständnis zugänglicher sein, uns näher stehen, wenn wir einmal gezeigt haben, daß Verständnis nichts anderes (oder woanders) sein muß als Bedeutungen. Das

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heißt, es muß nicht ein »Verständnis« sein, »welches durch das be­sondere Charakteristikum ausgezeichnet (und umgrenzt) ist, jen­seits aller Bedeutungen zu sein«.

Wir müssen unsere Perspektive ausbalancieren zwischen der Of­fenheit des GROSSEN RAUMES, die von der bedeutungsfreien hervorrufenden Macht der GROSSEN ZEIT gefeiert wird, und den Schranken des niederen Raumes, der durch die Ausstreuung von Bedeutungen abgesteckt wird, welche die niedere Zeit konstitu­ieren. Aus der Perspektive des GROSSEN RAUMES sind offener »Raum« und aufgeteilter »Raum« ein und dasselbe. Gerade wenn wir sämtliche Facetten der Erscheinung umfangen, wird uns das Wesen der Offenheit und »Nichtexistenz« des GROSSEN RAU­MES offenbar. Würde es nicht an der unendlichen Vielfalt der Er­scheinungen gemessen, wäre unser Verständnis des GROSSEN RAUMES viel zu begrenzt.

Solange Dichotomien wie »Existenz« und ihre Abwesenheit, »Nichtexistenz«, in Kraft sind, wird eine Diskussion der Beziehung von GROSSEM RAUM zu den konkreten Erscheinungen proble­matisch erscheinen. Wie kann »Nichtexistenz« zur Erscheinung füh­ren? Dies ist möglich, weil die gewöhnlichen Vorstellungen von »Nichtexistenz« - wie auch von »Erscheinung« und »Existenz« - hier nicht anwendbar sind.

Die Begriffe »Existenz« und »Nichtexistenz« werden allgemein im Sinne ihrer Anwendbarkeit auf lineare Reihen gebraucht. Exi­stenz verstehen wir dabei als Punkte, als Ursachen innerhalb einer Reihe. Nichtexistenz verweist dann auf eine Lücke in der Reihe. Wäre ein Segment einer Reihe leer von Dingen oder Ursachen, dann würde natürlich ein daraus resultierendes Existenzial in der Reihe, eine Erscheinung, nicht »Vorkommen«.

Dies ist jedoch nicht die einzige Weise, auf die sich »Nichtexi­stenz«, »Erscheinung« und ihre Wechselbeziehung verstehen lassen. Wir mögen entdecken, daß es gar keine Lücken oder Hindernisse gibt, keine Reihen und keine Resultate, die aus vorangehenden Ur­sachen folgen.

Erscheinung kommt nicht von etwas her; sie wird auch nicht zu irgend jemandem hin dargeboten. Sie ist nicht mit irgend etwas anderem verbunden. Deswegen kann sie »sein«, ohne in irgendeine Art von Reihe hineingezwängt werden zu müssen (in der ein Existen­zial als Ursache notwendig wäre). Die Aussage, daß Erscheinung kein Ding als Ursache hat, besagt deshalb nicht, daß es da eine Lücke in

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einer Ursache-Wirkung-Reihe gibt, sondern weist vielmehr darauf hin, daß eine potente und aufnehmende Offenheit Erscheinung zu­läßt.

Die Wirklichkeit ist GROSSER RAUM und GROSSE ZEIT, und für diese Dimensionen gibt es keine hinderlichen Faktoren. Da GROSSER RAUM offen und gewährend ist, ist das Fehlen hem­mender Einflüsse an sich schon hinreichend dafür, daß Erscheinung ist. Da Zeit (in einem Sinne, der später noch untersucht werden soll) unendlich ist, braucht die Erscheinung mit ihrem Dasein keinen bestimmten Posten in einer einzigartigen Serie für-sich-allein-ste- hender Augenblicke auszufüllen. Das heißt also, es gibt keine endli­chen Augenblicke, die einander in einer Reihenfolge herbeiführen.

Allgemein denken wir uns die Zeit als eine segmentierte Röhre, die sich in die Zukunft erstreckt. Doch die Vergänglichkeit der Seg­mente muß jedoch nicht als ein Beweis für einen seriellen Prozeß oder für die Wirklichkeit und Endlichkeit solcher Segmente angese­hen werden. Man kann diese Vergänglichkeit vielmehr als die Weise verstehen, auf die GROSSE ZEIT oberflächliche Konstrukte aus­einandernimmt und abschüttelt, um uns von unserem Haften an einer Sichtweise der niederen Zeit zu befreien. Ist einmal eine aus­reichende Sensibilität entwickelt, mögen wir zu Sichtweisen der Vergänglichkeit gelangen, die die niedere Zeit nicht mehr als die einzige Wirklichkeit annehmen. Dann können wir von der Betonung solcher oberflächlichen Abgrenzungen, die die Zeit aufteilen, ablas- sen, und das ganze Röhren-Bild von der Zeit (sei sie darin nun segmentiert oder nicht) mag in sich zusammenbrechen.

Dies könnte jedoch dahingehend mißverstanden werden, daß wir der Gerichtetheit und des Vergehens der Zeit nicht gewahr sein sollten, indem wir uns in eine Art visionärer Trance versenken, in der wir für bestimmte Übergänge und Zustandsveränderungen blind sind. Es geht jedoch nicht darum, für die Eigenart der Zeit blind zu werden, sondern darum, sie zu untersuchen und mit einer neuen Art von »Wissen« tief in sie hineinzuschauen.

Zustände treten gewöhnlich dergestalt in Erscheinung, daß sie ihre »Scheibe Zeit« zu konstituieren scheinen - sie scheinen diese ganz und gar auszufüllen. Alles, was sonst noch geschehen kann, muß deswegen eine darauffolgende zeitliche Position einnehmen. Dies gilt sogar für den grundlegenden Charakter unseres Lebens. Wir müssen, wenn wir dasein wollen, offensichtlich fortfahren, auf der Zeit-Linie entlangzugehen. Unser Dasein wird demzufolge zu

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einer rastlosen Angelegenheit - es verlangt von uns, daß wir ständig weitergehen. Indem wir diese Betonung des Weitergehens in Frage stellen, entdecken wir vielleicht, daß Zeit eine neue, nicht-ausge- streute Daseinsweise trägt.

Es gibt Alternativen, die das Bild des »Weitergehens« ersetzen können. Überdies können wir sehen (wie in den Kapiteln sieben bis zehn ausgeführt wird), daß das »Weitergehen« gar nicht »weiter­geht«, auch wenn es so scheinen mag. Zwar ist Gerichtetheit etwas, das es zu bekämpfen gilt, doch ist sie gleichzeitig auch völlig belang­los. Die gewöhnliche lineare Zeit ist selbst nicht linear, obwohl die Erscheinung der Linearität von der GROSSEN ZEIT ohne weiteres beherbergt wird.

GROSSE ZEIT und niedere Zeit sind keine entgegengesetzten Bedingungen. Die Betrachtung, daß verschiedene »Zeiten« - »jetzt«, »dann«, »vorher«, »nachher«, ja sogar »in zwei Milliarden Jahren« - noch kein Beweis für irgendeine fundamentale Verände­rung der Zeit sind, ist einer der direkten Wege, dies zu veranschauli­chen. Verschiedene Zeiten ändern nichts am nicht-ausgestreuten Wesen der GROSSEN ZEIT. Sie sind nicht durch ihre jeweilige Position in einer zeitlichen Abfolge verbunden - also auf eine Wei­se, die sie unwiderruflich voneinander trennt. Die »Reihe« ist eine Fiktion.

»Jetzt« und »in zwei Milliarden Jahren« sind im wesentlichen dieselbe Zeit. Sie sind beide »hier und jetzt«, ohne daß ihr Sein Existenz beinhaltet - eine ausschließliche und aggressive Besetzung einer Nische in der Zeit. Die Trennwand, die sie voneinander trennt, ist keine, die einen Zustand zeitlicher Entfernung konstituiert. Wir können jene Trennwand öffnen.

Weder wir noch die Zeit gelangen irgendwo »da vorne« hin. Es gibt keine Evolution, kein »von-her« oder »zu-hin«, keine Schöp­fung, keinen ersten Augenblick und keine Existenz. »Nichtexistenz« tritt hingegen tatsächlich auf; jedoch auf eine wunderbare Art und Weise - ohne daß das Wunderbare daran von irgendwelchen Unver­einbarkeiten mit unserem konventionellen Wirklichkeitsbild (seinen Handelnden, Erfahrenden, Erfahrungen, seiner Existenz, seinen Beweisen usw.) herrühren würde. Das Wunderbare daran ist allein GROSSER RAUM, GROSSE ZEIT und GROSSES WISSEN.

Bestehen wir darauf, in Begriffen von »erschaffen« und »gesche­hen« zu denken, könnten wir sagen, GROSSER RAUM erschafft RAUM, GROSSE ZEIT erschafft ZEIT und GROSSES WISSEN

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erschafft WISSEN. Zwar begreifen wir sie dann weiterhin als Fak­ten oder Ursachen, die etwas anderes hervorbringen, aber eigentlich erschaffen oder verkündigen sie sich selbst. Wir könnten unseren irreführenden Eindruck als über eine flache Oberfläche ausgebreitet beschreiben, so daß er immer und immer wieder vorzukommen scheint. Aber dieser Irrtum und diese Beschreibung sind selbst RAUM, ZEIT und WISSEN, die nicht auf eine flache, ausgebreite­te Oberfläche begrenzt sind und nichts wiederholen. Wir leben in einer überaus phantastischen, magischen Welt; allerdings gibt es keinen Magier, der diese Magie wirkt - gerade darum ist sie ma­gisch.

Wir haben gelernt, mit dieser Magie zu leben, sie zu zähmen, »gesetzmäßig« und rational zu machen. Oder, um es etwas anders auszudrücken: Wir sind der zahme, gesetzmäßige, rationale Schein, der durch und durch . . . Magie ist. Sogar die Werkzeuge und Trenn­wände, die im Dienste einer rationalen, linearen Welt stehen, sind Pforten zum Wunderbaren. Auch sie sind RAUM-ZEIT-WISSEN und haben im Grunde keine Grenzen - trotz ihrer gewöhnlichen, nüchternen Erscheinung.

Lassen Sie dieses Gefühl des Wunderbaren alle Situationen erfül­len. Werden Sie besonders bei der Berg-Meditation, bei der Sie völlig gelassen sind, des wunderbaren, offenen Aspekts der Erschei­nung gewahr und würdigen Sie ihn. Sehen Sie genauer hin: Könnte dieses würdigende Gewahrsein nicht etwas viel Subtileres sein als nur das letzte Ereignis in einer Reihe von Ereignissen. Es muß keine Bedeutung sein, kein Denken, von »Ihnen«, dort auf dem Berg, über andere Dinge. GROSSES WISSEN bietet uns eine neue Wei­se, RAUM und ZEIT wahrzunehmen und zu würdigen.

In diesem Kapitel wurden GROSSE ZEIT und GROSSES WIS­SEN kurz angesprochen, um die Rolle zu veranschaulichen, die dem GROSSEN RAUM in dieser drei Aspekte besitzenden Vision zu­kommt. Der zweite und der dritte Teil des Buches werden ZEIT und WISSEN für sich noch ausführlich behandeln. Die folgende Übung bietet jedoch eine vorläufige Verwendung der RAUM-ZEIT-WIS- SEN-Schau dar, wie sie im Bereich der konventionellen Erschei­nung zum Tragen kommt.

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Übung 16: RAUM-ZEIT-WISSEN auf der konventionellen Ebene

Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, und setzen Sie sich dort für eine Weile entspannt nieder. Lassen Sie ab von der drückenden Beto­nung von Unterscheidungen zwischen »hier« und »dort«, »innen« und »außen«, sowie von der Betonung des besonderen Status, den Sie sich selbst als dem »Tuenden« oder dem »Beobachter« beilegen. Lassen Sie alle Formen, Positionen und Oberflächen als »Raum« gegeben sein. Da Raum zuläßt, beherbergt und nicht versperrt, kön­nen Sie vielleicht spüren, wie Sie in den Objektpol der Erfahrung einfließen oder einsinken, ohne tatsächlich darauf zuzugehen. Las­sen Sie alle Einheiten, Mengen, Bedeutungen, Umgrenzungen, Be­wegung und Handlung als »Zeit« (aber nicht als aus einer vergange­nen Zeit kommend) gegeben sein. ZEIT ist wie ein Aufblitzen - flackernd und aufleuchtend, spielerisch darbietend, ohne irgend et­was in irgendeiner Position einzufrieren. Dieses Spiel von Raum und Zeit ist nicht da draußen - gesehen von Ihnen hier. Es ist einfach und bringt eine Dimension des »Wissens« mit sich. Sie müssen sich selbst nicht als der Erkennende behaupten. Alles - einschließlich Ihrer eigenen Anwesenheit - ist als ein »Wissen« gegeben, welches eine bestimmte Weise aufzeigt, in der die unbeschränkte Offenheit des Raumes durch Zeit geformt und bis ins Einzelne bestimmt wer­den kann.

Wollen Sie RAUM, ZEIT und WISSEN in Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Bild des »erkennenden Selbst« lokalisieren, dann lassen Sie alle Objekte »Raum«, das beobachtende Selbst »Wissen« und die Darbietung der Subjekt-Objekt-Interaktion »Zeit« sein. Diese eine Art zu »wissen« ist jedoch keinesfalls er­schöpfend. RAUM und ZEIT können unzählige Formen des »Wis­sens« tragen. Wenn Sie mit der Offenheit und Spontaneität von RAUM und ZEIT in Fühlung bleiben, werden Sie vielleicht einige davon kennenlernen. Diese Formen von »Wissen« offenbaren mehr von RAUM und ZEIT, das Sie umfangen können. Lassen Sie ab von Ihrem Lokalisiertsein im »Hier«, lassen Sie ab von dem lokali­sierenden »Da Draußen«, und lassen Sie ab von »Geschehen«, »Jetzt« und »Existenz«. Um von diesen Faktoren abzulassen, müs­sen Sie ihrer nur gewahr sein und sie in die RAUM-ZEIT-WIS- SEN-Vision hineinnehmen. Indem Sie auf diese Art und Weise alle Außenlieger und Anlieger freisetzen, öffnen Sie sich möglicherwei­se mehr dem, was »hier« ist.

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Kommentar zu Übung 16Werden Situationen dieser Vision ausgesetzt, so werden damit die Grundzüge der Erfahrung auf eine Art und Weise neu angeordnet - was schließlich die alte Anordnung wieder möglich macht -, die das Ich ohne jede Unterdrückung und ohne jeden Kampf völlig entwur­zelt. Später werden noch andere Übungen vorgestellt, die dieses Umordnen und Entwurzeln auf noch drastischere Weise fortsetzen. Trotzdem kündigt Übung 16 schon eine sehr gesunde Schwerpunkt­verlagerung an, denn sie macht das Primat der lebenspendenden Dimensionen wieder geltend, die alle Erscheinung möglich machen, die das Ich jedoch auszusperren versucht.

Diese Dimensionen sind die letzte Zufluchtstätte für alles, was sich in dem Verlangen danach, zu existieren, unnötigerweise auf­reibt. Existieren ist eine sehr einsame vereinsamenden Tendenz. Existenz ist so sehr darauf bedacht, eine Position auszufüllen, daß aller Unterhalt und aller Kontakt nur erlangt werden können, in­dem man »nach ihnen ausschickt«. Es gibt jedoch einen anderen und besseren Weg, Kontakt aufzunehmen und Erfüllung zu genie­ßen. Anstatt sie einzuladen, müssen wir sie nur sehen und an­nehmen.

Obwohl wir eine Welt von Objekten antreffen, die voneinander durch genau bestimmte Grenzen getrennt werden, sollten wir nicht versuchen, diese Objekt-Orientierung beizubehalten, und nicht annehmen, daß RAUM und ZEIT diese Objekte machen oder enthalten. RAUM, ZEIT und WISSEN sind kein Gewebe auf einer grundlegenden Ebene und auch kein Grund-»Stoff«, aus dem die einzelnen Gegebenheiten einer Situation gemacht sind. RAUM und ZEIT lassen sich nicht im Innern von Objekten lokali­sieren, noch sind sie generell in der Region der Objekte enthalten oder darauf beschränkt. Es besteht eine Parallele zwischen dieser Idee und dem Faktum, daß die Teilchen, die ein Objekt konstitu­ieren, für die Physik nicht unbedingt und ausnahmslos in diesem Objekt lokalisiert sein müssen. Allerdings sind RAUM, ZEIT und WISSEN auch nicht woanders (innerhalb jenes Raumes) lokali­siert.

Wir können also von dem Gedanken ablassen, daß die Objekte ein »Innen« haben, denn ein »Innen« ist nur ein weiteres Beispiel für einen Außenlieger. Es lockt uns immer weiter, ohne uns verste­hen zu lassen, was in der Unmittelbarkeit der Darbietung eines Objekts eigentlich dargeboten wird.

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Es fällt uns sehr schwer, zu entspannen und loszulassen, wenn wir in einem stark strukturieren und geschichteten Feld lokalisiert sind. Wenn wir jedoch alle solche Schichtungen und schichtenden Ten­denzen in die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision einbeziehen, können wir alles zu unserer Entspannung und Auflockerung beitragen las­sen. Dann gibt es keine Hindernisse und Ablenkungen mehr - alles kann uns weiterhelfen.

An dieser Stelle mag es nützlich sein, die drei Ebenen des Rau­mes, die wir bisher besprochen haben, kurz zusammenfassend dar­zustellen:

Raum, Ebene eins: Wie im Beispiel der undurchlässigen Regionen, die, wenn sie unter einer anderen Brennweiteneinstellung betrach­tet werden, sich größtenteils als »Raum« offenbaren, können wir auch allgemein sagen, daß unsere Weltordnung eine bestimmte Brennweiteneinstellung auf den GROSSEN RAUM darstellt. Der Raum dieser ersten Ebene ist eben unser gewöhnlicher Bereich, betrachtet im Licht weiterer Möglichkeiten für menschliche Erfül­lung. Aus dieser Perspektive werden alle Beobachtungen als die Funktion oder die »Leistung« einer lokalen Eingrenzung des GROSSEN RAUMES verstanden.

Es ist zu beachten, daß auch diese neue Perspektive, die immer­hin die Möglichkeit eines GROSSEN RAUMES ins Auge faßt, ebenfalls einer lokalen Begrenzung unterliegt und damit nur als Arbeitshypothese oder Übergangs-Sichtweise Gültigkeit besitzt. Im Wissen um diese Einschränkung kann es für uns dann von größter Wichtigkeit sein, folgendes zu erkennen: Alles, was - in jeder Hin­sicht - Teil unseres Erfahrungsbereiches ist, ist von der GROSSER- RAUM-Dimension durchdrungen. Zu den wesentlichen Aussagen über das Wesen des GROSSEN RAUMES (soweit sie auf dieser ersten Ebene überhaupt zu formulieren sind) gehören die fol­genden:

☆ GROSSER RAUM ist kein Ding, und man kann von ihm nicht sagen, daß er »existiert«. Gewöhnlicher Raum ist ein von ihm abge­leiteter, aber verzerrter Ausdruck des GROSSEN RAUMES. Der Unterschied besteht darin, daß »etwas sein« und »existieren« als Manifestationen begrenzter Einstellungen und als im Vergleich zu der unendlichen Erfüllung des GROSSEN RAUMES ziemlich ab­tötend anzusehen sind.

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☆ GROSSER RAUM ist offene, zulassende Dimension, die »Tä­tigkeit«, »Geschehen« und »Existieren« erlaubt. Die für begrenzte Einstellungen charakterisierten Ansichten über das, was zur Exi­stenz und zum Vorkommen von Ereignissen notwendig ist, können die Dimension des GROSSEN RAUMES nicht umfassen und sind deswegen von vorneherein unvollständig.☆ GROSSER RAUM ist nicht räumlich über irgendeine Region ausgebreitet. Er besitzt keine Dimension der Ausdehnung.☆ Zwar sind die gewohnten Dinge voneinander getrennt, über den gewöhnlichen Raum ausgestreut und teilweise durch ihre unter­schiedliche Position umgrenzt. Betrachtet man jedoch ihre GROS- SER-RAUM-Dimension, dann sind sie allesamt innig miteinander verbunden. »Entfernung zwischen« wird bedeutungslos.☆ Jede endliche und undurchlässige Region unseres Bereiches ist in ihrem GROSSER-RAUM-Aspekt faktisch unendlich. Die Tatsa­che, daß ein Ding »da ist«, erschöpft oder verhindert die Möglich­keit nicht, daß auch andere Dinge »da sind«. Die Vorstellung von standardisierten Regionen ist nicht anwendbar, aber in gewisser Hinsicht hat jeder endliche Punkt »darin« unendlichen Raum.☆ Im Licht der obigen Ausführungen gibt es nichts, das nur auf eine einzige Art und Weise zustande gekommen ist, mit nur einer Geschichte untereinander verbundener Ereignisse. GROSSER RAUM ist kein Schöpfer, der ein bestimmtes Universum erschaffen hat. GROSSER RAUM hat sich nicht einer einzigen allgemeingülti­gen Weltordnung verschrieben oder ist daran gebunden.

Raum, Ebene zwei: Dies ist kein spezifischer Ort oder Bereich, sondern vielmehr das Ergebnis eines erfahrungsmäßigen Fortschritts, der dadurch erzielt wurde, daß wir uns der strategischen Herausfor­derung der Aspekte des RAUMES der ersten Ebene gestellt haben. Das heißt: In dem Maße, in dem wir lernen, die Brennweiteneinstel­lung zu »öffnen« und uns damit dem GROSSEN RAUM anzunä­hern, in dem Maße leben wir auch zum GROSSEN RAUM in einer Beziehung der zweiten Ebene. Diese Beziehung kann sich auf unendlich viele Arten manifestieren. Zu den typischen Beispielen gehören eine Zunahme der persönlichen Freiheit, verminderter psy­chischer Druck, eine größere physische Entspanntheit, eine Sensibi­lisierung der Sinne und sogar parapsychologische Fähigkeiten wie Telepathie und Hellsehen. Ein noch höherer Grad an »Offenheit« kann zu einer weiten Bandbreite von Entdeckungen führen. Trotz-

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dem unterliegen auch auf dieser zweiten Ebene die Offenheit GROSSEN RAUMES und die Abschwächung erfahrener Be­schränkungen noch einer subtilen Selbst-zentrierten Interpretation, die sich an einer »allgemeingültigen Weltordnung« orientiert. Die Freiheit GROSSEN RAUMES wird also immer noch unseren be­grenzenden Bedürfnissen zweckdienlich gemacht.

Raum, Ebene drei: Hier bricht das Bild der »Ebenen« völlig zusam­men. Dies kommt der Aussage gleich, daß die Strategie des Öffnens von Brennweiteneinstellungen völlig obsolet wird. Es gibt keine nie­deren Räume. Zu Anfang ist es uns nicht möglich, GROSSEN RAUM zu erfassen, ohne ihn mit dem, was wir wissen, mit unseren Erkenntnismodi und unseren pragmatischen Schemata in Verbin­dung zu bringen. Deshalb greifen wir auf den Ansatz der »Verände­rung der Brennweiteneinstellung« zurück, um es uns zu ermögli­chen, den GROSSEN RAUM in eine verstehbare Beziehung zur gewöhnlichen Erfahrung zu setzen. Aber schließlich wird klar, daß GROSSER RAUM nicht höher ist als etwas anderes und daß die Erfahrung GROSSEN RAUMES »dieselbe« ist wie die Erfahrung einer beschränkten Einstellung.

Obwohl es uns möglich ist einzusehen, daß GROSSER RAUM nicht einfach ein »größerer« Raum ist, hängt diese Einsicht davon ab, daß wir selbst den drei Entwicklungsschritten getreulich folgen. Es geht einfach darum, zu lernen, wahrzunehmen und zu würdigen, was - im gewöhnlichen Sinne - »hier« ist, und auf dem Weg zu diesem würdigenden Gewahrsein scheinen wir durch diese Über­gangs-Sichtweisen hindurchgehen zu müssen.

Obwohl Ebene drei an sich kein Ort ist, bringt sie eine Verschie­bung der Perspektive mit sich, die für unser Leben eine ungeheure Bedeutung hat. Auf dieser Ebene transzendieren wir restlos jedwe­de Selbst-zentrierte Orientierung und sind völlig mit jedem und allem. Lokalisierungen, Haltungen, Probleme und Verwirrungen binden uns nicht mehr. Wir sehen sie als das herrliche Spiel des GROSSEN RAUMES, ohne daß der GROSSE RAUM dabei als der außerhalb stehende Schöpfer dieses Spiels angesehen wird. Auch Leben und Tod stellen ein interessantes Spiel dar, ohne unsere Möglichkeiten in irgendeiner Weise zu unterbinden. Wir sind auf dieser Ebene nicht mehr darauf erpicht, etwas zu verbessern; trotz­dem stehen wir, wenn es darum geht, anderen zu helfen oder die

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Dinge zu verbessern, voll und ganz zur Verfügung - indem wir unser würdigendes Gewahrsein der Vollendung in einer Weise formulie­ren und beispielhaft Vorleben, die aus der Sicht von Menschen ver­ständlich ist, welche auf eine »Vervollkommnung« ausgerichtet sind.

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Zweiter Teil

ZEIT

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6. Kapitel

Die Anwesenheit von ZEIT - befreiende Kraft und zwingende Muster

Es steht uns offen, die Welt auf viele verschiedene Weisen zu sehen. In unseren Tagen werden sehr exakte und spezialisierte Sichtweisen, Theorien und Modelle der Wirklichkeit definiert, die von den ver­schiedensten Perspektiven ausgehen. Aber keines dieser verfügba­ren Modelle bietet eine ausreichende Basis, der Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle gegenüberzutreten. Oft stellen sie nur theoretische Bestätigungen des allgemeinen Gefühls der Hilflosigkeit dar, das uns angesichts von Situationen befällt, über die wir »keine Kontrolle haben«. Wollen wir uns der Wirklichkeit stellen, brauchen wir einen anderen Ansatz, der uns nicht nur ein größeres Maß theoretischer Genauigkeit beschert, sondern auch die Entdeckung persönlicher Freiheit und Befriedigung fördert.

Sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften suchen stän­dig nach Modellen, die zu einer Steigerung persönlicher und zwi­schenmenschlicher Harmonie führen und uns helfen können, die natürliche Umwelt zu beherrschen. Diese konventionellen Ansätze mögen jedoch schon deshalb keinen wirklichen Erfolg haben, weil die Theorien selbst - wie auch die Probleme, mit denen sie sich befassen - Ausdruck »versteckter« Kräfte oder »verborgener« dy­namischer Prinzipien sind.

Ein Verständnis jener allgemein nicht in Rechnung gestellten Prinzipien kann das Bild vervollständigen, das wir uns gewöhnlich zu der Frage nach dem »Warum und Wieso« der Dinge machen, und mag zu dem unser Vermögen fördern, uns zu verändern und unserem Leben eine positive Wendung zu geben. Überdies mag uns ein voll­ständiges Verständnis dieser Prinzipien dazu befähigen, unsere Aus­richtung auf »Beherrschung« und »Fortschritt« gänzlich zu tran­szendieren. Die Sichtweise der Wirklichkeit, die sich daraus ergibt,

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und die ihr entsprechende Verwirklichung menschlicher Werte ver­schmelzen dann möglicherweise zu der Tatsächlichkeit einer mit überfließender Vitalität gelebten Vision oder Einsicht.

Diese Sicht der Wirklichkeit schließt »Raum«, »Zeit« und »Wis­sen« ein. Obwohl »Zeit« hier keinesfalls in der allgemein üblichen Weise gesehen wird, können die gewohnten Konventionen und Be­obachtungen über die Zeit - die sowohl von der Sicht der Naturwis­senschaften als auch von der unserer gewöhnlichen gelebten Zeit ausgehen - uns in dieses neue Verständnis der »Zeit« einführen.

Über Jahrhunderte haben die Naturwissenschaften zu erkennen versucht, warum und durch welches Agens die Dinge sind, wie sie sind. Die frühen Theorien kreisten vor allem um die Ansicht, das die Dinge eine Macht besitzen, sich auf bestimmte Weise zu verhalten und bestimmte Wirkungen herbeizuführen. Man dachte von den Dingen, daß sie »Dinge tun«, und zwar Vermögens einer Macht, die ihnen wesenhaft innewohnte.

Diese »Macht-und-Objekt-Orientierung« ist weitgehend einer Betrachtung der Frequenzen von Ereignis-Mustern und typischen Reihenfolgen gewichen. »Macht« wird jetzt als ein archaisches Kon­zept betrachtet; es wurde in Begriffen von Sequenzen von Ereignis­sen neu definiert, die so regelmäßig wiederkehren, daß sie als »Ge­setzmäßigkeiten« betrachtet werden. Aber so wie die Vorstellung von einer »Macht« durch Modelle ersetzt werden kann, in denen es um »gesetzmäßige Abläufe« geht, mögen diese Gesetzmäßigkeiten wiederum auf eine Weise gesehen werden, die sie einfach als Aus­druck der Struktur der »Zeit« versteht.

Gewöhnliche Objekte lassen sich als Bewegungsmuster der ato­maren und subatomaren Teilchen neu definieren. Auf einer be­stimmten Mikroebene der Analyse gibt es Muster und Bewegungen, ohne daß Objekte vorhanden wären, die in einem »Subjekt-als- Agens-des-Verbums«-Sinne etwas tun oder sich bewegen.

Die Tatsache ist sehr aufschlußreich, daß die Wissenschaften, ob­wohl sie heute vor allem mit Sequenzen von Ereignissen befaßt sind- mit typischen zeitlichen Reihen doch nicht in der Lage sind, die sequentielle Natur der Zeit selbst zu untersuchen. Die Naturwissen­schaften können einen bestimmten Zustand, ein Ereignis, eine Serie untersuchen, indem sie erforschen, in welcher Beziehung sie zu ge­wissen grundsätzlichen gesetzmäßigen Trends stehen. Aber sie kön­nen nicht sinnvoll danach fragen, warum überhaupt etwas geschieht. Kein Gesetz kann dies erklären, denn »Gesetze« sind selbst nur

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allgemeine Formulierungen, die aus Beobachtungen abgeleitet wer­den, welche auf der Zeit als einer Dimension aufbauen, die dauern­den Wandel erlaubt. Ob man nun beobachtet, daß eine äußere phy­sikalische Veränderung auf einen gegebenen Ausgangszustand folgt oder nicht - für jeden Anfangszustand gibt es immer einen »näch­sten Augenblick« . . . der Prozeß der Beobachtung selbst ist auf diese als Tatsache vorausgesetzte Eigenschaft der Zeit gegründet. In ei­nem solchen Rahmen, in dem die Verfügbarkeit von »nächsten Au­genblicken« so fundamental ist, daß sie nicht in Frage gestellt wird, besteht die Aufgabe der Wissenschaft nur darin, die Art von Ereig­nis vorauszusagen, die auf einen spezifischen Ausgangszustand folgen:

Da es außerhalb dieser bestimmten zeitlichen Sequenzen keine Zeit zu geben scheint, könnte man annehmen, daß die Fähigkeit vorauszusagen, daß eine bestimmte Art von Ereignis als eine Folge­erscheinung eintreten wird, dasselbe ist wie die Fähigkeit zu erklä­ren, warum sich die Zeit verändert und warum ein nächster Augen­blick eintritt. Zwischen einer solchen Fähigkeit zur Voraussage und einer fundamentalen Erklärung besteht jedoch ein Unterschied. Der Unterschied ist zu subtil, um innerhalb unseres gewöhnlichen Rahmens von Belang zu sein. Kommen wir jedoch mit anderen Arten von Zeit und mit anderen Seinsweisen in Berührung, dann ist dieser Unterschied zwischen Voraussage und Erklärung Grund ge­nug, uns die Frage zu stellen, warum unsere bestimmte Zeit so ist wie sie ist.

Kein empirischer Test kann die Frage beantworten, warum die »Zeit vergeht«. Und doch hängt alles, was zu unserem Bereich ge­hört, einschließlich unseres Status als lebende und wahrnehmende Wesen, von diesem »Fluß« der Zeit ab. Wir müssen von einem Moment zum nächsten weitergehen.

Als Lebewesen und als Forscher nehmen wir Zeit in vieler Hin­sicht einfach als gegeben hin. Es fällt uns außerordentlich schwer, die Wirklichkeit aus der Perspektive der »Zeit-Flusses« und nicht aus der »Objekt-als-machtvolles-Agens«-Perspektive zu sehen. So haben dann selbst die Prozeß-orientierten Analysen der Naturwis­senschaften, die sich mit den gesetzmäßigen Korrelationen von Er­eignissen beschäftigen, die Idee, niemals ernsthaft in Erwägung ge­zogen, daß die Objekte, ihre Zustände und ihre wechselseitigen Beziehungen vielleicht auf irgendeine Weise eine Funktion der »Zeit« selbst sein könnten.

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Natürlich läßt sich die Anwendung des Prinzips der gesetzmäßi­gen Regelmäßigkeit nicht so weit treiben, daß man behaupten könn­te, daß alles Zeit ist - und zwar in dem konventionellen Verständnis von Zeit, von dem ausgehend man jene Regelmäßigkeiten formu­liert. Die Beobachtung von »Regelmäßigkeiten« ist jedoch äußerst vielsagend, und wir werden später noch darauf eingehen.

Sowohl in unserer gewöhnlichen Sicht als auch in der der Wissen­schaft fällt es uns schwer, Zeit als einen Vordergrundfaktor anzuse­hen, der sich modulieren oder sogar anhalten ließe. Auf der ge­wöhnlichen Erfahrungsgebene denken wir noch sehr viel in Begrif­fen einer Orientierung, die von einem »Objekt« und seiner charak­teristischen »Macht« ausgeht. Da wir Zeit nicht wirklich ernst neh­men, sie nur als Abstraktion oder ein Ordnungssystem behandeln, ist ein bestimmter Aspekt von ihr zu einem verborgenen Faktor geworden. Daß er verborgen ist, führt leicht dazu, daß sowohl die Genauigkeit unserer Theorien als auch unsere Befähigung, im Laufe unseres Lebens den höchsten Wert zu verwirklichen, beschränkt werden.

Unser Leben selbst besteht aus typischen, gesetzähnlichen Trends. Aber wir haben es nicht verstanden, die wirklich bewegende Kraft oder Möglichkeit zu Wandel und Wachstum wahrzunehmen, die solche Trends mit sich bringen. Unser Bild, das sich an einem »Selbst« oder Agens orientiert, muß durch ein größeres würdigen­des Gewahrsein einer subtilen Dimension der »Zeit« ausgeglichen werden.

Anstatt Zeit als etwas Absolutes und Abstraktes zu betrachten, ist es wichtig zu sehen, daß »Zeit« variabel und sowohl mit dem Geschehen als auch mit unserem Status als Beobachter des Gesche­hens innig verbunden ist. ln diesem Jahrhundert hat die Physik zu einer solchen Reorientierung beigetragen, indem sie zu der Ansicht gelangte, daß die Geschwindigkeit des Zeitflusses und die darauf basierenden Beobachtungen die Funktion eines bestimmten Träg- heits-Rahmens oder gar eines »Raumes« sind. »Raum« wird zuneh­mend positiv verstanden - weniger als eine abstrakte Leere, sondern vielmehr als ein aktives, strukturierendes Medium. Daraus ergibt sich ein größeres würdigendes Gewahrsein von »Zeit«, welches »Zeit« als »Raum« oder als bereichs-spezifisch sieht und anerkennt, daß sie mit dem Charakter der Erfahrung zu tun hat.

Zwischen dem eben erwähnten Bild von »Raum« und »Zeit« und

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dem Bild, welches im Rahmen dieser neuen Wirklichkeitsschau vor­gestellt wird, besteht eine gewisse Affinität. Doch dürfte das Modell der Physik wohl auch weiterhin nicht zeigen können, wie neue Mög­lichkeiten und persönliche Werte - wie zum Beispiel »Freiheit« - in einem gegebenen »Bereich« ihren Platz finden können. Diese Frage liegt uns hier jedoch besonders am Herzen, und um sie zu behan­deln, müssen wir gefühlte oder gelebte Zeit im Lichte jener Beob­achtungen näher betrachten.

Gelebte Zeit serieller Ordnung ist gleichermaßen eine Vorausset­zung für und eine Dimension von jeder gewöhnlichen Erfahrung. Gelebte Zeit ist eine recht wunderliche Sache. Sie behält den ab­strakten Ordnungscharakter der Zeit bei, wie er in den Naturwis­senschaften verwandt wird, erscheint uns bisweilen aber auch zwin­gend, unerbittlich oder gnadenlos - die gelebte Zeit trägt uns immer w e i t e r . . . von einem Punkt zum nächsten.

Wir verstehen das »unbarmherzige« Vergehen der Zeit gelegent­lich als ein Zeichen, daß - trotz des Nachdrucks, den wir auf ein »Selbst« oder den »Geist-als-unabhängiges-Agens« legen - eine Dynamik am Werk ist, die den Lauf unseres Lebens bestimmt. Im Vergleich zu diesem dynamischen Faktor scheint das »machtvolle Selbst« nur eine Abstraktion oder eine hilflose Schachfigur zu sein. Die Zeit auf diese Weise zu sehen, mag jedoch nur der einfachste Weg sein, mit Trends und Situationen fertig zu werden, die oft uner­träglich scheinen. Indem wir dem Leben oder der Zeit für alles die Schuld geben, schwören wir unserer Position der Verantwortlichkeit ab.

Wie im Falle »Zeit« in der Physik ist es auch im Fall der »gelebten Zeit« nicht richtig zu behaupten, daß die gewöhnliche gelebte Zeit eine verborgene autonome Kraft ist, die uns umtreibt. Es gibt in der Tat keine äußere Kraft, die uns dermaßen kontrolliert, daß wir hilf­los wären. Doch das Ungenügen und die Hilflosigkeit, die wir emp­finden, sind unzweideutige Anzeichen dafür, daß ein Prinzip noch nicht in Betracht gezogen wurde, welches für unser In-der-Welt-Sein lebenswichtig ist. Wir werden nur soweit kontrolliert, wie wir selbst es zulassen, und zwar dadurch, daß wir es versäumen, uns all den Faktoren zu stellen, die für unsere Existenz von Belang sind.

Die Beweisführung (der die meisten, wenn nicht sogar alle mo­dernen Physiker zuneigen) gegen eine solche verborgene Kraft ba­siert auf der konventionellen Vorstellung von einer »kausalen Kon­tinuität«. Die Verfechter dieser Vorstellung behaupten, daß es keine

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beobachteten Ereignisse gibt, die sich - im Prinzip - nicht durch eine Lokalisierung in einem Kausalnexus einer bekannten (physi­kalischen) Art erklären ließen. Deswegen bestünde auch nicht die Notwendigkeit, eine »verborgene Variable oder einen neuen Fak­tor zur Hilfe zu rufen - und erst recht keine Variable, die »hin­ter« der sichtbaren Kausalordnung stünde. Überdies, so wendet man ein, wäre eine solche Kraft, selbst wenn sie vorhanden wäre, unauffindbar und könne deshalb auch nicht wissenschaftlich nach­gewiesen werden.

Gegen diese Schlußfolgerung lassen sich die folgenden Einwände erheben: Zwar ist es nicht zu leugnen, daß eine verborgene Kraft für die bekannten wissenschaftlichen Methoden unentdeckbar wäre - aber dies liegt eben daran, daß solche Methoden von gewöhnlichen kognitiven und interpretativen Fähigkeiten abhängig sind. Trotz der Tatsache, daß die verborgenen Faktoren, mit denen wir uns hier beschäftigen wollen, für eine empirische Untersuchung, die mit sol­chen gewöhnlichen Fähigkeiten durchgeführt wird, nicht zugänglich sind, sind sie doch für das Verständnis der Dynamik unseres Bereichs und der Begrenzungen unserer Art von Bewußtsein von großer Be­deutung. Überdies ist das »Wissen«, welches diese verborgenen Fak­toren tatsächlich begreift, nicht die Funktion eines bestimmten Zu­standes (oder einer Art von Bewußtsein), der entweder gewöhnlicher oder nicht-konventioneller Natur wäre. Die Anwendbarkeit dieses »Wissens« ist allgemeiner als es jeder zustandsspezifische Gesichts­punkt sein kann. (Im dritten Teil dieses Buches wird dies in allen Einzelheiten ausgeführt.)

Wir sollten bedenken, daß das Bild der »kausalen Kontinuität« vielleicht jedes gewöhnliche beobachtete Ereignis oder jede Serie von Ereignissen erklären kann, nicht jedoch die serielle Ausstreuung von Ereignissen im allgemeinen. Dieses Bild kann nur im Rahmen einer Perspektive, die die Tatsächlichkeit einer Reihenfolge und die Gültigkeit von gewissen grundlegenden Ereignisreihen voraussetzt, eine ganz bestimmte Reihe erklären. Damit beantwortet diese Orien­tierung nicht alle Fragen, die für unsere Erfahrung von Belang sind.

Es bleibt noch genug Spielraum für andere Ansätze, die uns entdecken lassen, warum wir Menschen in unserer Welt von Si­tuationen, bekannten Grundzügen und Herausforderungen exi­stieren, und was das bedeutet. Nur wenn wir eine Betrachtung der Rolle des Subjekts sowie des Wesens des Menschseins und der

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menschlichen Aufgaben einschließen, kann sich eine Erklärung des »unerklärlichen« linearen und sequentiellen Charakters der Zeit herauskristallisieren.

Die Beschäftigung mit der Zeit muß also mehrere Aspekte in Be­tracht ziehen. Da gibt es zum einen die Tatsache typischer Trends- im Auf und Ab des Lebens, in den gewöhnlichen Naturbeobachtun­gen und in den Naturwissenschaften. Alle diese Trends beinhalten Muster der Interaktion zwischen Objekten, Systemen oder Umstän­den, die aus einer bestimmten Sicht oder auf einer bestimmten Ebe­ne der Analyse selbst als Interaktionsmuster anzusehen sind. Solche Trends haben sowohl mit psychischer als auch mit physikalischer Dynamik zu tun, und eine größere Meisterschaft über sie würde auf eine größere »Machtfülle« hinauslaufen. Um diese Macht in den Griff zu bekommen, könnten wir entweder versuchen, uns der be­kannten Trends und Regelmäßigkeiten zu bedienen, oder weiterge­hen und nach der Macht suchen, die für die Tatsache des »Verge­hens« der Zeit - von der die Trends abhängen - verantwortlich ist. Verschiedene Arten von Macht, Regelmäßigkeiten, allgemeine Trends (einschließlich der »Synchronizitäten«, die von den Astrolo­gen und anderen Naturbeobachtern postuliert werden), ja sogar die zeitliche Aufeinanderfolge selbst reflektieren allesamt Aspekte von etwas, das wir eine bestimmte »niedere Zeit« nennen könnten.

Es ist möglich, eine niedere Zeit zu entdecken, die das Erscheinen und Transformieren der subjektiven, objektiven und periphären Komponenten ist, welche eine Situation ausmachen. Niedere Zeit ist zudem von solcher Art, daß sich diese Komponenten weder erfolg­reich von der augenblicklichen Situation abstrahieren noch vonein­ander isolieren lassen. Die Abstraktion sowie die Isolierung oder Unabhängigkeit, die allgemein gefühlt werden, sind selbst nur Kom­ponenten dessen, was die »Zeit« trägt. Wir müssen diese subtile, aber machtvolle »Zeit« verstehen, wenn wir mit unserer Welt jemals in Harmonie leben und Kontrolle über unser Leben gewinnen wollen.

Die »Zeit«, die unseren Bereich regiert, ist jene bestimmte Spiel­art GROSSER ZEIT, die durch eine spezifische Brennweitenein­stellung auf die Offenheit GROSSEN RAUMES zugelassen wird. Diese »Zeit« ist »lokal« oder ortsgebunden. Sie ist der dynamische Ausdruck unseres niederen Raumes. Das ortsgebundene Vermögen zu einer Öffnung für die Wirklichkeit ist (in der gelebten Praxis)

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begrenzt; deswegen erscheint mit »uns« - als den Beobachtern einer Welt von Dingen und Umständen-ein bestimmter Bereich. All dies ist zwar in Wirklichkeit von »Zeit« gegeben, es wird jedoch als eine Welt isolierter Bestandteile gesehen, deren Zustände und Interak­tionsmuster sich im Rahmen der »gewöhnlichen Zeit« zweckdien­lich einordnen lassen. Ortsgebundenes Aufspalten (durch »Zeit«) bietet »Zeit« in den Begriffen von Maßeinheiten dar, die in einen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Raster eingeordnet sind.

Diese Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur (und die Be­tonung von »Augenblicken«) erweckt den Anschein, daß durch sie alle Ausdrucksmöglichkeiten - alle Zeit, die dazu verfügbar ist, Er­eignisse aufzuspeichern und Erfahrungen zu machen - vollkommen abgedeckt sind. Wir können dieser Reihe nicht entfliehen. Wir sind nicht dazu in der Lage, das unbarmherzige Muster einer Zeit, die immer »weiterrennt«, zu durchbrechen. Kein Wunder, wenn wir uns beherrscht und in unseren Möglichkeiten eingeschränkt fühlen.

Wollen wir dieses Muster wirklich durchbrechen, müssen wir mehr tun, als nur den »Lauf der Dinge« kartographisch zu erfassen und geringfügige Variationen zu bewirken. Wir müssen unmittelbar mit »Zeit« arbeiten und sehen, warum sie »vergeht«. Dies hat etwas zu tun mit dem Verhältnis zwischen dem »gegenwärtigen Augen­blick«, den unser »niederes Wissen« enthüllt, und einer höheren Dimension, die wir GROSSE ZEIT nennen.

In der Sprache unserer gewöhnlichen Sicht ausgedrückt, könnten wir sagen, daß alles, was ist, in der Gegenwart existiert und nicht in der Vergangenheit oder Zukunft. Entsprechend ist alles, was von GROSSER ZEIT zum Ausdruck gebracht wird, ebenfalls »hier und jetzt«, aber in dem besonderen Sinne des »Hier«, von dem in den vorangegangenen Kapiteln die Rede war. Da wir von dem, was GROSSE ZEIT trägt, nur eine winzige Facette umfangen können, kann »Zeit« nur sein, indem sie sich zu einer Reihe von Augenblik- ken der gewöhnlichen Zeit ausstreut. Die endliche Struktur, welche wir als den »gegenwärtigen Augenblick« beherbergen können, wird angesichts der bisher nicht zum Ausdruck gekommenen Totalität GROSSER ZEIT weggeschwemmt. Diese Totalität wird dann wie­derum (von unserem Erkennen) verengend ausgelegt und als der »nächste Augenblick« auf eine handhabbare Größe zurechtgestutzt. Damit erhalten wir die uns wohlbekannten Tatsachen der Vergäng­lichkeit und der sequentiellen Zeit.

GROSSE ZEIT läßt sich jedoch nicht vollständig aussperren,

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denn der Versuch einer »Hemmung« solchen Ausmaßes würde selbst »Zeit« und die Macht GROSSER ZEIT erfordern. Jegliche Form von Energie, jegliches Potential für das Erscheinen von Ele­menten, die wir als Phänomen in der Zeit betrachten - Willensäuße­rungen, Verursachung und so weiter -, gehen insoweit auf GROSSE ZEIT zurück, als GROSSE ZEIT in ihnen gedämpft und damit »zerstückelt« ist. Die Tatsächlichkeit und der bestimmte Charakter einer zeitlichen Reihe sind ausschließlich Folgeerscheinungen der Sichtweise, mit der wir GROSSE ZEIT sehen.

Damit ist nicht unbedingt gesagt, daß Zeit ein subjektives Phäno­men ist, denn das »Subjekt« in einem »niederen Raum« ist ebenfalls Ergebnis eines bestimmten »Wissens« um Zeit. Es läßt sich jedoch mit Gewißheit sagen, daß das Ich des Beobachters durch die für niedere Räume charakteristische beschränkte Sichtweise konditio­niert ist. Da das Ich selbstbehauptend ist und sich nicht aufgeben will, um durch diese Aufgabe den Ausdruck einer erweiterten Brennweiteneinstellung zuzulassen, muß die gewöhnliche Zeit den Beschränkungen des Ich natürlich konform sein.

Wir arrangieren den »Fluß« der Zeit auf eine geordnete Weise. Dies geschieht in Übereinstimmung mit vorangegangenen Erfah­rungen und mit dem, was wir hinsichtlich der grundlegenden Di­mensionen der Wirklichkeit »vorwegnehmen« - und natürlich auch in Übereinstimmung mit dem, was wir diesbezüglich vermeiden oder verdrängen. Diese Beschreibung der Situation macht zwar der Ansicht vom Ich als einem aktiven und unabhängigen Gegenstand »in« der Zeit beträchtlich Zugeständnisse, doch dieses Bild kann trotzdem als eine annehmbare erste Annäherung zur Beschreibung unseres Verhältnisses zur »Zeit« dienen. Wir alle müssen nämlich mit unserer Suche nach der erfahrenen »Zeit« und der GROSSEN ZEIT in einem Stadium beginnen, in dem die beschränkte Natur des Ich noch in Kraft ist.

Wir müssen jedoch ebenfalls verstehen, daß es keine für-sich- allein-bestehenden Dinge oder Beobachter von Dingen gibt. Die Zeit selbst offenbart alle Objekte, Beobachter, Charakteristika und Bedeutungen. Gewöhnlich ist es uns unmöglich zu sehen, daß »Din­ge« von der »Zeit« herstammen. Trotzdem ist selbst auf unserer gewöhnlichen Ebene ein Hinweis auf diese Abhängigkeit von der »Zeit« gegeben. Er besteht in der Tatsache, daß alle Dinge gemes­sen und irgendwie getestet werden müssen, um identifiziert und voraussagbar gemacht zu werden. Messen, Quantifizieren, Einord­

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nen und Voraussagen sind für alles, was wir tun, wesentlich und haben nicht nur mit der gewöhnlichen, sondern auch mit unserer besonderen »Zeit«-Vorstellung zu tun. Messen und Identifizieren bestehen in der Ausführung vorgeschriebener Bewegungen; da es dabei um das geht, »was geschieht«, welche bestimmte Reihe von Ereignissen auf etwas folgt, bringen sie gewöhnliche Zeit mit sich. Charakteristische Bewegungen oder »Zeit«-Reihen bestätigen je­doch nicht nur die Identität eines Dinges, sie konstituieren jenes Ding tatsächlich.

Existenz selbst ist »Zeitabhängig und hat deswegen notwendig an der abgeleiteten Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur und auch an der Vergänglichkeit Anteil. Dinge sind nur hier, in der Gegenwart, um sich unserem Zugriff wieder zu entziehen. »Dinge« werden erwünscht (vielleicht gerade wegen solcher Verluste in der Vergangenheit), doch sie sind »noch nicht« da. Wir sind von diesem Trend dermaßen konditioniert, daß all unser Denken und Trachten darauf zielt, kleine Lücken in einem personalisierten Vergangen- heit-Gegenwart-Zukunft-Raster auszufüllen. Wir zeitigen uns buch­stäblich hinweg.

Dies ist eine erschreckend beschränkte Art und Weise, das Leben anzugehen. Sie liefert uns einem voraussehbaren Grundmuster aus, das nur auf eine einzige Weise enden kann: mit dem Tod! Der Tod ist dann eine völlig undurchlässige Trennwand. Wir können nicht über sie hinaussehen, noch können wir sie selbst klar genug sehen, um andere Optionen und Wege zu entdecken, die um sie herumfüh­ren. Unsere Versuche zu leben bringen alle den Gebrauch niederer Zeit mit sich, die notwendigerweise fortschreitet, indem sie die Dinge voneinander trennt und sie zerstückelt.

Der Tod ist die letzte Lektion, die uns die »Zeit« erteilt und mit der sie den Bankrott unserer Sichtweise offensichtlich macht. Wir sehen nicht genug, um mit dem Spiel von Raum und Zeit schritthal­ten zu können, und an einem bestimmten Punkt nimmt die Sichtwei- se (oder das »Wissen«), welche »wir« verkörpern, ihren Lauf. Bis dahin sind wir nur damit beschäftigt, diesen Trend zu verstärken, indem wir unseren Blick ständig rastlos auf unsere persönliche Zu­kunft richten. Zeit - wir entwerfen sie, und sie lenkt uns vollständig in ihre Bahn.

Die in unserem Raum wirksame »Zeit« kann großen Schaden und unermeßliches Leid verursachen, wenn wir uns weigern, ihre wirkli­

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che Botschaft wahrzunehmen: Wir sind ihr dann ausgeliefert und werden mit fieberhafter Eile von ihr davongetragen. Gelebte Zeit vergeht allzu schnell. Wir haben niemals genug davon. Deswegen ist es so schwer, Erfüllung zu finden. Das Problem ist nicht, ob die Uhr- Zeit in unserem Bereich langsamer oder schneller vergeht als in einem größeren Raum. Es besteht vielmehr darin, daß wir kaum fähig sind, uns der Unendlichkeit zu öffnen, die »Zeit« uns wirklich anbietet und vermittelt. Wir lassen nicht zu, daß Befriedigung Wirk­lichkeit ist. Statt dessen versuchen wir, sie in der Zukunft zu erlan­gen, sie einzufangen und festzubinden, kurz, aus ihr eine »Gegen­wart« zu machen. Unter solchen Umständen erfahren wir große Spannungen und starken Druck.

Unser Bewußtsein rast umher, während unser Körper - die kon­krete Verkörperung jener Verwirrung, die die Dynamik dieses Be­reiches in Gang setzt - immer mehr verfällt. Wir waschen unsere Hände in Unschuld und begreifen nicht, »warum so etwas gerade uns zustoßen muß« oder warum gerade wir mit Hungersnöten, Krie­gen oder Naturkatastrophen (für die wir zumeist eine »höhere Ge­walt« verantwortlich machen) konfrontiert sein müssen. Was haben wir denn angerichtet, daß wir so etwas verdienen? Vielleicht haben »wir« gar nichts getan. Sind solche Katastrophen dann reiner Zu­fall? Nein! Sie sind das Ergebnis einer bestimmten Funktionsweise der »Zeit«, welche auf eine willkürliche Brennweiteneinstellung auf die Wirklichkeit zurückzuführen ist. Versuchen wir, unsere Proble­me zu lösen, indem wir über uns und unsere Umwelt eine auf ver­engten Vorstellungen beruhende Herrschaft ausüben, so wird uns dies niemals völlig gelingen. Wir würden damit nur das Problem verewigen, welches auf die Unfähigkeit zurückzuführen ist, das Pri­mat und die Macht der »Zeit« zu begreifen.

Die Tatsache, daß unsere Erfahrung Leid mit sich bringt, läßt sich jedoch als Botschaft verstehen. Das Unheil weist uns auf ein Miß­verständnis hin, das es zu berichtigen gilt. Doch vielleicht gibt es gar keinen solchen Irrtum und das »Unheil« selbst läßt sich auch ganz anders auffassen. Dies können wir bisher jedoch weder sehen noch wirklich tun, höchstens in unserer Phantasie. Also müssen wir, so­weit wir uns ihr nur zu öffnen vermögen, der Botschaft lauschen, die »Zeit« uns überbringt.

Ganz gleich wie reich oder politisch beziehungsweise technolo­gisch mächtig wir auch sein mögen, wir unterliegen jeder Verände­rung, die die Zeit mit sich bringt. Wer kann den »Lauf« der Zeit

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schon beherrschen? Welche Macht und welche Energie wir uns jetzt auch nutzbar machen mögen, sie rührt im Grunde von »Zeit« her. Wir spielen mit winzigen Energiemengen herum und haben dabei der »Zeit« den Löwenanteil abgetreten, ohne uns auch nur bewußt zu sein, daß wir eine solche Konzession gemacht haben.

Es muß nicht gleich morgen geschehen, aber schließlich werden der endliche Bereich und die Hilfsquellen, die unsere Sichtweise zuläßt, erschöpft sein. Unser persönliches und unser kollektives Er­be werden sich erschöpfen. Wir mögen zwar annehmen, daß irgend­welche neuen technologischen Kenntnisse uns retten werden, doch sind auch solche Kenntnisse immer noch von einer bestimmten »niederen« Raum-Zeit-Struktur abhängig. Dieser niedere Raum ist seinem Wesen nach begrenzt - selbstbegrenzend. Wir können versu­chen, die Kontrolle zu behalten, aber wir behindern uns dabei selbst. Wir ersehnen Frieden und Harmonie, doch dazu gehört Wis­sen. Und niemand hat uns je das Wissen gelehrt, das dazu notwendig ist, unseren Raum und unsere Zeit zu beherrschen.

Gewöhnliche Erkenntnis kann bei bestimmten Schwierigkeiten zu phantastischen Durchbrüchen führen, aber wir sind nicht in der Lage, die Konsequenzen unserer Lösungen vorauszusehen, da unse­re Erkenntnis für diesen Aspekt der Zeit blind ist. Deswegen mögen solche Durchbrüche nur dazu führen, daß neue Probleme auftreten.

Unser gewöhnlicher Umgang mit Erkenntnis ändert nichts an der letztlich enttäuschenden Natur unseres Daseins. Er ermutigt ganz und gar nicht die Entwicklung höherer intuitiver Fähigkeiten, son­dern bleibt ziemlich flach und mechanisch - das Produkt von stati­schen Vorstellungsbildern, Worten und nur dunkel wahrgenomme­nen Mustern. Gibt es wirklich eine Alternative? Unsere Suche nach Alternativen ist gewöhnlich von einer Art Verzweiflung und dem Wunsch nach Flucht aus der Wirklichkeit gekennzeichnet. Wer je­doch willens ist, einfühlsam auf die Botschaft zu lauschen, die uns die Zeit bezüglich des niederen Raumes und des niederen Wissens übermittelt, auf den wartet sehr viel mehr. Auch wenn diese Dimen­sionen sich nicht gänzlich in einem niederen Raum und in einer niederen Zeit ausdrücken können, vermögen GROSSE ZEIT und GROSSES WISSEN unsere Probleme zu lösen.

Letztlich rührt sogar das physische Gewebe unserer Welt von der Energie der »Zeit« her (der Zeit, wie wir sie hier verstehen). Die Physik ist der Struktur und dem »Stoff« der Dinge bis zu dem Punkt nachgegangen, wo sie nur noch einzelne Pakete von Materie-Ener­

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gie vorfand. Soweit unsere Erkenntnis reicht, scheint alles aus eben diesen Energien gemacht zu sein.

GROSSES WISSEN kann jedoch unsere beschränkende Sicht dieser endlichen, quantifizierbaren Energie-Pakete oder Felder öff­nen und »in« jedem von ihnen Unendliches entdecken. Das Objekt dieser Entdeckung läßt sich nicht einmal mehr als Energie bezeich­nen, denn sobald wir den beschränkenden Charakter gewöhnlicher Zeit durchbrechen und damit zu GROSSER ZEIT erwachen, sind wir sogar noch über die Vorstellung von Energie hinausgegangen. Dieses »Durchbrechen« von Energie hin zu GROSSER ZEIT be­steht jedoch nicht darin, daß wir Energie nun als etwas betrachten, was hinter der gewöhnlichen Erscheinung steht oder grundlegender ist als diese. Und es wird auch nicht bewirkt, indem wir uns auf Energie als ein Objekt (oder einen Stoff) beziehen, welches von einem Subjekt erforscht wird.

Die anfänglichen Versuche, mehr mit GROSSER ZEIT und GROSSEM RAUM zu arbeiten (wie z. B. die Übungen, die bisher vorgestellt wurden), haben die subjektiven und psychischen Aspek­te von »Raum« und »Macht« betont. Aber ein weitergehendes Ver­ständnis zeigt alle Situationen als »Zeit«-gegeben, und zwar derart, daß »Zeit« und »Raum« die zentralen Tatsachen sind, von denen die physischen und psychischen Aspekte (so wie der konventionelle Raum und die konventionelle Zeit) herrühren. Es wird uns dann möglich sein, dieses subjektive »Wissen« dazu zu benutzen, unmit­telbar mit jener »Zeit« (die weder subjektiv noch objektiv ist) zu arbeiten und uns größerer »Macht«, zahlreicherer Optionen sowie der Fähigkeit zu erfreuen, sie in jedem konventionellen Sinne prak­tisch anzuwenden.

Jede Darbietung, jede Maßeinheit gewöhnlicher Zeit trägt die Möglichkeit in sich, mit GROSSER ZEIT in Berührung zu kom­men. Begreifen wir, was diese ZEIT ist, können wir die Richtung und Ausstreuung der niederen Zeit tatsächlich beherrschen. ZEIT vermag soviel Erfahrung und Leben zu unterhalten, wie wir nur wünschen. Die Umstände und der Lauf der Ereignisse, die unsere Umwelt ausmachen, sind völlig elastisch: Sie können durch die Macht, die von GROSSER ZEIT abstammt und von GROSSEM WISSEN gelenkt wird, beherrscht, verändert oder völlig umgestellt werden.

Ist es uns möglich, GROSSEN RAUM, GROSSE ZEIT und GROSSES WISSEN zu erreichen, müssen wir uns nicht mehr aus­

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schließlich auf den technologischen Maschinenpark, auf Psycholo­gie, Medizin oder Religion verlassen. Wir können lernen, RAUM, ZEIT und WISSEN - die drei Hauptfaktoren unserer Erfahrung - wissend anstatt bloß aufs Geratewohl zu verwenden. Gegenwärtig sind wir für das, was sich um uns herum abspielt, vergleichsweise unempfindlich; wir werden der Struktur der Erscheinung in ihrer ganzen Fülle nicht gewahr. Werden wir jedoch mit ihrer Beschaffen­heit, die im wesentlichen drei Facetten hat, vertraut, dann können wir mehr erreichen, als irgendein Mensch es im Verlauf der Ge­schichte jemals vermochte.

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7. Kapitel

Der Weg von der gewöhnlichen Zeit zu GROSSER ZEIT - ein Überblick

GROSSE ZEIT ist kein Plan, keine geheimnisvolle Macht. Wir könnten sie als den untrennbaren Partner des GROSSEN RA LI­MES bezeichnen, die andere Hälfte dieser ursprünglichen Ehe und Liebesbeziehung. Die uneingeschränkte Erfüllung des Wechsel­spiels von GROSSEM RA UM und GROSSER ZEIT ist ein voll­kommenes und nicht künstlich erzeugtes inniges Vertrautsein.

Es ist tatsächlich möglich, in bezug auf GROSSEN RAUM, GROS­SE ZEIT und GROSSES WISSEN Kontrolle und Gleichgewicht zu erlangen. Aber selbst die »Erfahrung« einer solchen Kontrolle und eines solchen Gleichgewichts ist kein Beweis dafür, daß tatsächlich irgend etwas verändert oder beherrscht wurde. Das Hervortreten angemessener Weisen, um GROSSEN RAUM und GROSSE ZEIT zu wissen, verwandelt sich allmählich in eine bewußtere Offenle­gung GROSSEN WISSENS selbst. Dieses WISSEN sieht keine Dinge oder Situationen, die beherrscht oder kontrolliert werden müßten. Es ist auch nicht der Ansicht, daß »offenere Sichtweisen« angenommen werden müßten. Ebensowenig bestätigt es die Vor­stellung einer »niederen Zeit«, die GROSSER ZEIT entgegenge­setzt ist.

Sowohl die gewöhnlichen als auch die unkonventionellen Erfah­rungen des Fließens oder Vergehens der Zeit, welche uns verfügbar sind, sind immer noch bloße Übergangs-Sichtweisen, die bis zu ei­nem gewissen Grad gewöhnlichen Vorwegnahmen konform sind. Die Tatsächlichkeit dieser niederen Übergangs-Sichtweisen beweist jedoch nicht, daß sie jemals in einem absoluten Sinn gültig waren. Das nächste Kapitel wird zeigen, wie diese ziemlich paradoxe Ein­schränkung möglich ist.

Auch wenn die moderne Philosophie und die moderne Physik die serielle Natur der Zeit annehmen, wird die Vorstellung, daß die Zeit tatsächlich »fließt« oder »vergeht«, oft nicht anerkannt. Das »Ver­gehen der Zeit« wird vielmehr als eine Metapher angesehen oder als die unangemessene Anwendung eines räumlichen Vorstellungsbil­des auf die Zeit. Das Bild des »Fließens« ist jedoch für eine erste Betrachtung der Zeit äußerst zweckdienlich, denn es hat sowohl zur

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gewöhnlichen Erfahrung einen Bezug als auch zu Übergangs-Erfah­rungen, die in gewisser Hinsicht höherer Natur sind. Wir können jedoch über dieses Modell hinausgehen und statt dessen sehen, daß die Zeit selbst auf der gewöhnlichen Ebene nicht vergeht. Von dieser Warte aus betrachtet ist Zeit weder linear noch sequentiell. Es gibt tatsächlich weder Augenblicke noch einen folgenden Augenblick - und damit auch keine Reihenfolge. Diese Perspektive ist nicht nur theoretisch vertretbar, sie befindet sich auch mit einer neuen Art und Weise des »Wissens« in Einklang.

Zu Beginn unserer Suche nach GROSSER ZEIT arbeiten wir noch mit der von uns geliebten Zeitstruktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir arbeiten also mit bestimmten Augen­blicken der Zeit, die wir zu GROSSER ZEIT öffnen. Es ist, als würden wir durch viele winzige Röhren reisen und jeder einzelnen von ihnen so lange folgen, bis sie sich zu einer wesentlich größeren Röhre öffnet, in der alle kleineren zusammengekommen sind. Woll­ten wir dann aber unsere Bewegungsrichtung umkehren und versu­chen, durch die engeren Röhren zurückzukehren, würden wir sie nicht mehr auffinden. Ganz gleich in welche Richtung wir uns dann wenden, wir finden nur noch die vereinigende weite Röhre. Zwar können wir von der Warte der GROSSEN ZEIT aus nach gewöhnli­cher Zeit Ausschau halten, aber wir werden sie nicht finden, denn das Gewöhnliche wird sich als nicht-gewöhnlich erweisen.

Diese kurzen einleitenden Bemerkungen skizzieren die Beschaf­fenheit der drei Stufen, die zu einem würdigenden Gewahrsein GROSSER ZEIT hinführen. Sie sollen jetzt zusammengefaßt und näher ausgeführt werden.

Zeit, Stufe eins: Diese Stufe beinhaltet das gewöhnliche Zeitemp­finden, welches Zeit als ein mehr oder minder abstraktes Ordnungs­system für Zustände und Ereignisse begreift, das darüber hinaus den existentiellen Charakter einer unentrinnbaren und zwingenden Kraft besitzt. Wir können den gesamten Zustand unseres Daseins als Folgeerscheinung »niederer Zeit« charakterisieren, obwohl sich diese »Zeit« noch nicht unmittelbar ausmachen läßt.

Niedere Zeit läuft auf den Versuch einer Zähmung und Anpas­sung GROSSER ZEIT zu egoistischen Zwecken hinaus. Von ZEIT haben wir alle Energien und Befähigungen geborgt, mit deren Hilfe wir nun messen, vorausschauen, entdecken, kontrollieren und kom­munizieren. All dies sind verzerrte Abarten der innigen Vertrautheit

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zwischen GROSSER ZEIT und GROSSEM RAUM und ihrer Wei­se, die Weite des RAUMES hervorzurufen. Wir haben uns dabei jedoch nur einen derart beschränkten Zugang zur Dynamik der ZEIT zugestanden, daß unsere armseligen Strukturen beständig über den Haufen geworfen werden. GROSSE ZEIT bringt etwas an den Tag - und zeigt damit die Offenheit GROSSEN RAUMES, die »Sein« und »Geschehen« zuläßt - und zerbricht es wieder, um et­was anderes, Neues zu zeigen. Diese Serie von »Fehlzündungen« (wie wir sie von einer gewissen Warte aus nennen dürfen) ist das einzige uns bekannte Lebensmuster. Ja eigentlich ist dieses Muster das, was wir sind, und deswegen »machen wir so weiter«, auch wenn es uns manchmal recht bedrohlich vorkommt.

Dieser Zustand ist jedoch weder notwendig noch letztlich wirk­lich. Aber solange wir nur unser gewöhnliches Erkennen verfügbar haben, ist dies die einzige Weise, auf die niedere Zeit mehr von der Unendlichkeit, die »hier« ist, zum Ausdruck bringen kann.

Das, was wir von dieser Unendlichkeit wahrnehmen können - Augenblicke -, ist nämlich winzig und »kann nicht viel auf einmal fassen«.

Würden wir Zeit nicht mehr für so selbstverständlich halten und weniger objekt-orientiert sein, könnten wir vielleicht auf die Idee kommen, die Zeit selbst zu kontrollieren, um die von uns gewünsch­ten Ergebnisse zu erzielen. Doch wie die Dinge jetzt stehen, er­scheint Zeit als ein Hintergrundphänomen, mit den individuellen Objekten im Vordergrund. Aus dieser Sicht kommen GROSSE ZEIT und GROSSER RAUM nur in der Tatsache zum Ausdruck, daß die von uns wahrgenommenen Objekte nicht vollkommen un­durchlässig, nicht auf ewig voneinander isoliert sind. Sie interagieren und durchdringen sich gegenseitig. Vom Standpunkt des Selbst sind solche Interaktionen manchmal angenehm und manchmal enttäu­schend. Um ein größeres Maß an Ausgeglichenheit und Befriedi­gung in unserer Erfahrung zu erlangen, scheint also eine gewisse Kontrolle nötig zu sein.

Da die Beherrschung der Zeit selbst scheinbar nur in Tagträumen möglich ist, konzentrieren wir uns statt dessen darauf, mit technolo­gischen Hilfsmitteln den Körper, den Geist oder die Umwelt zu beherrschen. Ob eine solche Setzung der Prioritäten unsere persön­liche Freiheit oder Erfüllung tatsächlich vergrößert hat, bleibt je­doch fragwürdig. Es scheint, wir haben uns darauf eingerichtet, Din­ge zu erstreben, die wir technisch herstellen oder durch technische

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Mittel erlangen können. Leider sind diese Dinge meist nur eine sehr armselige Quelle der Nahrung für unser »Menschsein«.

Mit dieser Art der technologischen Beherrschung versuchen wir, den bedrohlichen Charakter der Zeit abzuwehren. Wir stellen Mate­rialien und Strukturen her, die so undurchlässig und unempfindlich wie möglich sind, und frieren die »Zeit« damit so vollständig wie möglich ein. Und im allgemeinen bringen uns unsere Versuche, in­nerhalb dessen zu arbeiten, was wir als gewöhnliche Zeit sehen, entweder nur zweischneidige Erfolge oder frustrierend langsame Fortschritte.

Die Langsamkeit ist darauf zurückzuführen, daß uns die niedere Zeit auf die verschiedensten Um- und Irrwege führt. Unsere Versu­che, »Fortschritte zu erzielen«, treffen auf zahlreiche Hindernisse, verführerische Dunkelzonen und Sperren. Diese Sperren sind nicht bloß statische Grundzüge der Landschaft unserer inneren und äuße­ren Erfahrung. Sie sind nicht gefrorener Raum, keine starren Wän­de. Sie sind vielmehr die Bedeutungen und Umgrenzungen, die die niedere Zeit als Teil ihrer Ausstreuung »zeitigt«.

Solche »Zeit« legt nicht nur unsere »Durchreise« fest, sie struk­turiert sie auch in Form spezifischer Begegnungen. Im allgemeinen sind wir von diesem kontinuierlichen Strom bestimmter Begegnun­gen und Zeiten so stark in Anspruch genommen, daß sie uns davon abhalten, mit dem voranzukommen, was eigentlich das Wesentliche ist. Diese potentiell unendlich fortdauernde Ausstreuung ist die »niedere« - reichlich verzerrte - Spielart des unendlichen Aus­drucks GROSSEN RAUMES durch GROSSE ZEIT. Wenn sie nicht richtig durchschaut wird, ist sie ein Irrgarten, aus dem es kein Entkommen gibt. »Zeit« zeitigt unsere gewöhnliche Erfahrung - die Erfahrung von Ausgangspunkten, Reisen und Bestimmungsorten. Zu diesem Zweck bietet sie dar, was auf eine unendlich variable Anzahl von Begegnungen innerhalb eines vollkommen zeitlosen »Intervalls« (zeitlos im Sinne von konventioneller Zeit) hinauslau­fen könnte.

Wir mögen erschreckt sein über den Umstand, in niedere Zeit mit ihrer Erscheinung von bestimmten Zeiten und Intervallen verstrickt zu sein, und sogar versuchen, uns mit Hilfe meditativer Übungen oder religiöser Disziplinen daraus zu befreien. Doch da wir solche Bemühungen im allgemeinen im Rahmen des uns vertrauten Cha­rakters und der Logik der Dinge strukturieren, werden wir dabei wahrscheinlich nicht sehr weit kommen. Oder unsere Bemühungen

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führen uns in einen verwirrten Zustand, indem sie Phantasiegebilde nähren, die nicht in einem unmittelbaren Kontakt mit »höherer Zeit« gründen. Eine andere mögliche Frage solcher Disziplinen be­steht darin, daß wir - durch die Gewaltsamkeit, mit der wir uns darum bemühen, erfahrene »Zeit« und das Vergehen gewöhnlicher Zeit auszuschalten - die Dinge zeitweise einfrieren. Alle derartigen Ansätze werden die Ausgangssituation jedoch nicht grundlegend verändern.

Wir scheinen also dazu zu neigen, auf die eine oder andere Weise GROSSE ZEIT zu ignorieren, so daß wir von ihr hierhin und dort­hin geführt werden, anstatt uns ihrer zu erfreuen und von ihr zu lernen. Wir fahren uns in einer bestimmten Spur fest, die in Begrif­fen des einen oder anderen Komplexes von Bedeutungen struktu­riert ist, und sind dann gezwungen, all die verschiedenen Verzwei­gungen dieser Spur zu untersuchen.

Dies gilt für alle konventionellen Wesenheiten sowie auch für die unkonventionellen Phantasie-Räume, welche die Struktur und die Grenzen unserer Wirklichkeit konstituieren. Doch bedeutet die Tat­sache, daß jene Dinge, die unsere Wirklichkeit strukturieren, durch ein standardisiertes Beobachterbewußtsein und standardisierte An­sätze unter kontrollierten Bedingungen wiederholt beobachtbar sind, noch nicht, daß sie deswegen »wirklich« oder »wahr« sind. Andererseits ließe sich nur schwerlich sagen, daß sie falsche Exi- stentiale oder Erklärungen seien. Und ebensowenig kann man von ihnen behaupten, daß sie allein durch den Beobachter oder den Akt des Beobachtens determiniert werden. Sie sind vielmehr die Weise, auf die die »Zeit« spielt. Und hinter diesem atemberaubenden Spiel der »Zeit« gibt es nicht etwas anderes - kein Existential, keine Substanz oder Erklärung von dem sich behaupten ließe, es wäre wirklicher oder wahrer.

Insoweit wird uns unser Universum eine Form des Spiels der »Zeit« darstellen, kann man sagen, daß die moderne Wissenschaft die Struktur dieser besonderen Variante der niederen Zeit indirekt mit größerer Genauigkeit erschlossen hat, als vorangegangene und einfachere Modelle. Ein Nachklang der Hervorhebung von Objek­ten ist in den wissenschaftlichen Modellen allerdings immer noch vorhanden. An einem bestimmten Punkt wird der Fortschritt der Erkenntnis jedoch zu Entdeckungen führen, die einer Annäherung an die Struktur der »Zeit« tatsächlich sehr nahe kommen. Ein der­artiger Fortschritt wird sehr subtile Züge annehmen und eine Logik

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entwickeln müssen, welche sich von den gewöhnlichen Annahmen über »Dinge« und »Existenz« distanziert. Auf diese Art und Weise werden sich Denken und Beobachten immer getreulicher der RAUM-ZEIT-WISSEN-Perspektive annähern und auch in diesem Sinne exakter werden.

Im allgemeinen gibt es bezüglich der Weise, auf die wir die kon­ventionellen Dinge (wie den »Geist«und den »Körper«) ansehen - welche den Großteil unserer Begegnungen und rationalen Erwä­gungen ausmachen - ein grundsätzliches Problem: Entweder wir gebrauchen sie (wie die Naturwissenschaften und die Philosophie) als Oberbegriffe für komplexere Interaktionen und Fragen, oder sie sind (vom Standpunkt der hier vorgestellten Wirklichkeitsschau) eingefrorene Darbietungen von RAUM-ZEIT-WISSEN. Für beide Fälle läßt sich sagen, daß wir eine gewisse Genauigkeit einbüßen, wenn wir uns einmal auf diese undurchlässigen Dinge eingelassen haben. Also werden wir bei dem Versuch, die gegenseitige Bezogen- heit der Dinge festzustellen und zu erklären, in eine Sackgasse gera­ten. Die »Dinge« sind einfach zu sperrig, um passend zusammenge­fügt werden zu können.

Stoßen wir in der Wissenschaft sowie in unserem Leben und Den­ken auf Probleme dieser Art, mögen sie uns dazu ermuntern. Den­ken und Beobachten neu einzusetzen, um damit die Trennwände zu durchbrechen, die die »Dinge« definieren. Auf diese Weise kann das Denken zusammen mit der ihm eigentümlicheren Flut von Be­deutungen die durchdringende Hervorrufung des GROSSEN RAUMES durch die »Zeit« nachahmen.

Die Logik, die in unserem Bereich gilt, reflektiert die Struktur unserer niederen Zeit. Logische Probleme und Paradoxa können wir als ein Zeichen dafür betrachten, daß eine derartige Struktur der niederen Zeit in Kraft ist und daß daher eine andere Perspektive nötig ist. Die »Dinge wirklich erschöpfend zu durchdenken«, kann der erste Schritt in Richtung einer Annäherung an die höhere Zeit sein. Dies entspricht in etwa den durchdringenden Forschungsreisen in den Riesenkörper-Übungen.

Die Grenzen und Möglichkeiten des Fortschritts, der sich mit den Methoden der ersten Ebene erreichen läßt, wurden bereits kurz angesprochen. Wir können nun damit beginnen, die Reichweite der zweiten Ebene in Betracht zu ziehen:

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Zeit, Stufe zwei: Obwohl tiefschürfendes Denken und eine intellek­tuelle Transzendierung für-sich-allein-stehender Dingen uns an­fänglich dazu verhelfen können, unsere Perspektive zu öffnen, kann dies an einem bestimmten Punkt aber auch einfach darauf hinaus­laufen, eine Gruppe von Bedeutungen mit einer anderen, subtile­ren, zu vertauschen. Um sich aus der Abhängigkeit von Bedeutun­gen und der Art von Zeit, die sie mit sich bringen, ganz und gar zu befreien, ist es notwendig, mehr Einsicht, neue »Wissens«-Fähigkei- ten zu entwickeln - andernfalls setzen sich das Denken und sogar das »Durchdringen« unendlich fort. Was wir im Grunde brauchen, ist eine mehr auf Erfahrung beruhende Vertrautheit mit »Zeit«.

Während die erste Stufe der Bezugnahme auf Zeit einer unmittel­baren Erfahrung der niederen Zeit ermangelt, die diese Stufe nach unseren Aussagen mit sich bringt, beinhaltet die zweite Stufe eine weite Bandbreite solcher Erfahrungen mit »Zeit«. Es zeigt sich, daß die von niederer Zeit dargebotenen Probleme auf nichts anderes als auf unser Ignorieren der »Zeit« zurückzuführen sind, wohingegen schon ein kurzer, flüchtiger Einblick in »Zeit« zeigt, daß sie eigent­lich ganz und gar nicht bedrückend ist. ZEIT, jede »Zeit«, ist in Wirklichkeit befähigend und nicht einengend - vorausgesetzt, sie wird mit dem richtigen WISSEN gewürdigt und genutzt.

GROSSE ZEIT ist - über die vermittelnde Erfahrung der »Zeit«- eine Quelle der Inspiration und Spontaneität. Sie ist die Muse, nach der alle Künstler suchen, der Faktor, der es uns erlaubt, die sonst im Verborgenen bleibenden Dimensionen aller Darbietungen, die das Leben ausmachen, wahrzunehmen und zu feiern. Die »Zeit« ist es, welche die Essenz der Wirklichkeitsschau inspiriert und zum Leben erweckt, die hier vorgestellt wird. Von dem vollen und allum­fassenden Charakter dieser Vision werden wir nur einen Schatten sehen, solange wir sie nicht durch die offenbarende Eigenart der »Zeit« wahrnehmen.

Eine anfängliche Erfahrung der zweiten Stufe von »Zeit« kann »Zeit« als ein »Dahinfließen«, als einen aufblitzenden dynamischen Faktor enthüllen. Das liegt daran, daß unser gewöhnliches Erken­nen sie der uns geläufigen Reihenfolge von Ereignissen und unse­rem Gefühl konform machen will, daß es Dinge gibt, die irgendwie erschaffen oder ins Dasein gesetzt wurden. Halten wir angesichts eines flüchtigen Erahnens von »Zeit«, das sie uns als fließend und aufblitzend enthüllt, an den Vorwegnahmen in Hinsicht auf ein Selbst und die Dinge fest, so mag »Zeit« uns als eine autonome

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Kraft erscheinen, die uns macht oder die uns umtreibt. Aber sehr bald können wir dann einsehen, daß wir uns Opfer vorstellen, wo es gar keine Opfer gibt - da ist nur »Zeit«.

»Wir« können lernen, kurze Augenblicke des »Wissens« zuzu­lassen, .die noch mehr »Zeit« ausfindig machen und die weit und unvoreingenommen genug sind, sowohl unser »Selbst« als auch die beobachteten Objekte und andere Hintergrundphänomene alle­samt als von »Zeit« gegeben anzusehen. Einem derartigen »Wis­sen« ist es demnach möglich, die Dynamik der »Zeit« anzuzapfen. Wenn das Resultat einer solchen augenblicklichen Einsicht wieder­um dem Trachten und den Interpretationen des Ich nutzbar ge­macht wird, können wir uns dementsprechend größerer mentaler Energie und physischer Kraft erfreuen. Dies erscheint dann wie eine tatsächliche Beherrschung der Richtung der gewöhnlichen Zeit.

Obwohl diese Betonung einer »Beherrschung« an wirkliche Ein­sicht nicht heranreicht, stellt sie eine Zusammenfassung der beob­achtbaren Tatsache dar, daß sich »unsere Lage verbessert«, »daß sich die Dinge immer mehr zu unseren Gunsten entwickeln«. Um derartige Trends zu verstehen, sollten Sie einmal bedenken, daß auf dieser Stufe die scheinbare serielle Ordnung gewöhnlicher Zeit, die »sich zu unseren Gunsten entwickelt«, als vom Dahinfließen oder Aufblitzen der »Zeit« herrührend gesehen werden kann - sie ist eine gezähmte Zusammenfassung der »Zeit«. Gleichermaßen werden - auf der gewöhnlichen Ebene - die »Objekte«, »Perso­nen«* und kontinuierlichen »Identitäten«* als zweckdienliche Zu­sammenfassungen von Zeit-Sequenzen angesehen. Der Fluß der gewöhnlichen Zeit ist deswegen nur in dem Maße erfüllend oder befriedigend, in dem in der wahrgenommenen »Leistung« von »Zeit« die nicht zu schmälernde Freiheit und Vielfalt, welche von GROSSEM RAUM dargeboten wird, sowie die unbezwingliche Lebendigkeit GROSSER ZEIT erhalten bleiben. Es kommt darauf an, wieviel von einem höheren »Wissen« mit seiner Freude am Spiel von RAUM und ZEIT unverdunkelt gelassen wird. »Beherr­schung« ist deswegen nur die Bezeichnung, mit der das Selbst das Ergebnis der Öffnung zu einem umfassenderen würdigenden Ge­wahrsein von »Zeit« beschreibt.

Meditation kann auf dieser Stufe ebenfalls wesentlich sinnvol­ler ausgerichtet werden und macht dann gute Fortschritte. Infolge der tiefgefühlten Einsicht, daß kein Sachverhalt unwiderruflich

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»schlecht« oder eine »Falle« ist, kann sie in tieferem Vertrauen und größerem Einfühlungsvermögen gründen.

Während unsere Perspektive ihre Starrheit verliert und offener wird, können wir dahin gelangen, die Dinge als inspirierende Sym­bole wahrzunehmen und zu würdigen. Die gewöhnliche Sicht der Zeit führt dazu, daß alle Situationen in eine lineare Reihenfolge eingebettet werden, damit sie aus ihrer Umgebung oder der Lokali­sierung zwischen der richtunggebenden Vergangenheit und der ein­engenden Zukunft ihre Bedeutung gewinnen. Trotz der angenom­menen Dynamik, die einen Punkt der Serie mit dem nächsten ver­bindet, wird unser gewöhnliches Erkennen, das dem seriellen Cha­rakter der gewöhnlichen Zeit konform ist, grundsätzlich dadurch geschwächt, daß die Gegenwart von der Vergangenheit abhängig und zudem gezwungen ist, etwas Zukünftigem Platz zu machen. Dies hat auf das würdigende Gewahrsein der Gegenwart im Ender­gebnis eine abtötende Wirkung. Anstatt mit lebendigen Symbolen zu arbeiten, die auf neue Möglichkeiten verweisen, reduzieren wir alles auf starre, phantasielose Gegenstände und Bedeutungen, die nur - hin und her - aufeinander zeigen.

Anstatt jeden (Zeit-)Punkt innerhalb des vertrauten Bildes von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft festzunageln, können wir uns darauf konzentrieren, auf das zu achten, was unmittelbar »an­wesend« ist, ohne es in einem Vorher-Nachher-Kausalnexus zu lo­kalisieren. Herkömmliche meditative Schulungswege, die uns zur Sammlung auf ein bestimmtes Objekt anleiten sowie darauf zu ach­ten, wie jedes einzelne Ereignis zutage tritt, haben dies ebenfalls zu erreichen versucht. Zwar können die Vergangenheit und die Zu­kunft sowie Kausalzusammenhänge auf diese Weise »losgelassen« werden, doch bleibt die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart fest in den Begriffen der Fixation auf die konventionell abgegrenzten Din­ge, aus denen die Situation besteht, strukturiert. Dies kann bei eini­gen Meditationsarten, die von einer nicht nachlassenden (und ziem­lich starren) Aufmerksamkeit auf die »Dinge« in der »Gegenwart« abhängig sind, zu einem Problem werden.

Wir sollten statt dessen lernen, die unmittelbare Anwesenheit des »erkennenden Subjekts« und der »erkannten Objekte« wahrzuneh­men und zu würdigen, ohne daran festzuhalten, sie als solche zu sehen. Wir können sie als Darbietungen sehen, wobei wir selbst Teil jeder einzelnen Darbietung sind. Dann kann sich eine vorher ver­borgene Dynamik in der Situation und als die Situation erweisen.

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Zuerst können, wie eben gezeigt wurde, alle eintönigen Gegenstän­de, Tatsachen und Trends zu lebendigen und inspirierenden Symbo­len werden. Sie werden nicht mehr als Produkte einer »horizonta­len« zeitlichen Reihe betrachtet - als in diese horizontale Reihe eingebunden. Vielmehr können sie, indem sie gemeinsam mit uns gegeben sind, auf etwas hinweisen, das zuerst als eine andere, eher vertikale und befreiende Richtung erscheint. Sie besitzen dann kei­nen spezifischen Inhalt oder »Bezugnehmer« (etwas, das in Rich­tung der gewöhnlichen Reihe weist oder innerhalb der Reihe Bezug nimmt). Vielmehr bezeichnen sie den Anfang einer sich entfalten­den Entdeckungsreise abseits der eingefahrenen Spuren. Die zweite Etappe dieser Reise besteht in den konkreten Darbietungen oder Manifestationen, die auf etwas deuten, das noch weniger alltäglich und noch wesentlich dynamischer ist: das Manifestieren oder Dar­bieten.

Dieses »Manifestieren« stellt die erste Möglichkeit dar, eine »Zeit«-Dynamik wahrzunehmen und zu würdigen, die die Situatio­nen darbietet, welche uns und unser Leben ausmachen. Dies kön­nen wir nach Maßgabe der immer noch wirksamen Vorstellungen der ersten Ebene, nach denen die Dinge der Reihe nach geschehen und von einem Agens nacheinander getan werden müssen, als »Zei­tigen«* bezeichnen. Die Idee des »Zeitigens« läßt uns erkennen, daß alle Grundzüge einer gegebenen Darbietung miteinander ver­bunden sind - allerdings nicht im Sinne einer Anschauung, die die Dinge als für-sich-allein-stehende und interagierende Gegenstände sieht (als die sie in der gewöhnlichen Zeit erscheinen).

Jedes angetroffene Existential (oder jede Anwesenheit) läßt sich als die Objektfacette einer Darbietung verstehen. Jede Darbietung ist eine wahrnehmende und würdigende Verkörperung eines aktiven »Darbietens«. Damit ist jede konkrete Darbietung eine Art von »Wissen«, ein unerschütterlicher Bezeuger des darbietenden Cha­rakters der »Zeit«. Die Dynamik der »Zeit« kann dann als Aus­druck des offenen Beherbergens des GROSSEN RAUMES wahr­genommen und gewürdigt werden. Genauer, die Darbietung ist selbst das würdigende Gewahrsein der »Zeit«, wie es vom RAUM zugelassen wird und umgekehrt RAUM zum Ausdruck bringt. Ein zusätzlicher Akt des Wahrnehmens und Würdigens ist nicht erfor­derlich.

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Auf dieser zweiten Stufe kann »Zeit« als die wesentliche Kraft gese­hen werden, welche jeden einzelnen Augenblick einem anderen Augenblick den Weg freimachen läßt, und als der Faktor, welcher den Gegenständen innerhalb einer Situation oder eines Augenblicks ihre eigene Identität zubilligt. Gewöhnlich sagt man, die für-sich- allein-stehenden Identitäten von Dingen seien davon abhängig, daß sie sich gegenseitig definieren und voneinander abheben. Dagegen ließe sich einwenden, daß die konventionellen Versuche, die Identi­tät und »Dingheit« von Dingen vermittels ihrer Definitionen, ge­genseitigen Beziehungen und ihrer nominalen Interdefinierbarkeit erklären zu wollen, niemals völlig gelingen können, weil sie das Primat der »Zeit« ignorieren. Auch kann man nicht sagen, daß die Unterschiede und Wechselbeziehungen unabhängig von der »Zeit« Gültigkeit haben.

Früher wurde bereits angedeutet, daß Wesenheiten, die durch philosophische oder naturwissenschaftliche Begriffe umrissen sind, nur schwer aufeinander beziehbar scheinen, weil sowohl die Wesen­heiten als auch die Begriffe nur ungefähre Zusammenfassung oder ein schwacher Abklatsch der subtileren Struktur der »Zeit« sind. Diese These kann nun dahingestellt erweitert werden, daß sie allge­meiner auf alle Dinge unserer Welt anwendbar ist. Alle die gegen­seitigen Verbindungen, die von den herkömmlichen Disziplinen be­obachtet oder vorausgesetzt werden, sind von »Zeit« abhängig.

Ohne »Zeit« können wir also unmöglich die gewöhnliche Anwe­senheit von »Dingen« haben. Aber paradoxerweise zeigt ein tat­sächliches würdigendes Gewahrsein von »Zeit«, daß die Art und Weise, auf die sie Übereinstimmungen, Unterschiede und gegensei­tige Beziehungen darbietet, eine unmittelbare Hervorrufung von »Raum«, von »Nicht-Dingen«, von Nicht-Pluralität ist.

Einige Denksysteme vertreten die These, daß die gegenseitige Bezogenheit gewöhnlicher Dinge - die Tatsache, daß sie in gewisser Hinsicht voneinander abhängig, also relativ sind - nachweist, daß sie keine Wirklichkeit als für-sich-selbst-bestehende Wesenheiten ha­ben. Dies scheint in jedem gewöhnlichen Zusammenhang eine un­gerechtfertigte Schlußfolgerung zu sein, die außerdem kaum eine Grundlage dafür bietet, zur gewöhnlichen Erscheinung einen wirk­lich neuen Bezug zu finden. Dasselbe Problem besteht in bezug auf gewisse naturwissenschaftliche Ansätze, die zwar mit dynamischen Interdependenzen arbeiten, uns letztlich jedoch in derselben Welt für-sich-bestehender Dinge sitzenlassen. Da eine solche auf her­

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kömmliche Art und Weise beobachtete Bezogenheit von einer »Zeit« abhängig ist, die gewöhnlich übersehen wird, ist sie selbst nicht wirk­lich fundamental. Deswegen sind weder die gewöhnliche Beobach­tung noch exotische wissenschaftliche Entdeckungen gegenseitiger Bezogenheit (noch eine alles vereinigende Reduktion auf eine Art von Grund-»Stoff«) in der Lage, unsere Wahrnehmung von den »Dingen« zu verändern. Eine solche konventionelle Bezogenheit inspiriert keinen unmittelbaren Kontakt mit der transzendierenden Einheit im Herzen der Wirklichkeit. Um zu einer derartigen Einsicht zu kommen, müssen wir uns mehr der »Zeit« öffnen.

Die Eigenschaft des »Zeitigens« kann uns eine tiefe Einheit und Nicht-Dingheit zeigen. Ist das Zeitigen einmal verstanden, dann ermutigt die Tatsache, daß es kein unabhängiges Selbst oder keine Person als Subjekt gibt, ein würdigendes Gewahrsein der Offenheit. Das Selbst erweist sich als offen, als Nicht-Selbst. Ohne eine Ein­sicht in das Zeitigen sind alle Versuche nachzuweisen, daß es kein feststehendes Selbst oder Subjekt gibt, zum Scheitern verurteilt (weil nämlich Subjekt und Objekt voneinander abhängig sind). Sol­che Beweisführungen zeigen dann nur, daß Vorsicht geboten ist - daß die Charakterisierung als »Subjekt« den »wirklichen Men­schen« nur unzulänglich beschreibt. Die Wirklichkeit von Mensch und Selbst läßt sich jedoch nicht allein mit Hilfe der Logik in Frage stellen. Die Feststellung des »Nicht-Selbst« oder der »Nicht-Ding­heit« die sich auf die konventionelle gegenseitige Bezogenheit von Subjekt und Objekt beriefe, wäre nicht mehr als eine metaphysische Spekulation. Sie würde die Selbst-Orientierung auf der Ebene des praktischen Lebens nicht im geringsten antasten - oder höchstens in dem Sinne, daß sie das Selbst dazu ermutigen könnte, sich an dem Spiel der Selbstkasteiung und Demütigung zu berauschen. Ist »Zeit« jedoch einmal unmittelbar begriffen, dann wird damit die Vorstellung, daß es Wesenheiten wie das Selbst (die richtig oder falsch charakterisiert oder aufgegeben werden können) tatsächlich gibt, automatisch transzendiert.

ZEIT bringt eine Welt zum Ausdruck, in welcher Objekte und Wesenheiten eine Identität besitzen, voneinander unabhängig sind, als Teil ihrer Unabhängigkeit interagieren und von bloßen linguisti­schen Charakterisierungen ihrer selbst (Bedeutungen und Defini­tionen in den Grenzen gewöhnlicher Zeit) unterscheidbar sind. Dies bewerkstelligt sie jedoch mittels eines besonderen »Charakterisie- rens« (d. h. des Zeitigens). Sie zeitigt ihre eigene umfassende Art

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von Bedeutungen, welche zwar »Dinge« sind, aber auf eine Art und Weise, die sie als »Nichts«, als vollständig offen beläßt.

Haben wir einmal erfahren, daß »Zeit« der Leim ist, der die Augen­blicke - und auch die Dinge innerhalb der Augenblicke - miteinan­der verbindet, und daß »Zeit« den GROSSEN RAUM aufweist, vermögen wir vielleicht auch noch einzusehen, daß »Zeit« auch noch eine dritte Art von Verbindungen herstellt. »Zeit« ist eine Brücke zu anderen Bereichen, die sich von unserem gewöhnlichen Bereich grundlegend unterscheiden.

Alle gezeitigten Verbindungen in und zwischen Situationen sind von Raum durchdrungen. Wir können entdecken, daß jeder Be­standteil unserer ineinandergreifenden Welt voller Lücken oder Un­terbrechungen ist, die es uns gestatten, aus unseren gewöhnlichen Verfahrensweisen auszubrechen und ein wenig nicht den Regeln entsprechende Kontrolle auszuüben. Und wenn wir gewöhnliche Konstruktionen (»Erkenntnisse«) und die Ausnutzungen dieser Lücken immer mehr aufgeben - wenn wir also gestatten, daß sich alles als RAUM erweist -, werden die Unterbrechungen noch ver­blüffender. In der Sprache eines am »Tun« orientierten Modells könnte man sagen, daß die Ausdruckskraft des Zeitigens dann im­mer weniger am Althergebrachten festhält, immer weniger darauf festgelegt ist, den gewöhnlichen Mustern treu zu bleiben. Mit Blick auf eine Erweiterung der Perspektive formuliert, könnte man sagen, daß immer mehr »Wissen« zugelassen wird und daß dieses »Wissen« in jedem winzigen, erstarrten Augenblick gewöhnlicher Zeit mehr »Zeit« offenbart.

Es ist wichtig, daß wir uns nicht selbst gratulieren, wenn solche Unterbrechungen und wunderbaren Ereignisse eintreten. Wir soll­ten sie weder als Erfolge betrachten, noch als etwas, angesichts dessen wir uns »zusammennehmen« müßten, denn dadurch würden wir sie nur aussperren. Beide Ansätze, die den Versuch beinhalten, auf äußerst wackligem Grund ein »Selbst« aufrechtzuerhalten, füh­ren mit großer Wahrscheinlichkeit zu psychischer Verwirrung - denn »Zeit« würde, wie immer, einer solchen Konsolidierung entge­genarbeiten.

Lücken und Unterbrechungen sind nicht »die Wirklichkeit«, die unsere Weitsicht bedroht oder unterminiert. Sie sind nur eine Über­gangs-Sichtweise - Ausdruck der Tatsache, daß wir uns von unserer altgewohnten Umwelt frei zu machen versuchen, indem wir uns

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zeitweise über ihre Grenzen hinaus öffnen. Wir wenden eine Art »Ausbruchs«-Mentalität an. Aufgrund unserer Konditionierung sind wir für das, was anwesend ist, immer noch blind, und deswegen sehen und suchen wir nur Lücken. Aber wir können entdecken, daß GROSSER RAUM sehr viel mehr - und sehr viel positiver - ist als eine derartige alles durchziehende Leere oder Unterbrechung.

Es ist wesentlich, daß wir das gewöhnliche, blindmachende Er­kennen zugunsten weiterer Perspektiven aufgeben. Dies läuft dar­auf hinaus, daß wir alles, was mit »Zeit« gegeben ist, wieder in »Zeit« einfüttern. Dies kann man sehr gezielt tun: »Zeit« geübt und kraft­voll in »Zeit« einfüttern und sie damit anregen und beschleunigen, infolge dessen immer mehr Energie empfangen und auch diese wie­der in »Zeit« zurückgeben. All unsere Einsichten und Verwirkli­chungen können auf diese Weise in die »Zeit« eingefüttert werden. Wir brauchen nicht an ihnen festzuhalten und sie für »die Wahrheit« zu halten. (Siehe das achte Kapitel, insbesondere Übung 22; dort werden der Hintergrund und die praktische Anwendung dieser Möglichkeit erörtert.)

Dieser Beschleunigungsprozeß besitzt eine ungeheuer verwan­delnde und erhebende Wirkung. »Zeit« erhöht Erkenntnis zu einer völlig neuen Art der »Raum«-Erfahrung und transformiert sie da­mit in »Wissen«. Dieses Erhöhen läßt nichts zurück und erhöht trotzdem kein »Selbst«, noch ist es in einem gewöhnlichen Sinne eine Bewegung irgendwohin. Es ist die Quintessenz dessen, was man Alchemie nennt - es transformiert uns und andere, Geist und Körper, Welt und Welten.

Im Verlauf dieses Prozesses manifestiert sich, kurz bevor das »Er­höhen« seinen Gipfel erreicht, eine Erfahrung, die mit dem in der Physik als »Singularität« bezeichneten Phänomen in etwa vergleich­bar wäre - der Zusammenbruch gewöhnlicher Raum-Zeit-Gesetze. Geschehnisse folgen nicht mehr den regulären Zusammenhängen oder Ordnungsprinzipien. Auch sind sie nicht mehr durch die kon­ventionelle Aufspaltung in »Mögliches« und »Unmögliches« be­schränkt. Nach und nach werden wir herausfinden, daß diese Art der Erfahrung auch im Bereich der normalen oder regulären Ge­schehnisse zum Tragen kommt. Wir sehen dann, daß auch im Be­reich aller gewöhnlichen Erscheinung und allen scheinbar »gesetz­mäßigen« Entstehens von Umständen ebenfalls »Singularitäten« auftreten.

Das Umwerfen aller gewöhnlichen Ansichten über das Entstehen

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von Erscheinung kündigt das generelle und grundlegende Ablassen von der Betonung von Dingen oder Erscheinungen an - die immer einer Erklärung bedürfen, einer Quelle, eines Ausführenden. Zeit wird dann nicht mehr als etwas gesehen, das sich entfaltet, indem es sich von einem Ding zum nächsten ausbreitet. Statt dessen durch­dringt sie unmittelbar alle Bedeutungen und Trennwände und offen­bart GROSSEN RAUM in einer vollkommenen, zeitlosen Begeg­nung - zeitlos in dem Sinn, daß sie nicht-konditioniert ist und keine gewöhnliche »Dauer« hat.

Wir sind von der gewöhnlichen, von Punkt zu Punkt fortschreiten­den Ursache-Wirkung-Reihung

zu einem würdigenden Gewahrsein des Zeitigens übergegangen, welches immer noch in Übereinstimmung mit dem Bild einer »Ab­folge« gedeutet wird:

Das heißt, wir können Zeitigen als das sehen, was alles im Rahmen der Serie zum Ausdruck bringt und was den konventionell ange­nommenen Übergang von einer Situation (von einem Punkt) zur nächsten zuläßt. Darüber hinausgehend, können wir das Zeitigen als etwas sehen, das eher ein Faktor einer wirklich »höheren Ebene« ist, der unsere Situationen von »oben« aus zeitigt und uns eine gewisse Chance läßt, »zurückzukehren«:

Die bescheidene Größe der nach »oben« zeigenden Pfeile ist ein Hinweis darauf, daß die Transzendenz im Vergleich zu der »norma­len« Richtung nach »unten« immer noch als eine ziemlich unwahr­scheinliche Möglichkeit angesehen wird. Die durchgezogene Linie stellt das zur Verfügung stehende »Zeit«-Kontinuum dar (im Ge­gensatz zu den isolierten Punkten gewöhnlicher Zeit).

Läßt unser Glaube an einen allgemeingültigen, ausgebreiteten Bereich »hier unten« nach, können wir möglicherweise das Bild von der »Außen-Welt« als einen »Außenlieger« loslassen. Statt dessen sehen wir vielleicht, daß alles serielle Zeitigen am selben Ort vor­

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kommt und keine ausgedehnte »Welt da draußen« festsetzt. Das heißt, alles Weitergehen von Ort zu Ort und von Erfahrung zu Er­fahrung, das das Bild einer ausgedehnten weiten Welt bestätigt, ereignet sich in Wahrheit als eine Abfolge von gezeitigten Erfahrun­gen am selben »Fleck«

(Siehe Übung 23; diese Übung führt zu einer aus Erfahrung gewon­nenen Einsicht in dieses Phänomen.)

Wenn das nach »oben« Erhöhen und öffnen immer deutlicher wird, bewirkt die Einsicht in das »Nicht-Vergehen« einen plötzlichen Zu­sammenbruch der Sichtweise, für die es ein »Hier« und »Hier- Dort« sowie ein »unendliches Oben und begrenztes Unten« gibt. Diese Sichtweise wird zu einem umfassenderen, offenstehenden »Hier«. Eine serielle »Eine-nach-der-anderen«-Ablösung von Er­fahrungen im »Hier« ist jetzt nicht mehr notwendig, weil das »Hier« sie nun alle auf einmal umfangen kann. Während dieses Prozesses werden gezeitigte Reihenfolge und gezeitigtes Zusammensein in­nerhalb jedes einzelnen Punktes

A)

zu einer Einladung zur Transzendenz:

B)

Die Kreise stellen erweiterte Versionen der Punkte dar, die die indivi­duellen Situationen bezeichnen. Der Doppelpfeil zeigt an, daß »Zeit« die verschiedenen Facetten jeder einzelnen Situation miteinander ver­bindet.

In Diagramm B weisen die in neue Richtungen zeigenden Pfeile

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darauf hin, daß dieselbe ›Zeit‹ ein Weg zu neuen, offeneren Entdek- kungen ist, wenn wir unsere strukturierten Situationen einmal als Ausdruck der »Zeit« gesehen haben. Diese Entdeckungen sind ei­gentlich nicht »anderswo« oder außerhalb der ursprünglichen Reihe zu finden. Vielmehr sind sie »in« ihr mitenthalten. Diese verlocken­den Möglichkeiten können schließlich wieder in das, was als die ge­wöhnliche stetige Reihe erscheint, integriert werden, so daß diese Rei­he dann in einem sehr »gewöhnlichen«, aber auch in einem sehr neuen Licht gesehen wird.

Die Gesamtprozedur besteht also darin, anfänglich eine etwas weiträumigere Sichtweise einzunehmen, eine Art desinteressierter Aufmerksamkeit, die Selbst und Objekte gleichermaßen ein­schließt, ohne sich von gewöhnlichen zeitlichen Verbindungen be­eindrucken zu lassen. Dadurch läßt sich mehr und mehr Zeitigen beobachten, was wiederum mehr »Raum« offenbart. Dieser »Raum« läßt es wiederum zu, daß man sich mehr und mehr der Dynamik der »Zeit« erfreuen kann, denn er gestattet dem »Wissen« eine erweiterte Perspektive auf die subtilen Widerstandsnester (»Dinge« und »allgemeingültige« Positionen), und gibt ihm die Möglichkeit, so weit durchzusehen, daß es sie »Zeit« sein lassen kann. Das Einfüttern von »Zeit« in »Zeit« ist von dem zunehmen­den Austausch und der wachsenden innigen Vertrautheit abhängig, mit denen GROSSER RAUM und GROSSE ZEIT sich gegenseitig erforschen und zelebrieren.

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Sprung von einer »Ding«-Perspektive zu einem würdigenden Gewahrsein des Raumes und der wachsenden Betonung von innigem Vertrautsein. Zusammengenommen machen sie uns deutlich, worin der Unter­schied zwischen der ersten und der zweiten Stufe der Zeit besteht und in welcher Beziehung die dritte zu den ersten beiden Stufen steht.

Auf der ersten Ebene ist es eine zentrale Tatsache, daß die Dinge vergänglich sind. Es ist typisch für die erste Ebene, daß wir versu­chen, uns als autonome Wesen zu etablieren und der Wirklichkeit gegenüberzutreten, als sei sie eine kontrastierende Gegebenheit, eine Welt von Objekten. Wir versuchen, dauerhafte Dinge zu set­zen, doch sind diese Dinge niemals völlig voneinander getrennte und vereinzelte Wesenheiten. Wie bereits erwähnt wurde, sind sie für Interaktionen nicht absolut undurchlässig. Und indem sie inter­

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agieren, tragen sie zu verschiedenen Umständen und Situationen b e i . . . sie verändern sich. Sie sind nicht völlig atomistisch, nicht ewig dieselben. Wenn es eine vollkommen undurchlässige Wesen­heit geben würde, wäre sie unzugänglich, ja nicht einmal erkennbar. Aber:

Es gibt keinen Punkt, mit dem keine Interaktion möglich wäre.

Anders ausgedrückt:

Jeder Punkt ist zugänglich und in eine Interaktion einbeziehbar.

Diese Aussage bewegt sich in Richtung auf ein Axiom der zweiten Stufe, auch wenn sie hier in den Begriffen der Vorwegnahmen der ersten Stufe formuliert wurde. Sie ist ein Hinweis darauf, daß alle festen und undurchlässigen Dinge zugänglich und damit - auf ir­gendeine Art und Weise - offen, raumgleich sind, ln den Begriffen der ersten Ebene formuliert, ist diese Aussage jedoch problema­tisch. Dieses Axiom ist zugegebenermaßen keine gewöhnliche em­pirische Aussage, denn unsere gewöhnliche Erkenntnisfähigkeit ist nicht qualifiziert zu bestätigen, daß es - in ganz allgemeinem Sinne - nirgendwo einen »undurchlässigen« Punkt oder eine »undurchlässi­ge« Wesenheit gibt.

Dieses Axiom läßt sich auf der ersten Ebene nur dann uneinge­schränkt vertreten, wenn man die Logik ein wenig überfordert und den Standpunkt vertritt, daß ein undurchlässiger Punkt einen Wi­derspruch in sich selbst darstellt, weil er, um ein undurchlässiger Punkt zu sein, im Gegensatz zu reaktiven, vergänglichen Dingen existieren müßte - und in diesem Sinne mit ihnen interagieren wür­de. Eine solche Argumentationsweise, die sich der gewöhnlichen Hilfsmittel der Zeit bedient, um die Vorwegnahmen von Sichtwei­sen der niederen Ebene zu transzendieren, findet sich schon bei Mystikern und Philosophen der Vergangenheit. Sie wird jedoch noch wirkungsvoller, wenn man sie im Kontext der zweiten Ebene dieser neuen Wirklichkeitsschau sieht. Dann nämlich tritt die Wahr­nehmung einer zur zweiten Ebene gehörigen Art des »Charakteri- sierens« von Dingen (als auf eine bestimmte Art und Weise existie­rend) auf und sieht, daß die gewöhnliche Unterscheidung zwischen Dingen und ihren Charakterisierungen, Bezugnahmen und bezug­nehmenden Ausdrücken nur von diesem subtileren »Charakteri­

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sieren« herrührt. Wenn jedoch beider Charakterisierung durch die Zeit ein undurchlässiges Ding mit seinem Gegenteil in Zusammen­hang bringt, dann interagieren sie tatsächlich und heben sich nicht bloß per definitionem voneinander ab. Die auf der ersten Ebene ungültige Schlußfolgerung kann eine Einladung dazu sein, »Zeit« mit den Augen der zweiten Ebene zu sehen.

Wie dem auch sei, mit Hilfe des an die erste Ebene gebundenen Erkennens können wir keine Beispiele finden, die diesem Axiom widersprechen. Überdies unterliegen die für uns erkennbaren Inter­aktionen Einschränkungen. Nicht alle konventionellen Wesenheiten sind so beschaffen, daß wir (gewöhnliche Menschen) mit ihnen in­teragieren können. Außerdem sind die Interaktionen der Mikroebe­ne, welche die Dinge konstituieren, nicht unmittelbar wahrnehmbar und in einigen Fällen überhaupt nicht unmittelbar erkennbar. Kön­nen wir zum Beispiel sehen, was im Innern des Kerns einen Planeten von der Größe und Masse des Jupiters geschieht?

Wenn der Begriff »Interaktion« sich auf eine konventionelle »In­teraktion zwischen Dingen« bezieht und die Dinge in einem ge­wöhnlichen Sinne mit der »Anwesenheit des Raumes« verbunden sind, folgt daraus, daß ein solcher gewöhnlicher Raum für uns nicht immer sichtbar ist (wie im Fall weitentfernter Objekte oder jener Objekte, die auf einer Mikroebene existieren). Darüber hinaus ver­säumt es eine Aufmerksamkeit, die allein auf Interaktionen dieser Art gerichtet ist, einen subtileren »Raum« zu sehen. Die moderne Physik hat generell nachgewiesen, daß die scheinbar festen Dinge größtenteils leerer Raum sind. Aber sie hat die Dinge nicht als jenen Raum gesehen. Einige Zweige der Physik vertreten die Ansicht, daß die Dinge eine Funktion einer Art von Raum sind, und trotzdem wurden diese Dinge in ihrer gewöhnlichen Erscheinung nicht als Raum wahrgenommen und gewürdigt.

In der Aussage, daß man mit jedem Punkt interagieren kann - und dies auf eine Weise, welche Raum offenbart - scheint das »kann« dieses Axioms auf der ersten Stufe eine äußerst schwache Möglichkeit zu sein. Aber auf Stufe zwei wird das »kann« wesent­lich zwingender. Es wird möglich, die gezeitigten Interaktionen un­mittelbar als solche zu sehen, und dies offenbart lebhaft die Anwe­senheit eines Raumes, der alles durchdringt. Die gewöhnliche, rela­tiv undurchlässige und starre Erscheinung einer Oberfläche ist selbst ein Interagieren und ein Raum.

Dieser Raum ist der wahrgenommene Punkt oder das wahrge­

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nommene Objekt - oder vielleicht: das Wahrnehmen des Objekts (wobei die Vorstellung eines unabhängig existierenden Objekts und die Annahme, daß »Wahrnehmen« etwas ist, das von einem unab­hängigen Subjekt getan wird, nicht mehr zutreffen). Das Volumen des physikalischen Raumes, der von dem scheinbar unabhängigen endlichen Objekt (auf der ersten Ebene der Zeit) eingenommen wird, ist eindeutig festgelegt. Der »Raum«, der das »Objekt-als- Wahrgenommenes« (auf der zweiten Ebene) ist, ist offener in seiner Fähigkeit zuzulassen. Wir könnten sagen, daß die »Größe« dieses »Raumes« unbestimmt oder sogar unendlich ist. Sie hängt davon ab, wieviel »Wissen« (nicht im Sinne eines von einem Selbst geleisteten Erkenntnisaktes) dazu verwandt wird, »Zeit« zu wissen - welche dann »Raum« offenbart oder ausmißt (und davon abgeleitet ein nutzbares »Volumen« oder einen nutzbaren »Platz«).

Dies hat für unser Leben wichtige Konsequenzen. Solange wir der Ansicht sind, daß unsere Erfahrung aus Dingen gemacht ist, werden unser Leben und unsere Fähigkeit, wahrzunehmen und zu würdigen sowie Erfüllung zu finden, beständig beschnitten und versperrt sein. Selbst wenn wir erkennen, daß die »Dinge« und Erfahrungen im Grunde genommen eine Interaktion subatomarer Teilchen sind, ste­hen wir immer noch derselben erstarrten Erscheinung gegenüber und haben dieselben Ängste und Fixierungen. Das lebendige und strahlende Wesen unserer Erfahrung kann nicht durchscheinen.

Sehen wir die Dinge jedoch als »Raum« und »Zeit«, dann können wir uns durch diese Dimensionen bewegen und uns ihnen öffnen und innerhalb dessen, was eine endliche Begegnung zu sein schien, unendliche Felder von Möglichkeiten enthüllen. Überdies sind »Raum« und »Zeit« nicht nur der Hintergrund oder tragende Me­dien für weitere Erfahrungen. Sie stellen vielmehr eine ganz beson­dere Art der Stärkung für unser »Menschsein« dar, das gewöhnlich nur indirekt durch die Jagd nach physischen Vergnügungen und durch unsere ich-bezogenen Werte genährt wird.

Die Darbietung gewöhnlicher fester Dinge kann selbst als ein intensives Interagieren - oder ein inniges Vertrautsein - gesehen werden. Das »können interagieren« der ersten Stufe wird auf Stufe zwei aufgewertet und damit zu einem »sollen interagieren«. Das würdigende Gewahrsein inniger Offenheit, Zugänglichkeit und Ein­heit ist nunmehr nicht bloß eine Tatsache oder eine abstrakte Mög­lichkeit - vielmehr sieht man, daß es einen positiven Wert und die Herausforderung zu wirklicher Verantwortlichkeit in sich trägt.

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Wer meditiert oder einem religiösen Schulungsweg folgt, mag zu­weilen ein Aufblitzen dieser Art von innigem Vertrautsein und von allgemeinem Eins-Sein erfahren und sich aufgerufen fühlen, dieses Aufblitzen so weit wie möglich zu intensivieren. Aber selbst wer auf diesem Weg Erfolg hat, bleibt immer noch auf die unendliche Fülle von Erfahrungen beschränkt, die auf der zweiten Ebene der Zeit verfügbar sind. Wie bei den meditativen Bemühungen auf der ersten Ebene ist auch hier der Erfolg beschränkt und der Fortschritt lang­sam und tastend. Dies ist darauf zurückzuführen, daß selbst die auf ein inniges Vertrautsein gerichteten Bemühungen vermittels der un­durchdringlichen und relativ unreaktiven Begriffe und Wesenheiten strukturiert werden, aus denen auch unsere traditionellen Welt­oder Glaubensanschauungen gemacht sind. Im allgemeinen sieht man nicht, daß solche starren Elemente wie »Gut und Böse«, »Glückseligkeit«, »Geist«, »Hier und Jetzt«, »Heilige«, »Selbst« und »Gottheit« eigentlich »Zeit« sind. Tatsächlich sind jedoch alle Wege und Prinzipien, alle himmlischen und höllischen Seinszustän­de »Zeit«.

Betrachten wir zum Beispiel den Prozeß der Bemühung um Tran­szendenz durch körperliche Übungen oder physische Yogas. Auch diese Disziplinen können wir als einen indirekten Weg verstehen, mit der auf Verkörperung zielenden Tendenz der »Zeit« zu arbei­ten, indem wir scheinbar feste, ausgekühlte physische Strukturen biegsam machen. Jedoch befindet sich »Zeit« nicht hinter oder un­ter diesen Strukturen - »Zeit« ist selbst ihre Unmittelbarkeit, ihr weißglühender, schmiedbarer Aspekt.

Die verschiedenen traditionellen Ansätze sind wirksam, weil sie indirekt mit der Struktur der »Zeit« arbeiten, wie sie von den Tradi­tionen, die sich immer noch mit den Sichtweisen der ersten Ebene abquälen, dargestellt wurde. Ein solcher Ansatz ist jedoch in zwei­erlei Hinsicht begrenzt. Zum einen beinhaltet er einen Irrtum bei der Feststellung dessen, worum es eigentlich geht (und warum seine Methoden und Verhaltensregeln überhaupt wirksam sind). Und zum anderen wird hier der Charakter niederer Zeit und des niede­ren Wissens verewigt, indem man in Begriffen von Gerichtetheit, Erwartungen, festen »Dingen«, Glaubensgebäuden, linearem »Tun« und von Bedeutungen arbeitet.

Die vielleicht verführerischste Falle und der Gipfelpunkt der Er­fahrung auf der zweiten Stufe ist jedoch ein Gefühl des innigen Ver­trautseins oder der gegenseitigen Durchdringung von kosmischem

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Ausmaß - die Erfahrung von so etwas wie einem alles-umfangenden Feld. Die Ding-Perspektiven werden in diesem Fall durch eine Feld- Anschauung ersetzt. Die Vorstellung von Dingen wird damit natür­lich sekundär, und die Gruppe von »Dingen«, die man als existent annimmt - die Art und Weise, in der das Feld in Übereinstimmung mit der Konvention zurechtgestutzt ist ist in gewisser Hinsicht endlos und willkürlich. Anstelle von »Dingen, die aufeinander wir­ken«, wird jetzt die »Interaktion« oder das »Muster« selbst als grundlegend angesehen.

Jedoch sind derartige Vorstellungen von RAUM und ZEIT sowie von dem, was letztlich wirklich ist, nur im Rahmen einer Sicht der Zeit anwendbar, die der zweiten Stufe angehört. Sie sind zwar ange­messener und empirisch fester verankert als auf der ersten Ebene, aber sie sind immer noch nicht die Sicht der dritten Stufe, denn es bleibt die Vorstellung erhalten, daß etwas da ist. Und vermutlich ist dieses »Etwas« nicht vollständig offen, sondern in mancher Hinsicht sogar recht vorbelastet. Auch überwiegt immer noch das Gefühl, daß »etwas vorkommt«, daß »etwas geschieht«. Diese beiden Charakteri­stika machen - merkwürdigerweise - eine von völligem »innigen Ver­trautsein« geprägte Seinsweise geradezu unmöglich. Sogar in dem eben erwähnten besonderen Sinn stellt Interaktion selbst eine Verdun­kelung des völligen »Zusammenseins« dar.

Zeit, Stufe drei: Dies ist GROSSE ZEIT. GROSSE ZEIT ist der universelle Träger, aber sie macht oder trägt keine »Dinge«, noch bringt sie diese zum Ausdruck. GROSSE ZEIT ist weder ein Ding noch ein Vorgang. Sie ist nicht auf die eine oder andere Art und Weise geneigt. Sie ist durch nichts konditioniert und konditioniert selbst nichts. Nichts »ist«. Dies ist nicht als eine Aussage über eine objektive absolute Wahrheit darüber, »wie die Dinge sind«, zu ver­stehen. GROSSE ZEIT ist weder gesetzmäßig noch zufällig. Sie ist kein Geschehen, kein »Stattfinden«.

Das Haften an einer Wirklichkeit, einer kosmischen Wahrheit oder einem kosmischen Prinzip - an etwas, das »ist«, das »dort draußen« besteht, um verwirklicht, begriffen oder zurückgewonnen zu werden - ist für die Vision der GROSSEN ZEIT nicht von Be­deutung. GROSSE ZEIT ist kein Plan, keine geheimnisvolle Macht. Wir könnten sie als den untrennbaren Partner des GROSSEN RAUMES bezeichnen, die andere Hälfte dieser ursprünglichen Ehe und Liebesbeziehung. Die uneingeschränkte Erfüllung des Wechsel­

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spiels von GROSSEM RAUM und GROSSER ZEIT ist ein voll­kommenes und nicht künstlich erzeugtes inniges Vertrautsein. Das Axiom über das »Können« und »Sollen« von Zugänglichkeit und innigem Vertrautsein - wie diese auf den niederen Stufen aufgefun­den werden - war nur eine abgeleitete Formulierung der freudigen Feststellung:

Inniges Vertrautsein ist.

Dieses innige Vertrautsein bringt weder Dinge noch ein zusammen­fassendes Feld mit sich - nur GROSSEN RAUM und GROSSE ZEIT. Es ist das zerschmetternde und doch natürliche Auftauchen unseres wirklichen SEINS. Und es geht uns an - es ist nicht ein vollkommenes inniges Vertrautsein anderswo, jenseits des Lärmes und der Isoliertheit der gewöhnlichen Welt. Es ist »hier«. Der einzi­ge Unterschied (zu den anderen Stufen) besteht darin, daß anstelle einer von einem »Selbst« oder von »Dingen« ausgehenden Sicht­weise nun die Sicht des GROSSEN RAUMES und GROSSER ZEIT in Kraft ist.

Ob wir durch endloses Abgrenzen eingeteilt und abgeschnitten sind oder nicht, ob wir sehen können, daß die Trennwände das fundamentale innige Vertrautsein und die grundlegende Erfüllung nicht verdunkeln oder nicht - dies ist einzig und allein von unserer Sichtweise abhängig. Wir können die (gewöhnlich verdunkelnde) Tendenz der Zeit zur Abgrenzung in neuer Weise nutzen und all­mählich jene Mauern durchbrechen, die uns einschließen. Oder wir können unmittelbar zu GROSSER ZEIT erwachen.

Auf der einen Seite können wir von GROSSEM RAUM und GROSSER ZEIT, dem URANFÄNGLICHEN PAAR sprechen, dessen Wechselspiel eine Unendlichkeit von Wahrnehmungen, freu­digen Würdigungen und Bezeugungen der Eigenschaften ihrer Ver­einigung hervorbringt. Diese Würdigungen sind allesamt GROSSES WISSEN, ihr Kind. GROSSES WISSEN ist die Verkörperung ihrer Ehe, im Sinne einer niemals endenden Erfüllung und freudigen Würdigung, und nicht im Sinne eines bestimmten Produktes, einer Schöpfung, die sich anschließend losreißen und ihre eigenen Wege gehen muß. RAUM, ZEIT und WISSEN ist die essentiell innig vertraute und völlig ausgeglichene Familie.

Auf der anderen Seite können wir von einem Versäumnis spre­chen, das Wechselspiel von GROSSEM RAUM und GROSSER

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ZEIT zu begreifen. Dieses Versäumnis führt dazu, daß es zu einer Vervielfältigung von Begegnungen und Vereinigungen kommt, be­vor das, worum es eigentlich geht, endlich wahrgenommen und ge­würdigt werden kann. In der Zwischenzeit kommt es - auf vielen Ebenen - buchstäblich zu einer unkontrollierten Bevölkerungsex­plosion, die sehr viel Einsamkeit und Entfremdung hervorbringt. Den »Kindern« (allen Darbietungen) ist es unerträglich, an die Le­bensweise ihrer Eltern gebunden zu sein, und schließlich trennen sie sich von ihnen, um ihre eigenen Lösungen und ihre eigene Harmo­nie miteinander zu suchen. Wie auf der dritten Ebene, so fungiert GROSSE ZEIT auch auf der ersten Ebene als Vermittlerin zwi­schen Mutter und Kind. Sie ist (zum Beispiel in verschleierter Form in den verschiedenen Religionen) als ein Weg verfügbar, der sich zurückverfolgen läßt zu voller Versöhnung und sogar zu einer fami­liären Harmonie (der dritten Ebene), die nie durch Kampf gestört war.

Dieses Bild des »Niemals-abgeirrt-Seins« ist für die RAUM- ZEIT-WISSEN-Vision von zentraler Bedeutung, und die Tendenz des »Abirrens« war ein impliziter Aspekt verschiedener bisher an- gestellter Betrachtungen. Wir haben bereits das Musterbilden und den gerichteten Charakter der »Zeit« untersucht. Dies könnte als eine subtile »Bewegung« der »Zeit« bezeichnet werden, eine Bewe­gung ohne einen Bewegenden oder ein wirkliches »irgendwohin Be­wegen«. Die Grundzüge der ersten Ebene wie das »Sich-Abson- dern« oder die konsolidierende Tendenz des Selbst, wie Bezugnah­men, Verweisungen und die gewöhnliche Erfahrung des Von-Ort- zu-Ort-Weitergehens sind alle davon abhängig, daß sich unser »Wis­sen« von diesem subtilen Flimmern, dieser subtilen Bewegung der »Zeit« täuschen (überzeugen) läßt.

Wird diese Bewegung auf der zweiten Ebene der Einsicht von mehr »Wissens-Soheit«* untersucht, dann wird sie zwar immer noch als ein »Weitergehen« gesehen, jedoch in sehr viel offenerer Weise. Jede Facette oder Region der Bewegung wird gesehen, als würde sie sich gleichzeitig »vorwärts«, »rückwärts« und in alle Richtungen bewegen. Jedes einzelne »Weitergehen« kann dazu als Vorwärts-, Rückwärts- und In-alle-Richtungen-»Gehen« gesehen werden . . . und jedes einzelne davon kann wiederum auf die gleiche Weise gesehen werden. Die greifbaren Dinge, Orte und gerichtete Prozes­se der ersten Ebene werden - in ihrem »Zeit«-Aspekt der zweiten Ebene - als äußerst flüssig wahrgenommen und gewürdigt. Dieses

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Flüssigsein ist ein zentraler Grundzug von »Zeit«, der jedoch trok- kener und reibungsintensiver gemacht wurde, damit wir das Spiel der ersten Ebene spielen können.

Wird sie voll wahrgenommen und gewürdigt, dann erweist sich GROSSE ZEIT als so etwas wie eine vollkommen fließende, glei­tende Dimension - sie ist ihrem Wesen nach »glitschig«. Obwohl es auf der ersten Ebene Bewegung und getrennte Orte, auf die man zugehen kann, zu geben scheint und noch offenere, flüssigere Mög­lichkeiten der Bewegung auf der zweiten Ebene - auf der dritten Ebene gibt es kein »Weitergehen« und keine getrennten Orte. Es ist, als wäre alle Reibung aus der Welt geschafft - nichts kann dann mehr von irgend etwas anderem Weggehen. Aus der Sicht der drit­ten Ebene beläßt uns auch eine Ewigkeit des »Abirrens« doch im­mer ganz zu Hause - in inniger Vereinigung.

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8. Kapitel

Zwischenformen der »Zeit«-Erfahrung

Wir können von einem gekünstelten innigen Vertrautsein zu einem nicht künstlich erzeugten gelangen und weiter noch zu einem innigen Vertrautsein, das einfach ist und weder Sub­jekt noch Objekt mit sich bringt. Dieses innige Vertrautsein greift nicht nach »draußen«, nach Dingen, die anderswo sind, es assimiliert sie aber auch nicht allesamt zu einer ge­wöhnlichen Lokalisierung »hier«.

In diesem Kapitel geht es hauptsächlich um Einsichten und Übun­gen, die uns dazu verhelfen können, von einer »Zeit«-Erfahrung der ersten Stufe zu einer »Zeit«-Erfahrung der zweiten Stufe überzuge­hen. Der erste und wichtigste Aspekt ist, daß sowohl die Erfahrung der »Zeit« als auch die Transzendenz jener Erfahrung - die notwen­dig ist, wenn wir um GROSSE ZEIT wissen wollen - von einer vorausgehenden Vertrautheit mit dem GROSSEN RAUM abhängig sind. Das heißt, beide verlangen von uns bei der Betrachtung unse­res Bereiches eine größere Offenheit, als wir sie gewohnt sind. Wir müssen die Tatsache, daß GROSSER RAUM die ZEIT möglich macht, tatsächlich erfahren und würdigen. Diese Tatsache ist nicht bloß eine theoretische Beziehung zwischen den beiden.

An diesem Punkt wäre es hilfreich, die Übungen zum RAUM aus dem ersten Teil nochmals zu üben, wobei wir diesmal mehr auf das Zutagetreten des »Zeitigens« achten. Schon eine geringfügige Zu­nahme unseres RAUM-Verständnisses wird uns mehr Einsicht in »Zeit« gestatten; dies wird wiederum mehr RAUM freilegen und so weiter. Versuchen Sie deswegen, zwischen den theoretischen Aus­führungen im Abschnitt »Zeit, Stufe zwei« und den RAUM-Übun- gen eine engere Beziehung herzustellen.

Eine zweite Methode, die bei der Suche nach GROSSER ZEIT weiterhelfen kann, besteht darin, das Selbst aus einer erweiterten Perspektive zu sehen und dadurch mehr RAUM und WISSEN her­anzubilden. Lernen wir mehr darüber, wie das Selbst zustande kommt, dann lernen wir auch zu sehen, wie es dazu tendiert, das Verständnis von RAUM und ZEIT zu verdunkeln. Dann können wir die willkürlichen Grenzen überschreiten, die das Selbst dem würdigenden Gewahrsein setzt.

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Das Selbst kann den GROSSEN RAUM oder die GROSSE ZEIT nicht verstehen, weil es ja gerade das Fehlen eines solchen Verstehens verkörpert. Das Selbst würdigt und benutzt die »Unend­lichkeit« des Raumes nur in dem Sinne, daß es darin eine Möglich­keit erblickt, seine Begegnungen auf der Ebene der gewöhnlichen Erkenntnis unendlich fortzusetzen. Es kann eine Unendlichkeit von Daten aufnehmen, ohne jedoch Einsicht in sein RAUM-ZEIT-We- sen oder in den Grund zu gewinnen, aus dem ihm diese Unendlich­keit von Einzelheiten überhaupt verfügbar ist.

Die Grenzen, die der Fähigkeit des Selbst zu würdigendem Ge­wahrsein gesetzt sind, sind jedoch nicht unüberwindlich, denn das Selbst ist immer noch RAUM-ZEIT-WISSEN. Das Selbst ist immer noch musterbildende oder auf Verkörperung zielende Tendenz der »Zeit«, und als solche ist es auf allen Ebenen und in allen Stadien seines Zustandekommens ein Träger von Wissens-Soheit. Natürlich ignoriert das Selbst diese Weitwinkel-Wissens-Soheit und ist insbe­sondere während der Anfangsstadien seiner Formierung blind dafür.

Tragen wir jedoch einmal über die Anfänge dieses formativen Prozesses Information zusammen und veranschaulichen diese im Rahmen einer einfachen Geschichte, so können wir das, was diese Wissens-Soheit uns zu erzählen hätte, wenn sie nur einen Zuhörer fände, annähernd wiedergeben. Als Antwort auf unsere Geschichte wird Wissens-Soheit möglicherweise dazu angeregt, in den Vorder­grund zu treten und die subtileren Einzelheiten zu ergänzen. Ma­chen wir von dieser Wissens-Soheit Gebrauch, können wir sehen, wie es zu der andauernden Tendenz des Selbst zu einem »Fall« kommt und wie sich ein solcher Fall vermeiden läßt. Diese Ge­schichte kann uns also, um einmal ihren praktischen Wert herauszu­stellen, auf die zentralen Einsichten aufmerksam machen, die wäh­rend der nächsten Übungsreihe auftauchen mögen.

In unserer Geschichte sieht die ZEIT vor, daß Subjekt und Ob­jekt »auf der Bühne« stehen. Dies bedeutet jedoch noch nicht sehr viel, denn beide sind nur ZEIT, wie alles andere auch. Sie stehen nicht exklusiv im Vordergrund dieser Unendlichkeit.

Tatsächlich läßt sich dieses Spiel fast unendlich langsam a n . . . während es von einer anderen Warte gesehen bereits vorüber ist. Wir müssen uns mit einer Zusammenfassung der Höhepunkte der Handlung zufriedengeben, sowohl aus der Sicht der Hauptcharakte­re als auch aus der der RAUM-ZEIT-WISSEN-Perspektive.

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An einem gewissen Punkt verkündete das Selbst, es sei von nun an selbständig - und zudem noch ein überaus fähiger Bursche. Es schaute sich um und betrachtete die Gegenstände in seinem Herr­schaftsbereich. Diese schienen nah und fern in unterschiedlicher Entfernung ausgestreut zu sein. Das Selbst bewegte sich in dieser Landschaft hin und her, trat mit den Gegenständen in Kontakt und dachte, indem es die Dinge abschätzte, viele, viele Gedanken.

Die Zeit hat schon ein wahres Wunder gewirkt, indem sie die Angelegenheit nur soweit dargestellt hat. Und wie es scheint, gibt es mehrere Wege, ihre Spezialeffekte zu beschreiben. So könnten wir uns besonders für die Sichtweise des Hauptdarstellers - das »Selbst«- interessieren, wie er von ZEIT (oder von »Zeit«, ihrem Bühnen­arbeiter) gespielt wird. Oder wir könnten mehr an der »Zeit« selbst als dem »Darsteller von Rollen« interessiert sein.

In Übereinstimmung mit Perspektive der »Zeit« als Darsteller von Rollen autorisiert die Unendlichkeit der GROSSEN ZEIT die »Zeit« dazu, keinen Trick unversucht zu lassen. Diese Ermächti­gung kommt in einem Schauspiel zum Ausdruck, in dem sogar so getan wird, als ob ein lokaler Widerstandsfaktor oder Verdunke­lungseffekt diese unendliche Befähigung der GROSSEN ZEIT aus­schließt. Doch dieses Schauspiel ist seinem Wesen nach eine festli­che Würdigung: Es bezeugt die unendliche Fähigkeit GROSSEN RAUMES, des Mäzens der ZEIT, Begrenzungen wohlwollend zu tolerieren. Nach der Sichtweise, die das fiktive Selbst in Szene setzt, ist eine solche Begrenzung tatsächlich in Kraft, bleibt jedoch bis zu einem späteren Zeitpunkt des Spiels unbekannt und ungeahnt.

Wir wissen, daß in Übereinstimmung mit unserer Geschichte, ei­ne lokale Begrenzung der Offenheit GROSSEN RAUMES eintritt, mit dem Ergebnis, daß die Unendlichkeit der Zeit in gewisser Hin­sicht problematisch wird - sie ist einfach »mehr als man ertragen kann«. ZEIT wird zu endlicher Zeit, die untauglich ist, wahrzuneh­men und zu würdigen, in welchem Sinne jede Manifestation die unkonditionierte, ungerichtete Unendlichkeit der ZEIT bewahrt.

So kommt es zu einer gewissen Verwirrung wie auch zu einer subtilen Veränderung, durch die die »Zeit«, der allen Manifesta­tionen gemeinsame dynamische Faktor, zu einem Hintergrund für die Bewußtheit dieser Manifestationen wird. Alles ist dann objekti­vierbar und hat Teil an dem gemeinsamen Grundmerkmal, nämlich erkannt oder erkennbar zu sein. Aber auch dies ist immer noch eine Übergangssituation und für die zutage tretende Bewußtheit deswe­

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gen beunruhigend vage. Damit diese Situation klipp und klar wer­den und eine stabile dynamische Ebene erreichen kann, ist größere Bestimmtheit notwendig. So kommt es zu einer endgültigen Konso­lidierung, durch die klar wird, daß es das »Selbst« ist, welches ge­wahr wird, daß es das »Selbst« ist, das verwirrt ist.

Das Spiel bietet das Zutagetreten verschiedener Probleme dar. Die Hervorhebung eines um das Selbst strukturierten Erkennens hat ernsthafte Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen können wir mit Hilfe eines Schaubildes verdeutlichen. Nehmen wir einmal an, daß GROSSE ZEIT vor (in einem nicht-zeitlichen Sinn) dem vermeintlichen Erscheinen des Selbst auf der Bühne ein volleres Medium ist, sehr viel weiter und ungeteilt. Wir könnten diese ZEIT grafisch als einen ungebrochenen, senkrechten Strich darstellen:

Wenn das Bild vom »erkennenden Selbst« die Bühne betritt, kommt es zu einer Art Polarisierung innerhalb dieses dynamischen Me­diums; es ergibt sich folgendes Bild:

Daraus wird und dann und

dann und schließlich

eine Gegenüberstellung zweier voneinander isolierter Punkte in ei­ner endlichen Scheibe gewöhnlicher Zeit (ein bloß horizontales Ordnungssystem, das keinen sichtbaren Kontakt mit der anderen Art von ›Zeit‹ mehr hat).

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Das Selbst bemerkt Dinge, und das »braucht Zeit«. Die unange­nehme und allgegenwärtige Dynamik der »Zeit«, welche die nur versuchsweise eingeführte Autonomie des Selbst und seiner Objek­te über den Haufen zu werfen droht, wird selbst in den Hintergrund der Bühne verdrängt. Sie bekommt den Status eines Ordnungssy­stems, wodurch sie leichter zu verkraften ist. Zeit ist dann etwas Nützliches. Sie bringt die Entfernung zwischen dem Selbst und sei­nen Objekten zum Ausdruck, und so umgrenzt und verfestigt sie (jedenfalls aus der Sicht des Selbst) den Unterschied zwischen ihnen.

Die Macht der ZEIT spaltet sich auf und wird (einerseits) zur Willenskraft des Selbst und (andererseits) zu ihrem Gegenpol, der Energie der Natur und der physikalischen Prozesse.

Das Skript des Spiels schreibt vor, daß das Selbst sich als der Gastgeber versteht. Die Weltordnung ist sein Haus und darin bewir­tet es seine Gäste (die Objekte). Es schwelgt in mentalen Dialogen über sich selbst, seine Welt und seine Gäste. Die Dialoge »bedeuten etwas« innerhalb der Weltordnung, und jene Weltordnung ist in gewisser Hinsicht grundlegender als die bestimmten Fälle, die »von Bedeutung« sind.

Gleichzeitig mit seinem Auftreten wird - sowohl auf persönlicher als auch auf globaler Ebene - ein imponierender Hintergrund für das Selbst aufgerollt. Ist seine Evolution nicht schon seit Millionen von Jahren im Werden?! Das Selbst ist durch einen Vergangenheit- Gegenwart-Zukunft-Nexus lokalisiert und darin identifizierbar. Al­le diese Zeit-Scheiben sind beruhigend endlich, wenn auch weitläu­fig genug, um sicherzustellen, daß an seinem Amt in der Welt nicht zu rütteln ist.

Eigentlich ist dies alles eine unglaubliche Parforcejagd der »Zeit«, die die Bühne einrichtet, den Text spricht, Entfernungen und Unterschiede mißt und feststellt und dabei immer wieder versi­chert, alles sei so, wie das Selbst annimmt: »Jedesmal, wenn ich hingehe und nachschaue, ist alles noch da!« GROSSE ZEIT ist das Selbst. Aber das Selbst kann ZEIT nicht ermessen.

Das »Selbst« oder Subjekt ist eigentlich ein von »Zeit« gezeitig­tes Objekt. Das »erkannte Objekt« ist ebenfalls von »Zeit« gege­ben. Die ursprüngliche Botschaft der Einheit von Subjekt und Ob­jekt - insoweit diese als »Zeit« gesehen werden - wird vereinfacht und umformuliert, sobald »Zeit« aus den Augen verloren wird. Die subtileren Grundzüge dieser Einheit bleiben in Form beunruhigen­

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der Echos erhalten. So erkennt zum Beispiel das Selbst das Objekt, aber das Objekt ist gleichzeitig der Maßstab für die Erkenntnisfä­higkeit des Subjekts. Das Selbst erkennt etwas über sich selbst (und wird damit zu einer Art von Objekt) durch das Objekt: »Ich bin es, der erkennt, daß . . . « Außerdem sind einige Objekte eigenständige Personen oder Subjekte, die das Selbst zum Objekt ihres Erkennens machen können.

Diese stark aufgeladenen Dichotomien sind das Ergebnis einer Ausstreuung und Fragmentierung, die teilweise durch den verwir­rend doppelfacettierten Charakter der Einheit ausgelöst werden, welche von »Zeit« getragen wird. Diese Doppeldeutigkeit wird in der gewöhnlichen Zeit zum Problem. Sie ruft eine Spannung und ein Oszillieren hervor, welches sich als Konfiguration eines Gegensatz­paares von »Dingen« zu stabilisieren sucht. Die Ausstreuung der Zeit läßt das Gefühl eines Oszillierens zwischen den Dingen zu. Es scheint eine Distanz zu geben, die nichtsdestoweniger nur eine Bot­schaft der »Zeit« ist.

Wir könnten dies vielleicht mit dem Erscheinungsbild eines phos­phoreszierenden Objekts - etwa einer Kaktusblüte - vergleichen. Das Bild erglüht, aber in gewisser Hinsicht sind Bild und Glühen untrennbar. Zwischen diesen beiden Aspekten gibt es keine Di­stanz. Selbst die Vorstellung des »beide« ist ein zusätzlicher inter- pretatorischer Schritt. Wenn sie als eine augenblicklich von der »Zeit« gesandte Botschaft gesehen werden, sind »das Selbst und das Objekt in der Welt« eine ungeteilte Einheit. Und doch fühlt sich das Selbst (das Glühen), das für die »Zeit« unempfänglich ist, aus die­sem Grunde abgesondert, entfernt und unabhängig.

Die Landschaft der Erscheinung auf diese Weise abzuschätzen oder zu strukturieren, ist wie der Kontext der Botschaft der »Zeit«. Zum Inhalt der Botschaft gehört dann das Unvermögen, den eige­nen Status als Inhalt einer Botschaft wahrzunehmen und zu würdi­gen - das grundlegende Fehlen einer Perspektive, die selbst noch die Klarheit GROSSER ZEIT ist, welche die gewährende Offenheit des GROSSEN RAUMES für sämtliche Gesichtspunkte zum Aus­druck bringt. Wenn wir »in« der Zeit gefangen sind, sehen wir Din­ge, Unterschiede und Entfernungen, aber nicht das »Zeitigen«, von welchem diese gegeben sind.

Wir haben diese Gedanken hier nochmals ausführlich vorgetragen, weil es wichtig ist, daß wir beginnen, unseren Bereich und unsere

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Erfahrung - was immer wir gewöhnlich tun mögen - in Hinsicht auf diese Ideen zu untersuchen. Da wir uns mit der Beziehung zwischen RAUM und ZEIT befassen, ist es unabdingbar, daß wir Entfernung als ihrem Wesen nach »gezeitigt« verstehen lernen. Die folgende Übung kann uns in dieser Richtung weiterhelfen.

Übung 17: Das Objekt und sein Glühen

Visualisieren Sie, um noch einmal auf das oben erwähnte Bild vom »Objekt und seinem Glühen« zurückzukommen, die phosphores­zierende Blüte, bis Sie die Untrennbarkeit der Blüte von ihrem Glühen tief erfahren. Versuchen Sie dann - ohne sich anzustrengen oder eine unnatürliche Wahrnehmung zu erzwingen - zu sehen, wie sich diese Untrennbarkeit zu Ihrer Alltagserfahrung des »Ich und das Objekt« verhält. Konzentrieren Sie sich auf die Vergleichbar­keit der »Ich«-Komponente Ihrer Erfahrung mit dem »Glühen« des »Objekts«. Betrachten Sie - mit einem auf breiter Grundlage fu­ßenden Wissen - (das anfänglich nur darin bestehen mag, geistig offen zu sein), was die Distanz hervorbringt, die »zwischen« Sie und das Objekt »tritt« (und wie diese Distanz eigentlich beschaffen ist). Ist da vielleicht irgendwo ein Gefühl, daß es eine solche Distanz oder Entfernung gar nicht gibt, obwohl die Reihe von Erfahrungen, die im allgemeinen den Beweis für das Überwinden von Entfernun­gen liefert, immer noch erfahrbar ist?

Kommentar zu Übung 17Nur wenn wir - in gewissem Sinne - aufhören, uns durch gewöhnli­che räumliche Entfernungen zu bewegen, können wir eine neue Art von »Raum« sehen, eine neue Weise, auf die alle Situationen »of­fen« sind. Dies bedeutet nicht, daß wir uns »fest im Zaum« haben und stillhalten sollen . . . damit wir uns bloß nicht in den gewöhnli­chen Raum hinauswagen. Vielmehr geht es darum zu sehen, daß das »Fest-im-Zaum-Haben« selbst der Ausdruck eines ängstlichen Aussonderns unseres »Selbst« ist, welches den »Raum« derart ver­zerrt, daß er nur noch eine sich dazwischenschiebende Entfernung ist.

Lassen wir jedoch ein »Wissen« zu, das uns auch weiterhin als mit der »Zeit« gegeben sieht, dann wird das Bild vom Objekt und sei­nem Glühen allmählich zutreffend, und wir können wesentlich mehr

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»Raum« wahrnehmen und würdigen. Dies kann uns helfen, in noch engerer Berührung mit »Zeit« zu leben.

Es ist wichtig zu bedenken, daß wir nicht versuchen, den gewöhn­lichen Anschein unseres Getrenntseins vom wahrgenommenen Ob­jekt zu ignorieren. Dies ist nicht notwendig und schießt am Ziel vorbei. Schließlich ist dieser Anschein der Getrenntheit selbst gezei­tigt und bezeugt damit das von uns gesuchte »Nicht-Getrenntsein«.

Wir wollen nun zu anderen Übungen fortschreiten, die die Einsicht vertiefen können, daß wir »Zeit« sind. Sie zeigen auch, wie begrenzt die Einkapselung des Selbst in der zeitlichen Struktur von Vergan­genheit, Gegenwart und Zukunft tatsächlich ist. Der nächste Schritt besteht dann darin, diese Struktur zu transzendieren - nicht indem wir ihr entfliehen oder sie ignorieren, sondern indem wir mehr von »Zeit« sehen.

Im vorangegangenen Abschnitt war davon die Rede, daß das Selbst, als Teil seines Anspruchs auf Autonomie, von einer aus Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft bestehenden Umwelt umgeben ist. Das Selbst ist dann die verarmte Spielart der »Gegenwart«. Seine Ärmlichkeit kommt durch die Tatsache zum Ausdruck, daß es immer etwas vorhat, irgendwohin geht, etwas beabsichtigt. Der Po­sition des Selbst ist immer eine Gerichtetheit eigen, und dies zeigt sich in der dreigeteilten Struktur der gewöhnlichen Zeit - die erfah­rene, ich-zentrierte Gegenwart kommt immer aus der Vergangen­heit und ist in Richtung Zukunft unterwegs. Sich in einer solchen Gegenwart zu befinden, heißt frustriert und aus dem Gleichgewicht geworfen zu sein. Es ist also wirklich lohnend zu lernen, sich dieses Problems bewußt zu werden und sich einer neuen Weise zu öffnen, um Zeit zu wissen und sie wahrzunehmen und zu würdigen.

Übung 18: Vergangene und zukünftige Projektionen

A. Sitzen Sie für eine Weile still, und lassen Sie Ihre Aufmerksam­keit zwanglos wandern. Beginnen Sie dann nach und nach genau auf die Gedanken und Bilder zu achten, die in Ihnen aufgetaucht sind. Achten Sie darauf, wie häufig Sie Gedanken über die Zukunft ge­habt haben und auch weiterhin haben - Pläne, Erwartungen, An­nahmen über wahrscheinliche Entwicklungen und so weiter. Achten Sie dann genauso auf Erinnerungen aus der näheren und schon

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weiter zurückliegenden Vergangenheit. Achten Sie darauf, wie Ihre Erwartungen und Erinnerungen Bezugnahmen auf Ihr persönliches Leben und Ihre persönlichen Erfahrungen sowie auf das Leben und die Erfahrung anderer Menschen einschließen.

B. Führen Sie dieselbe Übung wie oben durch, während Sie mit Ihren alltäglichen Aufgaben beschäftigt sind - wenn Sie zu Fuß unterwegs sind, Auto fahren, warten oder sich mit anderen Leuten unterhalten, aber auch in Augenblicken, in denen Sie ungewöhnli­che emotionale oder körperliche Empfindungen haben.

Übung 19: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jedes einzelnen Augenblicks

Sitzen Sie wiederum ganz still und bleiben Sie für alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen empfänglich. Schließlich sind Sie viel­leicht in der Lage zu sehen, wie eine Vergangenheit und eine Zu­kunft allen Ihren gelebten gegenwärtigen Augenblicken einen leich­ten Beigeschmack geben. Jeder gewöhnlichen Gegenwart ist eine subtile Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur eigen, die ein Gefühl persönlicher Identität, Dauer und Ausrichtung schenkt.

Kommentar zu den Übungen 18 und 19Nach ausgiebiger Arbeit mit Übung 18 werden Sie mehr und mehr gewahr, wie Bezugnahmen auf die Vergangenheit und die Zukunft Ihre gegenwärtige Erfahrung lokalisieren und sie in eine bestimmte Perspektive bringen.

Die Übungen 18 und 19 helfen, eine zunehmende Bewußtheit für die Struktur der gewöhnlichen Zeit zu entwickeln. Haben Sie sie lange genug geübt, wird dieses Gewahrsein sich als mehr erweisen als eine bloße Aufmerksamkeit des Selbst. Statt dessen kann es ein von »Zeit« vermitteltes »Wissen« sein, das mit der »Zeit« selbst dort noch Schritt hält, wo das »Selbst« dazu nicht mehr in der Lage ist. Dieses »Wissen« kann sehen, wie das Selbst Augenblick für Augenblick hervortritt und wie seine Konsolidierungstendenz die Unermeßlichkeit der »Zeit« einschränkt.

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Schauen Sie - wie in Übung 18 - genau auf Ihre Erinnerungen und die sich an der Vergangenheit orientierenden Gedanken sowie auf die zukunftsbezogenen Pläne und Erwartungen. Eine charakteristische Eigenheit zukunftsbezogener Bilder ist, daß sie von der Gegenwart aus gesehen »voraus« liegen. Sie schauen von »hier« auf das, was »dort« vor Ihnen liegt. In ähnlicher Weise liegt die Vergangenheit hinter Ihnen - Sie schauen auf die Vergangenheit zurück, obwohl dieselbe Vergangenheit auch die Eigenschaft besitzt, vorwärts, zur Gegenwart, zu führen.

Gehen Sie nun von einem bestimmten Gedanken oder einer be­stimmten Erwartung hinsichtlich Ihrer Zukunft aus, und kehren Sie die Ausrichtung um, durch die der Gedanke oder die Erwartung in bezug auf Ihre Gegenwart erkannt wird. Das heißt, schauen Sie von jener Zukunft auf die Gegenwart zurück.

Führen Sie diese Übung wiederholt durch, und nehmen Sie dann eine vergleichbare Umkehrung im Fall von Erinnerungen und Bildern aus der Vergangenheit vor. Schauen Sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart.

Dieses »Schauen« kann zuerst erreicht werden, indem Sie sich als tatsächlich in der Zukunft oder Vergangenheit befindlich visualisieren und von dieser Warte aus »auf die Gegenwart« schauen. Wenn Sie jedoch ein »Wissen« aufdecken, das nicht so fest an Ihr Selbstbild gebunden ist, können Sie jenes »Wissen« dazu benutzen, in bezug auf Ihr Verhältnis zu der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur eine qualitative Veränderung zu bewirken. Besonders mit dieser zuletzt genannten Art des »Wissens« sind Sie dazu fähig, gleichzeitig aus der Vergangenheit und der Zukunft auf die Gegenwart zu schauen.

Übung 21: Eine subtilere strukturelle Umkehrung

Schauen Sie jetzt, anstatt mit Gedanken zu arbeiten, die einen spezifi­schen auf die Vergangenheit oder Zukunft bezogenen Inhalt besitzen, auf die subtile Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur aller »gegenwärtigen« Erfahrung. Kehren Sie nun, wie Sie es schon in Übung 20 getan haben, die Ausrichtung um, die die Gegenwart mit diesen subtilen Bezugnahmen auf die Vergangenheit und Zukunft verbindet.

Übung 20: Die Zeitstruktur umkehren

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Kommentar zu den Übungen 20 und 21Diese Übungen helfen, den starren und nicht hinterfragten Tenden­zen entgegenzuwirken, die zur Aufmachung der gewöhnlichen Zeit und der sie begleitenden zwanghaften und enttäuschenden Grund­stimmung beitragen. Zwar kommen wir bei diesen Übungen wahr­scheinlich nicht mit der »wirklichen« Vergangenheit oder Zukunft in Kontakt, sondern nur mit Gedanken über sie oder mit einer subtilen, sie betreffenden Gerichtetheit. Trotzdem tragen diese Übungen zu einer Transformierung der »wirklichen« Zeit bei, denn es ist ja gerade diese subtile oder offensichtliche Gerichtetheit, die die Gegenwart so armselig macht und zur Entstehung der »wirkli­chen«, sequentiellen gewöhnlichen Zeit führt - und damit das Zuta­getreten weiterer armseliger aber »wirklicher« Augenblicke garan­tiert.

Wir werden nun damit beginnen, aktiver mit der konventionellen und erfahrenen »Zeit« zu arbeiten.

Übung 22: In ZEIT eintauchen

A. Kehren Sie wiederum zu einer Betrachtung der Vergangenheit- Gegenwart-Zukunft-Struktur aller Augenblicke zurück. Wählen Sie eine Facette dieser dreigeteilten Struktur aus - zum Beispiel die »Zukunft«. Lassen Sie nun, wie Sie es bei den Riesenkörper-Übun­gen getan haben, das, was Sie als eine lokalisierte und verkörperte Identität empfinden, »in« jene Facette »hineingehen«.

Plötzlich tut sich ein neuer Augenblick auf, und Sie entdecken, daß »Sie« wiederum »außerhalb« davon, in einer neuen Vergangen- heit-Gegenwart-Zukunft-Struktur lokalisiert sind. Gehen Sie nun wiederum in die »Zukunft«-Komponente der neuen, ebenfalls aus drei Facetten bestehenden Struktur hinein. Auch dann werden Sie sich plötzlich in einer neuen Dreiergruppe von »Zeiten« lokalisiert finden.

Wiederholen Sie dies immer und immer wieder, und gehen Sie jedesmal in einen der drei Pole der neuen Dreiergruppe von Zeiten hinein. Arbeiten Sie mit dieser Übung, bis ein »Wissen«, das nicht Ihr Besitz ist - sondern mit aller »Zeit« einhergeht - Ihnen »Zeit« offenbart.

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Kommentar zu Übung 22 ADas »Wissen«, das in dieser Übung genutzt wird, kann selbst das fast unmerkliche Manifestieren des Selbst aufspüren sowie die Lo- kalisiertheit des Selbst und seine vermeintliche Unabhängigkeit von der Eigenschaft des Manifestierens. Mit jeder einzelnen Durchdrin­gung einer Facette der gewöhnlichen Zeit wirft diese Übung mehr Licht auf das In-Erscheinung-Treten des Selbst.

Mit diesem höheren »Wissen« kann sich diese Übung der Unend­lichkeit der GROSSEN ZEIT annähern, indem sie im Innern einer einzigen Facette der »Vergangenheit« oder der »Zukunft« unend­lich viele ineinandergeschachtelte Vergangenheit-Gegenwart-Zu- kunft-Augenblicke entdeckt.

B. Achten Sie, während Sie die Übung 22 A wiederum üben, auf die besondere »Ladung«, die die Selbst-Komponente hat, wenn sie als das hervortritt, das etwas »tut« - als das Agens, das in einer passi­ven Umgebung dominiert. Beobachten Sie dies von Augenblick zu Augenblick. Beginnen Sie schließlich, den Status und die Identität der zutage tretenden »Selbste« zu hinterfragen - sind diese wirklich »Sie«? Versetzen Sie daraufhin jedes einzelne dieser »Selbste« in eine der drei Facetten der Zeit zurück, jedoch nicht in der Annahme einer festen und kontinuierlichen persönlichen Identität.

Kommentar zu Übung 22 BNehmen wir wahr, daß das Zeitigen sowohl das Selbst als auch das für das Selbst charakteristische Ignorieren des Zeitigens darbietet, wird uns diese Übung allmählich klar machen, daß das Selbst nie­mals wirklich aus der »Zeit« hervortritt oder sich von ihr abtrennt. Dies trägt außerordentlich zu der Fähigkeit bei, mit »Zeit« zu arbei­ten und Dinge - auf die im vorangegangenen Kapitel angesprochene Weise - wieder in die »Zeit« einzufüttern. Diese Übung wird ferner eine Ausgangsbasis für die Annäherung an GROSSE ZEIT liefern, denn sie verhilft uns zu der Einsicht, daß es keine für-sich-bestehen- de »niedere Zeit« gibt.

Die Einsicht in das scheinbare gezeitigte Zutagetreten des Selbst- welches sich kontinuierlich vollzieht - kann auf eine sehr prakti­sche Weise hilfreich sein. Unsere gewöhnliche Starrheit und Lethar­gie sind auf die Tatsache zurückzuführen, daß das Selbst, welches wir gewöhnlich zu verbessern trachten, eine Generalisierung vieler augenblicklicher Darbietungen von »Zeit« ist. Zumindest scheint es

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sich aus der Sicht der zweiten Stufe so zu verhalten. Es ist viel leichter, Veränderungen und Verbesserungen in Gang zu setzen und schließlich auch noch andere Erfahrungswelten zu erforschen, wenn wir mit dem Selbst arbeiten, wie es gerade aus der »Zeit« hervor­tritt, wie es in der gewöhnlichen Zeit aufgebaut wird.

Bis hierher »braucht es Zeit« für die Durchführung dieser Übung- die Zukunft zu durchdringen und mehrere Vergangenheiten, Mo­mente der Gegenwart und Zukünfte zu entdecken -, wie es für jede andere Aktivität im Rahmen eines gewöhnlichen Zeitmaßstabs »Zeit braucht«. Wir könnten Zeit als eine Reihe endlicher Zeit­punkte darstellen:

Indem wir Vergangenheiten in Vergangenheiten und so weiter ent­decken, entdecken wir nicht wirklich mehr von dem, was in dem ersten dreigeteilten (Zeit-)Punkt der Übung war - oder durch ihn verfügbar war. Wir gehen vielmehr von einem Punkt der Uhr-Zeit zum nächsten weiter, während wir dabei mit Gedanken über »die Zukunft«, »die Gegenwart« und so weiter arbeiten. Die Situation ändert sich jedoch, wenn wir uns allmählich daran gewöhnen, daß wir »Zeit« sind, und indem mehr GROSSES WISSEN ins Spiel kommt (welches mehr von der »Zeit« aufspürt, die verfügbar ist). Unsere Fähigkeit, uns für Erfahrung und Energie zu öffnen, mag dann deutlich zunehmen. Während also eine andere Person, die neben uns steht, vielleicht nur winzige Erlebnispakete zu erfahren in der Lage ist, indem sie von Punkt zu Punkt fortschreitet, könnte unsere Erfahrung durch das folgende wellenförmige Diagramm dar­gestellt werden:

Das heißt, wir können viele Erfahrungen haben, anscheinend zwi-

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schen zwei direkt miteinander verbundenen Punkten (A und B). Zuerst mag es so aussehen, als würden wir die Zeit von Punkt A in die Länge ziehen, ihn sozusagen wie ein Gummiband strecken. Tat­sächlich gibt es aus der Perspektive der GROSSEN ZEIT gar keine Punkte. Als eine Annäherung an diese Aussage, die der dritten Ebene angehört, können wir mit einer Wellenlinie eine Situation darstellen, in der eine Person nur einen Punkt von einer bestimmten Größe sieht, wohingegen wir mehr sehen. Dieses »Mehr« nimmt vielleicht immer noch den Charakter einer Reihe von Punkten an, welche in wellenförmiger Formation angeordnet und von einer Ver- gangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur gekennzeichnet sind. Wir können ausfindig machen, was unser Freund sieht (A und B), ohne zu glauben, daß diese Punkte »alles sind, was es gibt« - wir müssen sie nicht einmal als feste Punkte annehmen. Und wir (oder »Wis- sens-Soheit«) können uns zusätzlich auch noch der Zeit erfreuen, die durch die »X«e bezeichnet ist.

Wir können jedoch noch mehr tun. Während wir nämlich von »X« zu »X« Weiterreisen, können wir uns daran erinnern, wie »wir« als in einem Punkt lokalisiert gegeben sind (die Übungen 18 bis 20 haben geholfen, dies zu zeigen). Wir sind »Zeit« und können deswe­gen mehr »Zeit« umfangen (auch wenn wir ihr dazu den Charakter einer wellenförmigen Serie aufzwingen müssen), anstatt uns von ihr fernzuhalten und über ihre Oberfläche hinwegzugleiten. Also erhal­ten wir zwischen jedem Paar von »X«en wiederum eine wellenför­mige Linie:

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Auch hier ist es nicht notwendig, die »X«e als feste Punkte hinzu­nehmen. Nun können wir aber auch noch zwischen jedem »Y«-Paar einen weiteren geordneten Strom von Erfahrungen auffinden (gleichzeitig mit der Erfahrung der »X«e, der »Y«s und des A, B, C usw.):

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Und zwischen jedem Punkte-Paar jenes Stromes könnten wir . . . Unterdessen ist unser Freund immer noch bei A, B, C, D und so weiter.

Hier ist jedoch eine Falle eingebaut. Zuerst scheint es, als gebe es eine normale Zeitlinie und dann eine Reihe von nicht-normalen Abweichungen von ihr. Dieser Bezugsrahmen bricht jedoch an ei­nem gewissen Punkt in sich zusammen. Mitten in unserer Erfor­schung neuer Zeit-Linien treffen wir vielleicht auf etwas, das der ursprünglichen normalen Linie (den Punkten A, B, C, D usw.) sehr ähnlich sieht. Alle die gewöhnlichen, wohlbekannten Dinge sind dort zu finden.

Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir »an die Oberfläche« zurück­gekommen oder zu der gewöhnlichen Zeit zurückgekehrt sind. Aus solchen Begegnungen mag sich schließlich die Einsicht entwickeln, daß es nicht nur eine Oberfläche, nur eine Zeitlinie gibt, die wirklich ist oder auf der »wir« uns ausschließlich befinden. Dies heißt nicht nur, daß es möglicherweise viele solcher Linien gibt, sondern auch, daß die Vorstellung von für-sich-allein-stehenden »Linien« in sich falsch ist.

Ganz offensichtlich läuft der Trend unserer Erkundungen darauf hinaus, daß wir lernen, dem Ansturm gewöhnlicher Zeit zu wider­stehen. Wir können von der angeblich ununterbrochenen und unun­terbrechbaren Aufeinanderfolge ihrer Punkte abweichen. Das In­teressante dabei ist, daß es so schwer ist, »einfach anzuhalten«, obwohl diese Möglichkeit immer besteht.

Während wir, wie zumeist in gewöhnlicher Zeit, entlangtaumeln, weist das Zeit-Muster, welches wir sind, keinerlei »Öffnung« auf. So läuft das einfach nicht. Wir sind so sehr an dieses Muster gewöhnt, daran, aus dem Gleichgewicht zu sein und unmittelbare Erfüllung zu verlieren, weil wir von der »Gegenwart« besessen sind, daß selbst

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unsere Versuche, »anzuhalten« in einem dauernden »Weitergehen« bestehen (dargestellt durch eben jene X-, Y- und Z-Wellenver- läufe).

Da GROSSER RAUM und GROSSE ZEIT unendlich sind, könnte man die Erforschung dieser Wellenverläufe buchstäblich bis in alle Ewigkeit weitertreiben. Und wenn man einmal in Betracht zieht, daß es einen derart bodenlosen Abgrund von Punkten gibt, die anscheinend »zwischen« A und B liegen, ist es ein Wunder, daß wir überhaupt jemals von A zu B gelangen.

Es ist ein »Ignorieren«, eine Beschränkung des GROSSEN WIS­SENS, die den gewöhnlichen Übergang von einem Punkt zum näch­sten möglich macht. Was den Anschein erzeugt, daß es einen unaus- lotbaren Abgrund von Möglichkeiten des »Weitergehens« gibt (dar­gestellt durch die »X«e und »Y«s usw. »innerhalb« von A, B, C usw.), ist auch ein Ignorieren, das jedoch schwächer ausgeprägt ist. Was verhindert, daß wir uns in den Irrgarten des endlosen »Weiter­gehens« verlieren (dessen Möglichkeit wir entdeckt haben, als wir uns, um dem Ignorieren entgegenzuwirken, immer mehr den Mög­lichkeiten GROSSEN RAUMES und GROSSER ZEIT geöffnet haben), ist, daß sich die Qualität unseres würdigenden Gewahrseins und unseres Verstehens allmählich verändert.

Das Zurückfinden zur Unendlichkeit der GROSSEN ZEIT hört auf, ein wellenförmiges »Weitergehen« oder ein Anhäufen (von Punkten) zu sein, weil die ZEIT solche Eigenheiten an sich gar nicht besitzt. Wir lassen allmählich davon ab, wellenförmige Punktreihen zu erzeugen, die alle trotz des befreienden Gefühls, das sie mit sich bringen, immer noch Verengungen sind. Statt dessen beginnen wir, uns einer neuen Art der Erfahrung zu erfreuen, eines immer sanfte­ren Wellen-Kontinuums,

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das zu — wird, was wiederum zu einem nicht-weitergehen- den • wird, der eigentlich kein Punkt ist, sondern eher ein zentrier­tes Verweilen, welches sich wiederum in ein mittelpunktloses Zen­trum verwandelt.

Zu diesem mittelpunktlosen Zentrum gehört absoluter Friede - ein vollkommenes Nicht-Geschehen. Dieser Raum ist vollständig frei von allen nachhallenden Assoziationen; er ist durch den Weg, über den wir zu ihm gelangten, weder definiert noch charakterisiert. Er ist nicht, wie es bei seiner ersten Entdeckung den Anschein gehabt haben mag, auf einem Weg lokalisiert, der irgendwo in dem Zwischenraum zwischen A und B abzweigt.

Wir können dieses mittelpunktlose Zentrum tatsächlich öffnen oder ausdehnen, so daß es alle Zeiten und Richtungen einschließt, ohne daß wir durch dieses Ausdehnen über irgendwelche Entfer­nungen hin vorwagen müßten. Wir können in dieser neuen Art des »Raumes«, der sich aus diesem besonderen Ausdehnen ergibt, alle Punkte, Reihen und Durchgänge gleichzeitig umfassen. Das mittel­punktlose Zentrum ohne Punkte und ohne »Geschehen« ist alle diese Punkte und Geschehnisse.

Weitere Übungen setzen diese Gedanken zu dem eher erfahrungs­mäßigen Aspekt von »Zeit« als eine Hilfe zur Entdeckung von GROSSER ZEIT in die Praxis um. Bevor Sie diese Übungen durch­führen, ziehen Sie die Möglichkeiten in Betracht, die oben in Zu­sammenhang mit dem wellenförmigen Diagramm angesprochen wurden. Schenken wir diesen Möglichkeiten Beachtung und führen uns dabei auch die Ergebnisse des Durchlässigmachens (Riesenkör­per-Übungen),, des Ablassens von der Betonung des Geistes als Agens und der Übungen, die mit dem Objekt und seinem Glühen und der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Struktur arbeiteten, vor Augen, dann wird das dem »Wissen« dazu verhelfen, in den und um die begrenzten Zeitpunkte, welche unsere Erfahrung im allge­meinen konstitutieren, mehr von »Zeit« zu sehen. Wenn Sie diese Übungen über einen gewissen Zeitraum durchgeführt haben, wer­den Sie - vielleicht ganz überraschend - eine Erfahrung von der Art machen, wie sie unser Diagramm beschreibt. Sie öffnen sich durch eine erweiterte (wellenförmige) Reihe sequentieller Zeit für mehr »Zeit«.

Im großen und ganzen stellt das Diagramm die Zusammenfassung eines Übergangs von dem gewöhnlichen (beschränkten) Weiterge­

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hen und Geschehen zu einem Ausdehnen der »Zeit« dar. Dies mag anfänglich durch ein Ausdehnen von Gedanken und Empfindungen innerhalb der gewöhnlichen zeitlichen Reihe geschehen, mag jedoch schließlich zu einer Einsicht in das »Nicht-Geschehen« heranreifen. Wenn Sie sich unmittelbar an einen solchen Übergang heranwagen wollen, wiederholen Sie zuerst alle vorangegangen Übungen und versuchen Sie sich dann an der nächstfolgenden.

Übung 23: Gehen, ohne weiterzugehen

A. Ziehen Sie die Schuhe aus und ziehen Sie sich, wenn überhaupt etwas, nur leichte, dünnbesohlte Hausschuhe an die Füße. Stehen Sie aufrecht, die Wirbelsäule gerade und die Hände entspannt zu Ihren Seiten. Beginnen Sie nun - Ihr Oberkörper bleibt dabei auf­recht und Sie schauen geradeaus - langsam zu gehen. Heben Sie den Fuß bei jedem Schritt etwa 15 Zentimeter an und gehen Sie auf diese Art und Weise langsam Schritt für Schritt weiter. Gehen Sie so langsam Sie nur können. Und j e t z t . . . gehen Sie nur halb so schnell (Ja, das können Sie!). Werden Sie dann noch langsamer.

Wandeln Sie die Geh-Technik nun noch ein wenig ab, indem Sie, bevor Sie den Fuß vom Boden abheben, die Zehen des »Schrittfu­ßes« nach oben spreizen. Bei der Abwärtsbewegung sollten die Ze­hen den Boden zuerst berühren.

Sollte es Ihnen schwerfallen, das Gleichgewicht zu halten, ent­spannen Sie die Schultern sowie die Kehl- und Herzgegend. Wenn Sie nicht mehr darauf beharren, daß Sie derjenige oder diejenige sind, der oder die die Übung durchführt, sondern alle erfahrenen Bewegungen als von »Zeit« gegeben ansehen, wird sich vollkomme­nes Gleichgewicht einstellen. Entspannen Sie das Gefühl körperli­cher Schwere - lassen Sie den Körper ganz leicht sein, von Raum durchdrungen. Und lassen Sie schließlich auch Ihren Mund sich ein wenig öffnen; die Kehle ist nicht zugeschnürt, und Sie atmen sanft gleichzeitig durch Mund und Nase.

Der extrem langsame Schritt wird Ihnen helfen, mit jedem noch so winzigen Aspekt des Geh-Prozesses in Berührung zu kommen: dem Druck, den Ihr Fuß auf den Boden ausübt; dem Nachlassen dieses Drucks; weiterem Nachlassen; der bogenförmigen Bewegung Ihres Fußes, wenn er sich hebt; der Vorwärtsbewegung; fast berühren Sie nun wieder den Boden; jetzt, eine ganz leichte Berührung und so

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weiter . . . Selbst die winzigste Erfahrung ist wichtig . . . ist unend­lich, tatsächlich unendlich.

Dies trägt zur Entwicklung eines »Wissens« bei, dessen Aufmerk­samkeit umfassender ist als die des Selbst (mit seiner Vorliebe für eine Vorwärts-Gerichtetheit). Arbeiten Sie jeweils für zwanzig Mi­nuten bis zu einer Stunde mit dieser Übung, und versuchen Sie, die dabei gewonnene Einsicht auch in allen gewöhnlichen Tätigkeiten aufrechtzuerhalten.

B. Gehen Sie, in Erweiterung der obigen Übung, auf eine Art und Weise, bei der Sie die Ferse des Schrittfußes, wenn Sie ihn senken, neben dem Fußballen des anderen Fußes aufsetzen. Heben Sie syn­chron mit dieser Bewegung langsam die Arme, bis sie nach beiden Seiten in Schulterhöhe waagerecht ausgestreckt sind. Senken Sie die Arme dann wieder. Diese Armbewegung sollte mit dem Gehen so abgestimmt sein, daß ein Heben und Senken der Arme mit insge­samt drei Schritten einhergeht. Lassen Sie alle Bewegungen sehr entspannt und fließend sein, gewissermaßen von »Zeit« ausgeführt, von »Raum« durchdrungen und innig »gewußt«, ohne daß Sie Ihre Aufmerksamkeit angestrengt konzentrieren.

Kommentar zu Übung 23Diese Übung mag aufgrund ihrer Langsamkeit und »zentrumslosen Durchführung« anfänglich bedrohlich anmuten (denn das Selbst möchte gern die Kontrolle behalten) und gelegentlich sogar Übel­keit, Erbrechen oder Gleichgewichtsstörungen hervorrufen. Bre­chen Sie in diesen Fällen die Übung ab, entspannen Sie sich, und nehmen Sie die Übung ein anderes Mal wieder auf, wenn Sie sich besser fühlen.

Kontinuierliches Üben dieses »Gehens, ohne weiterzugehen« wird Sie mit Ihrer Erfahrung bis zu einem so hohen Grad in Berüh­rung bringen, daß sie sich über die gewöhnlichen Grenzen hinaus ausdehnt. Möglicherweise können Sie in allen Empfindungen (z. B. dem Berühren des Bodens mit den Füßen) eine neue Art von Zeit wahrnehmen und sehen, daß sie für unendlich ausgedehnte Beglük- kung verfügbar ist.

Das »Wissen«, welches auf diese Art und Weise zutage tritt, ist nicht auf die Sichtweise des Selbst beschränkt. Anfänglich tritt es jedoch zuerst im Zusammenhang mit den Begegnungen und Emp­findungen des Selbst an die Oberfläche. Es vermag alles Weiterge­

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hen und Geschehen als »Zeit« - als Nicht-Weitergehen und Nicht- Geschehen - zu sehen.

Sie können also den Sinn des nicht ausgestreuten »Zeitigens« erfahren, das an anderer Stelle als (ein Ersatz-Phänomen inner­halb desselben an keinen Ort gebundenen Ortes) dargestellt wurde, und ihn als einen ungestörten und doch alles beherbergenden Frie­den erleben.

Als Übergang zwischen einer »Zeit«-Erfahrung und der Erfahrung eines höheren »Wissens« können wir eine »Zeit«-Übung durchfüh­ren, in der wir den kommunikativen Aspekt der Zeit betonen, in­dem wir zwischen der Kehlgegend, dem Atemrhythmus und Klän­gen eine Verbindung hersteilen.

Übung 24: Eine Vermählung von Klang und Atem

Sitzen Sie still und achten Sie auf die Anwesenheit von Klängen. Sie können dazu Gesprächsfetzen, Musik oder andere Geräusche ver­wenden, die Sie gerade vernehmen. Lassen Sie sich nicht von den Bezeichnungen und Sinngebungen einfangen, die von den Klängen übertragen werden, sondern konzentrieren Sie sich statt dessen auf die Beschaffenheit der Klänge selbst. Dies läuft darauf hinaus zu lernen, tiefer in alle kommunizierten Anwesenheiten hineinzu­schauen, statt von ihren Oberflächenaufteilungen aufgehalten zu werden. Um die Entwicklung dieser Einsicht zu fördern, ist es not­wendig, »Zeit« noch weiter auszudehnen; dies kann durch eine Ver­langsamung und Harmonisierung des Atemflusses geschehen.

Es ist wichtig zu betonen, daß der Atem frei und ausgeglichen fließen soll und keinerlei Zwang oder irgendeiner besonderen An­strengung unterliegen darf. Auch sollte die Aufmerksamkeit auf das Atmen kein getrennter mentaler Akt sein. Lassen Sie Atemfluß und Gewahrsein dasselbe werden.

Erlauben Sie Ihrem Atem, ruhig und still zu werden, so daß Sie tiefe Stille erfahren und besonders in Ihrem Kehl-»Zentrum« das Gefühl meditativer Bewußtheit verspüren. Lassen Sie Ihre Bewußt­heit für die innere Beschaffenheit und Energie des Atems selbst empfänglich werden. Dann können Sie entdecken, wie viele subtile Schattierungen der Atem aufweist.

Da die Kehle ein »Zentrum« ist, welches mit »Zeitigen« und wür-

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digendem Gewahrsein der »Zeit« korrespondiert, versuchen Sie, die Aufmerksamkeit, mit der Sie auf die Klänge achten, mit einer wachen aber trotzdem sanften Aufmerksamkeit auf Ihren Atemfluß und Ihr Kehl-»Zentrum« zu integrieren. Anstatt zuerst einer Auf­merksamkeit und dann einer anderen zu folgen, versuchen Sie, die beiden »Aufmerksamkeiten« miteinander zu »vermählen«, so daß sie vereint zu einer Klang-Kehle-Atem-Anwesenheit werden. Durch eine ausgeglichene Aufmerksamkeit und ein ausgeglichenes Atmen im Kehl-»Zentrum« lassen sich Ihr Rumpf und Ihr Kopf besser integrieren.

Kommentar zu Übung 24Wird diese Übung in fünfundvierzig Minuten langen Sitzungen vier­mal täglich ausgeführt, so fördert sie ein Gewahrsein von »Zeit«, das seinerseits eine durchdringendere Wissens-Soheit hervortreten läßt. Diese Wissens-Soheit wird sich nicht durch Bedeutungen und Bezugnahmen täuschen lassen und wird in allen Klängen und Dar­bietungen eine strahlende und »uneingefaltete« Energie wahrneh­men. Die uneingefaltete Eigenart dieser Energie zeigt an, daß sie niemals verdunkelt war, niemals in irgendwelche versteckten Zent­ren der Darbietungen eingefaltet war, sondern uranfänglich verfüg­bar ist - sie schenkt physische Vitalität und langes Leben sowie neue Empfänglichkeit »Zeit« und »Wissen«.

Auch kann hier die Verwirklichung des »innigen Vertrautseins«* und die gegenseitige Bezogenheit der gewöhnlichen Dinge noch sehr viel weiter geführt werden, als das in den Übungen der Berg­meditation und des Objekts mit seinem Glühen möglich war.

Übung 25: Inniges Vertrautsein

In Übung 15 (Eine Bergmeditation) haben wir geübt, alle Außenlie­ger innerhalb unserer Gedanken und Erfahrungen ausfindig zu ma­chen. Wir haben dabei entdeckt, daß wir sie berühren und zu einer Art von »Raum« öffnen können. In Übung 17 (Das Objekt und sein Glühen) haben wir geübt zu sehen, daß sogar die gewöhnliche Ge­trenntheit von Subjekt und Objekt noch eine Art Untrennbarkeit mit sich bringt.

Versuchen Sie nun - in allen Ihren Gedanken, Empfindungen und unmittelbaren Begegnungen die Objekte und Außenlieger zu

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bemerken, die der Erscheinung ihre Bedeutung verleihen. Bemer­ken Sie jedes einzelne Objekt, das Sie antreffen oder auf das Sie Bezug nehmen, und umfangen Sie es in seinem unmittelbaren Gege­bensein als einen Teil »Ihrer« selbst. Dies können Sie erreichen, indem Sie sich selbst sagen: »Auch dies ist ›Ich‹« - und dadurch, daß Sie Ihre Empfindung lokalisierter Bewußtheit ausdehnen und Sie das scheinbar getrennte und entfernte Objekt umfangen lassen.

Kommentar zu Übung 25Diese Übung soll der Tendenz entgegenwirken, die Erfahrung zu polarisieren, wodurch ein Selbst erschaffen wird, welches von der übrigen Wirklichkeit abgeschnitten ist. Zuerst mag es den Anschein haben, daß diese Übung eine geradezu monomanische Selbstbezo­genheit hervorbringt, aber sie kann, wenn sie richtig geübt wird - ganz im Gegenteil -, die Vorstellung eines festen und kontinuierli­chen »Selbst« unterminieren.

Es kann auch so aussehen, als ob diese Übung Verwirrung dar­über erzeugt, was die Dinge sind und was Gedanken über die Dinge und über die Welt sind. Dies ist jedoch nicht der Fall. Indem wir Subjekt und Objekt anfänglich auf diese Art und Weise zusammen­zwingen, können wir bald eine »Zeit« wahrnehmen, durch die Sub­jekt und Objekt ganz natürlich »gemeinsam gegeben« sind. Auch zeigt dieser Prozeß den gefühlten Unterschied, zwischen dem Ge­danken über ein Ding und dem »Ding selbst« - zwischen der Bezug­nahme und dem Objekt, worauf sie sich bezieht - in einem neuen Licht.

Wir können von einem gekünstelten innigen Vertrautsein zu ei­nem nicht künstlich erzeugten gelangen und weiter noch zu einem innigen Vertrautsein, das einfach ist und weder Subjekt noch Objekt mit sich bringt. Dieses innige Vertrautsein greift nicht nach »drau­ßen«, nach Dingen, die anderswo sind, es assimiliert sie aber auch nicht allesamt zu einer gewöhnlichen Lokalisierung »hier«.

Wer sich mit dieser Übung ausführlich beschäftigt, wird den Er­fahrungscharakter des zentralen Themas des nächsten Kapitels bes­ser begreifen.

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Eine Vision, die sich selbst in Frage stellt - die Öffnung für GROSSE ZEIT

Indem wir uns für »Zeit« öffnen, kann sie durch uns freier sprechen und handeln. Unsere Rede und unsere Gesten wer­den völlig ununterdrückbar und spontan, aufwallend aus »Zeit«, dem dynamischen Zentrum unseres Seins. Alles, was wir sind und tun, wird zu einem direkten und offenkundig getreuen Ausdruck der inneren Struktur der »Zeit«.

In Zusammenhang mit dem wellenförmigen Diagramm haben wir gesehen, daß kausale oder andere dynamische Verbindungen zwi­schen benachbarten Zeit-Punkten nicht ununterbrechbar sind. Trei­ben wir diese Betrachtung weit genug voran, kann sie uns zeigen, daß solche Verbindungen durchaus nicht der »wirkliche Grund« für aufeinanderfolgende Vorkommnisse sind (einmal vorausgesetzt, daß es so etwas wie einen »wirklichen Grund« überhaupt gibt).

Wir können nun weiterhin in Betracht ziehen, warum Ausbrüche aus der Serie (wozu Erweiterungen der gewöhnlichen Erfahrung wie auch »Wunder« und »Visionen« gehören) möglich sind. Eine Un­tersuchung, die sich mit nicht-gewöhnlichen Erfahrungen von »inni­gem Vertrautsein« beschäftigt sowie mit der Frage, warum GROS­SE ZEIT von niederer Zeit letztlich nicht zu unterscheiden sein mag, wird unser Verständnis der zweiten Stufe von »Zeit« vergrö­ßern. Diese Untersuchungen mögen auch deutlich machen, wie der Übergang zur dritten Stufe zustande kommt, und uns damit eine Grundlage für die Diskussion von Erkenntnis, »Wissen« und WIS­SEN bereitstellen, die sich in den folgenden Kapiteln anschließt.

Mit Hilfe der Übungen und Darlegungen haben wir gelernt, einen eher erfahrungsmäßigen Aspekt von »Zeit« wahrzunehmen und zu würdigen. Dadurch hat sich gezeigt, daß wir »Zeit« gewöhnlich ziem­lich durchgehend ignorieren. Alle unsere gewöhnlichen Begegnun­gen mit »Dingen«, Leuten und Orten sowie alle unsere Reaktionen, Interpretationen und Kommunikationen erfordern geradezu, daß »Zeit« ignoriert wird. Wir drängen »Zeit« in den Status eines stabilen Hintergrundes ab, vor dem Objekte und Identitäten erhalten bleiben und Feststellungen und Interpretationen etwas bedeuten.

9. Kapitel

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Identitäten und Bedeutungen sind alle von einem Prozeß der Be­zugnahme abhängig, einer subtilen Tendenz, etwas zu be-gründen, indem man es in einen weitergefaßten und allgemeineren Zusam­menhang stellt, ln diesem Rahmen können wir dann Beweise sam­meln und Begegnungen haben, die unsere Bezugnahmen unterstüt­zen und unseren Glauben an die Existenziale rechtfertigen, auf die sie Bezug nehmen.

Wächst unser würdigendes Gewahrsein von »Zeit«, sodann wer­den alle Dinge und Situationen als »gezeitigt« gesehen. Sehen wir sie auf diese Weise, stellen unsere Begegnungen mit den Dingen ihre allgemeine feststehende Identität und den Hintergrund, in dem sie begründet sind, eher in Frage als sie voraus-zu-setzen. »Bezug­nehmen« lenkt uns dann nicht mehr ab, indem es nach außen oder auf etwas anderes Bezug nimmt. Beweisgründe für die »Dinge« sind keine überzeugenden Beweise mehr.

Ein Beispiel innerhalb unseres konventionellen Bereiches für die­se Art von Infragestellung ist in dem Sprichwort enthalten, daß man nicht zweimal in demselben Fluß baden kann. Indem man bedenkt, daß sich mit der Zeit alles verändert, wird die feststehende Identität - »der Fluß« - in Frage gestellt. Obwohl dieses Beispiel auf den Grundzügen der gewöhnlichen Zeit aufbaut, ist es eine Parallele zu dem würdigenden Gewahrsein von »Zeit« auf der zweiten Ebene:

Jede Situation ist, zumindest potentiell, durch ihre Verbindung mit GROSSER ZEIT unendlich oder allumfassend, vorausgesetzt, sie wird als von »Zeit« gegeben gesehen. Aber der konventionelle In­halt der Situation (die »Bedeutungen«, die von »Zeit« in einer Wei­se gegeben sind, daß sie eine beobachetete und existentiell geladene Situation bilden) steht essentiell mit dem Inhalt keiner anderen Si­tuation oder keines anderen Zustandes in Verbindung.

Wir können solche Situationen - wenn sie auf diese Art und Weise gesehen werden - die »Anzeige«* der »Zeit« nennen. Der Begriff »Anzeige« erinnert uns daran, daß bestimmte Erscheinungen die gestaltgebende kommunikative »Leistung« der »Zeit« sind, die aus einer bestimmten Brennweiteneinstellung auf »Raum« resultiert. Das heißt, man gebraucht eine bestimmte Art des Erkennens oder »Wissens«, und die »Zeit« zeigt nur das Resultat der gerade in Kraft befindlichen Form von Aufmerksamkeit an. Wir können das Prinzip der zweiten Ebene, das im vorangegangenen Absatz formuliert wur- de, nun mit dem Begriff der »Anzeige« neu formulieren:

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Keine »Anzeige« stellt irgend etwas über die Natur anderer »Anzei­gen« fest, und ihr eigener Status wird auch nicht durch eine solche Beziehung zu anderen Anzeigen (Außenliegern) aufrechterhalten.

Was hier gemeint ist, hat - um mit dem Einfachsten anzufangen - zuerst einmal mit der Gerichtetheit unserer Erfahrung zu tun. Dar­bietungen oder Dinge, die man als anderswo, außen oder vor uns befindlich sieht oder vermutet, sind tatsächlich gar nicht »anders­wo«. Vielmehr sind sie völlig mit uns in der »Anzeige« (die sie als anderswo befindlich hinstellt).

In Übung 25 haben wir schon eine grobe Annäherung an das Phänomen der »Anzeige« kennengelernt, als wir geübt haben, alles, das »mir« begegnet, als »Ich« anzusehen. Das Prinzip der »Anzei­ge« ist jedoch noch subtiler, denn es läßt weder das Selbst noch seine örtliche Festlegung unberührt, da es das, was diese sind und durch was sie zustande kommen, kritisch neu bewertet.

Sieht man im Rahmen der Darstellung einer zeitlichen Reihe (wie dem A, B, C, D im Abschnitt über das wellenförmige Diagramm) jeden Punkt als eine gezeitigte »Anzeige«, so ließe sich folgende Aussage machen:

Kein Punkt bestimmt den Zustand oder nimmt auf den Zustand Be­zug, der in dem »zeitlichen Außenlieger«, welchen der nächste Punkt darstellt, besteht.

Wir können über diese Aussage noch hinausgehen: Kein Punkt legt fest, daß es überhaupt einen nächsten Punkt geben wird, ünd hin­sichtlich der Anlieger können wir noch weiter gehen und sagen: Kein Punkt legt sich selbst als einen Punkt fest, noch legt er fest, daß er jemals gewesen ist.

Dies liegt daran, daß keine der grundlegenden Vorwegnahmen über die Natur dessen, was die »Zeit« anzeigt, außerhalb der jewei­ligen »Anzeige« oder grundlegender als diese »Anzeige« ist. Die »gezeitigte« Botschaft, die uns davon überzeugt, daß es einen be­stimmten Punkt von einer bestimmten Art gibt, erfordert nicht, daß »Punkte« (oder eine »Punktheit«) tatsächlich gegeben sind. Die Botschaft ist völlig integral und eigenständig, und sie nimmt weder etwas als sicher an, noch stellt sie etwas fest über grundlegende Wesenheiten, Strukturen oder Vorwegnahmen, das zu verallgemei­nern wäre. Spüren wir »Zeit« mit der angemessenen Feinfühligkeit

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nach und sehen ihre Darbietungen in diesem Licht, so ist es möglich, zu dieser Art von Einsicht zu kommen.

Nehmen Sie als Beispiel einmal an, eine Person trinkt Tee. Sie sagt: »Ah, der schmeckt gut!« Danach überreicht sie Ihnen die Tas­se. Sie nehmen einen Schluck und bemerken: »Ah, der schmeckt gut!« Aber von der »Anzeige«-Ebene der Einsicht aus gesehen, ist das Getränk in diesen beiden - scheinbar direkt miteinander ver­bundenen - Fällen nicht dasselbe. Dies könnte auch über die ande­ren Grundzüge ausgesagt werden, die in dieser Teestunde vermeint­lich konstant sind. Dies bedeutet nicht, daß man feststellen kann (durch eine Beweisführung der ersten Ebene), daß der Tee nun andere physikalische Eigenschaften hat oder daß er schlecht gewor­den ist - »sich mit der Zeit verändert« hat. Der Gedanke dahinter ist vielmehr, daß es aus der Sicht der zweiten Ebene »den Tee« gar nicht gibt. Es gibt nur »Darbietungen« innerhalb verschiedener »Anzeigen«, die alle Träger der Überzeugung sind, »Tee« zu sein, und deren Gleichheit nicht eine innewohnende und dauerhafte Ei­genschaft ist, sondern eine überzeugende Botschaft (die ein über­zeugtes »Ich« einschließt).

Selbst wenn wir ganz still dasitzen und scheinbar nichts »tun«, sind wir im allgemeinen immer noch mit gedanklichen Mustern be­schäftigt, die nach außen auf die grundlegenden Strukturen unserer Wirklichkeit Bezug nehmen. Wir sind von dieser Wirklichkeit »überzeugt«; wir sind in einer Art von Tagtraum gefangen. Beob­achten wir diesen Prozeß genau, können wir ein wenig aufwachen und bemerken, was wir »getan« haben. Aber dann sind wir mögli­cherweise geneigt zu sagen: »Sieh an, dies waren ja nur Gedanken, aber ich war so darin verfangen, daß ich sie für wirkliche Dinge und Erfahrungen gehalten habe.« Auch diese Perspektive stellt noch nicht die Existenz einer Weltordnung »da draußen« in Frage, die erst einmal die Grundlage für unsere Gedanken bereitstellt. Wenn wir uns also hinauswagen und eine vermeintlich »unmittelbare« Er­fahrung von Dingen machen, sind wir ziemlich sicher, daß unser Kontakt mit ihnen beweist, daß sie in einem allgemeingültigen Sinn existieren. Das heißt, wir wissen, daß wir, wenn wir uns ihnen auf verschiedenen anderen Wegen nähern und sie erfahren, charakteri­stische Ergebnisse erhalten, die ihr »Dort-Sein« als dieses oder je­nes Ding bestätigen.

Betrachten Sie als Beispiel einmal den Anbück einer Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Sie wissen, daß Sie,

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wenn Sie auf diese Wand zugehen, schließlich in einer für Wände charakteristischen Weise mit ihr zusammenstoßen werden - das heißt, die Wand wird Sie daran hindern, weiterzugehen.

Nichts davon gilt für die »Dinge«, wenn man sie auf der »Anzei- ge«-Ebene der zweiten Stufe der »Zeit« sieht. Wegen unserer Vor­wärts- und Auswärts-Gerichtetheit und wegen unseres Bedürfnisses nach Kontinuität ist es natürlich so, daß das, was in einer »Anzeige« dargeboten wird, mit dem Inhalt der folgenden »Anzeige« in einem engen Zusammenhang zu stehen scheint. Und sicherlich scheint die nächste »Anzeige« klar als solche festgesetzt zu sein. Es ist gewöhn­lich nicht sinnvoll, die ungebrochene zeitliche Verbindung und Richtung in Frage zu stellen.

Doch lassen sich diese Faktoren auf der neuen Ebene der Einsicht durchaus in Zweifel ziehen. Wir müssen nicht einem bestimmten Weg folgen. Wir können den ausgetretenen Pfad verlassen. Dies bedeutet nicht, daß »wir« durch Wände hindurchgehen können. Doch Wissens-Soheit kann eine »uncharakteristische Zeit-Se- quenz« erfassen, die man in der gewöhnlichen Sichtweise für eine »Durch-die-Wand-Gehen«-Sequenz halten würde.

Die bestätigende Bezogenheit und die bestätigenden Regelmä­ßigkeiten sind selbst dann nicht unanfechtbar, wenn wir tatsächlich nur der gewöhnlichen Sequenz folgen. Dasselbe ist nicht dasselbe. Gleichheit ist nur eine Sache der Überzeugung innerhalb einer be­stimmten »Anzeige«. Daß Ungebrochenheit ungebrochen ist, steht durchaus nicht außer Frage. Sie ist nur eine Botschaft, daß die Dinge auf eine bestimmte Weise sind oder gewesen sind. Selbst die Identi­tät der »Dies-heit« oder »Ich-heit« innerhalb eines gegebenen Au­genblicks (sagen wir einmal: der »Gegenwart«) hat einen sich selbst in Frage stellenden Charakter, wenn sie als von »Zeit« gegeben gesehen wird. »Raum« strahlt auf diese Weise sehr subtil durch das undurchsichtige Gewirr der Dinge hindurch (und gemeinsam mit ihnen).

Die »Anzeigen« sind also vollkommen eigenständig. Das heißt, alle die Faktoren, die der Inhalt einer »Anzeige« für die Erfahrung innerhalb dieser »Anzeige« oder für den Hintergrund dieser Erfah­rung als wesentlich erklärt, sind ebenfalls innerhalb dieser »Anzei­ge« gegeben. Wenn es die Erscheinung von Personen, Fähigkeit zur Informationsverarbeitung, von physischen und psychischen Struktu­ren, einer grundlegenden Weltordnung und eines sie enthaltenden Raumes, eines semantischen Hintergrundes für Behauptungen (und

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für Bezugnahmen und Bezugnehmende) gibt, dann erscheinen sie alle (oder werden vorweggenommen) in der Weise, daß sie alle innerhalb der bestimmten »Anzeige« gemeinsam gegeben sind.

Kein Faktor der Erfahrung - ganz gleich ob Subjekt, Objekt, Sinnesorgan, Sinnesdatum, Position oder die grundlegende Tatsäch­lichkeit des Vorkommens ist grundlegender als die »Anzeige«, in der er Bedeutung annimmt (oder geht der »Anzeige« voraus). Alle metaphysischen und theologischen Wesenheiten, die (in einer »An­zeige«) für jenseits, über oder allen Überlegungen vorausgehend gehalten werden, sind ebenfalls Teil der Logik eben dieser »Anzei­ge«. Wenn wir unsere Erfahrung sorgfältig untersuchen, werden wir entdecken, daß dies tatsächlich der Fall ist.

Wird sie auf diese Art und Weise gesehen, ist alle Existenz und Erfahrung wie eine magische Erscheinung, eine Oberfläche ohne festen Kern, die keine Dimension hat und ohne eine weitere und sie stützende Umwelt ist. Das liegt daran, daß eine Reihe von Darbie­tungen, wie zum Beispiel bei der Untersuchung von immer tieferen Schichten des »Körpers«, nicht länger als die Darbietung »dessel­ben Dinges« angesehen werden kann. ZEIT kann auf eine Weise abgelesen werden, so daß sie alle möglichen Arten von physischen, psychischen und anderen begründenden Strukturen offenbart, ohne daß man damit auf irgendeinen Grund von Erscheinung oder be­stimmten »Dingen« stoßen würden. Die Dinge - mit ihren Oberflä­chen, Tiefen, ihrer Dichte und ihren anderen Eigenschaften - sind nur serienmäßige Ströme reiner Oberflächenerscheinung (von cha­rakteristischer Art).

Dieser phantasmagorische Charakter ist natürlich selbst nur Teil einer ungewöhnlich einschneidenden »Anzeige«. Sie besitzt letztlich keine Gültigkeit, keine allgemeine Anwendbarkeit, auf die »Dinge, wie sie sind«. Sie ist jedoch besonders einschneidend, weil sie eine Annäherung an GROSSE ZEIT ist. Sie ist der Anfang eines Prozes­ses, in dessen Verlauf selbst die »Anzeige«-Einsicht »durchschaut« werden kann. Dies läuft auf die Aussage hinaus, daß »Anzeigen« nur Übergangs-Einsichten sind - in dem Sinne, daß sie keine Ein­sicht versprechen, die wahrer wäre und keinen Übergangscharakter mehr hätte.

Die »Anzeigen« der niederen Zeit unterminieren die gewöhnli­che Sichtweise total, ohne damit die Existenz einer wirklichen (und irreführenden) gewöhnlichen Sichtweise, einer wirklichen Über- gangs-Sichtweise der niederen Zeit oder einer wirklichen, sich da­

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von abhebenden und unabhängigen GROSSEN ZEIT festzusetzen. Keine »Anzeige« setzt, abgesehen von sich selbst, noch irgend etwas anderes fest. Aber dies ist kein Beweis dafür, daß die individuellen »Anzeigen« voneinander und von der übrigen Welt abgetrennt sind, denn letztlich setzt keine »Anzeige« sich selbst, ihre eigene geson­derte Position oder ihre absondernden Grenzen fest.

Das »Anzeige«-Gesetz wird uns nicht zur Falle, denn auf der Ebene, auf der dieses Gesetz gültig ist, gibt es kein »Uns«, das in der Falle festsitzen könnte, und ebensowenig eine Weltordnung »da draußen«, von der man abgeschnitten sein könnte. Das Gesetz der »Anzeige« verhindert nicht den Kontakt mit scheinbaren Außenlie­genden, die von »Zeit« getragen werden. Es entmutigt uns nur, sie als Außenlieger zu behandeln.

Dingen, die wir aus einer Entfernung gesehen oder erwartet ha­ben, können wir unmittelbar begegnen, so als ob sie immer noch dieselben Dinge wären. Wir können zu »ihnen« hinübergehen und sie berühren. Das Gesetz der »Anzeige« besagt jedoch, daß sie nicht dieselben Dinge sind, und daß der Weg, über den wir zu ihnen gelangen, nicht unbedingt das ist, als was er erscheint. Um zu diesen Dingen zu gelangen, durchqueren wir eigentlich gar keine Entfer­nung. Der Weg, sich anderen Punkten zu öffnen (und mit ihnen Kontakt aufzunehmen), ist nicht davon abhängig, daß die »Anzei­ge« ein scheinbares »Da-Draußen« in Beziehung zu einem »Hier« festsetzt. Vielmehr wird ein solcher Kontakt eher in dem Maße erleichtert (wie im Falle von Telepathie, Hellsehen, Präkognition usw.), in dem wir uns durch derartige konventionelle Erwartungen und derartige Aspekte des Inhalts einer »Anzeige« nicht ganz und gar irreleiten lassen.

Was hier soeben ausgeführt wurde, läuft auf eine Hinterfragung dessen hinaus, was gewöhnlich als nicht hinterfragbar gilt. Anderer­seits ist diese Hinterfragung auch nicht auf etwas anderes gegründet, von dem behauptet wird, es sei wirklicher oder wahrer.

Ein solches Vorgehen scheint gewöhnlich unmöglich zu sein. Selbst jene, die immerhin die Möglichkeit in Betracht gezogen ha­ben, die Annahmen in Zweifel zu ziehen, welche für unsere Wirk­lichkeit fundamental sind, haben sich dabei auf ein nichthinterfrag- bares Kriterium berufen. Manchmal ist man sogar zu dem Schluß gekommen, daß ein Frontalangriff auf die gewöhnlichen Vorweg­nahmen tatsächlich nur dazu führt, sie fest zu etablieren (weil man dabei jene Fundamente oder Axiome der Erkenntnis freilegt, die

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nicht mehr stichhaltig angezweifelt werden können). Zum Beispiel ist gegen den Zweifel an unserer personalen Existenz ins Feld ge­führt worden, daß die Fähigkeit, sie zu bezweifeln, selbst schon einen Beweis für unser Dasein darstellt. Gehen wir jedoch von der Einsicht in das Phänomen der »Anzeige« aus, können wir sagen, daß die Erscheinung - für und mit uns - unseres Bereiches weder beweist, daß es einen gewöhnlichen Raum und eine gewöhnliche Zeit gibt, in denen sie »vorkommt«, noch daß sie überhaupt »vorge­kommen« ist.

»Vorkommen« oder »Geschehen« werden oft mit dem Wort »stattfinden« ausgedrückt, und diese verbreitete Überzeugung des »Eine-Stätte-Findens« sollten wir uns noch einmal genau ansehen. Wollten wir Geschehen als Illusion bezeichnen, dann könnte man dagegen einwenden, es müsse dann auch eine Zeit geben, in der diese Illusion Vorkommen und in der jemand oder etwas getäuscht werden kann. Daraus könnte man wiederum schließen, daß es eine Art von Geschehen geben muß. Die Herausforderung, die die Ein­sicht in das Phänomen der »Anzeige« mit sich bringt, läuft jedoch nicht darauf hinaus, zu behaupten, alles sei Illusion. Es gibt keinen »Ort«, keine »Stätte« - nicht einmal für eine »Illusion«.

Obwohl es schwierig ist, einen Grund für die Infragestellung der fundamentalen Strukturen unseres Bereiches zu finden, findet man in der Einsicht der zweiten Stufe der »Zeit« einen solchen Grund. Ist die Grundlage für einen solchen Zweifel einmal verfügbar, kann kein Aspekt der in Frage gestellten Ordnung - wie das Selbst, der Raum, die verflossene Zeit oder die Existenz - außer Frage bleiben.

Der Weg zur Gewißheit führt weder über »klare und ausgeprägte Ideen« (welche immer noch nicht mehr als gewöhnliche Erkenntnis sind) noch darüber, daß wir unsere Wirklichkeit einfach nicht in Frage stellen. Vielmehr müssen wir durch die zweite Stufe hindurch­gehen - auf der alles plötzlich für eine Hinterfragung offen ist - und von dort zur Entfaltung GROSSEN WISSENS weiterschreiten.

GROSSES WISSEN beseitigt wirklich allen Zweifel und alle Un­gewißheit. Aber es erkennt nicht »die Wahrheit« - es begrenzt die Wirklichkeit nicht dergestalt. Trotzdem ist es exakt und über alle Vorkommnisse gut informiert.

Durch das ganze Spiel von RAUM und ZEIT hindurch ist das würdigende Gewahrsein von GROSSEM WISSEN völlig vorhan­den, frei von Verwirrungen und fälschlichen Wertbeilegungen. Es erkennt alles als offen, als nicht-erschaffenes Nicht-Sein. Wo jedoch

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ein solches Spiel gegeben ist, kann GROSSES WISSEN - in Über­einstimmung mit den Wertvorstellungen, die innerhalb eines be­stimmten Bereiches gelten - vollkommen zwischen Illusion und »Wirklichkeit«, einem Ding und einem anderen, zwischen Dasein und »bloßer Erscheinung«, Werten und Bagatellen unterscheiden.

Die unerschütterliche Klarheit GROSSEN WISSENS scheint erst durch, nachdem wir gesehen haben, daß die unflexible Bewußtheit und Behauptungen über die Wirklichkeit eines bestimmten Erfah­rungsbereiches, tatsächlich ein Spiel der »Zeit« und nicht absolut gegeben sind. Dieses Voraussetzen und In-Frage-Stellen gehören zu einem natürlichen Prozeß, der der Struktur des Weges (ZEIT) zu GROSSEM WISSEN innewohnt.

Sowohl für die Genauigkeit innerhalb unseres Bereiches als auch für das würdigende Gewahrsein der Unendlichkeit von RAUM und ZEIT ist es deswegen unerläßlich, die Wahrheiten und den Augen­schein, denen wir begegnen, fortwährend zu prüfen. Und wir müs­sen darauf achten, daß wir diese Untersuchung nicht zu früh abbre­chen. Dies ist besonders für all jene wichtig, die einem religiösen und meditativen Weg folgen.

Manchmal verführt eine unvollständige Erfahrung des Phäno­mens der »Anzeige« Meditierende zu der Annahme, daß alles »nur Illusion«, »nur Erfahrung«, »nur Geist« oder »subjektiv« ist. Aber dies hieße, sich vorschnell zufriedengeben. Keine dieser Grundlagen ist fester, unhinterfragbarer Natur, wenn »Zeit« wahrgenommen und gewürdigt wird. Es gibt also gar kein »Alles«, das »nur Erfah­rung« sein könnte.

Allgemeiner ausgedrückt: Auf der zweiten Stufe der »Zeit« ist eine grenzenlose Bandbreite von Durchbrüchen möglich. Die mei­sten religiösen Visionen der Erleuchtungserfahrungen in der Ge­schichte der Menschheit gehören zu dieser Kategorie von Erfah­rung. Die Struktur der gewöhnlichen Zeit wird durch die eine oder andere Methode geöffnet, und die größere Offenheit und Erfüllung von RAUM und ZEIT werden entdeckt. Aber diese Erfahrung wird gewöhnlich immer noch in den Begriffen eines bestimmten Ansat­zes, einer vorangegangenen Konditionierung und in begrifflichen Kategorien strukturiert.

Eine Person kann entdecken, daß der Himmel so-und-so beschaf­fen ist, während eine andere ihn ganz anders erfahren mag. Erlöser, Engel und so weiter, sie alle mögen auf verschiedene Weisen erfah­

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ren werden, die anscheinend nicht miteinander vereinbar sind. Wes­sen Vision ist dann die »wahre«? Werden diese Visionen in Dogmen auf der ersten Ebene übersetzt, dann haben die Widersprüche und Streitigkeiten kein Ende.

Das Gesetz der »Anzeige« hilft jedoch, dieses Problem auf meh­reren Ebenen zu lösen. Es erklärt, warum die verschiedenen religiö­sen Einsichten einander nicht unbedingt widersprechen müssen. Es kann dies erreichen, ohne sich darauf einzulassen, sie alle für »gül­tig« zu erklären (»gültig« in bezug auf was?), und ohne sich der Idee anzuschließen, daß »alles relativ ist« - denn das Gesetz der »Anzei­ge« beschreibt nicht eine Wirklichkeit, die auf eine bestimmte Art und Weise ist, nämlich »relativ«. Die Relativität ist, wenn sie in diesem Sinne verstanden wird, keine besonders tiefgehende Ein­sicht.

Der Atheist kritisiert den religiös Suchenden dafür, daß jener an eine Gottheit glaubt, die, wenn man nach greifbaren Beweisen ver­langt, nur als Projektion oder Glaube des Suchenden zu bezeichnen ist. Die Einsicht in das Phänomen der »Anzeige« besagt ungefähr etwas ähnliches, nämlich daß das gewöhnliche religiöse Verhalten eine nicht-begründete Struktur von Glaubensanschauungen und ei­nen Prozeß der Bezugnahme mit sich bringt, der nicht wirklich auf etwas Bezug nimmt, das über ihn selbst hinausgehen würde. Zwi­schen diesen beiden Kritiken besteht jedoch ein großer Unter­schied. Eine Einsicht in das Zeitigen bestätigt das spekulierende Selbst nicht als eine einsame, isolierte Wesenheit, die vergeblich den Kontakt zu etwas Höherem sucht oder daran verzweifelt. Auch schließt das Prinzip der »Anzeige« nicht die Verfügbarkeit tiefge­hender und unendlicher Aspekte des Lebens aus. Die atheistische Sicht der Wirklichkeit wird selbst als eine ungerechtfertigte Projek­tion und Verallgemeinerung entlarvt.

Es gibt eine Integrität, Gewißheit und Unendlichkeit, die nicht bloß relativ ist. Doch man findet sie nur, indem man sich durch die subtile »Anzeige«-Ebene der Erfahrung der zweiten Stufe hin­durcharbeitet. Dieser Prozeß ist notwendig, denn er hilft uns, Be­deutungen, Spekulationen und Visionen zu transzendieren - selbst die »gezeitigten«. Dann kann man sogar die scheinbar transzenden­ten Visionen als verführerische Botschaften sehen, die sich als »transzendent«, als »jenseits aller Bedeutungen« oder als »Einsich­ten in die Relativität« darbieten.

Es ist ziemlich einfach, den Weg zu den ungewöhnlichen Erfah­

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rungen zu finden, die die zweite Stufe der »Zeit« anbietet. Wesent­lich schwieriger ist es jedoch, schnell über diese Stufe - mit all ihren Visionen und Einsichten - hinauszugehen, weiter zur dritten Stufe der Erfüllung. Auf der zweiten Ebene, auf der die Visionen ihre Bedeutung gewinnen, können sie eine subtile Falle sein. Sie können Stagnation und Betörung verursachen. Solche Visionen neigen dazu, eine vollständige Lösung und ein volles Eins-Sein zu verhindern, eben weil es so schwierig ist, über sie hinauszugehen. Arbeiten wir nur mit dem Inhalt der Visionen, ohne die »Zeit« zu verstehen, die in diesen faszinierenden Erfahrungen am Werk ist, mag die Öffnung zur dritten Stufe eine Glückssache bleiben und selten wirklich er­reicht werden. Werden »Zeit« und das sich selbst in Frage stellende »Anzeige«-Prinzip nicht begriffen, dann haben die Visionen der zweiten Stufe das Potential, sich endlos fortzusetzen.

Die Tendenz der »Anzeige«-Einsicht, auf sich selbst zurückzufal­len und ihren eigenen Status zu unterminieren, bringt jedoch kein solches Problem mit sich. Anders als im Falle von Visionen, die der »Zeit« keine Beachtung schenken, ist die unterminierende Beschaf­fenheit der Anzeige-Einsicht keine Falle und kein unendlicher Rückschritt, sondern geht »über die Schwelle« zur dritten Ebene. Wie im Fall des »Weitergehens«, das im letzten Kapitel mit Hilfe des wellenförmigen Diagramms dargestellt wurde, regt dieser Pro­zeß mehr und mehr GROSSES WISSEN an, das das völlige Um­schalten zur Zeitsicht der dritten Stufe, der Sicht GROSSER ZEIT, erlaubt.

Der Prozeß, der mit dem »Anzeige«-Prinzip alles in Frage stellt, was gewöhnlich nicht hinterfragt werden kann, ist keine nihilistische oder zerstörerische Tendenz. Erfahren wir ihn erst einmal an uns selbst, dann werden wir entdecken, daß er die freudige Würdigung von Reinheit ist, die Rückkehr zu einer »weisen Unschuld«, die kein Übel und keine Verdunkelung als wirklich festgesetzt ansieht.

Übung 26: Transzendierung aller Verweisungen

Es mag nun möglich sein, sich einer Einsicht zu öffnen, die die mit Übung 7 gewonnene Einsicht vertieft. In Übung 7 machten Sie Geist-Gedanken-Emotionen-Körper-Interaktionen ausfindig. Se­hen Sie jetzt, ob Sie (oder vielmehr eine umfassendere »Wissens- Soheit«) eine neuartige Form einer derartigen Interaktion begreifen

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können, die die Weise, in der das Mentale und das Physische als existierend gegeben sind, wirklich völlig umfängt. Diese ist ein subti­les Aufeinander-Hinweisen (Verweisen).

Eine »Anzeige« errichtet einen Geist und einen Körper, die auf­einander Bezug nehmen oder verweisen. Man beginnt damit, »Geist« als gegeben hinzunehmen, und läßt ihn (durch »Zeit«) sagen: »Ich bin der Geist; diese sind die Gedanken; das ist ein Körper:« Der gleiche Prozeß kommt zum Tragen, wenn man beim physischen Aspekt der menschlichen Verkörperung ansetzt. Mit Hilfe dieses Verweisens können Sie von Punkt zu Punkt (Richtungszeiger zu Richtungszeiger) vor- und zurückgehen. Aus der Sicht eines größe­ren würdigenden Gewahrseins des Zeitigens verweist dieses Verwei­sen jedoch auf nichts - es gibt nicht ein Ding, das in Bezug zu einem anderen steht.

Kommentar zu Übung 26Sowohl Geist als auch Körper lassen sich in Frage stellen. Tatsächlich ist es eben ihre Erscheinung oder ihr Erscheinen (und Verweisen), was sie in Frage stellt. Viele der vorangegangenen Ausführungen (über Außenlieger und Anlieger, über das Öffnen der Brennweiten­einstellung durch ein ausgewogenes Umfangen usw.) sind theoreti­sche und stückweise Annäherungen an diese erfahrbare Einsicht in das »Verweisen«.

Doch selbst die Verweisungen, die dazu benutzt wurden, diese neue Wirklichkeitsschau darzustellen, verweisen eigentlich auf gar nichts. Sie »be-deuten« nichts in der Weise, in der Theorien und Systeme gewöhnlich etwas bedeuten. Es wird eine Menge gesagt, doch eigentlich nur, um es endlich möglich zu machen, »nichts« zu sagen. Denn diese Darbietung unterminiert tatsächlich alles »Sagen« und damit auch sich selbst. Diese Ideen und Verweisungen sagen »nichts«, weil sie uns von einem niederen Zustand (der ersten Ebene) zu einem höheren Zustand (der dritten Ebene) führen, der sich, in gewisser Hinsicht, als dasselbe erweist wie das, wovon wir ausgegan­gen sind. Nur aufgrund des Unterminierens aller Bedeutungen, allen »Geführt-Werdens« und sogar der Vorstellung des Unterminierens selbst (der Vorstellung, daß die Wahrheit zu unserem Ansatz oder unserer »Anzeige« relativ ist) ist es möglich, das »Höhere« und das »Niedere« in eine gesunde Relation zu bringen. Ist jegliche Neigung, sich von Bedeutungen und Zielen manipulieren zu lassen, abgestor­ben, dann kann wirkliches Gleichgewicht durchschimmern.

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Ein solches »Nichts-Sagen« ist auf seine eigene Weise sehr viel - in einem tiefen Sinne bedeutsam, ohne (zeitlich) dringend oder ein »Nicht-sagen« über irgend etwas zu sein. Es ist deswegen wichtig, sich vor dem, was wir für »Verständnis« halten mögen, zu hüten, und es im Licht von »Zeit« und ZEIT zu betrachten.

Indem wir uns für »Zeit« öffnen, kann sie durch uns freier sprechen und handeln. Unsere Rede und unsere Gesten werden völlig unun- terdrückbar und spontan, aufwallend aus »Zeit«, dem dynamischen Zentrum unseres Seins. Alles, was wir sind und tun, wird - in dem besonderen Sinn, daß es ein direkter und offenkundig getreuer Aus­druck der inneren Struktur der »Zeit« selbst ist - zu einer »Anzei­ge« von »Zeit«.

Anfänglich mag dies zu einem Auftauchen nicht-vorbedachter Handlungen führen, die der jeweiligen Situation genau angemessen sind. Auch stellt sich vielleicht eine klarsichtige prophetische Gabe ein. Obwohl es, um Prophezeiungen machen zu können, notwendig zu sein scheint, in die »Zukunft« zu schauen und der »Gegenwart« davon zu berichten, geht prophetisches Wissen gar nicht »voraus« oder anderswohin und kehrt danach in die Gegenwart zurück. Prä­kognition ist möglich, weil sie - und wir mit ihr - gar nicht »prä-«, nicht »vorher« ist. Aus eben diesem Grund sind ein derartiges Wis­sen und Sprechen von einem tieferen Verweilen in einer umfassen­deren Form der »Gegenwart« abhängig.

Die im wesentlichen gegenwärtige Bedeutsamkeit von Prophezei­ungen kommt in einer höheren Form der orakelhaften Rede noch besser zum Ausdruck. Diese Rede nimmt nicht auf andere Punkte in der Zeit Bezug und ist auch nicht in Bezugnahmen auf Ereignisse und Objekte eingebettet. Sie macht nicht von Bedeutungen im ge­wöhnlichen Bezug nehmenden Sinn Gebrauch. Anstatt nur auf die Struktur der »Zeit« und die Dinge in der Zeit hinzuweisen, wird sie der unkonditionierten GROSSEN ZEIT gerecht. Diese Art der Re­de kann die Anwesenheit des GROSSEN RAUMES und der GROSSEN ZEIT in einer Weise kommunizieren, die unsere tief­sten Bedürfnisse nach Erfüllung als menschliche Wesen anspricht.

Solches Wahr-Sagen hat eine universelle und ursprüngliche Macht und spricht die Menschen über alle zeitlichen und kulturellen Schranken hinweg an. Es kann nicht »verstanden« werden - es sei denn von GROSSEM WISSEN. Es spricht solches WISSEN unmit­telbar an, regt es dazu an hervorzutreten. Wenn dieses WISSEN

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zugänglicher wird, können alle Erscheinungen, Worte, Bezugnah men und Taten als vollkommene Kommunikation - als die erregen de Poesie der ZEIT - gesehen und verstanden werden.

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Dritter Teil

WISSEN

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Die Möglichkeit des WISSENS als gebietende Einsicht

10. Kapitel

Der RAUM, in dem wir leben, stellt grenzenlose Möglichkeiten zur Verfügung. Wir können viel mehr tun, als nur eine winzige Kammer im RAUM zu mieten - RAUM bietet die Gelegenheit, alles zu öffnen.

Alle Tätigkeiten und Merkmale dieses Öffnens sind ZEIT. ZEIT ist nicht nur ein Hilfsmittel, mit dem wir unsere Tätigkeiten verfol­gen können. ZEIT ist ebensowenig nur eine äußere zwingende Macht, die den Verlauf unseres Lebens vorherbestimmt. Vielmehr kann ZEIT alles erhöhen und alles verwandeln; sie ist die Grundla­ge einer wahren »Alchemie«. ZEIT verweist auf Freiheit. Wir müs­sen ZEIT nicht um einen weiteren Atemzug anflehen, ein weiteres Spiel, einen letzten Tag. Wenn wir RAUM und ZEIT ein wenig besser verstehen, können wir sehen, daß alles, was wir wahrnehmen, alles was da »ist«, WISSEN ist.

WISSEN ist das Ziel oder die Frucht dieser Visionsschau - eine Frucht, die doch weit jenseits dessen ist, was wir »erlangen« kön­nen, dem wir uns annähern oder das wir definieren können. Anstatt sein festliegender Endpunkt zu sein, ist dieses Ziel in Wirklichkeit die Grundlage des Weges zum Verstehen.

GROSSES WISSEN ist die unmittelbare und wissende Dimen­sion aller Wirklichkeit und Erfahrung. Es ist das Wechselspiel zwi­schen der Offenheit des RAUMES und der ausdrucksstarken Krea­tivität der ZEIT. Die Art und Weise selbst, auf die RAUM und ZEIT Entfernungen, Unterschiede, begrenztes Erkenntnisvermö­gen und Hindernisse errichten, beläßt alles als unmittelbar »ge­wußt«. Deswegen brauchen wir auch nicht über den langwierigen Umweg des gewöhnlichen Erkenntnisstrebens zu GROSSEM WIS­SEN zurückkehren. Alles ist unmittelbar RAUM und ZEIT, und

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WISSEN ist von ihnen nicht zu trennen. In allen Dimensionen und in allen Zeiten - während zahlloser Weltzeitalter - sind RAUM und ZEIT. GROSSES WISSEN übersetzt und demonstriert RAUM und ZEIT, doch es ist nicht auf die Ereignisse beschränkt, die wir als Erkenntnisakte aussondern. WISSEN ist nicht etwas, das etwas weiß; WISSEN ist ganz einfach die Anwesenheit der Wirklichkeit als »Wissens-Soheit«.

GROSSES WISSEN erfaßt nur RAUM und ZEIT. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Perspektive des GROSSEN WISSENS eine Mißachtung unseres Lebens und unserer Bedürfnisse mit sich bringt. Vom Standpunkt einer Übergangs-Sichtweise kann man sa­gen, daß GROSSES WISSEN sich großzügig für unsere Zwecke hergibt. Wir schöpfen uneingeschränkt aus der Klarheit und »voll­kommenen Wissens-Soheit« GROSSEN WISSENS, um das Spiel auf unsere eigene Art und Weise zu spielen - sogar wenn dies be­deutet, fast undurchdringliche Schichten von »Anschauungen« und falschen Auffassungen anzuhäufen.

Dann sehen wir die Welt im Licht der negativen Aspekte, die wir selbst geschaffen haben. Aus unserer konventionellen Perspektive haben die Ereignisse und Tatsachen, die wir »kennen« - die gewalti­ge Last unserer Vergangenheit und kulturellen Konditionierung -, scheinbar eine ungeheuer komplexe Welt errichtet, in der unsere gegenwärtigen Positionen ihre Bedeutung erhalten. Bedeutungen, die nur noch mehr Bedeutungen erzeugen, ein Prozeß, der uns in eine ganz bestimmte, enge Ecke, eine Art Höhle, zurückgedrängt hat, in die die Sonne nur selten hineinscheint.

Wenn dies geschieht, fühlen wir uns von »der Welt«, dem Objekt unseres Erkennens, abgeschnitten. Wir versuchen zu schauen, zu erkennen, aber damit ziehen wir nur einen Schleier vor unsere Au­gen. Wir verhalten uns zum Wissen, als bestünde es aus kleinen Wassertropfen, die (in Form gewöhnlicher Erkenntnisse) an ver­schiedenen Orten spärlich herabtropfen und denen wir hinterherja­gen müssen, um sie mit einem Eimer aufzufangen. Und wir versu­chen, in Erfahrungen zu entfliehen, die uns irgendwie als etwas Besonderes erscheinen: angenehm, lehrreich, befreiend, meditativ, oder »Gipfelerlebnisse«. Wir sehen uns auf einer »niederen Ebene« und wollen zu einer »höheren Ebene« emporklettern.

Aber es gibt nichts, vor dem wir fliehen oder in das wir uns flüchten müßten. RAUM, ZEIT und WISSEN halten niemanden gefangen. Wenn es anfänglich auch so scheint, als hätten RAUM,

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ZEIT und WISSEN Macht über uns, sind sie doch nur Träger von GROSSEM WISSEN. Ganz gleich welche Art von Situation jeweils anwesend ist, sie ist das Spiel von RAUM, ZEIT und WISSEN. RAUM, ZEIT und WISSEN zwingen uns nicht dazu, die von ihnen dargebotenen Situationen auf eine bestimmte Weise zu erfahren. Vielmehr stellen sie uns eine unendlich weite Bühne zur Verfügung, auf der wir jedes nur vorstellbare Stück spielen können. Wir fühlen uns nur gefangen, solange wir uns nicht bewußt sind, daß wir die Wahl haben.

Vom Standpunkt GROSSEN WISSENS gibt es keine Trennung in GROSSES WISSEN und gewöhnliche Erkenntnis; aus der Sicht der gewöhnlichen Erkenntnis jedoch ist eine solche Trennung gege­ben, die es zu überwinden gilt. Wir haben deswegen das Gefühl, wir müßten uns in einen höheren Zustand, ein »höheres Bewußtsein« hineinkatapultieren. Ein derartiger Ansatz ist jedoch selbstbegren­zend, und überdies gibt es keinen Grund anzunehmen, daß irgend­welche neuen, für einen anderen Zustand spezifischen Erfahrungen generell gültiger oder wesentlicher wären als unsere gewöhnlichen Erfahrungen.

Obwohl GROSSES WISSEN für alle unsere ins Blaue zielenden Versuche der Annäherung an die Vollkommenheit offen ist, unter­stützt es den Fortschritt in seine Richtung auch noch auf einem anderen Weg - einem Weg, der von allen gewöhnlichen Darbietun­gen als einer Darbietung von »Wissens-Soheit« Gebrauch macht, auf dem alle Dinge aufgetaut werden, indem man sie in ihrem »Wis- sens«-Aspekt sieht. Dieser Ansatz ist der Aufgabe angemessener, denn er ist eine Annäherung an die Einsicht, daß GROSSES WIS­SEN tatsächlich zugänglich und »in« allem ist. Im Auf und Ab der zeitlichen Zyklen kann GROSSES WISSEN nicht verlorengehen. Sogar der fortschreitende Zusammenbruch und die fortschreitende Erschöpfung auf kosmischer Ebene stellen keinen grundlegenden Verlust GROSSER ZEIT oder GROSSEN WISSENS dar.

Selbst wenn wir die großen Möglichkeiten, die uns verfügbar sind, ignorieren, werden RAUM, ZEIT und WISSEN unser eigensinni­ges Spiel durch die Enthüllungen eines ausgeglicheneren Bildes der Wirklichkeit durchkreuzen. Aus der Warte GROSSEN WISSENS gibt es nur RAUM und ZEIT, und selbst unsere falschen Anschau­ungen stellen keine Ausnahme dar. Die Entdeckungen der Ge­schichte, die Last der Meinungen und Sitten, die Wiederholbarkeit von Beobachtungen, sie alle stellen nichts fest als RAUM, ZEIT

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und WISSEN. Eben jene Entdeckungen, die den Beweis für die Welt darstellen, bestätigen in Wirklichkeit die Offenheit des RAU­MES, die Dynamik der ZEIT und die schöpferische Feinfühligkeit des WISSENS.

Mit diesem WISSEN stehen RAUM und ZEIT zu unserer Verfü­gung, und wir sind in der Lage, aus vollkommener Freiheit und aus vollständigem Verstehen heraus zu handeln. Auf der vertrauten Ebene unserer gewöhnlichen Belange werden durch die erweiterte Perspektive und die größere Energie, die wir aus RAUM und ZEIT beziehen können, unsere Fähigkeit erhöht, Aufgaben wir­kungsvoll zu lösen und anderen Menschen einfühlsam zu begeg­nen. Wir sind dann in der Lage, wirklich für uns selbst zu sorgen - etwas, worüber wir zwar häufig reden, was wir jedoch nur selten zu tun vermögen. Obwohl das Selbst immer auf sein Wohlergehen be­dacht ist, ist es seinen eigenen Schwächen, seiner Verwirrung und seinen Gewohnheiten ausgeliefert. Es will die Kontrolle haben, oh­ne zu wissen, was dies eigentlich bedeutet.

Mit GROSSEM WISSEN löst sich die Tendenz auf, in den nega­tiven und enttäuschenden Aspekten unserer Erfahrung oder in un­seren Hoffnungen und Erwartungen steckenzubleiben. Wir können also zunehmend aufgeschlossener und einfühlsamer werden und damit in anderen eine entsprechende Resonanz hervorrufen. Das Leben wird zu einer Liebesbeziehung, zu niemals endenden Flitter­wochen. Dies ist keine rührselige, sentimentale Einbildung. Wir können die Herausforderung annehmen, mit RAUM und ZEIT in Verbindung zu treten, und dies für uns selbst entdecken.

Was hier angedeutet wird, soll keine absolute Position sein, die die »Wahrheit« über eine Weltordnung aussagt. Es geht vielmehr um einen Weg, wie wir wachsen können, ohne jemals einer sta­gnierenden Orientierung zu verfallen. RAUM, ZEIT und WISSEN sind weder ein starrer Satz von Begriffen noch ein genau umrisse- nes System; sie sind vielmehr ein Vehikel zu endlosem öffnen. Sie »bedeuten« nicht etwas in einem eindimensionalen Sinn, sondern regen uns fortwährend dazu an, neue Einsichten und neue Wege zu entdecken, der Erfahrung zu begegnen.

GROSSER RAUM und GROSSE ZEIT sind »hier«. GROS­SES WISSEN kann die Möglichkeiten und Werte wahrnehmen und würdigen, die von ihnen dargeboten werden. Es bleibt dann nur noch, diese sich entfaltende Vision in all unserem Tun voll auszule­

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ben. Dies ist wahrlich ein »rundum positiver«, lebensbejahender Weg.

Niemand ist vom Zugang zu diesem Wissen ausgeschlossen, ganz gleich wie benachteiligt oder minderwertig sich eine Person auch fühlen mag, denn all solche Aspekte wie ein niederer sozialer, wirt­schaftlicher oder intellektueller Stand, sind immer noch ganz und gar RAUM, ZEIT und WISSEN. In diesem Licht sind alle derarti­gen Aspekte in gewisser Hinsicht selbst die Grundlage für sponta­nen Fortschritt.

Wie nun machen wir von diesem Wissen Gebrauch? Letztlich gibt es keinen gesonderten Benutzer und kein gesondertes Benutzen, denn WISSEN ist unmittelbar und automatisch. Es sucht nichts, wählt nichts aus, und es verschwendet nichts. Gewöhnliche Er­kenntnis hat einen bestimmten Nutzen und bestimmte Werte, aber GROSSES WISSEN ist nicht unterdrückbar - es kann weder festge­bunden noch auf irgendeine Weise begrenzt werden. Es ist nicht möglich, daß wir nicht vermögen, GROSSES WISSEN zu begreifen. Und ähnlich wie gewöhnliche Erkenntnisse zu weiteren gewöhnli­chen Erkenntnissen führen, führt GROSSES WISSEN zu immer mehr WISSEN seiner eigenen Art. Es inspiriert sich selbst und kann unendlich wachsen.

Der Gedanke unendlichen Wachstums will nicht nahelegen, daß wir irgendeinem langen, schwierigen Weg folgen müßten. GROS­SES WISSEN wächst nicht, indem wir lineare Fortschritte erzielen, sondern allein indem wir uns der unendlichen Vollkommenheit öff­nen, die »hier« ist. WISSEN gebietet über RAUM und ZEIT, so daß diese Art von Wachstum möglich ist, ohne daß wir »irgendwo­hin gehen« müßten.

Wenn RA UM und ZEIT unmittelbar wahrgenommen und gewür­digt werden, ist dies automatisch WISSEN.

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Die verdunkelnde Natur gewöhnlicher Erkenntnis

Keine Tragödie kommt der erschreckenden Tatsache gleich, daß unsere menschliche Intelligenz - unser Unterschei­dungsvermögen - in bestimmte Kanäle gezwungen, einge­sperrt und stillgelegt wurde. Diese Fähigkeit ist unser größter Besitz, unsere einzige Chance zur Erfüllung.

Die Aussage, daß »alles an sich bereits GROSSES WISSEN ist«, sowie die Vorstellung, daß dieses WISSEN nicht von einem Selbst erworben oder benutzt werden kann, scheint auf den ersten Blick gewöhnlichen Fortschritt und Erfolg zu vereiteln. Und in der Tat müssen derartige konventionelle Orientierungen außer Kraft ge­setzt werden, wenn wir GROSSES WISSEN wahrnehmen und wür­digen wollen. Das Ablassen von einer Ziel- und Gewinnbetonung, wie auch der Anspruch, daß »alles GROSSES WISSEN ist«, sind jedoch beide sehr positiv. Statt unsere Erfahrung zu behindern, be­reichern sie sie.

Wissens-Soheit hat die Eigenschaft der Vollkommenheit. Wis­sens-Soheit ist nicht einfach nur ein Erkenntnisinhalt, denn sie bein­haltet keinerlei Dichotomie von Subjekt und Objekt. Sie ist in sich vollkommen, weil es nichts mehr gibt, das erkannt werden müßte. Damit ist kein In-sich-selbst-Versunkensein impliziert. Wissens-So- heit ist vollkommen, weil sie alles einschließt. Nichts wird ausgelas­sen, nichts ist von ihr ausgenommen.

Das Primat und die Verfügbarkeit von Wissens-Soheit sind sogar für unsere gewöhnlichen Untersuchungen von Erfahrung wesent­lich, desgleichen für unsere Welt als ein erkennbares und sinnerfüll­tes Phänomen. Ohne solche Wissens-Soheit gäbe es nur ein dunkles Universum, das nicht-erkennbar wäre und jeglicher existentiellen und wertorientierten Dimensionen bar wäre.

Und natürlich ist die »Verfügbarkeit« von Wissens-Soheit auch für die unmittelbare Erforschung von RAUM und ZEIT wesentlich. Denn obgleich die ZEIT die erhöhende Energie ist, welche uns RAUM darbietet, wäre diese erhöhende und darbietende Eigen­schaft der ZEIT ohne das mit allen konkreten Darbietungen gege-

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bene »Wissen« nicht wahrnehmbar. RAUM und ZEIT könnten zwar trotzdem spielen - doch wer würde davon wissen?

Und doch, obwohl uns Wissens-Soheit immer verfügbar ist, ver­suchen wir gewöhnlich, Erkenntnis in einer Welt zu erlangen, die wir als eine im Grunde unbelebte Welt sehen. Die Folge davon ist, daß wir Wissens-Soheit zu einer Welt erkennbarer oder erkannter, aber zur Erkenntnis unfähiger Dinge erstarren lassen - mit dem Ergebnis einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der wesentlichsten Befä­higung, die das Menschsein auszeichnet: der Befähigung, die Frische und Fülle des Spieles von RAUM und ZEIT zu würdigen und sich daran zu erfreuen.

Solange wir nicht zu dieser Dimension der Wirklichkeit in Bezie­hung treten, werden unsere Handlungen und Entscheidungen schwerfällig und unsicher bleiben. Gedanken, begriffliche Vorstel­lungen und Bedeutungen scheinen uns zwar einen gewissen Fort­schritt zu bescheinigen, doch mag uns ZEIT schließlich auf unseren Irrtum aufmerksam machen. Da die Orientierung, von der wir aus­gegangen sind, nicht klar und fest war, wird sich bald Ernüchterung einstellen. Wir können uns in das Meer der Anschauungen stürzen, bis unsere Zeit verstrichen ist und wir unbefriedigt Zurückbleiben - Verstandes- und gefühlsmäßig unerfüllt.

Und doch ist es einzig und allein unsere Weigerung, unsere ge­wöhnlichen Gefühle über uns und unsere Welt beiseite zu lassen und mit ihnen auf einer neuen Grundlage zu arbeiten, die uns daran hindert, von GROSSEM WISSEN Gebrauch zu machen. Die Be­reitschaft dazu entwickelt sich ganz natürlich durch einen Prozeß des »Auftauens«, der mit einer intuitiven Einsicht, einer Verände­rung unserer Gewohnheiten oder sogar einer kritischen Neubewer­tung unserer gewöhnlichen Sichtweisen beginnen mag. Tatsächlich läuft der Prozeß des Kritisierens konventioneller Annahmen an sich schon auf eine Strategie zur »Erlangung« von GROSSEM WISSEN hinaus. Der Wunsch, alle gewöhnlichen Dinge aufzutauen, ist näm­lich an sich schon eine Veränderung der Orientierung - und stellt eine Annäherung an die Einsicht dar, daß alles wesensmäßig GROSSES WISSEN ist.

Aus unserer gewöhnlichen Perspektive mögen Aussagen wie »Al­les ist GROSSES WISSEN« oder »Alles ist RAUM und ZEIT« als bloße Theorie erscheinen, der jeglicher praktische Nutzen fehlt. Ge­wöhnlich bringen neue Vorstellungen über das, was die Dinge »wirklich sind«, für das, was wir sehen und tun, keine Veränderun­

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gen mit sich. Grundaussagen, die die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vi­sion betreffen, sind jedoch nicht rein theoretischer Natur. Sie kön­nen vielmehr zum Leben erweckt werden, indem wir die grundle­genden Vorwegnahmen aller derartigen theoretischen Erkenntnis überprüfen. Wenn wir die Vorwegnahmen hinter unserem gewöhnli­chen Denken, Fühlen und Erkennen freilegen, vermögen wir alles gewöhnliche Erkennen zu transzendieren. Außerdem kann das kla­re »Wissen«, welches wir suchen, ohne diese kritische Untersuchung leicht unentdeckt bleiben.

Die Untersuchung konventioneller Theorien und Erkenntnismo­delle - ganz gleich wie gut oder schlecht fundiert sie im Vergleich miteinander erscheinen mögen - zeigt, daß sie alle sehr viele ge­meinsame Grundzüge aufweisen. Das höhere »Wissen«, das zutage tritt, indem wir uns aus den gewöhnlichen Verfahrensweisen freima­chen, wird diesen Eindruck noch verstärken. Man sieht, daß die Sichtweisen, Visionen, Begegnungen und sogar einige der transzen­denteren Erfahrungen unserer Kultur nur Variationen über ein The­ma sind. Sie sind gar nicht so sehr voneinander verschieden. Obwohl sie »radikale Veränderungen« und »unmittelbare Begegnungen« mit sich zu bringen scheinen, bleiben sie doch recht oberflächlich oder abstrakt.

Sogar die Sichtweisen und Begegnungen, die gewöhnlich beson­ders direkt und befreiend zu sein scheinen, sind nicht »unmittelbar« genug. Mehr ist nötig und auch möglich - aber nicht in den gewöhn­lichen Bahnen. Will man höheres »Wissen« erreichen, dann besteht der erste Schritt einfach darin, die Begrenzungen der gewöhnlichen Ansätze hervorzuheben und anzuerkennen, daß alles, was wohlbe­kannt und vertraut ist - und was für »Theorie«, »Praxis« und »er­fahrungsmäßige Durchbrüche« oder »höhere Seinszustände« die Maßstäbe setzt -, tatsächlich insoweit gleich ist, als es innerhalb der einengenden Grenzen des »gewöhnlichen Erkennens« liegt.

Anblicke, Klänge, Düfte, Oberflächenbeschaffenheiten, Ge­schmacksempfindungen, Unterschiede, Ähnlichkeiten, Körper, Geist, Selbst, die anderen, eines, viele, Nähe, Feme, Umwelten, Kämpfe, Emotionen, Erinnerungen, Vorlieben, Beobachtungen, Verallgemeinerungen, Kontrolle, Fortschritt, zukünftige Durchbrü­che, der Aufstieg und Fall von Nationen, die schließliche Verwirkli­chung heutiger Science-fiction-Träume, Erkenntnis und Macht auf der galaktischen Ebene - all dies wird von uns erkannt oder ist für uns erkennbar. Diese Beobachtung ist jedoch kaum mehr als eine

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Tautologie. Alles, was wir erkennen, ist genau das - das, was wir erkennen und erfahren.

Dies ist jedoch eine wichtige Aussage und kann, wenn richtig gehandhabt, eine einschneidende und befreiende Kritik unseres herkömmlichen Bereiches und unserer herkömmlichen Lebensart motivieren. Diese Kritik ist der Gegenstand der nächsten drei Ka­pitel. Sie wird auf verschiedene Weisen und auf verschiedenen Ebenen formuliert werden, bevor sie schließlich eine vollkommen stichhaltige Formulierung erfährt. Zu Anfang werden wir sie als eine Behauptung behandeln, die im Rahmen gewöhnlicher Per­spektiven und über gewöhnliche Perspektiven formuliert wird.

Folgende beide Feststellungen stehen zu der konventionell for­mulierten, aufschlußreichen, jedoch unpräzisen Aussage, daß un­sere Wirklichkeit nur das ist, was wir erkennen und erfahren, in Beziehung:

☆ Die Feststellung, daß das, was wir durch unsere Wahrnehmung und durch Rückschlüsse erkennen (oder erkennen können), be­grenzt ist - es ist nur das, was wir erkennen.☆ Die Unterstreichung der Tatsache, daß unser Bereich in Form von Erfahrungen einer bestimmten Art dargeboten wird.

Diese beiden Positionen wurden im Laufe der Geschichte immer wieder vertreten. Sobald derartige Behauptungen jedoch so weit getrieben wurden, daß sie die »Grenzen« der Erkenntnis herab­setzend als Beschränkungen verstanden oder einem subjektiven Idealismus das Wort redeten, widersprachen ihnen konventionelle Einstellungen und Vorwegnahmen aufs heftigste. Diese Opposi­tion hatte zumeist folgenden Tenor: Auch wenn unsere Erkennt­nis einzig und allein die unsrige ist - und in diesem Sinne subjek­tiv ist -, reicht diese Tatsache allein noch lange nicht aus, unsere Erkenntnis verächtlich zu machen und eine Ausflucht in anti-ra- tionale Einstellungen oder veränderte Bewußtseinszustände zu rechtfertigen.

Die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision vermag etwas von beiden Standpunkten einzubeziehen: von der Intention, die hinter der Herabsetzung gewöhnlicher Erkenntnis steht, und der Neigung, sich gegen eine solche Herabsetzung zu verwehren. Das heißt, aus der Sicht dieser Wirklichkeitsschau haben die gewöhnlichen Ein­wände gegen diese Behauptungen durchaus ihre Berechtigung;

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andererseits verweisen die Einwände selbst auf eine Möglichkeit, die Behauptungen auf eine annehmbare Weise neu zu formulieren.

Im Falle der ersten Behauptung, die sich gegen die gewöhnliche Erkenntnis richtet und darauf hinweist, daß sie als das von uns Erkannte einfach zu begrenzt ist, wird zumeist der Einwand erho­ben, von Beobachtungen und Experimenten würde ja gerade erwar­tet, daß sie von dem, was wir sehen, abhängig sind - von der Funk­tion einer normalen Art von Bewußtsein. Ihr Sinn und Zweck sei ja, eben die Phänomene zu erforschen, die wir tatsächlich antreffen. Dies sei ausdrücklich ein Bestandteil der wissenschaftlichen Metho­de und zudem angemessen, weil die aus einer derartigen Untersu­chung gewonnenen Schlußfolgerungen für uns und unsere Welt vor­aussichtlich eine allgemeinere Gültigkeit und Wichtigkeit besitzen als jene, die wir eventuell durch einen anderen, nicht-normalen Be­wußtseinszustand gewinnen könnten.

Diese Aussage zur Verteidigung der gewöhnlichen Erkenntnis - auf ihrem eigenen Grund - gegen andere gewöhnliche Kritiken und Alternativen - erscheint aus der RAUM-ZEIT-WISSEN-Perspek- tive berechtigt, läßt jedoch trotzdem die Möglichkeit einer subtile­ren Kritik und Transzendierung der Subjektivität gewöhnlicher Er­kenntnis offen.

Was die zweite auf der gewöhnlichen Ebene vorgetragene Kritik unserer gewöhnlichen Erkenntnis angeht, so wird sie ebenfalls im Rahmen der konventionellen Perspektive in einer Weise aufgefan­gen, die sie praktisch bedeutungslos macht. Dies geschieht, indem man einräumt, daß unsere gewöhnliche Suche nach Erkenntnis der äußeren Welt eine gewisse Kreisförmigkeit in sich birgt, da sie von Erfahrungen abhängig ist. Während unsere Erkenntnis uns also im­mer mehr Beweismaterial über eine solche äußere Welt vorlegt, macht die allgemeine Theorie, die sich dabei herauskristallisiert, zunehmend deutlich, daß alle Beweise für »die Welt* und alle Begeg­nung mit »der Welt« nur Erkenntnisvorgänge sind, Reizungen unse­res Erkenntnisapparates. Dies wird einfach als eine Tatsache hinge­nommen, die in Hinsicht auf Erkenntnis und Erforschung nun ein­mal gegeben ist. Diese Tatsache läßt sich deshalb, vom gewöhnli­chen Standpunkt gesehen, nicht dazu heranziehen zu behaupten, daß »alles« nur Wahrnehmungsinhalt und das Ergebnis von Schluß­folgerungen ist. »Erkennen« und die erkannte Welt sind in der ge­wöhnlichen Sprache ein ineinandergreifendes Paar, so daß es sinnlos wäre, eine Hälfte dieses Paares herzunehmen und zu versuchen.

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alles was mit der anderen zu tun hat, auf diese eine Hälfte zu redu­zieren. Mit anderen Worten: Indem wir unser gewöhnliches »Er­kennen« und »Schlußfolgern« sowie ihre psychophysische Grund­lage anerkennen, sind wir gewöhnlich auch an die übrigen Aspekte der Sichtweise gebunden, in die diese Begriffe eingebettet sind - wir sind gezwungen, die äußere Welt der Dinge anzuerkennen.

Rückblickend läßt sich also sagen: Zwar ist es wahr, daß unsere gewöhnliche Erkenntnis notwendig in Subjektivität begründet ist, doch ist diese »Wahrheit« aus gewöhnlicher Sicht eine ziemliche Binsenwahrheit - eine Aussage über das Offensichtliche, darüber, »wie es nun einmal ist«. So mag die Subjektivität gewöhnlicher Erkenntnis durchaus als eine Beschränkung gesehen werden, die zum Beispiel in folgenden Fakten zum Ausdruck kommt: in unse­rem Mangel an Allwissenheit; in unserer Unfähigkeit, die zukünfti­gen Probleme vorauszusehen, die durch unsere gegenwärtigen Handlungen verursacht werden; in unserer Schwierigkeit, unsere Suche nach Erkenntnis auf eine feste Grundlage zu stellen und so weiter. Aber, um es nochmals zu wiederholen: Diese Grenzen und Schwierigkeiten rechtfertigen aus der gewöhnlichen Sicht nicht, daß wir unsere Erkenntnis verunglimpfen oder ablehnen. Es ist philosophisch nicht statthaft, die Bedeutsamkeit dieser Grenzen zu sehr zu betonen, um so mehr, als eine extreme Unzufriedenheit mit unserer Erkenntnis keine positive, »realistisch-nüchterne« Alter­native zu bieten scheint. Zu sagen, daß »alles nur der Inhalt unse­rer Erkenntnis ist«, besagt also entweder gar nichts, ist ein Trug­schluß oder stellt einen Versuch dar, der Wirklichkeit zu ent­fliehen.

Diese konventionellen philosophischen Vorbehalte, die die bei­den Behauptungen, unsere Welt sei »nur ein Erkenntnisakt«, als nicht ernstzunehmend hinstellen, werden sich im zwölften Kapitel noch als sehr hilfreich erweisen. Sie dienen nämlich dazu, einen neuen und gültigen Anwendungsbereich für derartige Behauptun­gen aufzuzeigen. Im Augenblick müssen wir diese theoretischen Vorbehalte jedoch vorübergehend beiseite lassen, damit wir zu­mindest beginnen, die Bedeutsamkeit zu spüren, die die Hinterfra­gung unserer gewöhnlichen Zugangswege zur Erkenntnis hat.

Es gibt tatsächlich stichhaltige Gründe für eine Kritik* der Sicht­weise, nach der der Stoff, aus dem die Welt unserer Erfahrung ge­macht ist, bloß das Produkt eines bestimmten Erkenntnismodus ist.

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Eigentlich sollten wir unsere Kritik nicht auf eine Weise Vorbringen, die den subjektiven Aspekt des Bildes von Erkennendem und Er­kanntem betont. Aber es ist nützlich, dies vorübergehend einmal zu tun, um dem Gefühl für diese Kritik im Bereich solcher Begriffe wie Subjekt und Objekt auch Nachdruck zu verleihen, und dann erst zu einer ausgewogenen Formulierung überzugehen.

Alles, was wir durch unser Leben und unsere Geschichte kennen­lernen, wird vom Geist und von den Sinnen aufgenommen. Wir sind gewöhnlich dermaßen nach außen orientiert und von den Dingen eingenommen, daß wir der Tatsache (im Rahmen unserer gewöhnli­chen Sichtweise), daß alle »Dinge« nur das sind, was der Geist uns zeigt, was vom Geist aufgenommen werden kann, nur wenig Beach­tung schenken. Ebensowenig bemerken wir, daß eine Analyse aller Dinge ergibt, daß sie durch einige wenige gemeinsame Elemente gegeben sind: Sinneswahrnehmungen, Bilder, Wörter, begriffliche Vorstellungen, Interpretationen, verbale Assoziationen, Erinnerun­gen . . . das ist alles, was an unserer Welt dran ist! Vervielfältigun­gen, Umgruppierungen, Modifikationen von Vorstellungsbildern und Ideen - nicht als »Geistestätigkeiten«!

Auch wenn alle konventionellen Beweisgründe bisher dafür spre­chen, ist diese Abhängigkeit von »Geistestätigkeit« nicht unsere einzige Möglichkeit, in der Welt zu sein. Sie ist sogar eine recht willkürliche und beschränkte Seinsweise. Sie sollte untersucht und in Frage gestellt und nicht als selbstverständlich hingenommen wer­den. Wir sollten sie in einem weitergefaßten Rahmen von Möglich­keiten und Werten sehen.

Um dies tatsächlich tun zu können, ist es wahrscheinlich zuerst einmal nötig, daß wir eine geraume Weile damit verbringen, unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft genau zu überprüfen und zu fühlen, was es bedeutet, daß dies alles nur eine Geistestätigkeit ist. Indem wir alles, was uns umgibt und betrifft, genau überprüfen, wird offenkundig, daß unsere Erfahrungen trotz ihrer Vielfalt und fesselnden Überzeugungskraft allesamt nur geistige Bilder und Vor­stellungen sind.

Schauen Sie so tief wie möglich in diese Tatsache hinein, die für unser Dasein als Person charakteristisch ist. Betrachten Sie den Erziehungs- und Bildungsprozeß, die gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche sowie unsere Art, uns zu unterhalten. Schauen Sie auf die Erfolge und Vorteile des globalen Trends unserer Entwicklung. Was haben wir tatsächlich erreicht? Es scheint nur aus geistigen

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Bildern, Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen zu bestehen . . . weiteren »Geistestätigkeiten«.

Können wir uns mit diesen Ergebnissen all unseres menschlichen Strebens abfinden? Sollte es nicht doch noch etwas Tiefergehendes, Reicheres und Erfüllenderes geben? Ist dieser konventionelle Trend wirklich ein Fortschritt? Unseren gewöhnlichen Begriffsbestimmun­gen zufolge müßten alle diese Fragen mit »Ja« beantwortet werden. Es hat viel äußeren technologischen Fortschritt gegeben; der »Le­bensstandard« wurde erhöht, die Ausbreitung von Krankheiten ist weitgehend unter Kontrolle gebracht worden und so weiter. Aber auf einer eher inneren Ebene bestehen Enttäuschung, Entfremdung und Disharmonie mit unserer Umwelt fort. Diese enttäuschenden Erfahrungen könnten mehr sein als nur die »harte Realität des Le­bens«. Sie könnten ein Anzeichen dafür sein, daß unsere ganze Art und Weise, an das Leben heranzugehen, bisher fehlgeleitet war. Sie sind vielleicht nur eine grobe Manifestation eines Unbefriedigtseins, das alle Geistestätigkeiten begleitet, ganz gleich, wie angenehm oder tiefschürfend sie sich - für sich selbst - auch ausnehmen.

Da der Horizont unseres Verstehens nicht weit genug gespannt ist, sind unsere Ziele zu kurz gesteckt, um in unserer Welt ein wir­kungsvolles Gleichgewicht zuwege zu bringen . . . Wir gleichen Glühwürmchen, die in einer Sommernacht über einem Feld ihre Kreise ziehen. Ohne klare Zielvorstellungen und das Wissen, mit dem wir sie in die Tat umsetzen können, hat die Energie, die wir verausgaben, nur einen geringen Wert und bewirkt kaum etwas.

Unsere Welt blickt auf eine lange und abwechslungsreiche Ge­schichte zurück. Wir können diese Geschichte studieren, um einen Überblick über »die Tatsachen« zu erhalten, aber wir können sie auch als etwas ansehen, das uns Hinweise darauf gibt, in welchem Verhältnis unsere Lebensweise und unsere Einstellung zum Dasein zu transzendenten Alternativen stehen. Wir können die Geschichte der »Vergangenheit« als eine gute Möglichkeit ansehen, einen Ein­blick in die subtile Struktur oder die dynamischen Konfigurationen der niederen Zeit zu gewinnen, die »hier« ist.

Die Welt der menschlichen Belange wurde von jeher von An­schauungen in Gang gehalten. Die elementarste dieser Anschauun­gen ist die Ansicht, daß es unserem Leben an etwas fehlt und daß wir Erfüllung »erlangen« müssen. Immer wieder ist dieses »Erlan­gen« mit Tausenden von anderen Anschauungen und Verhaltenwei­

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sen gekoppelt worden, denen man entsprechen mußte. Diese An­schauungen, Vorurteile, parteiischen Konfrontationen und »objek­tiven Tatsachen« gehen den existentiellen Kernfragen unseres »In- der-Welt-Seins« aus dem Weg. Indem wir die Geschäfte der Welt auf diese Weise geführt haben, haben wir sie ziemlich schlecht ge­führt - wir haben die Welt bankrott gewirtschaftet.

Wieviel Würde, innere Harmonie oder Integration in die Natur haben wir erreicht? Wieviel zwischenmenschliche Kommunikation hat es tatsächlich gegeben? Wie viele Menschen können das Leben als großes Geschenk ansehen, als die festliche Aufführung eines Schauspiels?

Die Geschichte ist ein beredtes Zeugnis für die Unzufriedenheit mit der Welt und alle möglichen Versuche, sie zu transzendieren. Viele dieser Transzendierungsversuche, wie auch der Versuch, die Welt und das Los der Menschheit zu »verbessern«, sind in großem Rahmen institutionalisiert worden. Doch sind diese Versuche zu­meist auf Anschauungen - einen Glauben - gegründet worden und nicht so sehr auf eine Untersuchung des Wesens von wahren Wer­ten, wahrer Tugend und wahrem Gleichgewicht.

Anschauungen . . . Ungewißheit . . . Zweifel . . . schützende Barri­kaden gegen den Zweifel . . . Auseinandersetzungen . . . Zwang und Bestechungen, um den Status quo zu erhalten . . . Drohungen . . . Schuldgefühle . . . Angst . . . daraus resultierende Unehrlichkeit an­deren und sich selbst gegenüber . . . Entzweiung . . . unterschwellige Schizophrenie . . . Fanatismus . . . Hoffnungen und Befürchtungen zugleich -

ungeheurer Druck, der alles durchzieht - Gewöhnung,so daß wir ihn nicht einmal mehr bemerken.Wer kann unter diesen Umständen sich unmittelbar und einfühlend dem stellen,was das Leben uns zu bieten hat?

Als Begleiterscheinung solcher restriktiven Trends haben sich hefti­ge Gegenströmungen gebildet - Gegenbewegungen gegen das »Gu­te« und »Schickliche«. Gleichzeitig sind esoterische »Höherent­wicklungen« in Mode gekommen, Geheimlehren für die wenigen

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Auserwählten, die sich vom »Wahnsinn« der Vielen abgrenzen. Diese Lehren sind in ihrer elitären Haltung wiederum äußerst pro­tektionistisch, mit Glaubenssätzen gerüstet. Auf der Suche nach un­gewöhnlichen Transformationen haben sie alle Ideen, die sich an einer gesunden Natürlichkeit orientieren, zugunsten widernatürli­cher Techniken und unnatürlichen Verhaltens verächtlich gemacht. Allzu oft ist es allzu schnell dazu gekommen, daß - bei dem Ver­such, die Probleme des Daseins zu bewältigen - jegliches Gefühl für eine angemessene Perspektive, alle Unterscheidungskraft und das Interesse an einer persönlichen Wahrheitsfindung verloren gingen. Die Herausforderung und die Verantwortlichkeit des einzelnen wer­den an irgendeine sogenannte Autorität abgetreten, die allein »weiß«. Fragen werden keine mehr gestellt. Es mag für eine Weile sehr beruhigend und befriedigend sein, gesagt zu bekommen: »Alle anderen sind verblendet. Nur wir haben die Antwort.«

Anschauungen und Glaubenssätze, die sich auf »Außenlieger« berufen, haben dazu geführt, daß wir innerlich verarmt, unbefrie­digt, unfähig und gehetzt sind. Und dann glaubt man, daß Anschau­ungen und Glaubenssätze, die sich auf andere Außenlieger berufen, uns aufrichten und sogar befreien sollen? Kann man daran glauben?

Versuche, das menschliche Potential voll auszuschöpfen, haben oft das Gegenteil bewirkt - sie haben die menschliche Intelligenz eingefroren und stillgelegt. Anschauungen und Glaubensstrukturen, die mit sehr viel Konformitätsdruck verbunden sind, werden uns aufgezwungen. Psychophysische Techniken werden immer noch da­zu benutzt, Menschen in anomale Zustände hineinzumanipulieren. Der Geist offener und intelligenter Untersuchung wird heftig ange­griffen. Der Intellekt selbst wird geschmäht. Selbstgefälliges Nach- plappern »der Antwort« überwiegt.

Unser Raum ist uns genommen worden. Unsere Zeit ist mit den verschiedensten sinnlosen Aufgaben ausgefüllt. Unsere natürlichen Hilfsquellen und unsere Körper sind verschmutzt worden. Aber kei­ne dieser Situationen reicht an die erschreckende Tatsache heran, daß unsere menschliche Intelligenz - unser Unterscheidungsvermö­gen - in bestimmte Kanäle gezwungen, eingesperrt und stillgelegt wurde. Diese Fähigkeit ist unser größter Besitz, unsere einzige Chance zur Erfüllung.

Wenn eine andere Person Ihre Freiheit bei jeder Gelegenheit beschneiden, Ihnen Ihre Grundbedürfnisse nach Trost und mensch­licher Erfüllung versagen und Sie dazu zwingen würde, zwanzig Jah­

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re lang einem Lebensstil zu folgen, der Ihren Gefühlen völlig zuwi­derläuft, würden Sie sich nicht dagegen empören? Würden Sie tief im Inneren nicht wütend - oder gar rasend - werden, auch wenn Sie sich der Situation oberflächlich angepaßt haben? Aus unserer Ge­schichte ersehen wir jedoch, daß diese Art von Manipulation uns schon seit Jahrtausenden zugemutet wird!

Diese Geschichte der Unterdrückung ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie schwerwiegend unser gegenwärtiges Dilemma ist. Wir sind in der Lage, eine Bestandsaufnahme dieser ganzen Entwick­lung zu machen. In irgendeiner tiefen Schicht unserer Psyche haben wir dies bereits getan und sind nun erschöpft, im höchsten Maße erschöpft. Die ganze Angelegenheit widert uns entsetzlich an. Unse­re grundlegenden Schwierigkeiten werden nicht gelöst, und dies können wir klar und deutlich sehen.

Tausende von Universitäten und Forschungsinstituten, die sich ständig erweitern und vermehren, reichen nicht dazu aus, das Grundmuster zu verändern. Bedeutende religiöse Persönlichkeiten sind erschienen und haben ihr Leben der Aufgabe gewidmet, uns aufzuwecken. Aber trotzdem läuft dasselbe Muster weiter und im­mer weiter. Solange wir die Sache nicht selbst in die Hand nehmen, solange wir nicht unser Unterscheidungsvermögen aktiv einsetzen und Ideen und Anschauungen selbst prüfen, werden weder der tech­nologische Fortschritt noch religiöse Heilslehren irgendeine Wir­kung hinterlassen. Wenn wir dies zu tun versäumen, führen alle »weisen Sprüche« - ganz gleich wie wertvoll sie potentiell sein mö­gen - nur zu weiteren Anschauungen und Ablenkungen . . . »un­durchdrungenen Trennwänden«. In Verbindung mit diesem Buch wird dasselbe Problem entstehen, wenn wir nicht mit einer neuen Einstellung zu »Erkenntnis« und »Wissen« damit umgehen.

Bis jetzt sind wir die perfekten Rechtgläubigen gewesen. Was ist das Heilmittel? WISSEN, innere Intelligenz, lebendiges würdigen­des Gewahrsein? Wenn diese uns verfügbar sind, wird es möglich, die Elemente unseres Bereiches positiv zu nutzen.

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Niederes Wissen - ein Hindernis und eine Gelegenheit

Es ist möglich, sich auf eine ganz neue Weise zu öffnen. Wir können uns in Gebiete vorwagen, die keine Landkarte erfassen kann, und wir brauchen uns dabei nicht auf die gewöhnlich notwendigen kognitiven Hilfsmittel und die gewöhnlichen Kategorien zu verlassen, denn alles und überall »ist« WISSEN. Wissens-Soheit kann mit allem Wissen umgehen und dabei im­mer mehr von sich selbst sowie immer größere Lebensfülle finden.

Obwohl wir, wenn wir wahre Erfüllung finden wollen, unbestreitbar eines anderen Zugangs zur Erkenntnis bedürfen, ist es meist ziem­lich schwierig, einen neuen Ansatz zu gewinnen. Neben all den an­deren Aspekten, die man an der gewöhnlichen Erkenntnis kritisie­ren kann, ist dies die wohl unannehmbarste Eigenart des Trends der »Geistestätigkeit« und der »Strukturierung durch Anschauungen« - er läßt keine positive und sinnvolle Kritik seiner selbst zu. Aus diesem Grund macht er es den neuen Perspektiven fast unmöglich durchzuscheinen.

Obwohl an Anschauungen und Vorstellungen an sich nichts falsch sein muß, werden sie doch zu einer Falle, sobald sie für uns die einzige Weise sind, vom Sein zu wissen. Sie wuchern und verzahnen sich ineinander, bis Alternativen zu ihnen nicht einmal mehr sicht­bar sind. Sie laufen auf eine weitgehende Einschläferung unserer Aufmerksamkeit hinaus und sorgen dafür, daß wir auf eine sehr beschränkte Weise auf »der richtigen Wellenlänge« bleiben.

Im großen und ganzen läuft es darauf hinaus, daß wir die Wirk­lichkeit, um sie zu erkennen, scheinbar auf der Ebene aufnehmen müssen, auf der sie sich uns darbietet - der Ebene, auf der es klar und deutlich etwas zu erkennen gibt. Dies erweist sich jedoch als immer dieselbe Art von Aufmerksamkeit und Erkennen. So sind wir schließlich unbewußt davon überzeugt, daß es, selbst wenn wir an­derswo hinschauen und auf eine andere Weise sehen könnten, dort gar nichts zu sehen gäbe - und ganz bestimmt nichts, das für diese unsere gewöhnliche Welt irgendwie von Belang wäre. Zumindest scheint es so.

Da die gewöhnlichen Sichtweisen dermaßen »protektionistisch« sind, müssen wir uns, um uns aus ihren Begrenzungen befreien zu

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können, ganz besonders darum bemühen, sie freimütig in Frage zu stellen. Eben weil sie jedoch einen so großen Widerstand gegen jedwede Veränderung verkörpern, werden wir uns auch mit den Einwänden befassen müssen, die von unseren alten Perspektiven herstammen. Wir mögen innerlich gespalten sein: Obgleich wir mit unseren alten Sichtweisen unzufrieden sind, unterliegen wir immer noch ihren Vorsichtsmaßregeln und ihrem Konservatismus. Ja, wir mögen sogar an der Zuverlässigkeit unserer Kritik gewöhnlicher Erkenntnis zu zweifeln beginnen und deswegen gehemmt sein, noch weiter zu schauen: Wie kommen wir überhaupt dazu zu sagen, daß gewöhnliche Erkenntnis irrig ist, weil sie nur eine Geistestätigkeit oder nur das ist, was wir erkennen? Woher wollen wir wissen, daß es überhaupt eine ganz andere Art des Erkennens (nämlich »Wissen«) gibt? Wie können wir annehmen, daß wir fähig sind, auf diese neue Art und Weise zu »wissen«? Und wie können wir sicher sein, daß ein derartiges »Wissen« für uns wichtig ist, für unsere gewohnte Erfahrungswelt von Belang? Wie sollten außergewöhnliche Be­wußtseinszustände einen wichtigen, geschweige denn einen ent­scheidenden Einfluß auf den gewöhnlichen Bewußtseinszustand haben?

Diese Zweifel lassen sich auf der philosophischen und auf der existentiellen Ebene nur dadurch ausräumen, daß wir den alten An­satz kritisieren (und dadurch einen Hinweis auf das neuartige »Wis­sen« geben), ohne dabei auch nur einen der Grundbegriffe oder eine der Voraus-Setzungen der gewöhnlichen Erkenntnis beizubehalten. Wir müssen den »Geist«, den psychophysischen Organismus oder das Subjekt nicht unbedingt als grundlegend annehmen. Wir müssen auch nicht daran festhalten, der Konvention entsprechend zu beto­nen, daß unsere gewöhnliche Erkenntnis eine ganz bestimmte Funk­tion oder ein ganz bestimmter Zustand ist. Und indem wir darauf nicht länger Nachdruck legen, räumen wir die Vorstellung aus dem Weg, daß ein besseres »Wissen« eine Variation der gewöhnlichen Erkenntis sein muß - ein außergewöhnlicher Zustand, wie zum Bei­spiel ein »Zustand veränderten Bewußtseins«. Wenn wir darange­hen, unsere Erfahrung anhand eines derart fundamentalen In-Fra- gestellens zu verfeinern, werden wir eine neue Art von Wissens- Soheit entdecken, die wie von selbst hervortritt und die zuerst den Charakter einer wachsenden und kraftvollen Kritikfähigkeit an­nimmt. Diese Fähigkeit ist bereits greifbar nahe; um sie freizulegen, bedarf es nur eines gründlichen Hausputzes.

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Eben weil es uns so nahe ist, dürfen wir auch sagen, daß dieses »Wissen« und seine kritische Bewertung unserer Situation auch wirklich von Belang sind, und daß es selbst keinen neuen Zustand darstellt. Es ist von gewöhnlichem Erkennen nicht durch eine zu­standspezifische Grenze abgetrennt; es ist von Belang, weil es tat­sächlich dieselben Inhalte erfaßt, die wir erkennen. Der springende Punkt ist jedoch, daß »Wissen« dabei nicht die gewöhnlichen Bewertungen und Voreingenommenheiten bezüglich dessen, was mit dem Inhalt gegeben ist, verstärkt. Dieser neue Zugang zum Wissen kann den Inhalt gewöhnlicher Erkenntnis und sogar den Status der »Welt« in Frage stellen, ohne damit irgend etwas abzu­lehnen oder zu behaupten, daß die gewöhnlichen Dinge nicht exi­stieren. Das hervortretende »Wissen« ist einfach fähig, die vertrau­te Welt und die menschliche Erfahrung zu überblicken und zu se­hen, daß

dies alles nur »niederes Wissen« ist.

Mit dieser Formulierung lassen sich schließlich die Einwände ver­meiden, die gegen die gewöhnlichen Kritiken der gewöhnlichen Erkenntnis vorgebracht werden. So ist zum Beispiel eine restriktive Betonung des Subjekts tatsächlich eine Eigenart niederen Wissens, doch ist niederes Wissen nicht nur das, was vom Subjekt erkannt wird. Es ist statt dessen der ganze Trend, zu dem ein »Subjekt« gehört, das »mit Hilfe der gewöhnlichen Erkenntnis Objekte er­kennt«. Während es auf einen unhaltbaren subjektiven Idealismus hinausläuft, die Dinge der Welt auf einen »bloßen Gedanken« zu reduzieren, der von einem Geist gedacht wird, können wir doch berechtigterweise sagen, daß alles - erkennende Subjekte und er­kannte Objekte - niederes Wissen ist. Niederes Wissen ist zwar qualitativ nicht von gewöhnlicher Erkenntnis verschieden, doch ist es ein weitergefaßter Begriff, der alle Facetten unserer konventio­nellen Wirklichkeit einschließt.

Die physischen Objekte selbst sind nur »Wissen« im Sinne dieses »niederen Wissens«, ohne daß dies eine Reduktion in der Art eines reinen Subjektivismus bedeutet. Wie wir früher sahen, daß alle Dinge »Raum« und »Zeit« sind, können wir jetzt sehen, daß sie »Wissen« sind. Dies läuft darauf hinaus, die gewöhnliche Sicht des­sen, was die Welt ausmacht, durch eine andere zu ersetzen. Es gibt weder Subjekt noch Objekt - nur einen bestimmten und ein­

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schränkenden »Raum«, eine bestimmte und einschränkende »Zeit« und ein bestimmtes und einschränkendes »Wissen«.

Unser Bereich ist niederer »Raum«, niedere »Zeit« und niederes »Wissen«, wobei der Begriff »niederes Wissen« in einer Weise ge­braucht wird, die mit dem außergewöhnlich umfassenden Sinn des Begriffes »Bedeutung« vergleichbar ist, wie er in seinem Verhältnis zur »Zeit« im ersten und zweiten Teil des Buches verwendet wurde. In eben diesem Sinne dürfen wir sogar sagen, daß die Welt eine »Bedeutung« ist. Wir können dann noch weiter gehen und sagen, daß die Welt eine »Anschauung« ist, und zwar in dem besonderen Sinne, der sich aus dem ungewöhnlich umfassenden Gültigkeitsbe­reich des Begriffes »niederen Wissens« ergibt - also nicht eine An­schauung in dem gewöhnlichen Sinne, daß sie nur das beinhaltet, was man uns zu sehen oder zu glauben gelehrt hat. Die Welt auf diese gewöhnliche Weise auf eine Anschauung zu reduzieren, hieße, viele Dinge vorauszusetzen, die eine derartige Reduktion ja gerade neu zu bewerten vorgibt - den Menschen, den Geist, den Körper, Lehren, Erziehungssysteme und so weiter.

Sagen wir, daß die Welt niederes Wissen ist, können wir tief genug Vordringen und alles in Frage stellen, ohne uns in Widersprüchen zu verfangen. Was bislang nicht in Frage zu stellen war, kann nun in Frage gestellt werden. Und diese kritische In-Frage-Stellung und die Überprüfung des niederen Wissens läßt sich nun wie in der vorangegangenen - jedoch an der Oberfläche bleibenden - Kritik der gewöhnlichen Erkenntnis auf ganz bestimmte Punkte aufbauen.

Ganz gleich wie schöpferisch, erfindungsreich und lebendig unser Bereich im allgemeinen auch erscheinen mag, wenn er als niederes Wissen gesehen wird, offenbart er sich als in ermüdender Weise sich wiederholend und abstumpfend. Er ist im Grunde nur ein Ablauf, der funktioniert wie eine bloße Aufzeichnungsmaschine . . . ober­flächliche Reaktionen, die mühsam und mechanisch einem erken­nenden Subjekt zugesprochen werden.

Niederes Wissen hat nur sehr geringen Tiefgang und eine äußerst geringe Einfühlungsgabe, und außerdem »fließt« es nicht. Alles wird dazu gezwungen, mit einer gewissen impliziten Logik konform zu gehen, nach der Erkenntnis zustande kommt und die erkannte Welt strukturiert ist. Niederes Wissen wirkt wie eine Art Magnet, der Erfahrungen und Vorwegnahmen anzieht, welche eine Ver­ständnis des eigentlichen Wesens der Erscheinungen verdunkeln. Es macht nur die äußerste Oberfläche von RAUM und ZEIT ausfindig

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und läßt einen begrenzten »Raum« und eine begrenzte »Zeit« ent­stehen, welche ihrerseits die Fähigkeit beschränken, zu wissen und Werte zu bestimmen. Niederer Raum ist nicht geräumig genug für eine raumgreifende Perspektive. Niedere Zeit rast zu schnell dahin, als daß wir uns über die Dinge klarwerden und richtig nachdenken könnten.

Die Tatsache, daß niederer Raum und niedere Zeit für weiterge­faßte Perspektiven oder tiefgehende und feinsinnige Betrachtungen nicht offen genug sind, spiegelt sich in dem unverläßlichen und un- erfüllenden Charakter des Großteils unserer gewöhnlichen Er­kenntnis wider. Wir hören oft: »Wahrheit macht frei.« Und trotz­dem haben wir manchmal den Verdacht, daß sich die Wahrheit doch nicht als so angenehm und befreiend erweisen wird. Eine derart düstere Vermutung scheint uns vor allem deswegen plausibel, weil wir schon allzuviel Erfahrung mit einem auf niederem Wissen basie­renden Verständnis der »Wahrheit« machen mußten.

Weit davon entfernt, uns zu befreien, ist - wie im Fall der ge­wöhnlichen Erkenntnis - die fundamentalere Bedingung des niede­ren Wissens ein Faktor, der unsere Fähigkeit auf wirklich neue Wei­se zu denken, schwer behindert. Niederes Wissen hat die Tendenz, uns wie ein Magnet an eine bestimmte Bandbreite von verdunkeln­den und verschmutzenden Phänomenen zu binden. Es erschafft eine Art lokales Gravitationsfeld, und wenn wir versuchen, mit Hilfe des niederen Wissens Auswege daraus zu finden, schleppen wir eben dieses niedere Wissen immer weiter mit uns herum. Wir sind von unseren Entdeckungen und Neuerungen dermaßen fasziniert, daß wir ihre zukünftigen Konsequenzen übersehen.

Zu diesen Konsequenzen gehört, daß immer wieder all das, was wir für allgemeingültig und verläßlich hielten, in sich zusammenfällt. Die Zukunft macht dann auf vielen Ebenen - auf der gesellschaftli­chen, psychischen, physischen, ökonomischen und so weiter - Ge­genreaktionen gegen unsere sogenannten »Lösungen« evident. Ständig werden neue gefährliche Nebenwirkungen unserer Er­kenntnisse offenbar. Unsere Zeit reicht nicht aus, weder zu einer angemessenen Bewertung noch zu einem wirklichen Genießen. Aber trotzdem dient sie, auf lange Sicht, dazu, unsere Erkenntnis als niederes Wissen einzustufen.

Unsere Unfähigkeit, verläßlich zwischen zeitgebundenen und zeitlosen Werten und Wahrheiten zu unterscheiden, wie auch unser Unvermögen, die langzeitlichen Auswirkungen unserer Handlungen

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richtig einzuschätzen, sind ein deutliches Zeichen dafür, daß ein »Wissen« zur Anwendung kam, welches nicht in der Lage ist, zur Essenz der »Zeit« vorzustoßen und ihre vielfältigen Facetten zu unterscheiden. Da diese Art von »Wissen« in unserem Leben nur noch mehr Unausgewogenheit hervorruft und anstelle von Harmo­nie, Vertrauen und innerer Stärke nur Unsicherheit und krampfhaf­tes Festhalten erzeugt, können wir sicher sein, daß es nicht in ihrer Macht steht, »Zeit« wahrhaft zu erfassen. Diese enttäuschenden Grundzüge sind jedoch nicht bloß »die Welt, wie sie nun einmal ist«, die conditio humana. Ebensowenig sind das Leiden und der Mangel an Erfüllung, die wir ständig erfahren, einfach unser »Los im Le­ben« oder eine Strafe, die uns von einem kosmischen Aufpasser oder einer gnadenlosen Zeit auferlegt worden wären. Es gibt eine andere Weise zu wissen, und wir können lernen, sie aufzuschließen und unmittelbar zu erfahren.

Wir haben die von niederem Wissen verursachten Probleme bis­her beiseite geschoben, weil wir uns wirklich davor fürchten, sie zu hinterfragen. Wir haben Angst, daß wir tatsächlich eine Alternative entdecken könnten, daß wir auf Fragen, die der Konvention nach unbeantwortbar sind, tatsächlich eine Antwort finden werden. Wir könnten auf eine Art von »Wissen« stoßen, die weit über den Hori­zont des Territoriums des Selbst hinausreicht.

Das Selbst will nicht wissen, wenn dieses Wissen es der Vorherr­schaft in der umfassenden Weltordnung beraubt. Es wird sich nicht gestatten, ein derartiges »Wissen« anzuerkennen; lieber spielt es weiterhin mit Anschauungen, die seine Probleme schon gut genug in den Griff zu bekommen scheinen, die jedoch - wegen den Begren­zungen, die diesen Anschauungen innewohnen - statt dessen ein tiefes Gefühl von Entfremdung, Schuld, Angst und Unvermögen hervorrufen.

Wir brauchen jedoch nicht in diesem Kreislauf von schädlichen Gefühlen und Meinungen gefangen bleiben. Wir können auf sie verzichten. Besonders heute, da die von niederem Wissen dargebo­tenen Probleme solche Ausmaße angenommen haben, daß sie eine Reaktion des GROSSEN WISSENS auslösen, brauchen wir uns nicht mehr davor zu fürchten, den gewöhnlichen Modus unseres Erkennens zu hinterfragen. Wo sich Denker in der Vergangenheit mit einem derartigen Hinterfragen beschäftigten, waren ihre Schlüs­se wegen der dem niederen Wissen eigenen Beschränkungen oft nicht überzeugend. GROSSES WISSEN vermag jedoch eine tiefge­

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hende Untersuchung zu tragen, ohne uns in einem nebulösen Be­reich der Ungewißheit und Verwirrung zurückzulassen.

GROSSES WISSEN erlaubt uns - auch wenn es selbst noch ver­schleiert bleibt -, über ein theoretisches In-Frage-Stellen der ge­wöhnlichen Erkenntnis hinauszugehen. Es fördert eine sehr massive und intensiv erfahrene Konfrontation. Es zeigt uns, daß das konven­tionelle Erkennen und die konventionelle Erkenntnis nicht nur im Vergleich mit höheren Perspektiven, sondern auch nach den Maß­stäben und Interessen des niederen Wissens selbst ungenau und begrenzt sind.

Indem wir einsehen, daß die übliche Logik des Erkennens selbst als eine Beschreibung dessen, was es erkennt und der Weise, wie die gewöhnliche Erkenntnis funktioniert, falsch ist, können wir unsere gewöhnliche beschränkende Sichtweise Umstürzen. Die erkennen­den »Anliegen« und die von ihnen erkannten Außenlieger werden nicht mehr als das eigentlich Erkennende und Erkannte hingenom­men. Vielleicht beginnen wir auch, die Erscheinungen auf eine Wei­se zu sehen, die uns gestattet, das niedere Wissen ganz natürlich aufzutauen und höhere Wissensfähigkeiten klar hervortreten zu las­sen. Solange die gewöhnlichen Sichtweisen in Kraft sind, können wir unmöglich sehen, woher die neue Art des »Wissens« (die nicht bloß ein anderer Geist-Körper-Zustand ist) kommen soll. Doch während wir unser gewöhnliches Erkennen kritisch untersuchen und es als »niederes Wissen« erfahren, mag sich uns eine Einsicht eröffnen, die uns einen neuen Akzent setzen läßt. Wir können mehr tun, als das niedere Wissen nur zu kritisieren. Wir können dahin gelangen, es als »niederes Wissen« zu sehen.

Diese einfache Verschiebung der Betonung zur Seite des Wissens ist von großer Wichtigkeit. Da »Wissen« nach unserem Verständnis für die Erscheinung grundlegend ist (anstatt nur von unten aus Ato­men, Molekülen, Organen, empfindenden Organismen, Sinnesda­ten, Interpretationen usw. aufgebaut zu sein), stellt es ein natürliches »Wissens«kontinuum* zur Verfügung, welches niederes Wissen mit höherem Wissen verbindet.

In Übereinstimmung mit diesem neuen Bild eines »Wissens«kon- tinuums ist Wissen nicht mehr das Ergebnis einer Interaktion von getrennten Dingen, welche aus bausteinartigen, unbelebten Teilen bestehen. Und insbesondere ist es nicht etwas, das nur in unseren Köpfen existiert, wie es dem konventionellen Bild entsprechen wür­

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de, das von einem für-sich-allein-stehenden Erkennenden ausgeht. Jenes Bild (der Inhalt einer bestimmten Art von »Wissen«) ist viel­mehr selbst nur eine Ableitung - ein »Fall« von »oben« - aus einer Ordnung, in der eine alles wahrnehmende und würdigende innige Vertrautheit das Primäre ist. Aus dieser Perspektive höherer Ord­nung gibt es keine erstarrten und lokalisierten »Dinge«, die in einen festgelegten Interaktionsprozeß eingebunden sind.

Im Gegensatz dazu wird das Bild der niederen Ebene in Begriffen von einzelnen Dingen vermittelt, die als solche darum kämpfen müssen, ihr Getrenntsein zu überwinden, indem sie »andere Dinge kennenlernen«. Da sie das Ergebnis einer Mißachtung des höheren Wissens und der höheren Interaktion sind, können die Begriffe, Wesenheiten und Erkenntnisse der niederen Ebene ab solche nicht zu einer transzendierenden Synthese zusammengefügt werden. Die Folge davon ist, daß wir vollkommen abgeschnitten sind, solange wir innerhalb des Weltbildes der niederen Ebene arbeiten.

Obwohl die niedere Ebene nicht einmal sich selbst richtig verste­hen kann, ist diese Tatsache doch auch recht hilfreich, denn sie ermöglicht die Anwendung einer anderen Sichtweise. Wird diese gewöhnliche Ebene nämlich als niederes Wissen gesehen, so ist der Weg zur Transzendenz immer gegenwärtig. Anstatt an den »Din­gen« festzuhalten, was uns in eine Sackgasse führt, ist es wesent­lich, »Wissen« an sich als grundlegend zu betrachten und damit aufzuhören, »Wissen« an Außenlieger, wie das erkennende Sub­jekt, zu binden. Ist erst einmal alles »Wissen« jedweder subjekti­ven und objektiven Assoziationen entkleidet, kann es ein Weg sein, der uns in eine neue und bislang unbemerkt gebliebene »Richtung« führt.

Die Aufgabe ist klar. Wir müssen aufhören, in Begriffen von »Dingen« immer weiter herabzusinken - denn vom Standpunkt der Dinge ist das öffnen im wesentlichen eine Frage der Geometrie, und es gibt keine Richtung, zu der hin sich zu öffnen wahrhaft erfül­lend wäre. Obwohl unendlich größeres »Wissen« verfügbar ist, ist es doch nicht »hier« in diesem oder jenem, und ebensowenig ist es da draußen oder anderswo. Dies soll keine Rätselaufgabe sein; es ist vielmehr die Aufhebung des Rätsels, vor das unsere gewöhnliche Situation der Suche nach Erfüllung uns ständig stellt.

Es ist möglich, sich auf eine ganz neue Weise zu öffnen. Wir können uns in Gebiete vorwagen, die keine Landkarte erfassen kann, und wir brauchen uns dabei nicht auf die gewöhnlich notwen­

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digen kognitiven Hilfsmittel und die gewöhnlichen Kategorien zu verlassen, denn alles und überall ist WISSEN. Für unsere gewöhn­lichen Zwecke definieren wir Gebiete, die leer, neutral oder »nicht-wissend« sind. In unserem neuen Modell gibt es jedoch kein »Nicht-Wissen« - Wissen ist immer gegeben. Zugegeben, wir - das heißt unser Selbst - können bestimmtes Wissen nicht verkraften. Deshalb halten wir es bloß für eine verwirrte Empfindung oder sogar für völlig leere (d. h. uninteressante) Bereiche der Welt - für »tote Punkte« oder gar für den Tod selbst. Höheres Wissen oder Wissens-Soheit kann jedoch mit allem Wissen umgehen und dabei immer mehr von sich selbst sowie immer größere Lebensfülle finden.

Unsere Diskussion hat, soweit sie bisher gediehen ist, folgendes gezeigt: Eine Kritik unseres Bereiches als »nur das, was wir erken­nen« ist nicht fundiert; eine Kritik hingegen, die jenen Bereich als »niederes Wissen« sieht, ist nicht nur stichhaltig, sondern ist tatsäch­lich auch eine ungeheuer erregende und positive Aussage. Sie ist jedoch eine Aussage, die sowohl eine in ihrer Tiefe schwer zu er­messende Gelegenheit als auch eine Verantwortung und Verpflich­tung von ungeheurer Tragweite zum Ausdruck bringt.

Wir haben gesehen, daß die »höheren« und »niederen« Tenden­zen gleichermaßen das Resultat des jeweiligen »Wissens«-Stand- punktes sind, den wir einnehmen. Und da wir ebenfalls gesehen haben, daß der physische Bereich selbst »Wissen« ist und damit den dynamischen Eigenschaften unseres »Wissens« unterliegt, ist es jetzt zweckdienlich, die Begrenzungen des niederen Wissens noch einmal in einem weitergefaßten Rahmen als zuvor zu betrachten. Niederes Wissen ist gekennzeichnet durch einen Bereich erstarrter »Erkenntnisobjekte« und die Neigung, die Wirklichkeit noch weiter in uns vertraute »Erkennbar-keiten« einzufrieren.

Angesichts der großen Möglichkeiten, die Wissen uns bietet, scheint der Trend, Wissens-Soheit einzufrieren, besonders zerstöre­risch. Ein derartiger Trend mag die Wissens-Soheit selbst vielleicht nicht berühren, er verwehrt uns jedoch mit Sicherheit den Zutritt zu ihr. Zwar scheint unsere Vorgehensweise alles »einzufrieren«, unse­re Welt zu stabilisieren und zu konsolidieren. Tatsächlich verhindert sie jedoch nur den Kontakt mit dem wahren Wesen jener Welt. Da »die Welt« selbst nur ein Begriff ist, der unsere unvollständigen Begegnungen mit RAUM und ZEIT abdeckt, wird ZEIT alles das,

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was wir durch eine derartige Begegnung verschließen und ignorie­ren, auffächern und unserer Aufmerksamkeit darbieten.

Solange wir an eine für-sich-allein-stehende und feste Welt glau­ben - das heißt, solange wir nicht gewahr sind, daß es nur RAUM und ZEIT gibt werden wir den Dingen unserer Welt ihre lebens­spendende Verbindung mit RAUM und ZEIT versagen und sie da­mit zu bloßen Einbildungen machen. Als derartige Einbildungen werden die Dinge fortschreitendem Verfall unterworfen sein, und da sie alles sind, was wir kennen, müssen wir feststellen, daß unse­re »ganze Welt« zunehmend erschöpft, unstabil und ungastlich wird.

Deswegen ist Achtsamkeit - mit der wir weniger eine Fixierung (im Sinne einer Geistestätigkeit) auf die konventionellen Dinge, sondern vielmehr ein würdigendes Gewahrsein von RAUM und ZEIT meinen - wesentlich dafür, das lebendige Gewebe unserer Welt zu erhalten. Damit ist nicht gesagt, daß die Welt verschwin­den wird, wenn wir »in die andere Richtung schauen«. Weder die Welt noch irgend etwas anderes wird in einem gewöhnlichen Sin­ne verschwinden. Doch entscheidet die Art zu »wissen«, die wir zur Anwendung bringen, über die Qualität dessen, was wir wissen und womit wir leben. Deswegen sind die hypnotisierenden Forde­rungen, die soziale Gepflogenheiten, Unterhaltungen und andere gutgemeinte harmlose Vergnügungen an unsere Aufmerksamkeit stellen (Beschäftigungen, die uns ständig auf einschränkende Weise »auf der richtigen Wellenlänge« halten), tatsächlich phy­sisch und psychisch in einem allesdurchdringenden Sinne zerstö­rerisch.

Es mag den Anschein haben, daß wir einer ganz neutralen und harmlosen Beschäftigung nachgehen, wenn wir nur ruhig dasitzen, nichts tun und uns ausschließlich mit unseren eigenen Angelegen­heiten befassen. Da dies jedoch der Unfähigkeit gleichkommt, von der Anwesenheit von RAUM und ZEIT Zeugnis abzulegen, ist es im Gegenteil eine existentiell geladene Handlung.

Der niedere Raum, in dem wir leben, ist kein fester, dauerhaf­ter Platz. Er verändert sich, denn er wird mit jedem einzelnen Ge­danken mehr oder weniger offen. Sie haben vielleicht schon fest­gestellt, daß einige Gedanken, Bücher und Bilder Sie erfrischen, wohingegen andere Sie ermüden. Dies ist nur ein Beispiel auf ei­ner bestimmten Ebene für die Veränderung, die sich ständig voll­zieht.

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Es ist wichtig, für solche Veränderungen sensibel zu sein, so daß wir den gesunden folgen und die ungesunden fallenlassen können. Wissens-Soheit steht uns bei diesen subtilen Entscheidungen bei und versetzt uns in die Lage, für uns selbst Sorge zu tragen. Dies ist echte Selbstheilung, echte Selbsterhaltung. Und darüber hinaus können wir - GROSSES WISSEN - alles verwandeln, alles »ge­sund« machen.

Sekunde um Sekunde muß Achtsamkeit (Wissens-Soheit) auf­rechterhalten werden. Die Öffnung und die Erfüllung, die sich dar­aus ergeben können, sind grenzenlos. Ebenso grenzenlos sind die Disharmonie und der fortschreitende Zusammenbruch, die sich aus einem anhaltenden Aussetzen dieser Aufmerksamkeit ergeben. We­der die Grenzen der Freude noch die Grenzen des Leides sind in irgendeiner Weise festgesetzt; sie werden uns nicht durch irgendwel­che Begrenzungen auferlegt, die unserer Welt oder unserem In-der- Welt-Sein inhärent sind.

RAUM und ZEIT tragen ein unendliches »Spielen« in beide Richtungen. Wir müssen ihnen also in der richtigen Weise und be­wußt begegnen, wenn sich ihre unendliche Fähigkeit zuzulassen, für uns nicht als verhängnisvoll erweisen soll. Denn es mag in der Tat von bedrohlicher Vorbedeutung für die Welt sein, wenn wir die im Spiel von RAUM und ZEIT angelegten positiven und freudvollen Möglichkeiten ignorieren.

Derartige Überlegungen und Möglichkeiten sind gänzlich eine Angelegenheit GROSSEN WISSENS. Wird sie hingegen im Rah­men der gewöhnlichen Vorwegnahme formuliert, scheint die Be­hauptung eindeutig falsch zu sein, die »Welt« sei eine Funktion der Aufmerksamkeit. Wir wollen hier nur den Einwand anführen, der allgemein als das stärkste Gegenargument angesehen wird. Er macht geltend, daß die Welt auch dann weiterhin ganz unabhän­gig ihren Gang geht, wenn eine Person stirbt und damit aufhört, von der Welt zu wissen. In der Sprache des »Wissens« ausge­drückt, besagt die Behauptung, die »Welt« sei eine Funktion der Aufmerksamkeit, nur, daß gewisse fundamentale Vorwegnahmen- etwa die einer unabhängigen Welt »da draußen« - weiterhin verstärkt werden, solange die entsprechende Art des »Wissens« (nämlich ein bestimmtes »Erkennen«) aufrechterhalten wird. Sterben stellt nicht unbedingt ein Umschalten von »Erkennen« zu »Wissen« dar - ein derartiges Umschalten ist weitaus dramati­scher - und beeinflußt natürlich nicht das »Erkennen« jener Be­

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obachter, die in der Welt der gewöhnlichen Erkenntnis weiterexi­stieren.

Die emstzunehmenden Auswirkungen, die niederes Wissen hat, wenn es in Kraft ist, machen es verständlich, daß wir eine solche Form des Wissens transzendieren möchten. Wir können es auf der logischen, historischen, intuitiven und auf vielen anderen Ebenen kritisieren. Und da wir jetzt zu sehen vermögen, daß es ein natürli­ches Kontinuum gibt, welches niederes Wissen mit höherem Wissen verbindet, wird deutlich, warum eine derartige Kritik und ein derar­tiger Versuch des Auftauens Erfolg haben kann.

Wir können tief im Herzen gefühlte Überzeugungen, die Lektio­nen der Geschichte und logische Analysen tatsächlich dazu verwen­den, den Weg zu bereiten, auf dem unsere Wissens-Soheit weiter­schreiten kann. Weder ungewöhnliche »mystische« Zustände noch rein theoretische Spekulation sind zu wahrer Erleuchtung notwen­dig. Mit GROSSEM WISSEN als Grundlage für alles Wissen und Dasein, können unser Denken und unsere Analysen frei in dieses WISSEN und seinen breiteren Spielraum für Einsichten hineinflie­ßen. Wenn wir dann aus GROSSEM WISSEN immer mehr Wis- sens-Soheit heranziehen, können wir Schlußfolgerungen und Ge­danken nachgehen, die andernfalls abstrakte Spekulationen bleiben würden, und sie unmittelbar auf die Probe stellen. Wir können uns einer Vision anvertrauen, die völlig offen und doch völlig rational ist. Ein derartiges Vorgehen mag in der Tat auf ein »Auftauen« der gewöhnlichen Erscheinung hinauslaufen und ein Weg zur Transzen­denz sein.

Um diese Gedanken zu illustrieren, können wir einmal die Me­thodologie und den Interessenbereich von Naturwissenschaften und Religionen betrachten. Die Naturwissenschaften verfolgen die Viel­falt der Phänomene bis zu ihrer Basis, bis zu einem gemeinsamen Grund, der ihre wesensmäßige Einheit oder Ähnlichkeit in aller scheinbaren Verschiedenheit aufzeigt. Diese Basis können entweder die zeitlichen Ursprünge oder die Bausteine der Materie auf der Mikro-Ebene sein. Wir können den Bereich und die Entwicklungs­tendenzen, mit denen sich die Wissenschaften beschäftigen, als ei­nen Kegel darstellen:

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Von dem Anfangspunkt (oder der Mikro-Ebene) aus nehmen end­lose und verschiedenartige Kombinationen ständig zu, so wie sich die Kegeloberfläche nach oben hin immer mehr ausdehnt. Die Na­turwissenschaft kann aufdecken, welche Prinzipien im Laufe dieses Ausdehnungs- und Vermehrungsprozesses entlang der Oberfläche des Kegels wirksam sind. Dieser Prozeß läßt sich nach oben und nach unten bis zur Spitze des Kegels verfolgen. Der Wissenschaft ist es jedoch ihrem Wesen nach verwehrt, irgend etwas über das zu wissen, was sich unterhalb dieses Punktes, in der den Kegel umge­benden Offenheit befindet. Keine gewöhnliche »Erkenntnis« oder Beobachtung - wie sehr sie auch durch technische Vorrichtungen verstärkt werden mag - läuft auf mehr als auf eine Aufwärts- oder Abwärtsbewegung entlang der Oberfläche des Kegels hinaus. In derartigen Untersuchungen ist nirgendwo eine Pforte zu entdecken, die zu größerem Wissen (oder einem transzendenten Grund für die beobachteten Phänomene) führt.

Das Hauptinteresse der Religionen gilt hingegen dem Transzen­denten Bereich unterhalb der Spitze des Kegels, denn dort sind die göttliche Einheit. Schöpferkraft und Freiheit zu finden. Aber auch die Religionen verwehren uns zumeist die Möglichkeit, um dieses Gebiet mit Hilfe unserer menschlichen Fähigkeiten tatsächlich zu wissen. So geht man im allgemeinen nicht davon aus, daß das »Den­ken« bis zu jener Ebene Vordringen kann.

Aber warum sollten wir uns Anschauungen beugen, die die Reichweite unserer Fähigkeiten dermaßen begrenzen? Warum un-

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sere Grenzen vorschnell festlegen? Wir haben als Menschen Teil an einer Wissens-Fähigkeit, die sich bis zur Ebene der Transzendenz erstreckt. Auf den Gebieten der Metaphysik, Kosmologie oder Theologie muß das Denken nicht ein gewöhnliches Denken sein, das vom Objekt seiner Betrachtung abgeschnitten bleibt. GROSSES WISSEN kann diesen Disziplinen eine neue Grundlage und eine neue Reichweite schenken . . . eine transzendente Reichweite.

Diese Transzendenz ist kein »Anderswohin-Gehen«, sondern ein wahres »Auftauen« aller vertrauten Dinge und Ereignisse, so daß ihre transzendente Dimension zum Vorschein kommen kann. Es zeigt sich, daß das GROSSE WISSEN in jedem gewöhnlichen Punkt jenes transzendente Gebiet entdeckt, das scheinbar »unterhalb« und »außerhalb« des Kegels liegt.

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13. Kapitel

Das Hervortreten von GROSSEM WISSEN

Haben wir GROSSES WISSEN einmal begriffen, brauchen wir nichts zu verändern. Wir werden gewahr, daß wir Teil einer strahlenden und lebensvollen Wirklichkeit sind, die durch alle kleinlichen Einstellungen und Voreingenommen­heiten hindurchscheint. Unser »Wissen« ist frisch, präzise und spontan. Es hat es nicht nötig, die Jungfräulichkeit der Erfahrung auf etwas » Bekanntes« zu reduzieren, das als sol­ches einer näheren Beachtung und Würdigung nicht wert ist.

GROSSES WISSEN ist ein nicht zu erschöpfender Schatz, ein Schatz, der in keiner Weise verdorben oder gemindert werden kann. WISSEN macht keine Fehler. Es ist klar, frei von Verwirrungen und Mißverständnissen. Und es ist jedermann verfügbar. Es wird nie­mals alt und stirbt niemals. Zweifel können es nicht erschüttern. In einem gelebten Sinne ist es das härteste Material, das existiert. Es ist treu und verläßlich, immer für uns da, so daß wir uns darauf stützen und davon leben können. Gleichzeitig ist WISSEN jenseits aller Eigenschaften, aller Qualifizierungen.

GROSSES WISSEN selbst ist das, was alle Weisen der Annähe­rung an GROSSES WISSEN zuläßt, seien sie äußerlich oder inner­lich. WISSEN ist verfügbar, ganz gleich was geschieht, denn alle Umstände sind durch und durch RAUM und ZEIT, die beide von WISSEN nicht zu trennen sind. Da GROSSES WISSEN die Offen­heit und Leuchtkraft von RAUM und ZEIT besitzt, kann es jeden Aspekt des Netzes aus Gedanken, Bewußtsein und Bedeutungen, welches uns von anderen Zeiten, Orten und Menschen abgeschnit­ten hat, durchdringen und öffnen. Es kann alle Tendenzen - wie sie von dem Kegel-Diagramm veranschaulicht werden - zu »spießi­gem« oder engstirnigem Denken vollständig zerstören.

Dieses WISSEN ist nicht um uns als das Subjekt in einer Welt von Objekten orientiert. Es ist mit allem und offenbart alles, ohne ein »aktives Subjekt« und ein »passives Objekt« aufzubauen. Der scheinbare Objektpol und der alles enthaltende Horizont der Welt können gleichermaßen »WISSEN« sein.

Auch ist die gewöhnliche Erkenntnis-Situation selbst kein endli­cher Punkt oder eine Region, die uns einmauert. Sehen wir sie auf die angesprochene neue Weise, dann weiten sich ihre Umgrenzungs-

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linien und Trennwände soweit aus, daß sie sich schließlich völlig öffnen. Dann kann man alles als GROSSES WISSEN sehen, denn unsere Weise, mit den Dingen in Beziehung zu treten, ist mit ihrem G R O S S E R - R A U M - , G R O S S E - Z E I T - u n d G R O S S E S - W I S S E N - Charakter in größerer Übereinstimmung. Alles gewöhnliche Emp­finden und Erkennen kann G R O S S E S W I S S E N sein, und dies trifft ebenso auf Augenblicke der Verwirrung und des Nicht-Wissens zu.

Um dies einmal unmittelbarer wahrzunehmen, können wir den vertrauten Prozeß untersuchen, in dessen Verlauf wir Klarheit und Verstehen erfahren, welche dann unvermeidlich der Verwirrung und dem Nicht-Wissen weichen. Wenn wir den Augenblick, in dem die Klarheit verlorengeht oder das Wissen einfach aussetzt, einmal sorg­fältig beobachten, können wir vielleicht entdecken, daß diese Erfah­rungen und Unterscheidungen ebenfalls ein Spiel von R A U M und Z E I T sind - und damit Träger G R O S S E N W I S S E N S . Dann können wir alles als vollkommen sehen: Subjekt, Objekt, die ganze Welt - alles ist vollkommen. Die Welt der Erscheinung läßt sich auf diese Weise transformieren, ohne daß irgend etwas entfernt, abgelehnt oder verändert werden müßte. Die gewöhnlichen Grundzüge sind nicht länger gewöhnlich.

Das sind kühne Behauptungen, und eine solche Vision mag sehr schwer zugänglich erscheinen. Sie zu begreifen heißt jedoch nicht, irgendeine besondere Erfahrung herbeizuzwingen, sondern viel­mehr, sich einfach auf das zu besinnen, was RAUM und ZEIT fortwährend zur Schau stellen.

G R O S S E S W I S S E N ist. Es tut. Argumente und Erklärungen können es nicht absondern oder darauf Bezug nehmen. GROSSES WISSEN ist keine Bedeutung, nicht der Inhalt einer der Botschaf­ten der Zeit, denn derartige Botschaften können Z E I T nicht wahr­nehmen und würdigen. Dieses WISSEN ist auch nicht das Ergebnis einer Veranschaulichung oder eines Lernprozesses. Es ist durch die Weise, auf die wir uns ihm nähern, weder begrenzt noch definiert. Es ist nicht-erlernte und nicht-gelehrsame Gelehrtheit.

Haben wir G R O S S E S W I S S E N einmal begriffen, brauchen wir nichts zu verändern. Wir werden gewahr, daß wir Teil einer strah­lenden und lebensvollen Wirklichkeit sind, die durch alle kleinlichen Einstellungen und Voreingenommenheiten hindurchscheint. Unser »Wissen« ist frisch, präzise und spontan. Es hat es nicht nötig, die Jungfräulichkeit der Erfahrung auf etwas »Bekanntes« zu reduzie­ren, das als solches einer näheren Beachtung und Würdigung nicht

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wert ist. Es gibt keine festgelegte Weltordnung, die sich außerhalb von uns befindet, uns umgibt und damit sicherstellt, daß unsere Erfahrung innerhalb der angemessenen Grenzen bleibt. Wir folgen den Anweisungen von RAUM und ZEIT, die vollkommen mit uns sind.

Wir können alles verwenden und uns an allem erfreuen, ohne die alten Vorurteile zu bestärken. Das gewöhnliche Bewußtsein, die gewöhnlichen Wahrnehmungen und Emotionen befreien und trans­formieren sich im Licht GROSSEN WISSENS selbst. Alle Erfah­rungen im Leben werden zu dem »vollkommenen Lehrer«.

Derartige Meisterschaft und Strahlkraft versagen niemals, da sie von allem übermittelt werden. Ein »Selbst« ist hier nicht erforder­lich. Ebensowenig besteht das Bedürfnis, sich in einer Weise auf die »Dinge« zu konzentrieren oder sie in den Brennpunkt zu rücken, die sie zu einer Art von Mauer oder Grenzlinie macht, welche unse­re Erfahrung einschränkt. Es gibt nur spontanes Sehen, das alles umfängt, ohne von irgend etwas verdunkelt zu werden. Dies könn­ten wir den WISSENSKÖRPER* nennen. Alles wird als die Einheit - die innig vertraute Vereinigung - von RAUM und ZEIT gewußt.

Haben wir einmal ein würdigendes Gewahrsein von RAUM und ZEIT entwickelt, dann können wir aus dieser offenen Perspektive heraus alle möglichen Erfahrungen vorsätzlich dazu einladen, sich darzubieten. Wir können alles, was wir wollen, erinnern oder uns vorstellen, es fühlen oder riechen. Indem wir derart alles versam­meln, entdecken wir vielleicht, daß alles - einschließlich der schein­baren Hindernisse für das Verstehen - GROSSES WISSEN ist.

Ohne in irgendeiner Weise abzulehnen oder zu analysieren, kön­nen wir diese Eigenschaft an allem und in allem sehen. Unendliche Klarheit und die Befähigung zu frischen Orientierungen sind da. Schauen Sie genau hin und sehen Sie selbst, ob die durchdringende und ekstatische Eigenschaft GROSSEN WISSENS von dem ver­trauten Aspekt der Dinge zu trennen ist oder ob sie zusätzlich dazu besteht. Gibt es irgendein isoliertes Selbst, irgendeine gesonderte Identität, Emotion, Bewegung, eine gewöhnliche Zeit oder einen gewöhnlichen Raum? Das Selbst kämpft beständig um die Königs­würde, doch kommt dieser Status eigentlich GROSSEM WISSEN zu.

Aus der Perspektive GROSSEN WISSENS ist die Welt freund­lich und ungeteilt. Alles ist verlockend und unterhaltsam. Arbeiten wir mit GROSSEM WISSEN, können wir nach unserem Belieben

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tanzen; wir können nach Herzenslust spielen. Eile oder Sorge sind nicht geboten. Es gibt keine drückenden Verpflichtungen. Wir haben RAUM und ZEIT im Überfluß.

Wir brauchen nicht darum besorgt zu sein, anderer Leute Meinung über uns zu verbessern, denn wir werden, ganz gleich was wir tun, zu ihrem Besten wirken, ohne daß wir dazu besonderer Kunstgriffe bedürften. Wir üben eine vollständige Kontrolle aus, in dem beson­deren Sinne, daß wir gar nichts zu kontrollieren brauchen. Die Frage, ob wir unsere Lebensumstände und Emotionen beherrschen oder sie uns, ist nicht länger von Belang. So oder so, GROSSES WISSEN ist da. Es ist dann sinnlos zu unterscheiden, ob wir GROSSES WISSEN bewußt oder unbewußt einsetzen. Es ist egal, ob wir wach sind, schlafen, von unseren Emotionen beherrscht werden oder meditie­ren. Obwohl das Ich die Kontrolle ausüben, die Entwicklung bewußt beherrschen und die Dinge in Bewegung setzen möchte, ist GROS­SES WISSEN bereits da, bevor wir irgend etwas unternehmen kön­nen. Es ist bereits vollkommen. Wir brauchen nicht einmal eine Ausgangsposition einzunehmen. Wir sind vollkommen frei, von An­beginn.

Dieses Verstehen gilt für alle Situationen, denen wir begegnen. Alles bietet uns die Gelegenheit einer tiefgreifenden Lernerfahrung. Alle Wahrnehmungen, Objekte, Emotionen, visuellen und auditiven Empfindungen sind bedeutsam.

Die Welt lehrt uns ununterbrochen, doch unterscheiden wir uns kaum von den Tieren, wenn wir nicht richtig darauf achtgeben. Nur indem wir von höherem RAUM, höherer ZEIT und höherem WIS­SEN Gebrauch machen, können wir wirklich empfänglich werden. Nur auf diese Weise können wir durch unser Leben unserer besonde­ren Stellung als Menschen gerecht werden und uns die Wunder unserer Erfahrungswelt erschließen.

Die Übungen, die im folgenden Abschnitt und in Kapitel 14 vorge­stellt werden, können zu einer praktischen Umsetzung von einigen jener Ideen beitragen, welche wir in den vorangegangenen Kapiteln diskutiert haben, und gleichfalls für die anschließenden Diskussionen die Bühne vorbereiten. Vor allem werden sie uns noch deutlicher machen, was gemeint ist mit dem »Primat des Wissens« (Situationen und Dingen als »Wissen«), dem Nichtvorhandensein von »Nicht­wissen« und dem Dasein unserers Bereichs als ein »niederes Wissen« (das aufgetaut werden kann, um GROSSES WISSEN zu enthüllen).

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Die Wissens-Soheit, die wir freizulegen suchen, ist ziemlich subtil und läßt sich anfänglich nur schwer aus den starren Strukturen der gewöhnlichen Erfahrung destillieren. Die Übungen können helfen, diese Strukturen aufzubrechen, und damit der Wissens-Soheit ge­statten hindurchzuscheinen. Wir müssen jedoch auch in der Lage sein, Wissens-Soheit zu erkennen, wenn sie für einen Augenblick talsächlich freigelegt wird.

Überlegen Sie einmal, ob Sie jemals beim Musikhören oder beim Hören einer menschlichen Stimme gleichzeitig mit dem Aspekt des »Subjekts, welches von einem Objekt Input erhält« bemerken konnten, wie ein flüchtiges (jedoch durchdringendes) Verstehen, ein schwer bestimmbarer Sinn, eine schwer faßliche Klarheit zutage tra­ten. Solch eine Erfahrung könnte Ihnen etwas von dem Geschmack der Wissens-Soheit vermitteln. Vielleicht hatte dieser Sinn gar keine »bestimmte Bedeutung«, vielleicht hatte er nicht einmal eine offen­sichtliche Beziehung zum Inhalt der empfangenen Information.

Betrachten Sie eine solche hervortretende Facette genauer, mag Sie Ihnen als ein ausgewogenes Umfassen der Gesamtsituation er­scheinen - nicht nur an Ihren »Geist« oder an den Wahrnehmenden gebunden, der ein wahrgenommenes Feld überblickt. Sehen Sie noch genauer hin, so werden Sie vielleicht entdecken, daß diese Klarheit oder dieses »Verstehen« nicht einmal an diese eine Situa­tion gebunden ist, sondern eine an sich neutrale Pforte ist: Sie kann sich in Richtung der gegebenen Situation aber ebensogut zu anderen Horizonten öffnen. Die Subjekt-Objekt-Vereinigung und der Pfor- ten-Aspekt sind vielleicht die Elemente, die einem solchen »Verste­hen« das herrliche Gefühl von Schärfe und Sensibilität geben. Wis­sens-Soheit gleicht dieser Erfahrung in gewisser Hinsicht und kann anfänglich in ähnlicher Weise entdeckt werden.

Übung 27: Ein Strom von Erinnerungen

Entwickeln Sie eine Bewußtheit von irgendeinem Objekt, irgendei­ner Idee oder irgendwelchen Eigenschaften. Erinnern Sie sich nach einer gewissen Zeit an jene vorangegangene Bewußtheit. Dieses Erinnern kann, als ein Ereignis, selbst Objekt eines weiteren Erin- nems sein. Und dieses wiederum kann der Inhalt einer darauf fol­genden Erinnerung sein. Unterhalten Sie eine nicht endende Serie bestehend aus einer Erinnerung, einer Erinnerung an die Erinne­

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rung, einer Erinnerung an die Erinnerung einer Erinnerung . . . usw. Machen Sie immer so weiter.

Übung 28: Ein Zyklus des Sehens

Wählen Sie zehn »Dinge« aus, zu denen Objekte, Eigenschaften und andere gewöhnliche Erfahrungsinhalte gehören, zum Beispiel ein Auto, eine Orange, ein Musikstück, eine Tastempfindung und so weiter. Kontemplieren Sie, nachdem Sie Ihre besondere Liste von Gegenständen geordnet haben, den ersten Gegenstand, bis Sie ihn recht konkret vor sich »sehen«. Gehen Sie dann zum zweiten, drit­ten und so weiter über, bis Sie alle zehn Gegenstände betrachtet haben. Wiederholen Sie danach diesen Zyklus des »Sehens«.

Arbeiten Sie immer und immer wieder mit denselben zehn Ge­genständen, und achten Sie dabei genauestens auf die Faktoren, die bei diesem »Sehen« am Werk sind. Beachten Sie alle Einzelheiten und bleiben Sie trotzdem für alles, was sonst noch geschieht, geistig offen. Auf diese Weise entdecken Sie vielleicht neue Faktoren, wäh­rend Sie die alten neu einschätzen.

Übung 29: Bewußtheit als eine reflektierende Oberfläche

Arbeiten Sie nun allgemeiner mit all den Objekten der Wahrneh­mung und des Erkennens, welche Ihre gewöhnliche Erfahrung kon­stituieren. Anstatt Ihren »Geist« oder Ihre Erkenntnisfähigkeit da­hingehend zu manipulieren, daß Sie bestimmte Objekte ergreifen und dabei erkennen, lassen Sie einfach zu, daß alle Objekte »er­kannt werden«.

Dies läuft anfänglich darauf hinaus, eine passivere Rolle als ge­wöhnlich einzunehmen und den aktiven Part an die wahrgenomme­nen Objekte abzutreten . . . sie bieten sich Ihrer Bewußtheit ganz von selbst dar. Es ist, als ob Sie, das Subjekt, ein neutrales reflektie­rendes Medium geworden wären, ein Spiegel oder die Oberfläche eines Sees. Alles, was sich Ihnen nähert, wird angenommen und reflektiert, ohne daß Ihre Bewußtheit irgend etwas tun würde oder sich infolge ihrer Empfänglichkeit in irgendeiner Weise verändern würde.

Nachdem Sie eine Weile auf diese Weise geübt haben, lassen Sie

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ab von der Vorstellung, daß »Ihnen etwas dargeboten wird«, sowie von der Annahme, daß die Fähigkeit zu »wissen« die Ihre, das heißt auf Ihre Seite der Subjekt-Objekt-Begegnung beschränkt ist.

Übung 30: Eine Subjekt-Objekt-Umkehrung

A. Betrachten Sie das erkennende Subjekt ganz genau, und stellen Sie fest, wie es sich qualitativ vom erkannten Objekt unterscheidet. Beobachten Sie, wie das Erkennen nach außen gerichtet ist und die Objekte Ihnen »fern« sind.

Nachdem Sie die Eigenschaften dieser vertrauten Subjekt-Ob- jekt-Polarisierung gründlich untersucht haben, versuchen Sie, diese nun umzukehren. Lassen Sie den Objekt-Pol »da drüben« den Er­kennenden sein, der Sie hier als das erkannte Ding erkennt. Lassen Sie alle in dieser Situation gegebenen Aspekte ganz gleich, wie un­bedeutend und abstrakt sie auch erscheinen mögen oder wie sehr sie einer »Meta-Ebene« anzugehören scheinen, auf diese Art und Wei­se »Erkennen« sein.

Versuchen Sie, die von Übung 17 (Das Objekt und sein Glühen) geförderte Einsicht, nach der es »keine Entfernung« gibt, »die da­zwischentritt«, in diese Übung einzubeziehen. Arbeiten Sie für eini­ge Zeit mit dieser Übung. Sie können sie überall üben, ganz gleich was gerade geschieht.

B. Haben Sie die Übung 30 A längere Zeit geübt, führen Sie nun mit Ihren Gedanken und Ihrer Erfahrung (anstatt nur mit den Ob­jekten und den Inhalten der Erfahrung) dieselbe »Umkehrung« durch. Untersuchen Sie all Ihr Denken, Sehen und Erkennen. An­statt daß Sie denken, sehen und erkennen, lassen Sie einfach zu, daß es Sie denkt, sieht und erkennt. Gehen Sie dann auf einer subtileren Ebene von Ihrer gewöhnlichen Erfahrung aus, in der Sie die Gedan­ken, das Erkennen und so weiter zu »tun« scheinen, und lassen Sie, ohne daß sich daran irgend etwas ändert, diese Situation ebenso ein Beispiel für eine »Erfahrung, die Sie erkennt«, sein.

C. Nachdem Sie längere Zeit mit derartigen Umkehrungen und sub­tilen Verlagerungen des Schwergewichts gearbeitet haben, achten Sie schließlich darauf, daß Sie dabei eine konstante Identität des »Ich hier« aufrechterhalten haben, indem Sie Gedanken und so

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weiter dem »Selbst« zugeordnet haben. Lösen Sie sich von diesem Selbstbild, dieser Annahme, daß Sie im Verlauf der Umkehrungen immer dasselbe »Sie«, dieselbe Position sind.

Kommentar zu den Übungen 27 bis 30Die vorangegangenen Übungen tragen dazu bei, die Vorstellung von einem erkennenden Selbst abzuschwächen. Sie beginnen auch zu zeigen, daß »Erkennen« von einer anderen Ebene herrührt, einer Ebene, die (anders als unser gewöhnliches Modell des Erkennens) nicht so sehr einschränkt, welche Dinge auf welche Art und Weise erkannt werden können. Übung 30 stellt die gewöhnlichen Vorweg­nahmen über das Erkennen besonders direkt in Frage, auch wenn sie in gewisser Hinsicht immer noch in den Begriffen derartiger Vorwegnahmen strukturiert ist. Sie macht Zugeständnisse an unsere Vorstellung, daß Erkennen eine zweiseitige Beziehung ist - etwas, das von etwas mit etwas anderem oder in Hinsicht auf etwas anderes getan wird. Diese Übung ist ein provisorischer, einer Übergangs- Ebene angehörender Versuch, »Wissen« - auf eine andere als die übliche Weise - in die Situation einzuführen.

Zuerst wird sie nur eine Umkehrung von Vordergrund und Hin­tergrund sein. Später wird sich die Situation jedoch ein wenig verän­dern, weil unser gewöhnliches Strukturieren von Situationen die weniger hervorstechenden Merkmale (alle die Merkmale, die am den Paar von »erkennendem Subjekt« und »erkanntem Objekt« keinen offensichtlichen Anteil haben) einfach ignoriert. Indem wir jedoch die gewöhnliche Betonung, die auf dem »erkennenden Selbst« liegt, umkehren, werfen wir auch alle Werturteile und Prio­ritäten des Selbst über den Haufen. Allem, ganz gleich wie flüchtig oder sekundär es ist, müssen wir zugestehen, »uns« zu erkennen. Die Übung 30 wird sich im allgemeinen als eine sehr gute Ergän­zung zu allen Übungen aus dem zweiten Teil erweisen, der der ZEIT gewidmet war.

Übung 31: Nicht-Wissen als WISSEN

Indem Sie den Gedanken weiterentwickeln, alle Dinge, die das Selbst gewöhnlich ignoriert oder abwertet, neu einzuschätzen, be­trachten Sie nun Zustände der Verwirrung und des Nicht-Wissens. Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen das Selbst das Gefühl hat,

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nicht zu erkennen, daß Wissen entweder fruchtlos oder gar nicht vorhanden ist. Untersuchen Sie Ihre Erfahrung mit Verwirrung, Zweifel und Nicht-Wissen, und untersuchen Sie ebenfalls Ihre Vor­stellungen über die (vermeintlich) größtenteils unbelebte äußere Welt. Blicken Sie tief in alle subjektiven und objektiven Fälle von Nicht-Wissen. Auch dort ist Wissens-Soheit vorhanden!

Kommentar zu Übung 31Diese »vollkommene Wissens-Soheit« ist in keiner Richtung ge­hemmt. Erkenntnis ist zumeist unvollkommen. In ihr gibt es »Blick­winkel«, Perspektiven und Dichotomien, und so können wir nicht das gesamte Feld sehen. Wir sind dessen, was uns umgibt, nicht völlig gewahr, mit dem Ergebnis, daß wir unsere Erfahrung in Sek­tionen aufteilen.

Obwohl wir in Zweifel und Verwirrung im allgemeinen keinen Trost finden, sind selbst diese Erfahrungen Träger einer ihnen ei­gentümlichen machtvollen Klarheit, einer Klarheit, die sogar unsere Schwierigkeiten zu beheben und unseren Weg zu anderen Arten der Erfahrung zu erleichtern vermag. Genauso wie unser Lernen und unser Wachsen nicht über eine Serie von unverbundenen »Zustän­den« zustande kommen muß, braucht unsere gewöhnliche Erfah­rung auch nicht in die relativ isolierten Zustände von Klarheit, Ver­wirrung, Glücksgefühl und Depression aufgebrochen zu werden, die zu erfahren wir gewohnt sind.

Entdecken wir die Wissens-Soheit, die dem Leben eine größere Kontinuität verleiht, so entdecken wir, daß es keine »toten Punkte« gibt. Sogar die scheinbar »äußere Welt« ist ein Träger der Wissens- Soheit. In einer Welt, die als der offene Horizont der Wissens-Soheit gesehen wird, sind alle Darbietungen positiv, klar, einleuchtend und stärkend.

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GROSSES WISSEN - sein Wert und seine alldurchdringende Eigenschaft

14. Kapitel

Mit dieser Wissens-Soheit, die »in« allen psychischen Ener­gien ist, können wir eine Art natürlicher Alchemie vollziehen und die Emotionen und Trends transformieren, die gewöhn­lich unangenehm oder störend sind. Eine derartige » Transfor­mation« muß keine Veränderung bewirken; es geht dabei ein­fach nur darum, »in« den Energien zu sein, die wir »sind«.

Wissens-Soheit kann helfen, die Liebe, innige Vertrautheit und Er­füllung, die wir im Leben erfahren, zu ihrer höchsten Entfaltung zu bringen. Es fällt uns gewöhnlich schwer, diese Aspekte des Lebens zu entwickeln, denn wir lassen uns nur allzu leicht von dem verwei­senden und auftrennenden Charakter der niederen Zeit täuschen und an der Nase herumführen. Obwohl wir gern in den Genuß erfüllender Situationen in der Gegenwart kommen würden, finden wir uns plötzlich mit aufeinanderfolgenden unbefriedigenden Situa­tionen konfrontiert, die zwangsläufig Sorge, Angst, Schuldgefühle, Zorn oder Einsamkeit entstehen lassen. Wir würden die negativen Gefühle und die unangenehmen Interaktionen, die wir mit anderen haben, gern übertünchen, um mit dem, was positiver und angeneh­mer ist, vorwärtszukommen. Doch irgendwie fällt es uns sehr schwer, uns diesen negativen Erfahrungen zu entziehen.

Indem wir mehr Wissens-Soheit zum Zug kommen lassen, kön­nen wir die unerwünschten Situationen, wenn sie auftreten, unmit­telbar durchschneiden, um uns wieder auf die reizvolleren Seiten des Lebens zu konzentrieren. Es fällt uns immer leichter, wieder aus den alten Geleisen oder Mustern auszubrechen, in denen wir uns festfahren. Indem wir lernen, mehr auf die positiven Aspekte der Erfahrung zu achten, können wir eine gewisse Herrschaft über die strukturierende Macht der niederen Zeit erlangen. Eine derartige Einsicht und Herrschaft mag uns aber auch zeigen, daß die Weise, auf die wir um die »Zeit« wissen, subtile Rückwirkungen hat und eine noch größere Herausforderung darstellt. Es wird nämlich klar, daß sogar die »guten« oder »positiven« Gefühle (wie z. B. »Liebe«) eine musterbildende Tendenz mit sich bringen, die uns aus dem Gleichgewicht wirft und der Enttäuschung ausliefert. Der Schuldige

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ist in diesem Falle der »Antrieb« der »Zeit«, der die Tendenz des Selbst »hervorzutreten«, das »Verweisen« und die allgemeine Er­scheinung der gewöhnlichen Bewegung entstehen läßt. Niederes Wissen läßt sich durch diesen »Antrieb« leicht täuschen und auf­splittern, was schließlich zur allgemeinen Situation unseres Lebens führt: einem scheinbar autonomen Selbst, das »positiven« und »negativen« Gefühlen begegnet.

Wir sind enttäuscht, wenn wir nicht bei erfüllenden Erfahrun­gen »verweilen« können, was sich auf einer subtileren Ebene dar­in spiegelt, daß das Selbst im Grunde eine Tendenz des »Sich-Ab- sonderns« ist. Es kann nicht im Kern der Erfahrung bleiben oder verweilen, weil es eine fortschreitende Konsolidierung ist. Zuerst »tritt es« als das Erkennende »hervor«, dann fühlt es sich unvoll­ständig und unerfüllt und schaut sich deswegen um, wobei es dazu neigt, das von ihm Entdeckte als »gut« oder »schlecht« abzustem­peln. Hat sich dieses Muster einmal festgesetzt, geht das Selbst ganz natürlich »nach draußen«, um sich dann umzudrehen und zu versuchen, sich »hineinzubohren« und Befriedigung zu »er­langen«.

Können wir von Wissens-Soheit besser Gebrauch machen und damit den »Antrieb« der Zeit durchschauen, mögen wir entdek- ken, daß sowohl »positive« als auch »negative« emotionale Zu­stände - wenn sie als solche unterschieden werden - unausgewo­gen und »negativ« sind. Wir sehen weiterhin, daß diese Zustände eine tiefere Ebene besitzen, die im allgemeinen durch den »An­trieb« der Zeit verdunkelt wird, die jedoch sehr »positiv« und er­füllend sein könnte. Die Aufgabe, der wir uns stellen müssen, be­steht also nicht darin, nur jene Emotionen und Arten von Be­wußtheit zu vernichten, welche konventionell als »schlecht« be­zeichnet werden, um dann bei den »guten« verweilen zu können. Vielmehr müssen wir lernen, die ungesunden Seiten aller Erfah­rung zu durchschneiden, um in der Lage zu sein, den gesunden Aspekt wahrzunehmen und zu würdigen, der schon immer anwe­send war.

Selbst eine positive Erfahrung wie die Liebe hat ungesunde Aspekte. Um Erfüllung zu finden, werden wir wohl alles neube­werten müssen, was wir gewöhnlich für positiv halten. Unsere Ge­fühle zeichnen sich oft durch eine auf das Selbst orientierte, be­sitzergreifende Eigenschaft aus, die wir im allgemeinen übersehen. Die Tendenz des Selbst, nach etwas zu greifen und sich abzuson-

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dem, ist eigentlich ein »Zur-Oberfläche-Durchbrechen«, in dessen »Tiefe« es zu einem Zustand gekommen ist, der sich durch Brüche und Schichtungen auszeichnet.

Wie alle anderen Gefühle, so bringt auch die Liebe im wesentli­chen drei Schichten mit sich, von denen das Selbst jedoch nur eine, nämlich die »Oberfläche«, wahrnimmt. Im Fall der Liebe scheint diese Oberflächenschicht gewöhnlich durch und durch positiv zu sein; sie zeichnet sich durch ein tiefes Anteilnehmen, durch Offen­heit und Freude aus. Mit mehr Wissens-Soheit können wir jedoch eine zweite Schicht sehen, der eher gewaltsame Energien eigen sind, welche - da sie von der oberflächlichen Sichtweise des Selbst nicht angemessen berücksichtigt werden - zu einer Gegenströmung gegen die erste Schicht geworden sind, und die deswegen einen unbemerk­ten, jedoch mächtigen »negativen« Einfluß ausüben. Diese Ener­gien stehen zu der nachgebenden Eigenschaft der Liebe auf der ersten Ebene in scharfem Gegensatz. Sie sind aggressiv, ungeduldig und fordernd. Schließlich befindet sich »unter« dieser zweiten Schicht noch eine dritte, welche »neutral« und still, doch nichtsde­stoweniger der Grund ist, der eine negative und positive Schichten­bildung überhaupt erst zuläßt.

Im Gegensatz zur Liebe hat das Gefühl des Zorns die »negative« Schicht zur Oberfläche, die sich insbesondere durch Egozentrik, Ungeduld und so weiter auszeichnet. Aber seine zweite Schicht ist tatsächlich recht »positiv«, denn sie hat einen einschneidenden und durchdringenden Charakter, der sehr nützlich sein kann.

Die »positive« oder »negative« Gesamtladung, die die verschie­denen Emotionen jeweils aufzuweisen scheinen, ist von ihrem rela­tiven Anteil an subtileren »positiven«, »negativen« und »neutralen« Schichten abhängig. Verschiedene Mischungen dieser Schichten ma­chen das aus, was wir für unsere Persönlichkeiten halten. Die ver­schiedenen Mischungsverhältnisse dieser Schichten bringen Persön­lichkeiten hervor, die sich durch den Grundcharakterzug der Schär­fe, Gelassenheit, Liebesfähigkeit, Schwerfälligkeit und so weiter auszeichnen. Aber was immer der dominante oder Oberflächen- Charakterzug sein mag, er beinhaltet eine Schichtenbildung, die ei­ne mangelhafte Integration in unserer Erfahrung und Persönlichkeit mit sich bringt und die oft zu großer Unzufriedenheit oder sogar Desorientierung führt.

Obwohl das Selbst den Kontakt zu den tieferen Schichten verlo­ren hat oder, besser gesagt, der Zustand der »Kontaktlosigkeit« ist

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(der dann den geschichteten Zustand hervorbringt), bleiben diese drei Schichten trotzdem RAUM-ZEIT-WISSEN. Mit oder in ihnen verbleibt eine vollkommene »Wissens-Soheit« - sie hat sich niemals abgesondert. Da diese »Wissens-Soheit« mit den Schichten Kontakt hat, kann sie sie auf eine integrierte und durch und durch positive Weise nutzen. Nichts bleibt »draußen«, nichts bleibt ungesehen oder unberücksichtigt, das »außer Kontrolle geraten« könnte.

Um dies in unserem Leben verwirklichen zu können, müssen wir jedoch zuerst diese Wissens-Soheit anzapfen. Andernfalls gewinnen die Themen des Trends der Selbst-Orientierung die Oberhand: ein subtiles Ergreifen und Konsolidieren; ein daraus resultierendes Ein­nehmen eines Standpunktes »außerhalb« der Erfahrung; ein Be­zeichnen und der Versuch, den Inhalt der Erfahrung zu »erlangen«; schließlich eine Betonung von »Erkenntnisakten« und von »Glück­lichsein«. Das dauernde Bezeichnen und die Vorliebe für »Erfah­rungsinhalte« verdunkeln die Erfüllung, die einem »Wissen« ver­fügbar ist, welches von Anfang an »in« der Erfahrung bleibt und welches kein getrennter Akt, kein gesondertes Ereignis ist.

Sobald wir unsere Erfahrung nach Maßgabe der abstempelnden Konventionen bewerten, büßen wir die Gelegenheit ein, irgendei­nen tieferen Wert zu finden. Einerseits können wir dann nur noch sehen, was die jeweiligen Namen uns zu sehen vorschreiben. Ande­rerseits fehlen uns die Worte, um neue Weisen der Interpretation von den oder Beziehungen zu den »bekannten« Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen und zu ermutigen. Das Selbst versieht alles mit Bezeichnungen, und diese Bezeichnungen verewigen, ohne dem Selbst damit wirklich einen Dienst zu tun, das Selbst in seinem gewohnten Bereich.

Diese Tendenz des Bezeichnens ist noch über den insgesamt fru­strierenden Trend, den sie anregt, hinaus zerstörerisch, denn sie führt zu der unnötigen Wucherung negativer Bezeichnungen und »unerwünschter« Erfahrungen. Obwohl viele der auftretenden Ar­ten von Bewußtheit und Erfahrung eigentlich sehr nützliche und einschneidende Energien enthalten, scheinen sie, da sie dem unbe­weglichen »Selbst« ein bißchen zu dynamisch oder ungewöhnlich sind, bedrohlich zu sein und werden deswegen als »Paranoia«, »Schizophrenie« und so weiter bezeichnet. Finden wir uns mitten in solchen Energien, dann bezeichnen wir sie sofort nach dem Diktat der Konvention, verlieren damit ihren inneren Wert aus den Augen und werden sehr beunruhigt, weil wir uns für »schizophren« halten.

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Wenn wir uns mit den Assoziationen zu unseren Bezeichnungen iden­tifizieren, kann es zu einer weitaus schwereren Desorientierung kommen als durch die Kräfte der Erfahrungen selbst. Damit - wie auch auf viele andere Weisen - verwandeln wir unseren Bereich in eine frustrierend zerklüftete und frostige Eiswüste, »unter« der wei­terhin ein potentiell wohltuender und erfrischender Energiefluß strömt.

Diese kraftspendende Energie ist nicht wirklich in irgendwelchen Tiefen oder unter den konventionellen Oberflächen, doch ist es an­fänglich vielleicht am einfachsten, sie sich auf diese Weise vorzustel­len. Allerdings können wir sie nicht dadurch anzapfen, daß wir uns in sie hineinbohren oder versuchen, das Selbst dazu zu zwingen, mit ihr in Berührung zu bleiben. Vielmehr sollten wir zulassen, daß die enge und isolationistische Sichtweise des Selbst (mit ihrer Betonung getrennter Erkenntnisse) durch das umfassendere und ungebro­chenere Beteiligtsein einer höheren Wissens-Soheit ergänzt wird. Diese Wissens-Soheit umfängt ganz ausgewogen alle Facetten der gewöhnlichen Erscheinung, ln diesem Sinne ist sie »in« der Erfah­rung und die Erfahrung »in« ihr. In Übereinstimmung mit dieser Perspektive befindet sich kein Aspekt der Erfahrung »außerhalb« von Wissens-Soheit oder ist von Wissens-Soheit getrennt. Nun ist alles »darinnen«.

Mit dieser Wissens-Soheit, die »in« allen psychischen Energien ist, können wir eine Art natürlicher Alchemie vollziehen und die Emotionen und Trends transformieren, die gewöhnlich unange­nehm oder störend sind. Eine derartige »Transformation« muß kei­ne Veränderungen bewirken; es geht dabei einfach nur darum, »in« den Energien zu sein, die wir »sind«.

Dieser Ansatz zur Herbeiführung von Integration und Gleichge­wicht ist wesentlich wirksamer als Therapien, welche »Behandlung« als »Veränderung« verstehen. Wenn wir uns daran machen, etwas zu verändern, sind wir ganz bestimmt nicht darinnen.

Therapien, die sich darum bemühen, Traumata aufzuarbeiten oder nochmals zu durchleben, verdanken ihre Erfolge hauptsächlich der Tatsache, daß sie mit der Wissens-Soheit, die in den traumati­schen Gefühlen ist, tatsächlich bis zu einem gewissen Grad in Be­rührung kommen. Ist dies einmal verstanden, kann eine Therapie jedoch viel direkter vorgehen und wird nicht mehr von dem Versuch abhängen, das »Selbst« in diese Gefühle hineinzuzwingen, denn die­ser Ansatz ist immer noch darauf ausgerichtet, etwas wieder aufzu­

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finden, das irgendwo »außerhalb« ist. Besser wäre es jedoch, auf die heilende Kraft zu achten, die bereits anwesend und für die positiven Dimensionen dessen, was dem Anschein nach »das Problem« ist, empfänglich ist.

Gelingt es uns, mit Hilfe dieser Wissens-Soheit auch nur für weni­ge Minuten in dem zu verweilen, was uns quält, können wir seinen negativen Einfluß verwandeln. Haben wir ihn dann »positiv« ge­macht, können wir die Wissens-Soheit dazu benutzen, die Zeit aus­zudehnen, so daß wir uns dieser positiven Situation, solange wir es nur wünschen, erfreuen können.

Als Beispiel für das oben Angeführte können wir einmal einige Betrachtungen über »die Liebe« anstellen. Liebe ist sehr erfüllend. Sie regt eine offene, ehrliche und freifließende Seinsweise an. Trotz­dem scheint sie oft von drastischen emotionalen Turbulenzen und Problemen begleitet zu sein. Zur Liebe scheint also noch etwas schwer Faßliches zu gehören, das mit ihren positiven Eigenschaften im Widerstreit liegt. Dieser subtile Störfaktor ist darauf zurückzu­führen, daß die Liebe aus dem grundsätzlich hungrigen Charakter der Tendenz zu einem »sich konsolidierenden Selbst« entsteht. Un­sere Liebe gründet sich auf das tief in uns verwurzelte Gefühl, aus dem Gleichgewicht geworfen zu sein und etwas erlangen oder be­kommen zu müssen.

Obwohl eine wahrhaft heilende Kraft die Essenz der Liebe ist, besteht, solange wir mit dieser heilsamen Kraft nicht unmittelbar in Berührung kommen, die Gefahr, daß unser Begehren auf alle unse­re Interaktionen und Liebesmühen abfärbt. All unsere positiven Handlungen und Gefühle können sich verwandeln wie Milch, die sauer wird. Unser Begehren baut ein beschränkendes Feld (oder »Raum«) auf, in dem weder positive und großzügige Gefühle noch irgendwelche heilsamen Kräfte Platz haben. Eine anfängliche Faszi­nation oder ängstliche Unsicherheit stachelt das Begehren in uns an. Die Folge davon ist ein beständiges Greifenwollen, das seinerseits statt der Erfüllung nur noch größere Unsicherheit erzeugt. Dieser Prozeß, der mit dem Begehren beginnt, wird zu einer Art Sucht; einmal in Gang gekommen, läßt er sich kaum noch aufhalten.

Wie eine Schnur, die eine Perlenkette zusammenhält, hält unser Begehren (das sich auf den erstarrten Glauben an ein autonomes »Selbst« gründet) den endlosen Kreislauf der Enttäuschungen zu­sammen und verewigt ihn. Das Selbst sondert sich ab. Es ist nicht

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vollkommen in der Erfahrung, und damit setzt augenblicklich die niedere Zeit ein. Es ist, als hätte das Selbst ganz ruhig in einem Ei geruht. Sobald es jedoch die Schale durchbricht und den Kopf hin­ausstreckt, ist es einem Leben ständiger Mühsal ausgeliefert. Es fällt sofort dem Bedürfnis zum Opfer, herumzuspringen und zu versuchen, Dinge anzusammeln und in Ordnung zu bringen. Das Selbst verlangt danach zu lieben, und das zeigt, daß es nicht liebt. Dies ist einzig und allein eine Konsequenz des Bemühens des Selbst, sich und seine Welt außerhalb eines Kontinuums von Wis­sens-Soheit zu konsolidieren, weshalb es darauf angewiesen ist zu erkennen.

Da es sich auf niederes Wissen gründet, ist unser gängiges Mo­dell von der Liebe von Grund auf brüchig. Keine Vergrößerung der Liebesmühen noch irgendwelche Variation dieses Themas kann dieses Problem beseitigen. Dasselbe trifft auf alle unsere Versuche zu, Erfüllung zu finden.

Eine alte Geschichte, die dies veranschaulicht, erzählt, daß die Erde früher einmal mit einer köstlichen Substanz bedeckt war, die vollkommene Erfüllung gewährte. Man brauchte sich - wo immer man war - einfach nur zu bücken und eine Handvoll dieser man­naartigen Speise aufzunehmen. Aber im Lauf der Zeit entschieden sich die Menschen dazu, diese Substanz zu sammeln und auf Vorrat zu halten, um leichteren Zugang und künftige Verfügbarkeit si­cherzustellen - mit dem Ergebnis, daß die Vorräte schrumpften und schließlich ganz dahinschwanden. Die Substanz wurde dann durch eine neue Nahrungsquelle ersetzt, zu deren Verwaltung, Herstellung und Verarbeitung ständige Anstrengung nötig war. Und wiederum führten die ängstlichen Versuche, diese Speise zu besitzen und zu horten, zu ihrem schließlichen Verschwinden, so daß sie durch ein Lebensmittel ersetzt werden mußte, das noch größere Anstrengung und Aufmerksamkeit verlangte. Weil dieses Lebensmittel so schwer zu beschaffen war, machte man sich noch mehr Sorgen darum und bemühte sich noch mehr, es »sicherzustel­len« und so weiter.

Auf die gleiche Weise mag die Orientierung des niederen Wis­sens in bezug auf die Grundaspekte des Lebens deren erfüllende Qualität gegenteilig beeinflussen, obwohl sie quantitativ in Hülle und Fülle vorhanden sein mögen. Indem wir uns eines offeneren »Wissens« bedienen, können wir jedoch den Nektar der Liebe an- zapfen und unerschöpfliche heilsame Kräfte sowie Erfüllung ent­

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decken. Dann lieben wir tatsächlich, und diese Liebe ist kein Besitz, sondern ein Geschenk, das wir in Wissens-Soheit teilen und dessen wir uns in Wissens-Soheit erfreuen.

Aus dieser Perspektive ist in allen Situationen, Gedanken und Emotionen, ganz gleich, ob sie konventionell als »positiv« oder »ne­gativ« bezeichnet werden, unendliche Erfüllung verfügbar. Diese Empfindung des »Darinnen« ist für das, was wir die Erfüllung des Seins nennen könnten, wesentlich. Für SEIN ist alles »darinnen«.

Sind wir erst einmal in der Lage, Wissens-Soheit unmittelbar ausfin­dig zu machen, so daß wir alles als »darinnen« sehen und wir es nicht mehr in den gesonderten »Dingen« suchen müssen, kehren sich unsere Prioritäten um und wir können sehen, daß Wissens- Soheit das Primäre ist. Nur Klarheit selbst ist, keine »Dinge«, die diese vermitteln. Wissens-Soheit ist unerschöpflich und kann weder in kleine, »erkennbare« Pakete aufgesplittert, noch auf irgendeinen »erkannten« Inhalt verkürzt werden.

Dies bedeutet nicht, daß Wissens-Soheit eine inhaltslose Versen­kung ist, sondern vielmehr, daß die »Dinge« und Begegnungen selbst Wissens-Soheit sind. Sie verdunkeln einander nicht und schwächen dadurch, daß sie, jedes für sich, erkannt werden, eine allesdurchdringende Wissens-Soheit auch nicht ab. Die folgenden Übungen können helfen, dies zu veranschaulichen.

Übung 32: Eine vereinigende Klarheit

A. Visualisieren Sie vor sich ein sehr klares Licht, wie das Licht einer Kerze, und reichem Sie es mit einer »wissenden« Qualität an. Obwohl dieses »wissende« Licht örtlich umgrenzt und festgelegt ist, berührt es doch alles mit einer subtilen Innigkeit. Es gibt nirgendwo etwas, das von dieser Berührung ausgeschlossen wäre. Achten Sie so gut Sie können auf seine Strahlkraft und Klarheit. Fügen Sie Ihrer Visualisierung dann noch weitere solche Lichter hinzu, bis Sie fünf Lichter vor sich sehen, die nach dem Muster der untenstehenden Abbildung angeordnet sind.

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Können Sie diese Visualisierung vor sich aufrechterhalten, dann fü­gen Sie ihr ein »wissendes« Licht in Ihrem Rücken hinzu und ergän­zen auch dieses Licht allmählich zu einer Gruppe von fünf Lichtern. Visualisieren Sie dann nach und nach auch noch über Ihnen, unter Ihnen und zu Ihren beiden Seiten eine derartige Gruppe von Lich­tern, wobei Sie ständig der leuchtenden und allesdurchdringenden innigen Berührung alles Erkennbaren durch diese Lichter gewahr bleiben.

Greifen Sie dann, wenn Sie dergestalt ganz von diesen »wissen­den« Lichtern umgeben sind, ein beliebiges Licht heraus und sehen Sie es als das Zentrum einer neuen Fünfergruppe. Jedes einzelne Licht der anfänglichen Fünfergruppe sollte nun selbst zu einer sol­chen Gruppe von fünf »wissenden« Lichtem werden. Und jedes einzelne Licht, das aus diesem Prozeß hervorgegangen ist, sollte wieder zu einer Fünfergruppe werden. Machen Sie schließlich, wenn Sie in der Lage sind, dieses Bild vor Ihrem geistigen Auge aufrecht­zuerhalten, aus jedem einzelnen seiner Lichter eine weitere Fünfer­gruppe. Fahren Sie derart fort, so bleibt schließlich nichts weiter übrig als ein einziges, allgegenwärtiges Licht.

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B. Durch die Ausführung der RAUM- und ZEIT-Übungen haben Sie vielleicht ein gewisses Verständnis für eine andere Art von »Raum« bekommen. Dieser »Raum« hat an allen Situationen Teil. Er läßt das Darbieten aller »Dinge« zu und unterminiert jegliches Gefühl von Ortsgebundenheit und Gerichtetheit. Wiederholen Sie, wenn Sie diese Einsicht gewonnen haben, die Übung 32 A, ohne dabei Ihre physische Lokalisiertheit, Ihr Nach-Außen-Gerichtetsein und so weiter ins Spiel zu bringen.

Lassen Sie die »Lichter« diesmal noch subtiler sein; lassen Sie sie ganz natürlich aus der Offenheit des »Raumes« hervortreten. Die­ses »Licht« ist kein vorgestelltes physikalisches Leuchten, sondern vielmehr die Dynamik der »Zeit« und die einschneidende Klarheit der Wissens-Soheit. Fahren Sie damit fort, diese »Lichter« zu visua- lisieren - wobei mit dem Wort »Visualisierung« nicht länger ein »Tun« oder willentliches »Hinstellen«, sondern vielmehr ein »wür­digendes Gewahrsein« gemeint ist -, bis es nur noch ein vereinigtes diamantgleiches »Licht« gibt.

Haben Sie einmal begriffen, welche Art von »Licht« hier gemeint ist, dann kommen Sie schließlich zu einer letzten Ausweitung dieser Übung: Nachdem Sie das »Licht« zu einem einzigen großen »Licht« aufgebaut haben, benutzen Sie dieses »Licht«, um alles »auszuwei­ten« und zu umfangen, so daß weder Subjekt noch Objekt, weder physische noch emotionale Aspekte übrigbleiben. Versuchen Sie dabei jedoch nicht, sich nach außen auszudehnen, um irgendwelche »Außenlieger« zu ergreifen; arbeiten Sie nur mit dem allumfassen­den Medium des »Lichtes« selbst.

Kommentar zu Übung 32Diese Übungen tragen dazu bei zu zeigen, wie es ist, wenn alle Situationen ihrem Wesen nach als »Wissen« gesehen werden, ohne daß diese Situationen irgendwelche Vorwegnahmen über das »Sub­jekt« oder das »Objekt« des niederen Wissens rechtfertigen. Sie tragen auch dazu bei, die kleinen (physischen und emotionalen) aufgeteilten Regionen zu öffnen, die unsere Welt konstituieren. Es wird offenbar, daß derartige Regionen durch GROSSE ZEIT und GROSSES WISSEN vereint sind. Unter der Voraussetzung, daß »uns« Raum und Zeit vertraut geworden sind, ist die Klarheit des GROSSEN WISSENS durchaus etwas, mit dem wir in Verbindung stehen können. Wir können dieser Klarheit nachgehen, bis wir ent­decken, daß sie alles Dasein in unaufgeteilter Weise aufnimmt.

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In jedem nur denkbaren Gedanken, jeder nur vorstellbaren Sinnes­empfindung und Emotion wie auch in jedem nur erdenklichen »ob­jektiven« Umstand ist die Frische und Klarheit anwesend, die wir in Übung 32 entdeckt haben. Wir können sehen, daß jegliche Anwe­senheit, gleich welcher Art, diese Eigenschaft mit sich bringt. Lassen Sie deswegen zu, daß jede »innere« oder »äußere« Darbietung die­se Klarheit offenbart: Zuerst ein Gedanke, eine Empfindung, eine Emotion, eine Erinnerung und dann die nächste - sie alle sind Trä­ger einer Art von »Licht«. Werden Sie gewahr, wie diese »Lichter« mit jedem einzelnen Ding gegeben sind, bis die Gesamtwirkung wiederum ein einziges »Licht«, ein umfassendes »wissendes« Feld ist.

Kommentar zu Übung 33In früheren Kapiteln wurde bereits angedeutet, daß jede Anwesen­heit (wie z. B. ein Gedanke oder eine Sinnesempfindung) geöffnet und unendlich ausgedehnt werden kann. Dies ist uns gewöhnlich nicht möglich, da die Weise, auf die wir die Dinge erkennen, sehr beschränkt ist. Bei dieser Übung mag es uns also anfänglich schwer­fallen, mit dieser Bewußtheit Kontakt aufzunehmen, die Sinnes­empfindungen zu öffnen und so weiter. Mit fortschreitender Praxis wird unsere bemühte und beschränkende Art zu wissen jedoch all­mählich entspannt, und wir beginnen, eine neue Art von Wissens- Soheit zu sehen. Unsere Empfindungen und Gedanken werden eine strahlendere Qualität bekommen, und wir werden im Verlauf dieses Prozesses zudem entdecken, daß die Erweiterung der Sinne und anderer Arten des Wissens ganz von selbst, ganz natürlich geschieht.

Als eine weitere Entwicklung dieser Übung können wir dann lernen, zu der vitalen und alles umfassenden Klarheit zu erwachen, die im Körper selbst ist.

Übung 34: Die Verkörperung von WISSEN

A. Setzen Sie sich ganz entspannt hin, doch halten Sie den Rücken dabei gerade und aufrecht. Lassen Sie Ihren Körper innerlich sehr leicht und ungetrübt sein. Visualisieren Sie eine vibrierend lebendi­ge, sanfte und zärtliche Energie - die einem warmen Nektar gleicht.

Übung 33: Selbst-transzendierende Erscheinung

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Lassen Sie diese Energie an Ihrer Wirbelsäule entlang noch unten fließen. Wenn sie dann am tiefsten Punkt des Abstiegs nach vorn zu fließen beginnt, wird sie noch wärmer, noch lebendiger. Lassen Sie nun zu, daß sich die Energie nach oben kehrt und durch die Vorder­seite Ihres Körpers bis zu einem Punkt aufsteigt, der in der Mitte Ihrer Stirn ein wenig oberhalb der Augenbrauen liegt. Lassen Sie die Energie von dort schließlich zur Rückseite Ihres Kopfes zu einer Stelle, etwa fünf Zentimeter unterhalb der Hinterhauptgegend, und dann wieder abwärts strömen.

Lassen Sie die Energie weiterkreisen, aber achten Sie anfänglich mehr darauf, die Energie nur ganz sanft (doch sehr bewußt) zu fühlen. Es ist an dieser Stelle wichtiger, die Energie zu fühlen, als sie zu beobachten (zu visualisieren).

B. Ist Ihnen das Kreisen der Energie vertraut und die Energie zu einer vibrierenden Anwesenheit geworden, lassen Sie nun die Säu­len der aufwärts und der abwärts fließenden Energie immer weiter werden, bis sie ineinanderfließen. Daraus ergibt sich ein Energie- Ring oder eine Energie-Scheibe. Lassen Sie diese Energie-Scheibe immer mehr anschwellen und sich nach den Körperseiten ausbrei­ten, so daß sie nicht mehr nur eine zweidimensionale Scheibe ist. Der gesamte Körper wird allmählich von dieser energetischen Klar­heit durchdrungen. Lassen Sie die Energie sich schließlich ausdeh­nen, so daß sie »alles« umfängt, was wir gewöhnlich für »außerhalb« des Körpers befindlich halten.

C. Üben Sie gemeinsam mit dieser Übung die Übung 24 (Gehen, ohne weiterzugehen). Möglicherweise entdecken Sie dabei, daß der Ring der kreisenden Energie sich schließlich von selbst manifestiert, während Sie dieses Gehen üben. Und auch in diesem Fall kann sich die Energie über Sie hinaus erstrecken, um »alles« zu umfangen.

Kommentar zu Übung 34Diese Übung unterstützt das Erwachen des Körpers zu einem kraft­volleren und »wissenderen« Zustand. Während wir den Körper im zweiten Kapitel (in seinem Form-Aspekt) als RAUM und (in sei­nem Aspekt einer sich verkörpernden Tendenz) als ZEIT sahen, wird hier nun der »Wissens«-Aspekt des Körpers offenbart. Eine derart klare und alldurchdringende Energie hat sowohl auf die psy­chischen als auch auf die physischen Schwierigkeiten eine tiefe hei­

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lende Wirkung. Sie trägt außerdem zum Hervortreten einer unendli­chen Klarheit und Durchsichtigkeit bei, die alle Darbietungen und Erscheinungen in den »äußeren« und »inneren« Bereichen des Da­seins umfängt. Da jedes Ding durchscheinend ist, sind »alle anderen Dinge« unverdeckt und scheinen durch. Jedes Ding schließt alle Dinge ein; wird Erscheinung als Verkörperung von WISSEN gese­hen, dann sind nirgendwo Trennungen und Disharmonien zu finden.

Übung 35: Eine Hervorrufung von WISSEN

Ist Erscheinung als Wissens-Soheit anwesend, ohne daß diese Wis- sens-Soheit den Wissens-Akt eines lokalisierten Erkennenden dar­stellt, kann RAUM die Bildung einer »Formel« zulassen und ZEIT kann sie ausbreiten - eine »Formel«, die GROSSES WISSEN her­vorruft. Diese »Formel« lautet:

ah AH SHA SA MA HA

(Das erste ah setzt mit einem leichten kehligen Laut ein.)Lassen Sie diese Silben in allen Darbietungen erklingen (wenn Sie

diese erst einmal als Wissens-Soheit gesehen haben). Verstehen Sie diese Buchstaben nicht als den Objekt-Inhalt eines von Ihnen gelei­steten Erkenntnis-Aktes, sondern lassen Sie sie in und als Wissens- Soheit anwesend sein. Jede einzelne Silbe sollte in Wissens-Soheit erklingen und nachhallen - wobei die Formel selbst eine Rezitation ist, die die Wissens-Soheit während der gesamten Übungsperiode ununterbrochen wiederholen kann.

Auf einer höheren Stufe der Praxis kann diese Übung durch ver­schiedene meditative Disziplinen erweitert werden. Wollen Sie wei­terführende Anweisungen zu solchen Techniken erhalten, können Sie sich an das Nyingma-Institut in Berkeley, Kalifornien, wenden.

Kommentar zu Übung 35Die Rezitation dieser Formel gibt uns einen Schlüssel in die Hand, der uns mehr Wissens-Soheit und Klarheit erschließt. Wenn Sie sie in allen Gedanken, Gefühlen und anderen Darbietungen sehen und sie darin mitschwingt und nachhallt, verwandelt sie diese alle zu Pforten, durch die höhere Wissensfähigkeiten hervortreten können.

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WISSEN und Totalität

GROSSES WISSEN ist nicht die Sichtweise eines Individu­ums, und es ist auch nicht eine Perspektive im Sinne einer Betonung einer Subjekt-Objekt-Dichotomie. GROSSES WISSEN ist alles« - Subjekt und Objekt, in einer Weise vereint, die weder Teile noch ein »Ganzes«, ja nicht einmal einen Prozeß des Vereinigens mit sich bringt. Dieses totale Zusammensein können wir den WISSENSKÖRPER nennen.

Kritische Analysen und Übungen, wie jene in den vorangegangenen Kapiteln, können zusammengenommen die Vorstellung von einem »Geist« bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit unter Druck setzen, so daß sie diese schließlich »öffnen«, ohne dabei irgendeinen Schaden anzurichten. Im Verlauf dieses Prozesses entsteht ein anderes Bild der Wirklichkeit. Dieses Bild, das nun zutage tritt, ist ausgewogener und nicht nur ein ausgebreitetes Feld von getrennten »Erkennbar- heiten«, Erkenntnisakten und Verwirrung. Die alldurchdringende Klarheit, die im vorangegangenen Kapitel angesprochen wurde, wird nach und nach als ein ausgleichender Faktor oder gemeinsamer Nenner freigelegt.

Wir haben gesehen, daß die offene Klarheit selbst in der Hinder­nisse aufbauenden Anwesenheit des gewöhnlichen Erkennens zu finden ist - wie auch in dem gewöhnlichen »Nicht-Wissen« und der gewöhnlichen Verwirrung. Das gewöhnliche Erkennen kann ebenso wie das ihm zugehörige gewöhnliche Nicht-Wissen aufgetaut und veredelt werden, so daß diese strahlende Qualität freigesetzt wird. Indem wir mit der gewöhnlichen Erscheinung arbeiten und dabei diese besondere Klarheit verfeinern, die »in« allem ist, wird es uns möglich, anstelle des »Geistes« und der »Dinge« diese Klarheit selbst zu unserem Leitstern zu machen. Unsere Sicht der Wirklich­keit wird sich infolgedessen noch weiter verändern. Sie scheint nicht länger durch Erkenntnisprozesse, Erkenntnisverluste, Verwirrung, Grenzen der Erkenntnis und so weiter aufgebrochen zu sein; sie ist auch nicht in Raum, Zeit oder für-sich-allein-stehende Identitäten oder Substanzen aufgeteilt.

Es gibt keinen »Beobachter« mehr, sondern statt dessen nur eine Wissens-Soheit, die offener und umfassender - das heißt von allen

15. Kapitel

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Seiten und Gesichtspunkten aus gleichzeitig - sehen kann. Präziser ausgedrückt: Die »wissende« Klarheit strahlt nicht von einem Zen­trum aus; sie ist vielmehr in allem, und alles ist in ihr. Es gibt kein gewöhnliches »Außen« oder »Innen« mehr, sondern nur noch - in Form der grenzenlosen offenen Wissens-Soheit - ein alldurchdrin­gendes und innig vertrautes »Darinnen«.

Um zu dieser Wissens-Soheit zu gelangen, können wir bei den Objekten und Erfahrungen beginnen und sie dazu verwenden, uns mit ihrer Hilfe zu der Wissens-Soheit und Klarheit zurückzuarbei­ten, deren Träger sie sind. Indem wir dann von jener Klarheit Ge­brauch machen, können wir sehen, daß alle Erfahrungen derart in einem gemeinsamen Grund enthalten sind, daß sie durch nichts von­einander getrennt werden. Unsere Erfahrung vom letzten Jahr und unsere Erfahrung von heute haben dieselbe Klarheit in sich, und jene Klarheit zeigt, daß sie sogar noch grundlegender miteinander verbunden sind - die Vorstellung, daß die eine der anderen »voraus­geht«, ist irrig. Das Vorherige ist nicht vorher, das Entfernte ist nicht entfernt.

Anstatt weiterhin dem schweren Weg zu folgen und mit Hilfe der konventionell konstruierten und interpretierten Identitäten sowie erprobten und bewährten wechselseitigen Verbindungen von einer Art von Situation oder Erfahrung zur nächsten zu gelangen, können wir die Klarheit einer Situation dazu verwenden, unmittelbaren Kontakt mit allen Situationen herzustellen. Da jeder Situation die gleiche uneingeschränkte »Wissens«-Qualität innewohnt und sie deswegen mit allen anderen Situationen innig vertraut bleibt, kön­nen wir einfach entspannen. Wir brauchen uns an keine esoterischen blitzartigen Einsichten zu klammern, um sie immer mit uns herum­tragen zu können. Es gibt nichts, das wir einsammeln und horten, nichts, um dessentwillen wir uns überanstrengen müßten. Und eben weil diese Wissens-Soheit immer anwesend ist, sind die Anwesen­heit und das Erkennen von Dingen und Vorkommnissen für das abgeleitete »niedere Wissen« oder die gewöhnliche Erkenntnis überhaupt möglich.

Aber auch wenn diese Wissens-Soheit immer anwesend ist, sie ist in ihrer »Klarheits«-Dimension zu subtil, als daß das »Selbst« sie wahrnehmen und würdigen könnte. Zusammen mit der Schwierig­keit, die gewöhnlichen Dinge mit Hilfe des niederen Wissens zu erkennen, führt dies dazu, daß Verwirrung und Nicht-Wissen entste­hen. Mit diesem Zustand des Nicht-Wissens können wir jedoch ar­

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beiten und ihn umkehren. Wir können die im vorangegangenen vor­geschlagenen Übungen und Ideen wie Scheinwerfer benutzen, um damit Löcher in den Zustand der Dunkelheit des Nicht-Wissens zu sprengen. Auf diese Weise nimmt der Zustand der Dunkelheit stän­dig ab. Er wird zu einem kleinen Flecken in einer zunehmend inte­grierten Helle. Tatsächlich trägt jedoch auch die Dunkelheit die Klarheit und Frische, die wir suchen. Auch sie kann verfeinert und aufgetaut werden. Schließlich können wir dann entdecken, daß es Dunkelheit oder eine Soheit des Nicht-Wissens niemals gegeben hat.

Auch wenn Nicht-Wissen für das Selbst eine Wirklichkeit und ein echter Anlaß zu Besorgnis ist, bleibt es dies nur so lange, bis das Selbst (oder eine hervortretende Wissens-Soheit) entdeckt, daß es aufgetaut und seine leuchtend klare Beschaffenheit wiederherge­stellt werden kann. Und diese Klarheit zeigt uns dani\ ihrerseits, daß es ein Nicht-Wissen, welches ein Anlaß zur Besorgnis sein könnte, niemals wirklich gegeben hat. Alle Verwirrung und alles Nicht-Wis­sen sind die Tatsächlichkeit von »kein Nicht-Wissen«.

Wir können demnach drei mögliche Ebenen der Beziehung zu Wissens-Soheit unterscheiden. Auf der ersten Ebene machen wir sehr stark von der Wissens-Soheit des Großen Wissens Gebrauch, ohne uns dessen bewußt zu sein. Der allgemeine Charakter dieses Zustandes wurde in den Kapiteln 11 bis 13 ausführlich darge­stellt.

Indem wir mehr Klarheit und Wissens-Soheit entwickeln, können wir die zweite Ebene erreichen, die es uns gestattet, eine neue Vi­sion des Status und der wechselseitigen Beziehung der Elemente heranzubilden, die die gewöhnliche Wirklichkeit konstituieren. Wir können sehen, was es für derartige Elemente bedeuten könnte, in gewisser Hinsicht eine Totalität zu sein. Wir sehen, daß wir unseiner solchen Totalität als gelebte Sichtweise annähern und sie als solche verwirklichen können und sie nicht bloß eine abstrakte Vorstellung bleiben muß. Nähern wir uns der Totalität an und nehmen immer mehr von ihr auf, kommen wir zu einem ganz anderen Verständnis von dem, was »Totalität« bedeutet. Es stellt sich heraus, daß sie weder ein Ding ist noch ein Aggregat, das sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt. Totalität ist keine Frage der Quanti­tät. Je mehr wir uns der Totalität annähern, desto deutlicher sehen wir, daß die Annäherung selbst das Wesen der Totalität reflektieren muß, was die Tatsache beinhaltet, daß die Totalität nicht das Ergeb­nis eines additiven Prozesses ist.

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Eine Annäherung an die Totalität setzt voraus, daß wir unsere Beziehung zu den gewöhnlichen Dingen neu bewerten, daß wir auf­hören, sie ihres Wertes und ihrer Bedeutsamkeit zu berauben, in­dem wir sie als endliche, für-sich-allein-stehende Einzeldinge hin­nehmen. Wollten wir versuchen, aus einem derartig beschränkten Verhältnis zu »Einzeldingen« eine umfassende Sichtweise zusam­menzuzimmern, würden wir niemals Erfolg haben. Wir können alles er-reichen, aber nicht, indem wir in alter Gewohnheit nach außen greifen - eine Gewohnheit, die von einem »Nicht-Haben« ausgeht. Das »Alles«, das schließlich verwirklicht wird, ist nicht das »ganze Universum«, wie es von unserer ursprünglichen Sichtweise, der ur­sprünglichen »Anzeige« postuliert wurde.

Mit Wissens-Soheit auf dieser zweiten Ebene vertraut zu sein, heißt zu sehen, daß alles - das gesamte Universum - einen offene­ren Horizont besitzt. Eine solche Vertrautheit zeigt nämlich, daß wesentlich mehr Raum, Zeit und Begegnungen verfügbar sind, die alle scheinbar endlichen Dinge und Intervalle durchdringen und umgeben. Damit würdigen wir die endlichen Dinge in einer Weise, die ihrem RAUM-ZEIT-WISSEN-Wesen eher gerecht wird. Das Ergebnis, die »Leistung« dieses würdigenden Gewahrseins, wird je­doch immer noch in Begriffen der Sichtweise der ersten Ebene - von Dingen, Bedeutungen, Mengen und so weiter - zum Ausdruck gebracht. Es gibt immer noch eine Wirklichkeit, doch hat sie keinen genau festgelegten Umfang mehr.

In den fortgeschritteneren Phasen der Erfahrung der zweiten Ebene kommt es zu Darbietungen, die nicht einmal mehr in ein quantitativ erweitertes Bild jener Weltordnung hineinpassen. Viel­mehr deuten sie einen Zusammenbruch jener Ordnung oder ein erstes Durchschimmern anderer Ordnungen an. Auch diese sind jedoch immer noch darauf zurückzuführen, daß Raum-Zeit-Wissen den gewöhnlichen Parametern gemäß interpretiert werden.

Auf der dritten Ebene des Verstehens, auf der GROSSES WIS­SEN völlig offengelegt ist, gibt es kein festgelegtes Universum, kei­ne Totalität, denn für diese Ebene gibt es nur Raum und Zeit. Die Dinge sind Raum und Zeit, aber in dem Sinne, daß es die Dinge gar nicht gibt - jede Erscheinung ist ganz und gar RAUM und ZEIT. Es gibt weder Einheiten noch eine Summe dieser Einheiten. Dies wird oft als ein Kommentar über die »Wirklichkeit« verstanden - zum Beispiel in dem Sinne, daß die Wirklichkeit offen ist, keine festge­legten Grenzen besitzt, nicht aus bestimmten Gruppen oder Arten

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von »Dingen« besteht und sich zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht in einem bestimmten Zustand befindet. Für die RAUM-ZEIT-WIS- SEN-Vision bringt die Totalität - die allumfassende Sicht und Seins­weise - überhaupt keine »Wirklichkeit« mit sich, welche, zum Bei­spiel, offen sein könnte.

RAUM, ZEIT und WISSEN sind, was »da ist«, was jedoch nicht heißt, daß sie Dinge sind, die sind, wie etwa ein grundlegendes Substrat, eine Wahrheit oder Wirklichkeit. Ihre Offenheit ist in kei­ner Weise ein Zustand. Gleichermaßen ist die Totalität nicht ein Träger von Dingen oder von etwas jenseits der Dinge. Dieser Punkt ist sehr wichtig für ein Verständnis des Wegen dieser Vision. Sollten wir sie nicht richtig verstehen, kann die auf der zweiten Ebene statt­findende Angleichung von RAUM-ZEIT-WISSEN an die gewöhn­lichen Sichtweisen leicht zu der Sackgassen-Erfahrung eines »Gan­zen« führen. Da die Versunkenheit in eine solche Ganzheit den Anstoß, der uns dazu brachte, Fortschritte zu machen, absorbieren würde, könnten wir darin steckenbleiben - bis uns Zeit erneut dar­aus befreit und uns die Gelegenheit bietet, uns zu öffnen und mehr zu wissen.

Begreifen wir Totalität jedoch auf eine wahrhaft befreiende (statt auf eine einfrierende) Weise, dann haben wir die dritte Ebene er­reicht. Aber was wird durch dieses Erreichen eigentlich befreit? Der Körper? Der Geist? Die Persönlichkeit? Die Gefühle? Die äußere Umwelt? Grashalme? Felsblöcke? Wind? - oder was?

Wenn wir bei der Beantwortung dieser Frage auf die Vorwegnah­men der ersten Ebene Rücksicht nehmen wollen, so daß die Ant­wort zu den Dingen der gewöhnlichen Weitsicht in irgendeiner Be­ziehung steht, so lautet sie: »Alles!« Unser Erwachen ist das Erwa­chen all jener, die es verwirklicht haben - jener, die es in der Ver­gangenheit verwirklicht haben, und jener, die es noch verwirklichen werden. Es ist auch das Erwachen all jener, die anscheinend noch in die Bande der gewöhnlichen Sichtweisen geschlagen sind.

Aus der Perspektive der »Anzeigen« der ersten Ebene scheint es, daß wir als Individuum uns anstrengen und Fortschritte machen, so daß das Ziel auf der dritten Ebene ein individueller Erfolg sein sollte. Anstatt uns jedoch durch unsere Bemühungen um Transzendenz immer weiter von der übrigen Welt zu entfernen, würdigen wir mehr und mehr, was dieses »Alles« ist und werden damit immer inniger verbunden und vertraut. Dies ist nicht wirklich ein Verschmelzen oder Erwachen gewöhnlicher »Dinge«, sondern ein Umschalten zu

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einer Sichtweise, die sieht, daß alle Dinge eigentlich gar keine Dinge sind - keine Dinge, die transformiert oder vereinigt werden müßten. Alles ist vollkommen als RAUM-ZEIT-WISSEN integriert.

GROSSES WISSEN ist nicht die Sichtweise eines Individuums, und es ist auch nicht eine Perspektive im Sinne einer Betonung einer Subjekt-Objekt-Dichotomie. GROSSES WISSEN ist »alles« - Sub­jekt und Objekt, in einer Weise vereint, die weder Teile noch ein »Ganzes«, ja nicht einmal einen Prozeß des Vereinigens mit sich bringt. Dieses totale Zusammensein können wir den Wissenskörper nennen. In den Begriffen der ersten Ebene können wir sagen, daß jedermann gleichermaßen an diesem Wissenskörper teilhat. Jeder­mann und jedes Ding ist die totale und lebensvolle Verkörperung der innigen Vertrautheit von RAUM und ZEIT.

Gehen wir von der gewöhnlichen physischen Sichtweise unseres Körpers aus, scheinen wir voneinander isoliert zu sein und müssen deswegen nach intimer Begegnung suchen, indem wir »tote Punkte« (oder Bereiche, denen das Wissen um eine innige Vertrautheit fehlt) durchqueren. Wir müssen inniges Vertrautsein hersteilen, indem wir die Oberflächen anderer Körper mit Botschaften tragenden Ge­schossen beschießen. Wir sind in unserem Innersten zugleich ängst­lich und aggressiv. Auf einer tiefen Ebene unseres Seins sind wir hungrig, schrecklich hungrig, so daß wir Nahrung aller Art suchen und verzehren müssen - physische Nahrung, geistige Nahrung, emo­tionale Nahrung. Wenn wir jedoch vom WISSENSKÖRPER Ge­brauch machen, können wir an einer innigen Vertrautheit teilhaben, die nicht künstlich herbeigeführt wurde. Wir sind dann auch in ei­nem nicht-egoistischen Sinne absolut selbst genügsam. Wir können unmittelbar aus unserem eigenen Sein, unmittelbar aus RAUM und ZEIT Nahrung beziehen.

Im Rahmen eines Modells ausgedrückt, das sich an den »Dingen« orientiert, heißt dies, daß die Trennwände und Lücken, die die indi­viduellen Körper und Ströme des Erkennens abstecken, einem völli­gen Vereinigtsein weichen. Die vereinigenden Dimensionen sind die einschneidende Klarheit der Wissens-Soheit, die in den Übungen 30 bis 33 angesprochen wurde sowie die Fähigkeit der ZEIT, Verbin­dungen zu schaffen. Wir fangen bei einer Welt getrennter Dinge an. Dann gelangen wir dahin, diese Dinge als Darbietungen wahrzuneh­men und zu würdigen, die eine leuchtende Klarheit freisetzen. Dar­aufhin können wir jene Eigenschaft dazu benutzen, die Dinge wie­

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der zu sehen, aber diesmal in einem geeinteren Aspekt. Allmählich entdecken wir dann vielleicht ein Vereinigtsein, das zu vollkommen ist, als daß es eine Leistung (eine Vereinigung von Dingen) sein könnte. Und schließlich mögen wir sehen, daß die Klarheit, in der es »keine Dinge« gibt, kein besonderer Zustand ist oder ein Zustand, der im Gegensatz zu der gewöhnlichen Darbietung von Dingen steht. Indem wir »alles« erlangen, erhalten wir »Nichts«, ein unend­liches und umfassendes doch null-dimensionales Sein. Dies jedoch ist die Tatsächlichkeit der gewöhnlichen Erscheinung, die allerdings ganz und gar als RAUM-ZEIT-WISSEN gesehen wird.

Dieses Umschalten zu einer vollständig neuen Sichtweise erklärt einen anderen Punkt der Aussage, daß Wissen überall und mit allem ist. Wie wir schon die subjekt-orientierte oder mentalistische Inter­pretation dieser Idee zurückgewiesen haben, so können wir nun auch vermeiden, den allumfassenden Charakter des Wissens in einer Weise zu interpretieren, die allen gewöhnlichen Dingen oder Objek­ten die Fähigkeit »zu wissen« zuschreibt (ein Pantheismus oder Panpsychismus). Ist die von einem »erkennenden Subjekt« ausge­hende Sichtweise transzendiert, dann ist gleichzeitig auch das »er­kannte Objekt« transzendiert - das Objekt ist kein Objekt, kein Teil eines separaten »objektiven Bereichs«. Aussagen über GROS­SES WISSEN sind nicht bedeutsam neben den gewöhnlichen Mo­dellen und Vorwegnahmen; sie sind vielmehr innerhalb der alterna­tiven und umfassenden RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision gültig.

Diese Wirklichkeitsschau transzendiert nicht nur den subtilen Au­ßenlieger-Aspekt der »äußeren Objekte«, sondern auch unsere ängstliche Abhängigkeit von anderen. So befreit uns diese Vision zum Beispiel von unserem Verlangen danach, von einem »Lehrer« oder »Heiland« höheres Wissen oder Inspiration zu erhalten. Ganz gleich, ob ein erleuchteter Lehrer verfügbar ist oder nicht, GROS­SES WISSEN ist in Reichweite, und zwar auf eine Weise, die unser ängstliches Bemühen, die Befreiung zu erlangen, durchschneidet. Natürlich ist die Anwesenheit eines qualifizierten Lehrers oder ge­eigneter Lehren selbst die manifeste Anwesenheit GROSSEN WIS­SENS, und es mag hilfreich sein, mit GROSSEN WISSEN in dieser persönlichen Erscheinungsform in Verbindung zu treten, wenn wir uns diesem Wissen öffnen wollen.

Wir können beginnen, mit GROSSEM WISSEN Verbindung auf­zunehmen, indem wir unseren eigenen »Geist« einer strengen Kritik unterwerfen und diese Kritik dadurch auf eine erfahrbare Ebene

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bringen, daß wir uns mehr und mehr der Wissens-Soheit öffnen. Der Geist wird nach und nach geöffnet, bis er seine definierenden Rän­der verliert. Doch geht die Einsicht, die dabei zutage tritt, noch weiter und zeigt, daß - in Übereinstimmung mit einer Sichtweise der dritten Ebene - der gewöhnliche Geist von Anfang an gar nicht existiert hat. Er wurde niemals geboren, noch hat es jemals eine Verblendung gegeben, aus der ein Geist befreit werden müßte. An keinem Ort in der gegenwärtigen Zeit ist ein Geist zu finden, und deswegen wird auch kein Geist an einen anderen Ort oder in einen anderen Zustand übergehen (wie z. B. den Zustand des »Aufhörens zu existieren«). Er kann gar nicht befreit werden, erstens, weil er nicht als etwas anwesend ist, das der Befreiung bedarf, und zwei­tens, weil er, wäre er auf die konventionell angenommene Weise tatsächlich anwesend, zu starr und unwandelbar sein würde, um überhaupt befreit werden zu können.

Dies gilt auch für alle gewöhnlichen Objekte und Grundzüge un­seres Bereiches, wie auch für die subtileren musterbildenden Ten­denzen der »Zeit«. Wären sie wirklich das, als das sie auf der ersten (und sogar der zweiten) Ebene erscheinen, so wäre jegliche Trans­zendenz unmöglich. Doch aus der Sicht der dritten Ebene ist alles - so wie es ist - offen und fließend, vollkommen frei, ohne daß es da Dinge geben würde, die frei sind. Dies trifft auch auf die gewöhnli­che Lokalisiertheit und die gewöhnliche Subjekt-Objekt-Orientie- rung zu. Indem sie sind, wie sie sind, »sind sie nicht«. Sie sind niemals »dagewesen« und sind auch niemals - im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes - »geschehen«. Ihr Geschehen ist ihr Nicht- Geschehen. Selbst wenn sie scheinbar Knechtschaft und Leiden er­schaffen, haben sie doch Teil an einer fortwährenden Selbst-Trans- zendierung.

Durch dieses Verstehen (welches kein zeitlich festgelegtes Ereig­nis ist) aller Phänomene tritt eine nicht-erlernte Weisheit zutage, und echte Ekstase erblüht. Diese Ekstase ist keine konditionierte oder emotionale Reaktion, keine Falle. Sie bindet niemanden an sich, indem sie zu einer auf Gefühlstönungen basierenden Vorliebe führt. Vielmehr lebt sie in allem, ohne eine Ding-Orientierung zu verewigen. Anstatt daran zu haften, daß die Wirklichkeit auf eine ganz bestimmte Art und Weise da ist, können wir mit dem Spiel von RAUM und ZEIT schritthalten, wie es von ihren Darbietungen offenbart wird. Wir können niemals hinter die neuen Ausdrucksfor­men des RAUMES durch die Zeit zurückfallen oder damit in Kon-

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flikt geraten. Auf diese Weise regenerieren wir uns immer wieder und erfreuen uns der Kraft und Frische, die wir konventionell als »ewige Jugend« bezeichnen.

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WISSEN, SEIN und Menschsein

Erstaunen ist die Anwesenheit, das Darbieten, das würdi­gende Gewahrsein der Wirklichkeit als SEIN. Alle Erschei­nung ist reine Kunst, schön über alle Faßbarkeit hinaus, verlockend über jede Möglichkeit des Besitzens hinaus. Sie läßt sich nicht besitzen, doch sie ist vollkommen zugänglich. Der Schatz, den unser Sein für uns bewahrt, ist wie ein im­mer anwesender Nektar; er gleicht einem unerschöpflichen Königreich, das uns immer offensteht.

Die gebietende und unerschütterliche Anwesenheit des WISSENS, seine überschäumende Kraft und Jugendlichkeit, die allumfassende innige Vertrautheit des Wissenskörpers und die schwer faßliche, nicht-zusammengesetzte und keine Wesenheit darstellende »Totali­tät« - sie alle stellen Aspekte des vollen Wertes von Erscheinung und SEIN dar.

Verwirklichen wir die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision im Leben und entdecken mehr und mehr, welchen Reichtum diese drei Facet­ten darstellen, können wir den Weg zu unserem SEIN finden. Bis jetzt haben wir uns auf RAUM. ZEIT und WISSEN konzentriert, jedoch nur, um - durch diese drei Facetten der Vision - die Einheit des SEINS zu begreifen. Damit soll nicht gesagt werden, RAUM, ZEIT und WISSEN seien nur von sekundärer Bedeutung. Die Be­griffe RAUM, ZEIT und WISSEN sind auf jeder Ebene unserer Untersuchung auf exakte und umfassende Weise gültig und führen zu weiteren Offenbarungen. Um jedoch mit völliger Gewißheit zu sehen, daß die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision im höchsten Sinne umfassend ist, müssen wir eine Einsicht in das integrierte Wesen des Seins gewinnen.

Warum sind diese drei Facetten, wie sie sind? Warum sind sie nicht anders, und warum vermischen sie sich nicht auf eine Weise, die ihre Eigentümlichkeit verdunkeln würde? Warum scheint es nur diese drei Aspekte zu geben? Die Antwort auf alle diese Fragen offenbart sich durch ein würdigendes Gewahrsein des Seins. Die Offenheit des RAUMES, die lebhafte, ausdrucksstarke Natur der ZEIT, die Klarheit des WISSENS sind SEIN. Dies bedeutet nicht, daß sie »etwas« oder »noch etwas anderes« sind. SEIN ist nicht etwas anderes, das sich hinter diesen dreien verbirgt.

16. Kapitel

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Die Frage, warum die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen sind, beinhaltet zumeist ein Abstehen von einem unmit­telbaren würdigenden Gewahrsein. Sie entspringt immer der Ten­denz, hinter das Vorhandene zu schauen und nach etwas anderem zu suchen, das »der Grund« ist. Wenn jedoch RAUM, ZEIT und WIS­SEN hervorscheinen, bringen sie ihre eigene Fähigkeit, wahrzuneh­men und zu würdigen, und ihre unmißverständliche Verkörperung als SEIN mit sich. Die Tendenz, anderswo, draußen oder dahinter zu suchen, ist verloschen und hat einer vollkommenen und positiven Anwesenheit Platz gemacht.

Eine derartige Anwesenheit setzt die gewöhnlichen Vorwegnah­men über ein »anwesendes lokalisiertes Ding« und über das Dasein außer Kraft und überwindet die Ist/Ist-Nicht-Dichotomie, die unse­re Sprache durchzieht. Sowohl »Ist« als auch »Ist-Nicht«, anwesend als auch abwesend, nah wie fern, sind Ableitungen von der Fülle und Anwesenheit des SEINS. In - oder als - Anwesenheit erstrah­len RAUM, ZEIT und WISSEN auf ihre jeweilige Art und Weise, ohne sich zu vermischen. Aber sie sind ebensowenig drei Dingen; jede Facette ist tatsächlich alle drei Facetten, und alle drei bleiben sie eine nicht bewirkte Synthese. Dies ist das Wesen des SEINS, von der ersten Ebene gesehen ein Mysterium, aus der Sichtweise der dritten Ebene hingegen völlig natürlich und direkt.

Alle Übungen, die in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt wurden, beinhalten alle drei Facetten dieser Vision in ihrem un­trennbaren Aspekt. Allgemeiner gesagt, dienen alle Vorstellungsbil­der, Kritiken und Bestimmungen, die im Vorangegangenen erwogen wurden - einschließlich des sich selbst in Frage stellenden Prinzips der »Anzeige« und seiner Kritik von Anschauungen, Entwürfen und Erklärungen als ein vielseitiger Ansatz zur Hervorlockung des Wesens des SEINS. Alles »Erklären« und die dazugehörigen Vor­wegnahmen wegzuräumen, ist an sich schon der Weg aufzuzeigen, was als SEIN wertvoll und bedeutsam ist. Dies ist jedoch selbst keine Definition von SEIN.

Da es äußerst schwierig ist, vom SEIN zu sprechen, ohne all die Vorwegnahmen wiederzubeleben, die es verdunkeln, können wir nur an die bereits vorausgeschickten Warnungen erinnern, das Sein weder für ein Ding zu halten noch für ein Ding, welches ein »Nicht- Ding« ist, noch für ein »Ganzes«. Wir müssen uns immer bewußt bleiben, daß SEIN kein verborgenes Letztes ist, welches so beschaf­fen ist, daß es nur durch eine Verneigung von allem anderen erlangt

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werden könnte, daß es kein bestimmter Zustand, kein physischer Prozeß und so weiter ist. SEIN kann durch derartige verweisende Ausdrücke oder Charakterisierungen nicht gezeigt werden, denn »SEIN« ist ein Wort, das auf der ersten Ebene keine klare Bedeu­tung hat.

Religionen und metaphysische Systeme machen von vielen derar­tigen Begriffen Gebrauch. Atheismus, Skeptizismus, Naturwissen­schaften, Sprachphilosophie und Psychologie haben allesamt - aus recht unterschiedlichen Gründen - auf den nicht-fundierten Cha­rakter dieser Begriffe hingewiesen und auch auf die Verwirrungen, die aus ihrem Gebrauch entstehen können.

Diese Einwände haben auf der konventionellen Ebene durchaus ihre Berechtigung; aus der Sicht der RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision müssen solche Begriffe jedoch nicht ohne Grundlage bleiben. Das Problem besteht nicht darin, daß diese Begriffe eine unangemessene Anwendung oder eine unangemessene Erweiterung der gewöhnli­chen Sprache darstellen, sondern vielmehr darin, daß sie nur auf der zweiten und dritten Ebene von WISSEN von Belang sind.

Damit ist nicht gesagt, daß sie, damit ihnen ein tatsächlich fun­dierter Anwendungsbereich zukommt, einen gänzlich »höheren« oder »überirdischen« Sinn haben müßten. Da die gewöhnliche Ebe­ne nicht einmal im Rahmen ihrer eigenen Sichtweisen fundiert ist, bleibt für Einsichten der zweiten und dritten Ebene Platz genug, auch für die konventionellen Belange eine triftige Bedeutung zu haben. Die konventionellen Perspektiven sind nicht gerüstet zu er­klären, was »gewöhnliche Wirklichkeit« ist, es sei denn, wir nehmen einige Grundbegriffe hin, ohne sie in Frage zu stellen, und akzeptie­ren sie als grundlegenden Wirklichkeiten, aus denen die globale »Wirklichkeit« zusammengesetzt ist. Zwischen unserem allgemei­nen Unvermögen, religiöse Begriffe zu begründen und unserer Un­fähigkeit, die fundamentale Bedeutsamkeit unserer gewöhnlichen Wirklichkeit zu erklären, besteht ein enger Zusammenhang. Beide Aspekte benötigen GROSSES WISSEN zu ihrer Lösung. Haben wir uns diesem Wissen einmal geöffnet, dann sind - wenn wir das, was wir angetroffen haben, als »SEIN«, »GOTT«, »WIRKLICHKEIT« oder »EINSSEIN« bezeichnen wollen - derartige Begriffe ausrei­chend fundiert und zutiefst bedeutsam.

Die Suche nach dem SEIN kann nicht auf egoistische Zwecke und Werte aufgebaut werden. Unser Sein hat einen ursprünglichen Wert,

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der in seiner Sphäre fortlaufend vollendet wird, und zur Verwirk­lichung unserer Erfüllung ist es notwendig, daß wir auf diesen Wert achten. Dies zu tun heißt jedoch nicht, sich dem Geheiß ei­nes anderen (oder einer Sache) zu unterwerfen oder allgemeiner ausgedrückt, sich dem konventionellen Bild von »GOTT über den Menschen« zu unterwerfen. Vielmehr beinhaltet es ein Erwachen zu der Untrennbarkeit von SEIN und MENSCHSEIN.

Die Anwesenheit von Erscheinung als SEIN läßt sich nur in pa­radoxen Sätzen aussagen. Anwesenheit ist und ist doch offen - wie eine Zeichnung am Himmel. Dies ist ein Ausdruck für die »RAUM«-Dimension des SEINS. Darbieten, Geschehen und Weitergehen vollziehen sich allesamt in einer Weise, daß sie ein Nicht-Weitergehen, ein Nicht-Tun bleiben. Dies liegt daran, daß der darbietende Charakter der Zeit ein schimmerndes bewegungs­artiges Phänomen mit sich bringt, welches sich in Wirklichkeit in der Offenheit des RAUMES vollzieht. Es ist eine »schimmernde strukturierende Bewegung«, die trotzdem (wenn sie von GROS­SEM WISSEN gesehen wird) weder Struktur noch Bewegung auf­weist. Nichts stellt irgend etwas dar, und dies ist in sich ein unbe­grenztes, mittelpunktloses und grenzenloses Spiel. Jedes einzelne Ding ist in dieses Spiel eingeschlossen, und doch gibt es »dort« keine Dinge. Was da ist, ist völlig offen, auf eine Weise, die ein nicht gedämpftes Strahlen bleibt, ein unendlich verwobenes Strah­len - reine Magie. Alles bleibt ungetan und ist sogar unmöglich - denn es gibt keine Dinge oder Ursachen, keinen Raum und keine Zeit, in denen irgend etwas Vorkommen könnte. Diese »Unmög­lichkeit« selbst ist die Unmittelbarkeit oder Anwesenheit von al­len Dingen als Erstaunen. Es gibt keinen Wahrnehmenden, der dieses wunderbare Spiel bestaunen könnte, und diese Tatsache selbst ist das allwissende würdigende Gewahrsein GROSSEN WISSENS.

Erstaunen ist die Anwesenheit, das Darbieten, das würdigende Gewahrsein der Wirklichkeit als SEIN. Alle Erscheinung ist reine Kunst, schön über alle Faßbarkeit hinaus, verlockend über jede Möglichkeit des Besitzens hinaus. Sie läßt sich nicht besitzen, doch sie ist vollkommen zugänglich.

Unserem SEIN ist unerschöpflicher Reichtum eigen. Wenn dies anerkannt wird - ohne daß da einer ist, der anerkennt kann es kein Anhaften, keine Angst oder Besorgtheit mehr geben und auch keine Häßlichkeit oder Unvollkommenheit, denn ihre An-

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Wesenheit selbst ist unvergleichliche Schönheit. Alles ist eine Ver­körperung des SEINS und eine Totalität.

Die Bewußtheit wird erfrischt und klar, wenn wir auf diese Weise zu sehen vermögen. Alle Erscheinung trägt zu einem Öffnen der Bewußtheit bei, belebt sie, legt ihren durchdringenden Charakter offen. Die Sinne werden unendlich feinfühlig und ihre Kapazität wird voll ausgeschöpft. Der Körper findet zu vollendetem Gleichge­wicht, gelangt mit sich und seiner Umwelt in Einklang. Er ist die vollkommene und positive Verkörperung des Wertes des Seins sowie der konkret gelebte Ausdruck der erstaunlichen Unfaßlichkeit des Seins. Alle Handlungen sind dann tiefgründige rituelle Gesten, ge­bietend und majestätisch, und doch gleichzeitig ein heiteres, fröhli­ches Spiel.

Indem wir also die Anwesenheit des SEINS in seiner Bedeutung für unsere »innere Umwelt« und für unseren Körper wahrnehmen und würdigen und aktiv zum Ausdruck bringen, vermögen wir all­mählich zu sehen, wie ihre Bedeutsamkeit auf den Bereich der un­mittelbaren äußeren Umwelt, unserer Freunde und Bekannten aus­gedehnt werden kann. Dieser Prozeß erweitert und beschleunigt sich von selbst; er wird immer umfassender und gleichzeitig für den bleibenden Wert des SEINS - der nicht »erlangt«, entwickelt oder beschrieben wird - immer empfänglicher.

Wir müssen nur einen Anfang machen, indem wir uns ganz der Aufgabe verpflichten, das uneingeschränkt positive Wesen unseres SEINS zu respektieren und es zu jeder gegebenen Zeit in dem für uns höchstmöglichen Maße festlich zu würdigen. Deswegen ist es auch kein Widerspruch zu der nicht-erzeugten Schönheit des SEINS, wenn wir uns anfänglich für die Erweckung, Belebung und Verschönerung unseres Körpers, unserer Sinne und unserer Be­wußtheit interessieren. Wichtig ist allein, den Wert zu hegen und zu pflegen, der in unserer eigenen Verkörperung zum Ausdruck kommt.

Der Schatz, den unser SEIN für uns bewahrt, ist wie ein immer anwesender Nektar. Er gleicht einem unerschöpflichen Königreich, das uns immer offensteht. Dieser Schatz ist so ungeheuer, geht so weit über unsere gewöhnlichen Wertvorstellungen hinaus, daß schon ein flüchtiger Blick darauf deutlich macht, wie sehr wir uns- im Kontrast dazu -, zu unserem eigenen Schaden an der Nase her­umgeführt haben. Wir sehen dann, wie sehr unsere Prioritäten irre­geleitet waren und in welchem Ausmaß unsere Hilfsquellen durch

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die konventionellen pragmatischen Tricks vergeudet worden sind . . . Tricks, die uns glauben machen, daß wir nicht gut genug, nicht befähigt genug sind, eine Erfüllung von der Herrlichkeit zu erfahren, wie sie das SEIN für uns bereithält. Es ist, als hätten wir den Kopf in einer unbequemen Position geduckt gehalten und uns nur ganz scheue Ausblicke und ein paar ganz flache Atemzüge er­laubt. Jetzt, nachdem wir uns vergegenwärtigt haben, wie sehr wir uns selbst im Weg gestanden haben und außerdem erkennen kön­nen, was auf dem Spiele steht, müssen wir uns Mut dazu machen, unser inneres Potential endlich wahrzunehmen und zu würdigen und zur Entfaltung kommen zu lassen. Wir müssen unseren Kopf erhe­ben, uns strecken, aufschauen und tief durchatmen.

Solange wir diese Gelegenheit nicht erkennen und demgemäß leben, bleiben wir wahrscheinlich Gefangene. Was sollte uns dazu bewegen aufzuwachen, wenn nicht die direkte Aufdeckung des SEINS durch RAUM-ZEIT-WISSEN? Nur wer sich dem Sein aktiv verpflichtet (durch RAUM, ZEIT und WISSEN) kann ein freudiges und befreiendes Leben führen. Und wenn wir dann schließlich für unser inneres Potential und unsere inneren Werte stärker empfäng­lich werden, dann entspringt daraus ganz natürlich eine gleichartige würdigende Verpflichtung für den Wert der gesamten Menschheit. Es ist unmöglich, daß dies nicht geschieht, da uns vollkommen klar wird, wie innig wir alle miteinander verbunden sind. Wir haben alle dieselben Eltern - RAUM und ZEIT.

Warum hat uns die traditionelle religiöse Mahnung, daß wir alle »Kinder Gottes« sind, nicht wahrhaft bewegt? Teilweise, weil sie eine Idee geblieben ist, anstatt direkt erfahren zu werden, und teil­weise, weil diese religiöse Formulierung in Begriffe einer linearen Zeit - Ursache-Wirkung, SCHÖPFER-Geschöpf - gekleidet wur­de. Aber wir sind nicht Geschöpfe, Produkte von RAUM und ZEIT. Wir wurden auch nicht zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit verursacht und dann uns selbst überlassen. Vielmehr werden wir alle Sekunde um Sekunde in RAUM und ZEIT neugeboren, und das Band zwischen uns ist sehr fundamentaler Natur und wird unabläs­sig bestätigt.

Wir tragen alle denselben »Wert«. Um dies zu visualisieren, mö­gen wir uns selbst als Büschel oder Spitzen sehen, die aus demselben Gewebe hochgezupft wurden. Gewöhnlich schauen wir nur nach außen, sehen über die dazwischenliegenden »Täler« zu den indivi­duellen Spitzen hinüber. Wir können unserer fundamentalen Ver­

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wandtschaft jedoch gewahr werden, indem wir mehr auf das Gewe­be selbst achten.

Unsere Wesensverwandtschaft ist in der Tatsache begründet, daß wir uns alle im selben Zeit-Zyklus finden. Dies mag gewöhnlich nicht von großer Bedeutung sein, denn Zeit wird im allgemeinen nicht als ein eigenständiges, aktives Prinzip angesehen. Sehen wir jedoch den expressiven Charakter der »Zeit«, wird es auf einmal viel bedeutsamer, daß wir alle, die wir jetzt leben, Teil der allgemei­nen Entfaltung derselben »Zeit« sind. In dieser »Zeit« sind wir alle ganz und gar »zusammen«, und unsere Erfüllung wird in demselben Medium gestaltet und vollendet.

Über diese Erwägungen hinaus ist unsere Gemeinschaft sogar in einem noch fundamentaleren Sinne bedeutsam. Wir sind nicht bloß voneinander getrennte Punkte, die denselben Wert tragen, von den­selben Eltern abstammen, in derselben Zeit leben. GROSSES WIS­SEN zeigt, daß

ein Punkt alle Punkte ist.

Wir sind in unserer Geschichte an einem Punkt angelangt, an dem wir den äußeren Ausdruck dieser Idee sehen können - nämlich, daß wir alle auf einer Welt, auf einem Planeten existieren. Wir können endlich mit Gewißheit wissen, daß es keinen unabhängigen isolier­ten Ort gibt, der von dem, was anderswo geschieht, nicht betroffen wird. Wenn an einem Ort oder Punkt Reserven geplündert werden oder Krankheiten auftauchen, dann werden die Auswirkungen in einem größeren Rahmen auch anderswo spürbar. Dies ist eine ein­fache Veranschaulichung, mit der uns die Zeit zeigt, daß scheinbar auseinanderliegende Punkte miteinander verbunden sind. Wenn WISSEN mehr von GROSSER ZEIT wahrnimmt und würdigt, ist jeder Punkt unmittelbar alle anderen Punkte.

Mit einer derartigen Einsicht haben wir nun eine wirklich feste Basis gewonnen, auf die wir eine altruistische Motivation und die Idee der »Gleichheit« gründen können - eine Begründung, die in der Vergangenheit niemals völlig gelungen ist. Obwohl viele ge­schichtliche Bewegungen sich auf diese Idee der Gleichheit berufen haben, ist sie doch genau dies geblieben - eine Idee. Demokratie, Kommunismus, die Vorstellung eines Commonwealth . . . es hat vie­le Versuche gegeben, Gleichheit per Gesetz durchzusetzen. Aber

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wie viele dieser Versuche hatten tatsächlich Erfolg? Und wie viele haben zu einem Zerrbild von Gerechtigkeit und Gleichheit geführt? Gleichheit vor dem Gesetz läßt sich nur schwer verwirklichen, und eine solche Gleichheit ist noch nicht ausreichend, zwischenmensch­liche Harmonie herbeizuführen.

Aber wenn wir tatsächlich und unmißverständlich erfahren, daß jeder Punkt, jeder Ort, jede Person wahrhaftig alle anderen ist, dann sind wir in der Lage, von einer wesentlich erleuchteteren Basis aus zu handeln. »Organisierte« Bewegungen waren selten in der Lage, wirklich selbstloses Handeln hervorzubringen, denn sie för­dern anstatt Ehrlichkeit und Anpassungsfähigkeit an Situationen zumeist eine sich am »Buchstaben des Gesetzes« orientierende Ta­gend. Daraus entstehen nur zu leicht Spaltungen und wetteifernde Gruppen, die dann nur noch mehr Disharmonie erzeugen. Indem wir uns jedoch von Großem Wissen leiten lassen, das immer mit den neuesten Herausforderungen von Raum und Zeit Schritt hält und während dieses vielschichtigen Spiels niemals den Wert des SEINS aus den Augen verliert, können wir vollkommen angemessen und gleichzeitig ganz spontan entscheiden und handeln. Wir werden uns dann nicht mehr in ethische Konflikte oder das Für und Wider ver­schiedener Optionen verstricken, denn unsere Handlungen schen­ken uns und anderen ganz natürlich Erfüllung.

Das Prinzip, daß »ein Punkt alle Punkte ist«, macht alle »Selbst­sucht«, die anderen schaden könnte, einfach unmöglich. Wir unter­scheiden nicht mehr zwischen »unseren Angelegenheiten« und »ih­ren Angelegenheiten«. Wir sind nicht mehr in der Lage, über das, was anderswo geschieht, hinwegzusehen - weil es uns angeblich nichts angeht - oder uns mit einer wohlwollenden, aber machtlosen Betroffenheit zu entschuldigen. Wir können nicht mehr vorgeben, daß wir zwar die besten Absichten haben, daß sich die meisten Probleme aber unserer Einflußnahme entziehen. Wir können sehen, daß die Menschheit ein Gesamtinteresse verkörpert und daß die Ereignisse und Probleme, die die Menschen »anderswo« berühren, in der Tat alle »hier« sind. Und da GROSSES WISSEN über RAUM und ZEIT gebietet, steht es wirklich in unserer Macht zu helfen.

Um zu wissen, was zu tun ist, auf welche Art und Weise geholfen werden kann, und was »Hilfe« tatsächlich bedeutet, benötigen wir neben der umfassenden Perspektive, die aus dem Verstehen von RAUM und ZEIT wächst, auch ein Verständnis vom »Wert« des

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SEINS. Bevor wir also Taten vollbringen können, die zu verläßli­chen und Erfüllung schenkenden Ergebnissen führen, müssen wir unsere gewöhnlichen Vorwegnahmen über unser Selbst, unsere Bedürfnisse und die Natur des Daseins fallen lassen. Zu einer al­truistischen Einstellung gehört nämlich nicht nur eine Grundlage für großzügiges Handeln, sondern auch ein Wissen darum, was Großzügigkeit wirklich beinhaltet.

Da unsere Vorstellungen vom Glück von unseren persönlichen Wünschen und Vorlieben abhängen, sind wir gewöhnlich nicht in der Lage, wirklich harmonisch zusammenzuarbeiten und ein Glück zu verbreiten, das der gesamten Menschheit wahrhafte Er­füllung schenken kann. Indem wir jedoch immer mehr die Per­spektive des GROSSEN WISSENS annehmen, können wir ein Mitgefühl fördern, das »zwischen den Zeilen« der konventionel­len Bedürfnisse und des konventionellen Glücks »liest«. Wir ver­mögen zu sehen, daß diese unterschiedlichen Bedürfnisse alle in­direkt auf die Facetten des Schatzes verweisen, den RAUM und ZEIT darstellen. Freiheit, Offenheit, Entspannung, Macht, Krea­tivität, inniges Vertrautsein, Spontaneität, Liebe, Befriedigung und Erfüllung - sie alle sind Repräsentanten der ersten Ebene des Wahrnehmens und Würdigens von RAUM und ZEIT durch WISSEN.

Wir sehen, daß wahres Mitgefühl im wesentlichen eine tiefe Empfänglichkeit für den Wert und den Bereich von Raum und Zeit ist - und als solches ist es Empathie für alle Darbietungen, Situationen und Bereiche, und es manifestiert sich, wenn jene im Licht des tiefen Wertes gesehen werden, den sie repräsentieren und der ihnen zugänglich ist. Auf dieser Ebene geht Mitgefühl über unsere gewöhnliche Vorstellung von Mitgefühl hinaus, die sich mit »Mißständen« beschäftigt, welche »behoben werden müs­sen«, und die Menschen mit dem versorgen will, »was ihnen per­sönliches Glück schenkt«. Mitgefühl ist eher eine wahrhaft allum­fassende Perspektive.

Gleiches und konstruktives Recht, ein ethisch entwickelter, er­folgreicher, mitfühlender und einsgewordener Mensch - solche »Ideale« sind nur dann zu verwirklichen, wenn die Einsicht des GROSSEN WISSENS, daß »ein Punkt alle Punkte ist«, wirklich in die Praxis umgesetzt wird. Aber seit Jahrtausenden war das Modell der Sicherung eines »persönlichen Territoriums« das Ziel persönlicher Erfüllung, auch wenn dieses Modell unserem Glück

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und unserer interpersonalen und sozialen Harmonie mehr entgegen­gearbeitet hat, als diese zu fördern.

Es ist deswegen an der Zeit, alles auf einem ganz neuen Prinzip aufzubauen. Das Modell des »persönlichen Territoriums« muß als eine im wesentlichen zerstörerische Fiktion angesehen werden. Wir müssen einsehen, daß die Vorstellung des »Besitztums« - gesetzlich verankerte Bindungen zwischen »Außenliegern« und »Anliegern« - uns fesselt und isoliert. Sollten wir versuchen zu entkommen, indem wir noch mehr zu besitzen trachten, werden wir nur um so mehr gebunden. Wir besitzen nichts, und es gibt nichts, dessentwegen wir nach außen greifen müssen. Weder in ökonomischer noch in spirituel­ler oder sozialer Hinsicht gibt es irgend etwas, das wir bekommen müßten oder irgend jemanden, von dem wir es bekommen könnten. Es gibt niemanden, der außerhalb von uns oder über uns steht und darauf achtet, daß wir auch ja nicht aus der Reihe tanzen. Zwar ist es für das Wahrnehmen und Würdigen von RAUM und ZEIT wichtig, daß WISSEN durch unsere Wirklichkeit hindurchscheint, doch gibt es keine persönlichen esoterischen Fähigkeiten oder Wahrnehmun­gen, die zu entwickeln und zu besitzen wir uns bemühen müßten.

Da wir somit von allem ängstlichen Festhalten und allen engherzi­gen Tendenzen frei sind, wird es uns möglich, menschliches Verhalten als eine präzise und angemessene praktische Umsetzung des Wertes anzugehen, der unserem SEIN innewohnt. Wir werden uns nicht von anderen unter Druck setzen lassen und doch für ihre Bedürfnisse und Standpunkte empfänglich sein, denn das »Ihre« ist auch das »Un­sere«.

Zum ersten Mal in der Geschichte können wir wahrhaft vertrau­ensvoll und auf eine positive Art und Weise »auf uns selbst gestellt sein«. Wir können von Augenblick zu Augenblick in einem ganz natürlichen Zustand leben, unbelastet von der ganzen »Überlebens- Ausrüstung«, die wir gewöhnlich mit uns herumschleppen. Die Un­abhängigkeit unseres Denkens und unserer Intelligenz wird uns nicht auf antisoziale anarchistische Bahnen führen, denn eine solche Un­abhängigkeit ist die mühelose Aufmerksamkeit, mit der GROSSES WISSEN auf RAUM und ZEIT, unsere gemeinsamen Eltern, achtet. Wir werden nicht »aus den Geleisen« des Spiels von RAUM und ZEIT »geworfen«, wie es uns trotz aller stabilisierenden Regeln und Regulierungen in der Vergangenheit oft geschehen ist. Unabhängig­keit, Mitgefühl und Gleichgewicht können schließlich eins werden.

Jede Ebene und Facette unserer Wirklichkeit ist vollkommen als

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SEIN integriert. RAUM, ZEIT, WISSEN, Mikrokosmos, Makro­kosmos, Subjekt, Objekt, Körper, Geist, Sinne, das Selbst und die anderen befinden sich im SEIN in einem wunderbaren Austausch und Gleichgewicht.

Selbst wenn wir nicht unmittelbar zu dieser allumfassenden Syn­these zu erwachen vermögen, können wir auf der persönlichen Ebe­ne beginnen, eine derartige Integration zu erkennen und nach ihr zu leben. Dieses expressive Spiel-als-SEIN ist immer inspirierend, denn es ist unendlich vielschichtig. Wenn wir ein solches grenzenlo­ses Schauspiel wahrnehmen und würdigen, gibt es keine Stagnation. Und ebensowenig können wir an einer Ziel- oder Erfolgs-Orientie­rung festhalten, denn wir finden in dem, was wir sind, in dem, was unmittelbar gegeben ist, vollkommene Erfüllung. Wir stellen dann nicht mehr die Verkörperung eines niederen Wissens dar, sondern sind statt dessen die Verkörperung von SEIN. Als solche brauchen wir uns nicht länger ängstlich nach außen zu orientieren. Eine subti­le Erfüllung ist stets anwesend und vollzieht sich ununterbrochen.

Da das Spiel des SEINS unendlich ist, gibt es keinen festgelegten Weg, diese Erfüllung zu »erlangen«; sie ist zu »nah«, als daß wir sie »erlangen« könnten . . . und sie ist so allgegenwärtig, daß kein ganz bestimmter Zugang notwendig oder möglich ist. Die Möglichkeit, daß wir uns von dieser Erfüllung entfernen könnten, besteht gar nicht - sie stellt sich immer ganz spontan ein.

Der Segen unserer individuellen Darstellung des Seins verbreitet sich über uns hinaus und umfaßt die gesamte Menschheit. Aber darüber hinaus, auf einer Art universaler Ebene, trägt er zum SEIN selbst bei, indem er den ursprünglichen Wert des SEINS verstärkt und verherrlicht. Von der rastlosen Selbstbezogenheit des gewöhnli­chen Seins zu einem kraftvollen und verantwortungsbewußten Ein­tritt in die Sphäre des Menschseins und dann noch weiter zu einem Eintreten in das SEIN an sich entfaltet sich der Weg von RAUM­ZEIT-WISSEN . . . weiter und immer weiter.

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Anhang:

Ein zusammenfassender Überblick über die Übungen

Übungen 1 bis 6: Wenden Sie bei den Riesenkörper-Übungen genü­gend Zeit für das erste »Öffnen« und »Durchlässigmachen« auf, so daß Sie tatsächlich einem sehr tiefen und weiten Raum begegnen. Gehen Sie dann in Übung 6 zu einer subtileren und umfassenderen Art von Raum über. Dieser »Raum« wird dann in Übung io noch weiterentwickelt.

Übungen 7 und 8: Diese Übungen befassen sich mit der Untersu­chung des Körper-Geist-Gedanken-Wechselspiels, das ein mensch­liches Wesen ausmacht und mit der Beziehung, welche zwischen diesem Wechselspiel und einer »Raum«-Dimension besteht. Beide Übungen müssen in den verschiedensten Zusammenhängen und Si­tuationen geübt werden. Sie werden das Zutagetreten einer »Wis­sens-Soheit« erleichtern, die uns mit dem Gesamtphänomen der menschlichen Verkörperung in Berührung bringt; außerdem begin­nen sie, diese Verkörperung als eine Anwesenheit im »Raum« zu offenbaren, die von »Zeit« »anwesend gemacht« wird. Sind wir einmal zu einer solchen Einsicht gelangt, können wir ein ausgegli­cheneres, gesünderes und fließenderes Verständnis der Erfahrung des Verkörpert-Seins entwickeln.

Übungen 9 und 10: Ein Gewahrsein der Anwesenheit des Beobach­ters (und des verkörperten Selbst) wird den Prozeß weiterführen, der zum Umfangen einer ausgeglichenen und umfassenderen Ein­stellung zur Gegebenheit der Erscheinung führt. Dieses Gewahrsein legt eine neue aktivere Art des »Raumes« frei und transzendiert die Sichtweise der Wirklichkeit, die nur von statischen Dingen ausgeht. Es enthüllt auch mehr »Zeitigen«. »Zeitigen« wird als ein zur Ver­

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körperung führender Prozeß gesehen, der zu unserer beschränkten konventionellen Wirklichkeit führt, in welcher Subjekt und Objekt, Dinge und »Raum« als voneinander verschieden betrachtet werden. Eine derartige Einsicht in »Zeitigen« ermöglicht es uns, die Anwe­senheit eines wahrhaft umfassenden »Raumes« zu begreifen, eines »Raumes«, der sich nicht von den festen, »undurchlässigen« Dingen abhebt. Ein würdigendes Gewahrsein dieses »Raumes« ist wesent­lich, da wir bei der Anwendung der RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision nicht irgendwohin entkommen oder einen besonderen überweltli­chen Zustand erreichen wollen.

Wurden die bisher vorgestellten Übungen einmal im Hinblick auf den Körper mit Erfolg ausgeführt, dann kann das Durchlässigma­chen der Übungen i bis 5 auf jedes nur erwünschte Untersuchungs­objekt angewandt werden.

Übungen 11 bis 13: Indem wir auf die in diesen Übungen angespro­chene Weise mit dem Geist und den Gedanken arbeiten, wird die Erfahrung allmählich immer weniger bruchstückhaft; sie wird des­wegen auch nicht mehr den psychischen »Hunger« verewigen, der in Erscheinung tritt, sobald Erfahrung uns durch den gewöhnlichen Raum von einem Ding zum nächsten führt. Diese Übungen stellen die gebräuchlichen psychophysischen und physiologischen Bewußt­seinsmodelle in Frage. Es wird deutlich, daß sowohl die Gedanken als auch ihre gefühlte physiologische Grundlage gemeinsam aus ei­ner »Raum«-Dimension hervortreten. Gewöhnlich sind die Gedan­ken Träger der Überzeugung, daß es unabhängige Dinge gibt - das Subjekt als der Beobachter, den Geist, den Körper, das Denken, das worauf das Denken sich bezieht und die äußere Welt. Diese Über­zeugung wird durch eine Einsicht in das Feld oder den »Raum« erschüttert, die diese viele Facetten aufweisende Anwesenheit be­herbergt.

Übung 14: Durch die Ausführung dieser Übung können alle geistige Trübheit, Ruhelosigkeit und Verwirrung zugunsten eines nährende- ren und vertrauensvolleren Zugangs zur Erfahrung transzendiert werden. Eine solche Transzendierung wird möglich, wenn wir uns über das zaudernde und ängstliche Selbst, den »Zweifler«, hinaus öffnen.

Übung 15: Die Übung dieser Berg-Meditation öffnet uns für die

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grenzenlose Energie, die immer verfügbar ist. Die vorangegangenen Übungen haben gezeigt, wie wir von der Orientierung, die durch ein dauerndes »Aufpassen« oder »Ausschauhalten« charakterisiert ist, ablassen können. Einerseits ist die Berg-Meditation mit ihrer wa­chen Betrachtung des blauen Himmels-»Raumes« von eben diesem Prozeß abhängig; andererseits hilft sie jedoch auch, ihn auf eine in tieferem Sinne nährende Weise anzuwenden.

Übung 16: Diese Übung trägt dazu bei, zwischen der gewöhnlichen Erfahrung und »Zeit«, »Raum« und »Wissen« eine erste fühlbare Beziehung zu knüpfen. Auf einer subtileren Ebene läßt sie uns die Struktur oder das Gewebe der Erfahrung als »Raum«, ihre treiben­de und tragende Kraft als »Zeit« und ihre »Schwerkraft«, die für Zentriertheit und Kontinuität sorgt, als »Wissen« wahrnehmen und würdigen. Gleichermaßen lernen wir zu sehen, daß dieselben Über­einstimmungen auch auf einer offensichtlich physischen Ebene re­flektiert werden.

Übung 17: Die Übung »Das Objekt und sein Glühen« läßt uns alles als eine vibrierende »Zeit« sehen, als »Zeit«, die den »Raum« »her­vorruft«. Diese Stufe markiert eine Verlagerung unserer »Wissens- Soheit« hin zu einer »Verlebendigung der Erscheinung«. Die Meta­pher der glühenden Wüstenblume beschreibt nicht nur den für das »Zeitigen« charakteristischen Aspekt des »Gemeinsam-Gegeben- seins«, sondern legt auch eine neue Sichtweise aller Objekte und aller Erscheinung nahe.

Übungen 18 bis 22: Indem sie uns zeigt, wie wir um »Zeit« »wissen« können, hat die Praxis dieser Übungen viele segensreiche Wirkun­gen. Wir lernen dadurch, positive und negative Situationen gleicher­maßen als »Zeit« zu sehen; als solche können wir sie transformieren oder sogar als eine erfüllende »(Wesens-)Gleichheit« wahrnehmen und würdigen. Wir vermögen, auf jede beliebige Art mit »Zeit« zu arbeiten und sogar direkt Zeiten zu erfahren, die man in der kon­ventionellen Sicht in die Vergangenheit oder in die Zukunft verle­gen würde (und die deswegen gewöhnlich nicht zugänglich sind).

Wir entwickeln durch diese Übungen ein besseres Verständnis der Lokalisiertheit des erkennenden Selbst in unserer begrenzten Zeit­struktur. Da wir in einer dermaßen beschränkten Zeit leben, sind wir für viele inspirierende Kräfte und Dimensionen unempfänglich

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und erfahren das Leben infolgedessen als einen äußerst bedrücken­den und überwältigenden Vorgang. Indem wir lernen, mehr um »Zeit« zu »wissen«, können wir diesem allgemeinen Trend entge­genwirken und uns einer unendlich erfüllenden »Zeit« öffnen.

Wenn alle zeitlichen Aufteilungen einmal in sich zusammengefal­len sind und »Zeit« der »Wissens-Soheit« zur Verfügung steht, be­freit uns das von aller Angst, Sorge und Überlastung. Sogar die Todesangst ins transzendierbar, denn aus dieser umfassenderen »Zeit«-Sicht gibt es keinen Tod. Uns steht eine Unendlichkeit von Richtungen offen, und wir sehen selbst im Hinblick auf jene Rich­tung, die zu unserem persönlichen Tod führt, daß sie zu keinem wirklichen Tod oder »Ende« von irgend etwas führt, das für unser »Sein« wesentlich ist. RAUM, ZEIT und WISSEN kennen keine solchen willkürlichen und Ich-zentrierten Grenzen; und durch das »Wissen« haben wir Zugang zu dem uneingeschränkt positiven und alles einschließenden Charakter von RAUM und ZEIT.

Wir sehen das Leben gewöhnlich als einen Strom von Transaktio­nen und sind immer »in Bewegung«, immer »unterwegs«. Infolge­dessen sind wir mit einem Bereich konfrontiert, in dem es überall nur Vergänglichkeit, ständige Umbrüche und Einstürze gibt. Der Tod ist die Summe aller Faktoren, die unseren begrenzten Zugang zum Leben ausmachen, einen Ansatz, der durch das rastlose Sprin­gen von Gedanke zu Gedanke, von Augenblick zu Augenblick cha­rakterisiert ist. Öffnen wir jeden Gedanken, jede Darbietung zu RAUM-ZEIT-WISSEN, dann macht die Sichtweise, die von linea­ren Ursachen und Wirkungen und von Transaktionen ausgeht, ei­nem würdigenden Gewahrsein der unendlichen Weite des Seins Platz, das sich in jedem Ding und als jedes Ding entfaltet. Das Vergängliche ist dann nicht vergänglich. Der Tod bringt keinen wirklichen »Weggang« mit sich.

Diese Botschaft des »unendlichen Seins« und der »Todlosigkeit« mag auf einen Zustand des »ewigen Lebens« verweisen, der oft als Leben von quantitativ unbegrenzter Dauer verstanden wird. Diese Interpretation entspricht jedoch keineswegs dem, was das »unendli­che Sein« und die »Todlosigkeit« bedeuten, denn diese sind als eine Aufforderung zu verstehen, uns über jegliche Selbst-Orientierung hinaus zu öffnen. Die Botschaft der »Todlosigkeit« ist eine Bot­schaft von Offenheit und Gleichgewicht, die uns von dem grundle­genden Leid des menschlichen Daseins befreit.

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Übung 23: Diese Geh-Übung hilft uns, ein neues Wahrnehmen und Würdigen von »Zeit« auf einer sehr konkreten, physischen und sinnlichen Ebene in die Praxis umzusetzen. Das gewöhnliche Bewe­gungsgefühl eignet sich sehr gut dazu, uns den subtilen »Antrieb« der »Zeit« zu lehren, der alles Weitergehen transzendiert und die unmittelbare Verfügbarkeit von Raum und Zeit offenbart.

Übung 24: Ein gleichzeitiges Gewahrsein des Kehl-Zentrums und von Klängen hilft uns, die Dimension des »Zeitigens« und ihren kommunikativen Aspekt des Auftrennens zu vermitteln. Dieser Prozeß führt zu einer Wissens-Soheit, die sich nicht von Trennwän­den und Bedeutungen täuschen läßt. Damit führt sie auch zu einer wesentlich gesünderen und erfüllenderen Subjekt-Objekt-Interak- tion.

Übung 25: Diese Übung trägt dazu bei, eine neue und inniger ver­traute Subjekt-Objekt-lnteraktion freizulegen. Indem sie der geläu­figen Abhängigkeit von »Außenliegern« entgegenwirkt, können wir in der immer gegebenen innigen Vertrautheit von Raum und Zeit mehr Vertrauen, Kraft und Befähigung entwickeln.

Übung 26: Dies ist weniger eine Übung als das eigentliche »Darbie­ten« unserer Wirklichkeit. Indem wir sie als ein »Darbieten« sehen, stellt sich die Wirklichkeit auf all den Ebenen, die wir ihr konventio­nell zuschreiben, selbst in Frage. Alle Strukturen und alles Struk­turieren, ganz gleich ob physischer oder psychischer Art, sind selbst­befreiender Natur.

Übungen 27 und 28: Diese beiden Übungen dienen dazu, den Be­grenzungen entgegenzuwirken, die unserer Wissens-Soheit im allge­meinen auferlegt sind. Unser Beharren darauf, die Wissens-Soheit einem winzigen »erkennenden Selbst« oder »Geist« zuzuordnen so­wie unsere Voreingenommenheit für das »Wahrnehmen« räumlich und zeitlich endlicher »Erkenntnisobjekte«, sind die am stärksten beschränkenden dieser Begrenzungen. Mit ausreichender Praxis dieser Übungen wird uns klar, daß unendliches Wissen immer ver­fügbar gewesen ist - sowohl, um unseren konventionellen und be­grenzten Ansatz zu tragen, als auch um uns zu gestatten, auf eine offenere, unbegrenztere Art und Weise zu »wissen«.

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Übungen 29 bis 31: Diese Übungen arbeiten mit der »Erscheinung« und führen damit den Prozeß der Freilegung eines umfassenderen »Wissens«-Kontinuums fort. Wir können entdecken, daß alles klar und erfüllend ist, und sehen, daß es keine isolierten Pakete der Nahrung oder der Erkenntnis gibt, die wir auf eine ängstliche oder zupackende Weise greifen müßten. Der erfüllende Charakter der Erfahrung ist ungebrochen, ungestört und ohne Ausnahmen. Dieses würdigende Gewahrsein von Erscheinung ist vollkommen »anwe­send« und »wirklichkeitsnah«.

Übungen 32 bis 35: Diese Übungen vervollständigen den Prozeß des Umschaltens auf GROSSES WISSEN. Wir beginnen zu sehen, daß alle Erscheinung und verkörperte Anwesenheit Träger einer uner­schütterlichen Meisterschaft und einer Unendlichkeit höherer Ver­wirklichungen ist.

Eine einfache und unterhaltsame Möglichkeit, Ihr Verständnis der Flexibilität und des drei Facetten besitzenden Charakters dieser Vi­sion zu vertiefen, besteht darin, die Begriffe, die den Tttel dieses Buches bilden, verschieden anzuordnen. Die verschiedenen Anord­nungen zeigen Nebeneinanderstellungen, die unter dem Licht der Gesamtvision eine große Bedeutung haben.

Für die Durchführung der ersten sechzehn »Raum«-Übungen sollten wir uns anfänglich einen geeigneten Ort, eine geeignete Um­gebung suchen. Die Riesenkörper-Serie sollte im Haus in einem Zimmer geübt werden, das entweder besonders »geräumig« oder aber sehr sauber und »aufgeräumt« ist, so daß mögliche Ablenkun­gen auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben.

Die Berg-Meditation ist die einzige Übung, die im Freien prakti­ziert werden muß. Jeder etwas höher gelegene Platz, der einen wei­ten Horizont und ein unverstelltes Blickfeld bietet, ist dafür geeig­net. Es ist jedoch wichtig, daß das Licht weich und diffus ist und nicht zu stark blendet.

Die »Wissens«-Übungen können im Rahmen einer formalen me­ditativen Praxis durchgeführt werden. Wir sollten sie jedoch auch inmitten unserer alltäglichen Beschäftigungen üben.

Wenn Sie diese Übungen praktizieren, sollten Sie darauf achten, daß den verschiedenen Tagen des Monats verschiedene Eigenschaf­ten innewohnen und sie deswegen unterschiedliche Erfahrungen er­möglichen. Vom Mondkalender ausgehend, sollten Sie beachten,

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daß der 8., 10., 14, 19., 25., 30. und der Tag des Neumonds beson­ders kraftvolle und wirksame Energien tragen, die Sie (hauptsäch­lich in den »Zeit«-Übungen) zu Ihrem Nutzen einsetzen können. Auch die Tage vor den genannten Tagen sind zum Üben besonders geeignet.

Der 24-Stunden-Tag kann, beginnend mit 5.30 Uhr morgens, ebenfalls wie der Kalendermonat aufgeteilt werden und uns damit auf Stunden aufmerksam machen, die für die Praxis besonders ge­eignet sind. Es ist wichtig, daß Sie alle Übungen zu verschiedenen Tageszeiten ausführen, denn jede Tageszeit birgt ihre besonderen Eigenschaften.

Haben Sie sich einmal mit allen Übungen (und ihren Interak­tionen) vertraut gemacht, so wäre es hilfreich, wenn Sie jährlich zwei oder drei Wochen für ein intensives Üben reservieren könnten. Es ist nicht notwendig, daß Sie während einer solchen Klausur alle Übungen durchgehen; wählen Sie einige Übungen aus, die Sie be­sonders ansprechen oder die sich bereits als hilfreich erwiesen haben.

Während dieser intensiven Übungsperiode sollten Sie täglich mindestens vier bis sechs Stunden üben, obwohl die einzelnen Sit­zungen nicht länger als fünfundvierzig Minuten zu dauern brauchen. Zwei oder sogar vier intensive Übungsperioden pro Jahr werden besonders gute Resultate bringen. Sollte dies jedoch nicht möglich sein, dann sorgt auch schon eine intensive Übungsperiode jährlich dafür, daß sich die Vision mehr und mehr entfalten kann. Sie mag genügen, Ihre Reserven sowohl körperlich und geistig als auch be­züglich des subtilen Wertes des »Menschseins« wieder aufzufri­schen.

Läßt sich eine solche intensive Übungsperiode nicht in Ihren Jah­resablauf einfügen oder bringt sie zu große Probleme mit sich, dann wird ein fünfundvierzigminütiges Üben täglich auch schon gute Er­gebnisse bringen. Eine leichte Kost wird die Entfaltung der Einsicht durch diese Übungen ebenso fördern wie eine ruhige und vertrau­ensvolle Grundhaltung (die nicht durch Erwartungen getrübt ist). Sollten besondere Erfahrungen zutage treten, die Ihnen zu überwäl­tigend erscheinen, als daß Sie damit fertigwerden könnten oder soll­ten sich Zweifel und andere Hindernisse bemerkbar machen, dann ist es angeraten, Ihre Praxis im Licht eines wiederholten Lesens des Textes gründlich zu überprüfen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß alle Schwierigkeiten auf Mißverständnisse oder subtile »Trennwände«

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zurückzuführen sind, die das Buch bereits vorweggenommen und diskutiert hat. Haben Sie im Verlauf Ihrer Übung jedoch das Ge­fühl, daß es für Sie nützlich wäre, besondere Anleitung zu erhalten, können Sie sich an das Nyingma-Institut in Berkeley, Kalifornien oder an TSK-Europe in Amsterdam, Holland, wenden, wo regelmä­ßig Seminare und Programme zu dieser Vision stattfinden. Generell sollten Sie jedoch darauf vertrauen, daß RAUM-ZEIT-WISSEN Ihnen die Antworten und weiterführenden Einsichten gewähren wird, die Sie benötigen.

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Glossar

Anlieger Die Vorstellung eines »Anliegers« schließt alles ein, was räumlich, zeitlich oder auf andere Weise »hier«, das heißt sehr nahe ist. Das räumliche »Hier« und das zeitliche »Jetzt« sind Anlieger. Das »Subjekt« im Gegensatz zum »Objekt« ist ein weiteres Beispiel. Ein Mikrokosmos bestehend aus Zellen, Molekülen, Atomen und so weiter in unserem Körper im Gegensatz zum Makrokosmos außerhalb von uns könnte, wie der Körper selbst, ebenfalls als ein Anlieger betrachtet werden.

Anschauungen Anschauungen sind fundamentale Überzeugungen. Sie sind die Grundlage, auf der alle sozialen Beziehungen abgewickelt werden sowie die Basis und der Gegenstand → gewöhnlicher Erkenntnis. Die elementarste unserer An­schauungen macht uns glauben, daß es unserem Leben an etwas fehlt, das wir »erlan­gen« müssen. Im Laufe der Geschichte ist dieses Erlangen dann mit Tausenden von anderen Anschauungen und Verhaltensregeln gekoppelt worden, denen man sich anpassen mußte. Anschauungen (Weltanschauungen, Glaubensanschauungen usw.) werden zu einer Falle, sobald sie der einzige Weg sind, über den wir etwas vom → SEIN zu erkennen meinen, denn sie vermeiden peinlichst alle Kernfragen, die für das »In-der-Welt-Sein« von existentieller Wichtigkeit sind.

Antrieb Eine Eigenschaft der → »Zeit«; sie läßt die Tendenz des → Selbst »hervor­zutreten«. die Verweisungen und den allgemeinen Anschein zeitlicher und räumli­cher Bewegungen entstehen.

Anwesenheit Der Zustand oder die Tatsache des Gegenwärtigseins. Zugegenseins oder Vertretenseins.

Anzeige Der Begriff »Anzeige« erinnert daran, daß die bestimmten Erscheinungen die »gezeitigte« (→ Zeitigen) kommunikative → Leistung einer bestimmten → Brennweiteneinstellung auf → »Raum« sind. Das heißt, es wird von einer be­stimmten Art des Erkennens oder Wissens Gebrauch gemacht, und die → »Zeit« zeigt dann das Ergebnis der gerade in Kraft befindlichen Aufmerksamkeit an. Keine Anzeige stellt irgendetwas über die Natur anderer Anzeigen fest; auch wird der

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Status keiner Anzeige durch eine solche Beziehung zu anderen Anzeigen aufrechter­halten. In den verschiedenen Anzeigen gibt es nur → Darbietungen, die alle eine überzeugende Botschaft vermitteln, welche ein überzeugtes Subjekt einschließt. Die Anzeigen sind also in sich geschlossen. Alle Faktoren, die der Inhalt einer Anzeige als für die Erfahrung der Anzeige - oder für den Hintergrund einer solchen Erfah­rung - wesentlich erklärt, sind ebenfalls in derselben Anzeige gegeben.

Außenlieger Alles das, was sich räumlich, zeitlich und so weiter außerhalb von uns befindet, einschließlich all dessen was in einer hierarchischen Macht- oder Werteska­la als »höherstehend« eingestuft wird, gehört zu den »Außenliegern«. Zu den Au­ßenliegern zählen also alle jene Dinge, mit denen wir interagieren können (wie z. B. »die Welt«), welche jedoch gleichzeitig unabhängig von uns zu bestehen und für unsere Wirklichkeit grundlegender zu sein scheinen als unser bestimmtes, beobach­tendes Selbst.

Bedeutungen Alle Erfahrungen werden in den Begriffen ihrer Bedeutung ausge­drückt; diese nehmen eine Position ein und zeigen in eine Richtung. Die Welt als Hintergrund und das → »Hier« als Vordergrund konstituieren ein polarisiertes Feld, ein »Gemeinsam-Gegebensein«, das die Form einer Bedeutung annimmt. Bedeutun­gen sind von den Begrenzungen abhängig, die unserer Aufmerksamkeit in bezug auf die Dynamik der → »Zeit« auferlegt werden. Zwar sind die Bedeutungen kommuni­kativ, doch bringt die unter ihrer Verwendung stattfindende Kommunikation eine beunruhigende Reibung (»Knirsch-Effekt«) mit sich.

Brennweiteneinstellung (auch einfach: »Einstellung«) Die Art und das Ausmaß der Öffnung des Geistes. Brennweiteneinstellungen vermögen zu sehen, daß die → Din­ge eine Raum-Dimension mit sich bringen. Sie reichen jedoch nicht an die Fähigkeit heran, zu begreifen, bis zu welchem Grad RAUM durch die ihnen eigentümliche Begrenztheit ausgeblendet wurde.

Darbietung Jede Darbietung ist die Verkörperung eines aktiven »Darbietens«, welche zu würdigendem Gewahrsein fähig ist. Damit ist jede Darbietung eine Art → »Wissen«, ein unerschütterlicher Bezeuger des darbietenden Charakters der → »Zeit«. Unter dem Aspekt der Darbietung kann »Zeit« als Ausdruck des offenen Zulassens des → GROSSEN RAUMES wahrgenommen und gewürdigt werden. Noch präziser ausgedrückt: Die Darbietung ist selbst das würdigende Gewahrsein der »Zeit«, wie es von RAUM zugelassen wird und umgekehrt RAUM zum Ausdruck bringt. Da in bezug auf das »Darbieten« der Objekt-Pol der Erfahrung als »Zeit« gesehen und damit in Frage gestellt wird, ist damit auch das Selbst oder der Subjekt- Pol in Frage gestellt. Eine Darbietung ist also nicht »etwas«, das »jemandem« darge­boten wird.

Dinge Sammelbegriffe oder Verkürzungen für mögliche Sehensweisen, die uns zei­gen, was wir zu einer bestimmten Zeit antreffen oder beobachten wollen.

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Die Dinge, die aus dem Raum kommen und dorthin zurückkehren, sind nicht nur in gewöhnlichem Sinne von Raum durchdrungen, sie sind → GROSSER RAUM - unendlich offen, das Sein anderer Dinge nicht ausschließend. In ihrem Kommen- aus, Eingehen-in und Anwesend-sein als GROSSER RAUM sind sie »nirgendwo«, ja sie sind nicht einmal »geschehen«. Sie sind nicht auf eine Weise aus GROSSEM RAUM aufgetaucht, welche sie zu Konstituenten von bestimmten und alles andere ausschließenden Umständen machen würde.

Energie Ein Derivat der → »Zeit«.

Erscheinung Erscheinung kommt nicht von etwas. Auch wird sie niemandem dar­geboten → Darbietung). Sie ist nicht mit irgendetwas anderem verbunden. Deswe­gen kann sie »sein«, ohne in eine Art von Serie oder Reihenfolge hineingezwängt werden zu müssen (in der ein → Existenzial als Ursache notwendig wäre). Die Aussage, daß Erscheinung kein → Ding zur Ursache hat, weist deswegen auch auf keine Lücke in einer Reihe von Ursache und Wirkung hin; sie verdeutlicht vielmehr, daß eine potente und gewährende Offenheit Erscheinung zuläßt.

Existenz Eine ausschließliche und aggressive Besetzung einer Nische in der → »Zeit«. Existenz ist eine einsame und vereinsamende Tendenz. Sie ist so sehr darum besorgt, eine Position innezuhaben, daß aller Unterhalt und aller Kontakt nur erlangt werden können, indem man nach ihnen ausschickt.

Existenzial Existierendes - Gegenstände, Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und so weiter. Die Objektfacette einer → Darbietung.

Werden sie als → GROSSE ZEIT gesehen, sind Existenziale mit der besonderen »Nicht-Existenz« → GROSSEN RAUMES vereinbar und eigentlich gar keine »Exi­stenziale«. → Bedeutungen und Existenziale stehen nur dann anderen Bedeutungen und Existenzialen im Weg, wenn sie in gewöhnlicher, linearer Zeit als solche gesehen werden.

Gedanken Die Gedanken erstrecken sich über die Welt bedeutungsvoller → Dinge, wählen Gegenstände aus, manipulieren sie, tun etwas und wirken überzeugend. Die scheinbare Bewegung der Gedanken trägt sehr viel zu ihrem dynamischen Charakter als Träger von → Bedeutungen bei.

Indem wir die Bewegung der Gedanken in Frage stellen, öffnen wir uns, so daß ein »Wissen« zu Tage treten kann, für das die Gedanken »nirgendwohin gehen«, »nir­gendwohin gelangen« und nichts erklären.

Geist Der Subjekt-Pol der Erfahrung. Der Geist ist kein festes → Ding. Nur wenn wir ihn mit Gefühlstönen und »Geistesereignissen« verwechseln, wird er dazu. Der Geist läßt sich mit dem Objektiv einer Kamera vergleichen: Er ist das sichtbare Anzeichen einer spezifischen → Brennweiteneinstellung auf → GROSSEN RAUM, für den er auf verschiedene Weisen und in unterschiedlichem Maße offen ist.

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Auch wenn der Geist allgemein als ein Agens, als der Erzeuger von Gedanken angesehen wird, »tut« er eigentlich gar nichts, sondern bringt alle Erscheinungen nur in passivem Sinn als Begrenzung oder Verzerrung der Offenheit GROSSEN RAU­MES hervor. Zu seinen Manifestationen, den Gedanken, steht er in einer wechselsei­tigen Beziehung.

Geistiger Lehrer Die manifeste Anwesenheit von → GROSSEM WISSEN.

Geistiges Bearbeiten Sinnesempfindungen, Bilder, Worte, begriffliche Vorstellun­gen, Interpretationen, verbale Assoziationen, Erinnerungen - Vervielfältigungen, Umgestaltungen, Modifikationen von Vorstellungsbildern und Ideen.

Indem wir alles, was uns umgibt und betrifft, genau überprüfen, entdecken wir, daß unsere Erfahrungen trotz ihrer Vielfalt und einnehmenden Überzeugungskraft allesamt nur Vorstellungsbilder und begriffliche Vorstellungen, also geistiges Bear­beiten sind.

Gesetzmäßigkeiten Allgemeine Formulierungen, die aus Beobachtungen gewon­nen werden, welche auf der Zeit als einer Dimension basieren, die konstante Verän­derungen erlaubt. Damit sind Gesetzmäßigkeiten ein Ausdruck der Struktur der → »Zeit«.

Gewöhnliche Erkenntnis Gewöhnliche Erkenntnis erkennt nur → Dinge, Momente und → Existenziale. Sie ermutigt nicht die Entwicklung höherer intuitiver Fähigkei­ten, sondern bleibt flach und mechanisch: das Produkt von statischen Vorstellungsbil- dern, Worten und nur dunkel wahrgenommenen Mustern. Gewöhnliche Erkenntnis ist jedoch nicht selbst die verengende → Brennweiteneinstellung, sondern nur eine Facette der → Leistung dieser Einstellung.

Gewöhnliches Erkennen und die von ihm erkannte »unbelebte« physische Basis sind beide das Ergebnis eines → »Wissens« höherer Ordnung, welches eine gewisse Stellung oder Position bezogen hat. Dieses »Wissen« wird dann als das vertraute Paar -d.h. → gewöhnliche Erkenntnis und der → Körper - verkörpert und von den Prinzipien niederer Ordnung, die über dieses Paar herrschen, eingefroren und fortge­setzt. Trotz der angeblichen Dynamik, die scheinbar einen Punkt mit dem nächsten verbindet, wird unser gewöhnliches Erkennen, welches mit dem fortlaufenden Cha­rakter der gewöhnlichen Zeit übereinstimmt, grundsätzlich durch die Tatsache beein­trächtigt, daß die Gegenwart von der Vergangenheit abhängig und zudem gezwungen ist, der Zukunft zu weichen.

Trotzdem kann gewöhnliche Erkenntnis, wie wir aus der Entwicklung von Ge­schichte und Wissenschaft ersehen, zu phantastischen Durchbrüchen führen. Ihre Begrenzungen rechtfertigen also nicht, daß wir sie ablehnen oder gar verunglimpfen. Da sie aber andererseits auf eine ganz bestimmte Funktion und außerdem auf das → Selbst als das »Erkennende« fixiert ist, sind wir nicht in der Lage, die Konsequen­zen unserer durch gewöhnliche Erkenntnis hervorgebrachten »Lösungen« vorauszu­sehen.

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Legen wir die Vorwegnahmen hinter unserem gewöhnlichen Denken, Fühlen und Erkennen frei, dann läßt sich gewöhnliche Erkenntnis vollständig transzendieren.

Gewöhnlicher Raum → Unser Bereich. Ein von → GROSSEM RAUM abgeleite­ter, aber verzerrter Ausdruck des GROSSEN RAUMES.

Gewöhnliche Zeit Gewöhnliche Zeit ist → »Zeit«, die zu einer Reihe von Augen­blicken ausgestreut wurde. Sie ist eine gezähmte Zusammenfassung dieser wesentlich dynamischeren »Zeit«. Durch den Filter der gewöhnlichen linearen Zeit betrachten wir »Zeit« als ein Hintergrundphänomen mit den individuellen Objekten im Vorder­grund, als einen mehr oder minder abstrakten Raster für Zustände und Ereignisse; außerdem hat gewöhnliche Zeit für uns den existentiellen Wesenszug einer unent­rinnbaren und zwingenden Macht.

GROSSER RAUM Die offene und zulassende Dimension, die »Tätigsein«, »Ge­schehen« und »Existieren« erlaubt. GROSSER RAUM legt eine alles einschließen- de Einheit offen, die sich über keinerlei Region ausbreitet. Die → Totalität GROS­SEN RAUMES ist deswegen kein unendliches → Ding. GROSSER RAUM ist kein bestimmter Zustand, der sich durch die Anwesenheit oder Abwesenheit bestimmter Gegenstände oder Fakten auszeichnet. Für die GROSSER-RAUM-Perspektive gibt es keine begrifflichen Vorstellungen und folglich auch keinen GROSSEN RAUM, der durch das Nicht-Vorhandensein begrifflicher Vorstellungen charakterisiert wäre. Also ist GROSSER RAUM auch nicht von unserem → niederen Raum verschieden.

GROSSER RAUM wird nicht zu etwas. Nichts entsteht aus ihm. Nichts kann ihn gefährden. GROSSER RAUM bleibt unendlich, läßt alles zu und errichtet doch nichts, tut nichts. Die »Nicht-Existenz« GROSSEN RAUMES ist der eigentliche Stifter und nicht etwa eine Bedrohung des Lebens und der Anwesenheit der Wirk­lichkeit.

Der GROSSE RAUM, in dem wir leben, stellt grenzenlose Möglichkeiten zur Verfügung. Wir können sehr viel mehr tun, als nur eine winzige Kammer im RAUM zu mieten - GROSSER RAUM bietet uns die Gelegenheit, alles zu öffnen.

GROSSES WISSEN Das Ziel oder die Frucht dieser Vision; eine nicht-erlernte und nicht-gelehrsame Gelehrtheit - die unmittelbare und wissende Dimension der Wirklichkeit.

GROSSES WISSEN ist das Kind von → GROSSEM RAUM und — GROSSER ZEIT, die Verkörperung ihrer Ehe im Sinne einer niemals endenden Erfüllung und feierlichen Würdigung - und nicht im Sinne eines Produktes, einer Schöpfung, die sich losreißen und ihre eigenen Wege gehen muß.

GROSSES WISSEN beseitigt allen Zweifel und alle Ungewißheit, aber es erkennt nicht »die Wahrheit«; es begrenzt die Wirklichkeit nicht dermaßen. Im gesamten Spiel von RAUM und ZEIT ist GROSSES WISSEN in vollendet würdigender Weise anwesend, frei von Verwirrungen und falschen Wertbeilegungen. Es »erkennt« alles als offen, als nicht-erschaffenes Nicht-Sein. Die unerschütterliche Klarheit GROS-

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SEN WISSENS scheint erst durch unsere Wirklichkeit hindurch, wenn wir eingese­hen haben, daß die starren Vorwegnahmen hinsichtlich eines bestimmten Erfah­rungsbereiches tatsächlich ein Spiel der → »Zeit« sind. Aus der Warte des GROS­SEN WISSENS gibt es nur RAUM und ZEIT, und selbst unsere falschen Anschau­ungen stellen keine Ausnahme dazu dar.

Haben wir GROSSES WISSEN einmal erfaßt, brauchen wir nichts mehr zu verän­dern. Wir erkennen schließlich an, daß wir Teil einer leuchtenden und lebensvollen Wirklichkeit sind, die durch alle kleinlichen Einstellungen, Voreingenommenheiten und Grausamkeiten hindurchscheint.

GROSSE ZEIT GROSSE ZEIT ist der untrennbare Partner des → GROSSEN RAUMES, die andere Hälfte dieser ursprünglichen Ehe und Liebesbeziehung. Die Vitalität GROSSER ZEIT ist der unmittelbare Ausdruck oder das Zeugnis der Of­fenheit GROSSEN RAUMES. GROSSE ZEIT lotet die Tiefe und die Weite GROS­SEN RAUMES aus. Da es für GROSSEN RAUM keine wirklichen Grenzen oder hinderlichen Faktoren gibt, ist die Dynamik, der durch diesen RAUM Macht verlie­hen wird, ebenfalls unbegrenzt. Diese Dynamik ist GROSSE ZEIT. GROSSE ZEIT »offenbart« GROSSEN RAUM, indem sie unendliche Vielfalt zur Schau stellt.

GROSSE ZEIT ist ungehindert und nicht-ausgestreut. Die verschiedenen Zeiten stellen jedoch keinen Bruch des nicht-ausgestreuten Wesens GROSSER ZEIT dar.

Durch Übergangserfahrungen mit → »Zeit« kann GROSSE ZEIT eine Quelle der Inspiration und Spontaneität für uns sein. GROSSE ZEIT kann alles emporheben und alles verwandeln. Sie ist die Grundlage wahrer Alchemie.

Hier Die Unendlichkeit → GROSSEN RAUMES auf die Ebene des »Irgendwo« reduziert. »Hier« ist logisch und phänomenologisch an eine Vielzahl von »Vorher«, »Noch-Nicht« und »Anderswo« gebunden, ln einer Welt von → Außenliegern ist »Hier« nicht mehr als nur ein ablenkender → Anlieger.

Identität Identität ist von einem Prozeß der Bezugnahme abhängig, von einer subti­len Tendenz, etwas dadurch zu verankern, daß man es in einen weitergefaßten und allgemeineren Zusammenhang stellt. In diesem Rahmen können wir dann Beweise auftreiben und Begegnungen haben, die unsere Bezugnahmen bekräftigen und unse­ren Glauben an die jeweiligen Identitäten rechtfertigen.

Inniges Vertrautsein Die unbeschränkte Erfüllung des Wechselspiels von → GROS- SEM RAUM und → GROSSER ZEIT ist ein inniges Vertrautsein, welches vollkom­men ist und nicht künstlich erzeugt wurde. Inniges Vertrautsein beinhaltet weder → Dinge noch ein zusammenfassendes Feld - nur GROSSEN RAUM und GROSSE ZEIT. Es ist das erschütternde und doch natürliche Hervortreten unseres wirklichen → SEINS. Es geht uns unmittelbar an - es ist kein perfektes inniges Vertrautsein anderswo, jenseits des Lärmes, der Enttäuschung und der Vereinsamung der ge­wöhnlichen Welt. Es ist hier. Von unserer gewöhnlichen Seins- und Sichtweise unter­scheidet sich inniges Vertrautsein nur dadurch, daß anstelle einer Sichtweise, die von

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»Selbst« und »Dingen« ausgeht, nun die GROSSER-RAUM-, GROSSE-ZEIT- Sicht eingenommen wird.

Körper Die konkrete Verkörperung jener Verwirrung, die die Dynamiken → unse­res Bereiches in Gang setzt. Das Mentale, Emotionale und Physische sind voneinan­der verschiedene - und doch ebenbürtige - Facetten eines subtilen, sich kontinu­ierlich vollziehenden Musterbildens, einer Tendenz in Richtung Konsolidierung. Die Festigkeit des Körpers ist eine Erscheinung, die auf unserer Unfähigkeit beruht, sie als eine Tendenz zu sehen, die niemals zu einem endgültigen Abschluß kommt.

Kritik Eine Hinterfragung → gewöhnlicher Erkenntnis, die keinen Grundbegriff und keine Vorwegnahme ungeprüft läßt.

Leistung Die »Leistung« einer → Brennweiteneinstellung ist strenggenommen eine Einheit, einem komplexen Bild vergleichbar, das durch eine Linse oder ein Guckloch gesehen wird. Alles das, was eine bestimmte Situation - die Leistung - ausmacht, ist gemeinsam gegeben, auch wenn wir gewöhnlich nur ausgewählte Einzelheiten davon wahrnehmen können.

Menschsein Die Gabe, von höherem RAUM, höherer ZEIT und höherem WIS­SEN Gebrauch zu machen und sich die Wunder der Erfahrungswelt zu erschließen.

Niederer Raum Niederer Raum ist seinem Wesen nach begrenzt - selbstbegren- zend. Er ist ein Behälter, ein beengendes Gefängnis, für das wir dankbar sind, denn es verweigert uns gnädig den Platz für eine ausreichend weitgefaßte Perspektive, mit der wir die → Totalität sehen könnten, die unsere → Wirklichkeit mit sich bringt.

»Niederer Raum« übt einen verengenden Einfluß aus. Er intensiviert die Komple­xität und Häufigkeit von Ereignissen oder Reaktionen. Der niedere Raum, in dem wir leben, ist kein feststehender, dauerhafter Ort. Er verändert sich, denn er wird mit jedem einzelnen Gedanken mehr oder weniger offen. Obwohl er ein äußerst egozen­trischer Schoß, eine schützende Einfriedung ist, beengt uns der niedere Raum durch eine Art Reibungs- oder Widerstandsphänomen.

Niederes Wissen Niederes Wissen ist nicht nur das, was vom Subjekt erkannt wird. Es ist stattdessen ein ganzer Trend, zu dem ein »Subjekt« gehört, »welches mit Hilfe → gewöhnlicher Erkenntnis Objekte erkennt«. Niederes Wissen wirkt wie eine Art Magnet, der Erfahrungen und Vorwegnahmen anzieht, welche ein Verständnis des eigentlichen Wesens der → Erscheinung verdunkeln. Niederes Wissen erschafft eine Art lokales Gravitationsfeld. Versuchen wir, mit den Mitteln des niederen Wissens einen Ausweg daraus zu finden, schleppen wir eben dieses niedere Wissen immer weiter mit uns herum. Während es auf einen unhaltbaren subjektiven Idealismus hinausläuft, die Dinge der Welt auf einen »bloßen Gedanken« zu reduzieren, der von einem → Geist gedacht wird, können wir doch sagen, daß alles - erkennende Subjekte wie erkannte Objekte - niederes Wissen ist.

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Niedere Zeit Wie der → niedere Raum ein aktives, strukturierendes Medium. Die reichlich verzerrte Spielart des unendlichen Ausdrucks des → GROSSEN RAUMES durch → GROSSE ZEIT. Niedere Zeit ist der Versuch, GROSSE ZEIT egoistischen Zielen dienstbar zu machen.

Person Ein geschlossener Körper-Geist-Gedanken-Kreislauf. Eine individuelle Mischung von positiven, negativen und neutralen Gefühlsschichten.

»Raum« »Raum« ist eine Dimension, die Interaktionen und erfahrbare Ereignisse begründet und umfaßt. Ein aktives, strukturierendes Medium. Siehe auch unter → niederer Raum.

SEIN Die Offenheit des RAUMES, die lebhafte expressive Natur der ZEIT, die Klarheit des WISSENS sind SEIN. Dies bedeutet nicht, daß sie »etwas« oder »noch etwas anderes« sind.

RAUM, ZEIT und WISSEN erstrahlen in - oder als - Anwesenheit auf ihre jeweilige Weise, ohne sich miteinander zu vermischen. Aber sie sind ebensowenig drei → Dinge. Jede Facette ist tatsächlich alle drei, und alle drei bleiben sie eine nicht bewirkte Synthese. Dies ist das Wesen des SEINS: in den Begriffen der ersten Ebene ein Mysterium, aus der Sichtweise der dritten Ebene hingegen natürlich und direkt.

SEIN kann nicht durch Charakterisierungen und Bezugnahmen aufgezeigt wer­den, denn SEIN ist ein Wort, das auf der ersten Ebene keinen klaren Sinn ergibt.

Selbst Nur ein Teil der → Leistung einer → Brennweiteneinstellung. Das Selbst wird als der Subjekt-Pol einer Erfahrung verstanden; eigentlich ist es jedoch ein von → »Zeit« gezeitigtes Objekt, eine Generalisierung vieler Augenblicks-Darbietungen von »Zeit«. Das Selbst kann sich selbst nicht in Betracht ziehen, denn dazu fehlt ihm eine ausreichend weitgefaßte Perspektive; sein Status als eine scheinbar unabhängige Wesenheit ist von eben dieser Begrenzung abhängig.

Da das Selbst die Verkörperung des Verfalls eines innig vertrauten Verstehens ist, kann es → GROSSEN RAUM und → GROSSE ZEIT nicht begreifen. Das Selbst würdigt und benutzt die »Unendlichkeit« des RAUMES nur in dem Sinne, als es darin eine Möglichkeit sieht, seine Begegnungen auf der Ebene der → gewöhnlichen Erkenntnis unendlich fortzusetzen. Es kann eine unendliche Datenmenge aufneh­men, ohne eine Einsicht in sein eigenes RAUM-ZEIT-Wesen oder in den Grund zu gewinnen, der jene Unendlichkeit von Einzelheiten überhaupt erst ermöglicht. Die Begrenzungen, die dem Einfühlungsvermögen des Selbst eigentümlich sind, sind je­doch nicht unüberwindbar, denn das Selbst ist immer noch RAUM-ZEIT-WISSEN. Das »Selbst« ist immer noch eine musterbildende oder zur Verkörperung drängende Tendenz der »Zeit«, und als solche ist es durch alle Ebenen und Stadien seiner Formierung hindurch ein Träger von → Wissens-Soheit.

Struktur Eine Region, die durch kleinere interagierende Regionen charakterisiert ist.

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Subjekt-Objekt-Polarisierung Faszination durch eine »Von-Zu«-Ausstreuung in → niederem Raum und → niederer Zeit.

Tod Indem wir nur danach trachten, kleine Abteile in einer Art persönlichem Ver- gangenheit-Gegenwart-Zukunft-Raster auszufüllen, zeitigen wir uns selbst hinweg. Wir liefern uns dem Tod aus. Der Tod ist eine vollständig undurchlässige → Trenn­wand. Er ist die letzte Lektion, die uns die → »Zeit« erteilt - mit ihm macht sie den Bankrott unserer Sichtweise offensichtlich. Wir sehen nicht genug, um mit dem Spiel von RAUM und ZEIT schritthalten zu können, und an einem Punkt nimmt die Sichtweise, die wir verkörpern, dann ihren Lauf. Sie stirbt.

Totalität Totalität ist weder ein Ding noch ein Aggregat, welches sich aus verschie­denen Komponenten zusammensetzt. Totalität ist keine Frage der Quantität und nicht das Ergebnis eines Prozesses der Addition. Je näher wir uns der Totalität annähern, desto klarer sehen wir auch, daß das Wesen der Totalität in der Annähe­rung bereits reflektiert sein muß.

Für die RAUM-ZEIT-WISSEN-Vision bringt Totalität - die allumfassende Sicht- und Seinsweise - keine Wirklichkeit mit sich, welche zum Beispiel ganz oder offen sein könnte. Die volle Bedeutung von Totalität erschließt sich uns erst auf der Ebene des → SEINS.

Transzendente Visionen Verführerische Botschaften, die sich als »transzendent«, als »jenseits aller Bedeutung« und als »Einsichten in die Relativität« darbieten. Auf der zweiten Ebene, auf der diese Visionen ihre Bedeutung gewinnen, können sie eine subtile Falle sein. Sie können Stagnation und Betörung hervorrufen.

Transzendenz Transzendenz ist kein Anderswohin-Gehen, sondern ein Auftauen aller vertrauten → Dinge und Ereignisse, durch das ihre transzendente Dimension durchscheinen kann.

Trennwände Starre und undurchlässige Trennwände definieren phänomenologisch alle → Dinge und Orientierungen → unseres Bereiches. Dieselben Trennwände kon­stituieren jedoch auch die Pforten zu höheren Räumen.

Unser Bereich Niederer Raum, niedere Zeit und niederes Wissen - im Grunde genommen nur eine Funktion, die sich niemals über die Funktion einer Aufzeich­nungsmaschine erhebt.

Vertrautsein siehe: »Inniges Vertrautsein«.

Welt Die Welt ist der lokalisierende Bezugsrahmen und der Hintergrund, auf dem alle Bezugnahmen und Verweisungen beruhen - ein besonders potenter → Außen- lieger.

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Weltordnung Das Fundament und der Prüfstein der → Wirklichkeit.

Wirklichkeit Einerseits ein ausgebreitetes Feld von Erkennbarkeiten, Erkenntnis­akten und Verwirrung, andererseits → GROSSER RAUM, → GROSSE ZEIT und → GROSSES WISSEN: »allumfassendes« → SEIN.

»Wissen« »Wissen« ist keine Variation → gewöhnlicher Erkenntnis (wie etwa ein ungewöhnlicher Zustand erweiterten Bewußtseins), sondern die primäre Tatsächlich­keit der Verkörperung. Es gibt ein empfängliches, prozeßorientiertes »Wissen«, das mit jedem Stadium der Konsolidierungstendenz von Verkörperung einhergeht. Des­wegen ist alles Träger einer »Wissens«-Dimension.

Da dieses »Wissen« uns derartig nahesteht, ist eine kritische Bewertung unserer Lebensbedingungen relevant. »Wissen« kann den Inhalt gewöhnlicher Erkenntnis und sogar den Status der Welt hinterfragen, ohne irgendetwas abzulehnen oder zu behaupten, daß die gewöhnlichen Dinge gar nicht existierten.

Wissenskontinuum Da WISSEN nach unserem Verständnis für die Erscheinung grundlegend ist (anstatt nur von unten aus Atomen, Molekülen, Organen, empfin­denden Organismen, Sinnesdaten, Interpretationen usw. aufgebaut zu sein), stellt es ein natürliches Wissenskontinuum zur Verfügung, welches niederes mit höherem Wissen verbindet.

WISSENSKÖRPER Ein spontanes Sehen, das alles umfängt, ohne von irgendet­was verdunkelt zu sein. Eine Vereinigung von Subjekt und Objekt, die weder Teile noch ein »Ganzes«, ja nicht einmal einen Vorgang des Vereinigens beinhaltet. Tota­les Zusammensein.

Da jedes Wesen und jedes Ding die totale und lebensvolle Verkörperung der innigen Vertrautheit von RAUM und ZEIT ist, hat es auch gleichermaßen an diesem WISSENSKÖRPER Teil. Durch den WISSENSKÖRPER können wir unmittelbar aus unserem eigenen Sein, unmittelbar aus RAUM und ZEIT Nahrung beziehen.

Wissens-Soheit Die Anwesenheit der → Wirklichkeit als → GROSSES WISSEN. Ohne Wissens-Soheit gäbe es nur ein finsteres Universum, das nicht wissbar wäre und keine existentiellen und wertorientierten Dimensionen haben würde.

Wissens-Soheit läßt sich nicht von → Bedeutungen und Bezugnahmen täuschen.Sie nimmt in allen → Darbietungen eine leuchtende und unverhüllte Energie war. Wissens-Soheit kann mit allem → »Wissen« und Erkennen einhergehen und dabei immer mehr von sich selbst und immer größere Lebendigkeit aufdecken. Sie nimmt zuerst den Charakter einer empordringenden Kritikfähigkeit an und läßt sich zu Beginn nur schwer aus den starren Strukturen der gewöhnlichen Erfahrung destil­lieren.

Wurde sie jedoch einmal freigelegt, umarmt sie ganz ausgewogen alle Facetten der gewöhnlichen → Erscheinung. In diesem Sinne ist sie in der Erfahrung und die Erfahrung ist in ihr. Durch diese »Wissens-Soheit«, die in allen psychischen Energien

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ist, können wir eine Art natürlicher Alchemie vollziehen und Emotionen und Ent­wicklungstendenzen transformieren.

Sobald wir in der Lage sind, Wissens-Soheit unmittelbar aufzuspüren, so daß darin alles gesehen wird (und wir es nicht länger in den gesonderten Dingen suchen müssen), kehren sich unsere Prioritäten um, und wir können sehen, daß Wissens- Soheit das Primäre ist. Nur Klarheit selbst ist da, keine → Dinge, welche diese Klarheit vermitteln.

»Zeit« »Zeit« ist raum- oder bereichsspezifisch. Die »Zeit«, welche → unseren Bereich regiert, ist jene bestimmte Spielart von → GROSSER ZEIT, die durch eine bestimmte → Brennweiteneinstellung auf → GROSSEN RAUM zugelassen wird. Sie ist der dynamische Ausdruck unseres → niederen Raumes. Lokales »Aufspalten« oder Auftrennen bietet »Zeit« in den gewöhnlichen Maßeinheiten dar, die in einen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Raster eingeordnet sind; damit führt es zu der gewöhnlichen linearen Zeit. Dabei bleibt »Zeit« die wesentliche Kraft, die die Auf­einanderfolge der verschiedenen Momente ermöglicht; sie ist außerdem der Faktor, der den Gegenständen und Faktoren innerhalb einer Situation ihre jeweilige Identität schenkt. Letztlich stammt sogar das physische Gewebe unserer Welt von der Macht und Energie der »Zeit« ab.

Haben wir einmal gesehen, daß »Zeit« der Leim ist, der Augenblicke - und die Dinge in den Augenblicken - zusammenhält, vermögen wir schließlich auch zu sehen, daß »Zeit« eine dritte Art der Verbindung herstellt. »Zeit« ist eine Brücke zu ande­ren Bereichen. »Zeit« erhebt »Erkenntnis« zu einer neuen Art der »Raum«-Erfah- rung (und transformiert sie damit zu → »Wissen«),

Damit ist »Zeit« die Unmittelbarkeit der → Wirklichkeit und der Verkörperung, ihr weißglühender, schmiedbarer Aspekt - das dynamische Zentrum unseres Seins.

Zeitigen Zeitigen zeigt, daß alle Merkmale einer Situation, die von → »Zeit« gezei­tigt werden, in der wechselseitigen Beziehung des »Gemeinsam-Gegebenseins« ste­hen. »Zeitigen« ist die aktive »Kraft« der »Zeit«.

Zulassen Zulassen oder Erlauben sind ein großzügiges Opfer und ein wirkungsvol­ler Weg zu höheren Räumen, denn Zulassen ist die primäre Eigenschaft von RAUM.

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Register

Alchemie 146, 197, 236, 240 ›Anlieger‹ 80 ff, 87, 93f, 97, 99, 111, 182,

191, 219, 267, 277 Anschauungen 153, 198, 203, 210-13,

216, 218›Anzeigen‹ 181 f, 184-91, 253, 277 f

und ›Außenlieger‹ 182, 186 ›Außenlieger‹ 80 f, 85-88, 91, 93, 97,

99, 110 f, 147,178, 182, 186, 191, 211, 219 f, 245, 255, 267, 278

Bedeutungen 70, 72, 79, 100-06, 109, 127, 137 ff, 144 f, 153, 162, 177, 179 ff, 190 ff, 213, 216 und Position 104 als Trennlinien 136, 197 f

Beobachter 53 ff, 126 f, 137, 140, 296 f Bewegung 120, 236; siehe auch unter

›Antrieb‹ und ›Bewegung‹ der Zeit Bewußtheit 42, 46, 59, 160, 177, 232,

262Bewußtsein 124, 270 Bezugnahme 65, 100, 142, 185; siehe

auch unter ›Verweisen‹ Brennweiteneinstellung 28 ff, 32, 34 f,

74-77, 82 f, 85f, 89-94, 112 f, 181, 278›Leistung‹ der 75, 84 ff, 89, 92 f und ›niedere Zeit‹ 126 f, 129 Öffnen der 83 f, 88 f, 92, 114 und Öffnung zu GROSSEM RAUM 93, 96 f

Veränderung der 74 f, 92 f, 95 ff

Darbietungen (Darbieten) 33, 142, 156, 169, 182 f, 199, 232, 235, 246, 248, 252, 254 f, 261, 278

Dasein 107 f, 114 f, 208, 210 f

die Magie des 109 und Raum 29-33, 48, 56-61 als Träger von ›Wissens-Soheit‹ 56 f vier Sichtweisen des 50 f

Dimensionen 29, 56, 58, 70, 100, 113 Dinge 145, 278 f; siehe auch unter ›Ob-

jekte‹Durchscheinen 45-48, 52 f, 64, 72, 77,

85, 92Dynamik 101, 104, 119, 123, 125, 135,

139, 160 f

Ebenen 14, 34, 39 f, 114, 198, 220 Einheit 58, 73, 144, 152, 243, 253-56,

260›Einstellungen‹ siehe unter ›Brennwei-

teneinstellung‹Energie 29, 98 f, 127, 130 f, 170, 209,

239, 247, 270 f, 275 Entfernung 88, 113, 162, 164

dazwischen 72 f, 87, 164, 186 Durchqueren der 50 ›gezeitigte‹ 162 f

Entspannung 30, 48, 74, 85, 94, 98, 101, 110 ff, 175 f, 246 f, 250, 266

Erfahrung 70, 99 f, 103 f, 122, 126, 136, 164, 205, 208, 229, 233 f, 238-43 negative 236 f Transformierung der 240 und Zeit 133 f, 169-75

Erinnerungen 165 ff, 208, 231 f Erkennen

und Dinge 219 f, 254 fund Raum und Zeit 55, 146, 151 fund Verkörperung 43 f, 56, 102und ›Wissen‹ 43-46, 54 ff, 65, 67 ff,89-92, 141, 181, 204 f, 223-26,

232-35und Zeit 145

288

Page 293: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

erkennendes Selbst 77, 128 f, 158-62, 176

Erscheinung 23, 28, 47, 51, 74 f, 106-09, 147, 152, 181, 187, 216, 219, 258, 261 f, 269, 271, 274, 279 Verlebendigung der 44, 47, 111, 271

Existenz 31, 33 f, 49, 101, 106, 108, 110 f, 113, 187, 209 und Nicht-Existenz 31, 36, 74, 103 f, 106

Existenziale 31, 103, 106, 137,279

Freiheit 18, 20, 113, 123, 135, 197, 211, 225, 256

Geben 38, 266Gedanken 27 f, 37, 52, 67, 69-73, 75 f,

87 f, 98, 165 f, 170, 183 als Bedeutungsträger 69 Bewegung der 64, 69 als Raum 71 ffRaum zwischen den 69fr, 270 Quelle der 64, 66, 68, 88

gegenwärtiger Augenblick 85, 88, 126, 128, 141, 145, 165 ff, 192, 236, 267

Geist 52 f, 62-69, 73-79, 89, 138, 190 f, 208 f, 214, 232, 249, 256, 270, 279 f als Agens 122-27 als Brennweiteneinstellung 75 ff Öffnen des 249, 255 f als Quelle der Erfahrung 64 f, 73 ›Wie Raum so hat auch der Geist kein Fundament‹ 74

Geistesereignis 70, 72, 74 Geistestätigkeit 208 f, 221 f Geist-Gedanken-Wechselspiel 29,

64-67. 73-77 ›gemeinsam gegeben‹ 89, 92, 100, 184 Gesellschaft (gesellschaftlich) 29, 119,

210 ff, 217, 222, 264-67 gesetzmäßige Trends 120 f gewöhnliche Erkenntnis 65, 130, 197 f,

201, 202-17, 219 ff, 223, 225, 227,

235, 273, 280 f gewöhnlicher Raum 281

gewöhnliche Zeit 281 Göttlichkeit 80, 82, 225 f, 260 GROSSER RAUM 29, 36-40. 55.

57-63, 70, 72-79, 82-88, 93, 96 f, 101-09, 112-15, 131, 140, 142,145 f, 197, 281als Anwesenheit 102 f und GROSSES WISSEN 72 f, 155 ff, und GROSSE ZEIT 101-04, 106-09, 125, 131 f, 135 f, 140, 142, 145-49, 154 f, 158 f, 163 f, 192, 197-201, 222 f, 227 ff, 252, 256, 258 ff, 263Offenheit des 93, 101-04, 158, 160,261und SEIN 260-64 als ›Tiefendimension‹ 95 ff und ›unser Bereich‹ 79, 82, 84 ff als Wesen oder Grund der Erschei­nung 75, 77, 82, 85 f, 90, 95, 97 Zugang zu 58, 63, 75 ff, 96

GROSSES WISSEN 58, 63, 71 f, 92, 103, 130 f, 133, 139, 155, 170, 173, 187 f, 192, 197-201, 218 f, 224 ff, 227-30, 254 f, 260, 264 ff, 281 f ›alles ist‹ 203, 254-57, 266 Klarheit des 243 ff, 258 und GROSSER RAUM 57 f, 72,

155und RAUM und ZEIT 197-201, 264-68und ZEIT 103 f, 190, 192 f

GROSSE ZEIT 92, 101-11, 125 ff,

131— 37, 140, 154-57, 171, 173 f, 180 f, 185 f, 192 fdie Bedeutung des GROSSEN RAUMES für 158 ff

als ›frei von Bedeutungen‹ 103, 105 ff und GROSSES WISSEN 103,

192 f, 197-201 als ›Muse‹ 139 Totalität der 126, 160 ›Vitalität‹ der 101, 103, 140, 258 als Weg zur Transzendenz 154-57, 188und ›Zeit‹ 125 ff, 134 ff, 139 f, 159-63

GROSSE ZEIT und GROSSER

289

Page 294: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

RAUM 101-04, 106-09, 125 f, 131 f,

135 f, 140, 142, 145-49,154 f, 158 f,163 f, 192, 197-201, 222 f, 227 ff. 252, 256, 258 ff, 263›inniges Vertrautsein‹ von 134 f, 149, 154-57, 160, 229, 254 ›Spiel‹ von 140, 228 ff, 256 als Wirklichkeit 107, 221 f, 252 f

GROSSE ZEIT, GROSSER RAUM und GROSSES WISSEN 14 f, 108-11, 131 ff, 138, 155 f, 158 f, 197-203, 206, 223 f, 227-30, 248,252-55, 258 ffihr ›niemals Abgeirrt-Sein‹ 156 als Selbst 159Wechselspiel von 108-112,155 f, 203

Grund des Daseins 34, 77, 95 ff, 225, 238; siehe auch unter GROSSER RAUM

›Hier‹-(Oricnticrung) 63 f, 70, 80-83, 85-91, 98, 103, 108, 110, 114, 126,

135, 148, 155, 167, 179 186, 200 f, 209, 220

Himmel 27, 97-101

Illusion 187 f›inniges Vertrautsein‹ 44, 134, 149, 152,

154-57, 178 ff, 220, 229, 243 f, 250, 254, 266, 273, 282 f

Interaktionen 39, 42-55, 63, 67, 96 f,

125, 135, 142, 144, 149-52,154, 220 ›Es gibt keinen Punkt, mit dem keine Interaktion möglich wäre‹ 150 von Raum und Zeit 151-54 von Strukturen 45 f, 149

Inspiration 76, 139

›Jetzt‹ 80, 85 ff, 108, 110, 126

Kegel-Diagramm 224 ffKehl-Zentrum 175, 177 f, 273Klang 177 f, 273

290

Körper 41-61, 79, 129, 135, 246 f, 262, 283; siehe auch unter ›Verkörperung‹ Öffnen des Körpers zu Raum 47, 53,58-61

Körper-Geist-Gedanken-Wechselspiel52, 63, 79, 190 ff

Kommunikation I04 f; siehe auch unter ›Zeit‹

Kosmologie 226

Leiden 128 f, 209-12 Aufhebung des 255 ff

›Leistungen‹ 75, 85 f, 89, 92 f, 140, 252, 283; siehe auch unter ›Brennweiten- einstellung‹ und ›Zeit‹

Liebe 238 fr, 266lineare Sichtweise 50, 62, 67, 85, 87, 89,

102 f, 106 f und Zeit 108, 141

Loslassen 86, 93

Macht 125, 131und ›Objekt-Orientierung‹ 120 ff

Magie 109Makrokosmos 27 f, 31, 34, 80 Meditation 140, 153, 188, 248 Menschsein 18, 21 f, 95, 124 f, 258-68 Metaphysik 81, 144, 185, 226, 260 Mikrokosmos 27, 31, 34, 80 Mitgefühl 264 ffmittelpunktloses Zentrum 23, 174, 176,

250Möglichkeiten 31 f, 152, 158, 186, 208,

217 f, 222 f, 228, 261 f Muster 50 f, 71, 135, 236 f, 256 Musterbilden 51, 56, 236

Nicht-Existenz 31 ff, 36, 102 ff, 106,108 niederer Raum 35 ff, 39 f, 58, 67, 76, 88,

112 f, 130, 216 niederes Wissen 213—26

›dies alles ist nur niederes Wissen‹

215niedere Zeit 87, 102, 125 f, 128 ff, 133 f,

Page 295: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

153, 158, 185, 209, 236, 284 Brennweiteneinstellung und 125 f, 129GROSSER RAUM, GROSSE ZEIT und 125 f›Punkte‹ in 87 f, 236

Oberfläche 27 f. 40, 42, 45, 53, 103 f,

113, 151, 177 Objekte 27, 29-36, 43-47, 58, 68 f,

120, 137, 143 f, 151 f, 180, 185,

255 fdes Erkennens 44, 232 f als Funktion der ›Zeit‹ 121 als Offenheit 58 f, 75, 150 Orientierung auf 111, 134 als Pforten zu ›Raum‹ 96 als Pol der Erfahrung 75, 110 als ›Raum‹ 55, 60, 75, 151-54 als Symbole 142 und ›Zeit‹ 121 f, 140, 143 f, 152 ff als ›Zeit‹-Ableitungen 127 f als Zusammenfassungen von ›Zeit‹- Sequenzen 140

Objekt-Glühen 163 f, 233, 271 Öffnen 21, 53, 91, 220, 269 f, 273

sich dem Einfluß der Inspiration 76 zu neuen Räumen 34, 47 f, 53 f, 83 f, 96, 172 f, 192 f die Perspektive 138 den Subjekt- und Objektpol der Er­fahrung 75zu ›Zeit‹ 140, 172-76, 188 f, 191 f

örtliche Festlegung 60, 91, 99, 256 Öffnen der 53 f, 110 f, 114

Offenheit 27, 36, 40, 47, 49 f, 53, 58 f, 70 f, 114, 135, 144, 150, 225, 252 f, 256; siehe auch unter ›Raum‹ Einfrieren der 53 f als Totalität 252 f

Pantheismus 255parapsychologische Fähigkeiten 113,

186, 192 Person 49-54, 140, 284

Perspektive 28, 39, 66, 69, 77, 79 f, 85 f, 92, 102, 106, 112, 119, 134, 139, 141,

145, 149, 154, 159 f, 163, 198, 204 f, 211, 213, 217, 229, 249, 253, 260, 265

Phänomene 60, 73, 82, 96, 105, 135, 177, 204 f, 256, 261

Phantasmagorie 185, 252 f, 256, 261 Philosophie 60, 79, 86, 133, 138, 143,

207Physik 35, 56 f, 111, 122 f, 130 f, 151 physikalisch 65, 67, 81, 125, 183 physisch 65, 130, 140, 184 f, 191, 217,

221, 245, 247, 254, 260 Physiologie 42, 52, 56 f, 62, 74, 91 polare Gegenüberstellung 72 f, 100,

161 ff, 178 f, 190 f, 208 Position 46, 60, 99 f, 104

wie sie vom Selbst eingenommen wird 62, 99

Probleme siche unter ›Schwierigkeiten‹ Projektionen 33 f, 59, 63, 189 Psyche (psychisch) 27, 29, 51, 77, 113,

125, 131, 145, 212, 217, 240, 247 Psychologie (psychologisch) 60, 260 psychophysisch 62, 64, 91, 207, 214 ›Punkte‹ 146-49, 161, 169-77, 182,

191, 264Interaktion von 146 f ›ein Punkt ist alle Punkte‹ 146 f ›es gibt keinen Punkt, mit dem keine Interaktion möglich wäre‹ 150 ›kein Punkt bestimmt den Zustand oder nimmt auf den Zustand Bezug, der in dem ›zeitlichen Außenlieger‹ besteht, welchen der nächste Punkt darstellt‹ 182

Quelle 64-67, 69, 73, 80 f, 147 »keine Quelle« 63, 66, 80 f

Raum 27-114, 149, 151 f, 164 f, 181,

245als Behälter 37 f, 55, 63, 68, 94, 96,

104 f, 151 f

291

Page 296: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

definierende Ebenen des 112 ff, gewöhnlicher 27—31 und GROSSES WISSEN 58, 63,

72, 156im Innern der Gedanken 28, 71 ff als Kammer 37und Objekte 30-33, 35ff, 48, 55, 57, 60, 63, 96, 150 ffÖffnen zu 33 f, 47 f, 53 f, 84, 96, 173 f,

I92 fOffenheit des 36 f, 50 f, 72, 110, 197 f, 244 fals Ort und Position 60 -Perspektive 64 als ›Pforte‹ 34, 96, 99 Strukturieren des 31 f, 35, 40, 63, 122 -Übungen 41-48, 52-55, 64 f,69-73, 77 f, 97- 101, 110 ff als ein Verstehen 29 als Vision 33 f und ›Wissen‹ 43-48 und Zeit 49 f, 104 f, 149 ›Ihre Entdeckung-alles ist ›Raum‹- ist selbst auch ›Raum« 57 ›Raum projiziert Raum in den Raum‹ 33, 59,63

Raum, Zeit und Erkenntnis 44, 55, 130, 137, 146, 270

Raum, Zeit und Wissen 68 f, 102 f, 108 f, 120, 131 ff, 138, 146 f, 155 f, 158 f, 197-203, 215 f, 227-30, 239, 247 f, 253-56, 258 ff, 270 f

Raum-Zeit-Wissen-Übung 110 ff, 271 Raum-Zeit-Wechselspiel 55, 101-112,

150 f, 222 f Raum-Zeit-Wissen-Wechselspiel 110 ff,

270 fRelativität 89, 189

Religion 76, 80, 82-85, 87, 92, 132, 136, 153, 156, 188 f, 212, 224 f, 260,

263Riesenkörper 41—48, 269 Rückbezugnahme 65, 68

Schöpfung 80 ff, 87, 198 Schwierigkeiten 77, 106, 130, 138 f, 150,

292

160, 163, 212, 241 f, 250, 263 Sehen 46, 58 f, 70, 232 SEIN 155, 255, 258-62, 267 f, 284

›Sei jetzt hier‹ 91 Selbst 44, 54, 58, 62 f, 68, 70, 76 f,

82-85, 89, 122 f, 125, 139 f, 144 f,153, 156, 158-66, 169, 176, 179, 182, 190, 218, 229, 233 f, 237-40, 251, 284Bildung des 159 ffBezugnahme auf das 65, 68als Erkennendes 55, 68, 72, 110und Liebe 241 fOffenheit des 144-Orientierung 90 f, 94, 104 f, 114Persönlichkeitsbild des 237-40sein RAUM-ZEIT-WISSEN-We-sen 159, 169 f, 200 fseine Tendenz ›herauszutreten‹ 53,

73-77Transzendierung des 76 ff, 256 f als Verkörperung mangelhaften Verstehens 159und ›Zeit‹ 127, 134 f, 139, 158-63, 169

Sequenzen 59, 81, 120 f, 125 f, 134,140, 142

Sichtweisen 49 ff, 59, 63, 65, 89-92, 146-50, 205-09, 232-35, 269

Singularität 146 f Sinneserfahrung 90 f spielerisch 110 f, 114 f, 128, 137, 159 ff,

203, 223, 268 Staunen 23, 31, 258, 261 Strukturen 42 f, 48, 56 f, 59, 79, 88 f,

111, 126, 136, 153, 182 und Wissens-Soheit 231

Subjekt und Objekt 77, 159-63, 178 f, 231, 273Einheit von 162 f, 178f Gegenüberstellung von 70-73, 227 f, 254Wechselwirkung von 41-55, 64-67, 73. 219 f, 231, 233 f

subjektiver Idealismus 205, 215, 255 Subjektivität 204 ff Symbole 32 ff, 142

Page 297: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

Synchronizitäten 125 Synthese 39 f, 259

Tanz 22 fTelepathie 113, 186, 192 Therapie 204Tod 50, 103, 114, 128, 221, 272, 285 Totalität 126, 249-58, 262 Transparenz 37-40, 45, 47; siehe auch

unter ›Durchscheinen‹ Transzendenz 21 ff, 40, 72, 79, 83 f, 92,

144, 147 f, 153, 189 f, 204, 220, 224 ff, 248, 253 f, 256

Trauma 240Trennlinien 27, 29, 39, 43, 64, 93, 96,

112 f, 227 f, 285

Unendlichkeit 30, 59, 82 f, 152, 159 f,

175 f, 189, 272 Universum 27, 113, 137 Unterdrückung 72, 209-12, 262 f Ursache 79-82, I23 f

und Wirkung 147 ›Ursache-Reihenfolge‹-Orientierung

83fr, 88 ff, 141, 147 Ursprungsorte 63 f, 67

Veränderung 120 ff, 149 f, 181, 222 f, 240

›verborgene‹ Kräfte 119, 122 ff Vergangenheit 165 f, 209 f Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-

Struktur 126, 165-69, 171, 174, 271, 281

Vergänglichkeit 107, 126 f, 134, 149 f, 272

Verkörperung 41-49, 52f, 55, 57, 62, 98, 129, 142, 153, 168, 190 f, 262, 269 und Wissen 43, 56 f, 142, 155, 246 ff und Zeit 153, 247

Verstehen 29, 33 f, 105 f, 197, 200, 216 f ›Verweisen‹ (Aufeinander Hinweisen

von ›Bezugspunkten‹) I46 f, 149 ff,

156, 170-74, 182 f, 186, 190 f,236 f

Visionen 29, 34, 62, 76, 95 f, 189, 200 f, 205, 224, 270

Visualisierung 44, 56, 98, 164 f, 243-48 Vitalität 104, 178, 192, 227, 240 f, 258,

262 fVoraussagefähigkeit 121, 192 Vorurteile 41, 77, 227 f Vorwegnahmen 47, 64 f, 68, 73 f, 79, 84,

89, 96, 127, 133, 150, 182, 204 f, 214, 216, 223 f, 234, 245, 253, 259

Wahrheit 62, 189, 217, 227, 240, 253 wahrnehmen 34 f, 45 f, 63, 92, 151, 164 f,

228 f, 232Wahrnehmung 27, 29, 31, 33, 70, 72,

89, 91, 114 f, 140, 144, 151, 179, 204 ff, 229, 231, 267

Wechselbeziehungen 52, 138, 142 ff, 178, 251von Objekten 39, 42 f, 121, 138, 143 f,

'49-52Wechselwirkungen siehe unter ›Inter­

aktionen‹Weitergehen 108, 170-77, 247 Wellen-Diagramm 170-73, 180, 182,

190Welt 18, 79 ff, 89 f, 100, 143, 162, 209 f,

215, 221 f, 285 als Bedeutung 100, 216 als ›niederes Wissen‹ 215 f, 221

Weltanschauung siche unter ›Anschau­ungen‹

Weltordnung 53, 79 f, 87, 89, 93, 112 f, 162, 183, 186, 200, 235, 286

Weltsichten 30 f, 49 ff, 53 ff, 58, 62 f, 82 ff,

119, 145 f Werte 187 f, 201, 208, 268 Wirklichkeit 16 f, 32, 39, 56, 62, 66, 83,

89-92, 103, 107, 120, 127, 137, 144, 168, 179, 185 f, 188, 191, 204 f, 208, 222, 249, 252 f, 260, 286

Wissen 139 f, 142, 149, 204, 223, 227 f, 286und Bedeutungen 216

293

Page 298: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

und Dinge 220, 254 f und Erkennen 43-46, 54 ff, 65, 67 ff,

89-92, 141, 181, 204 f, 223-26,

232-35 und Raum 48und Raum und Zeit 110, 131, 146-49,

151 f, 164 f und Verkörperung 43-46, 56 f, 142,

155, 246 ff und Zeit 107, 126 f, 134, 140, 145 f, 149,

164 f, 175-81, 216ff Wissenschaft 85 f, 119-25, 133, 137 f,

143 f, 224 ff Wissenskontinuum 224, 274, 286 WISSENSKÖRPER 229, 254, 258,

286Wissens-Soheit 159, 178, 184, 231,

235 f, 238-43, 249-52, 269, 271 ff, 286 fals Achtsamkeit 222 f ›in‹ der Erfahrung 238-41 Mangel an 18 f, 155 f, 190, 202 f

WISSEN-Übungen 231-35, 243-48,

273 f

Yoga 153

Zeit 20, 69, 71, 88, 93 f, 100 f, 104-09, 119-32, 218, 237, 261, 287; siehe auch unter ›Zeitstruktur‹ als aktives, strukturierendes Me­dium 122›Antrieb‹ oder ›Bewegung‹ der 102 p108, 120, 128, 156, 237, 272 fund ›Anzeigen‹ 181-88, 190 ffals ›Außenlieger‹ 87 f, 181 fund ›Bedeutungen‹ 101-06, 110,127, 136, 138 f, 144 f, 180 fals ›Darbietung‹ 131, I36fDynamik der 104, 139, i6ofTund Erkenntnis 146und Existenz 101, 104 f, I22 f, 126,128, 135, 139Gerichtetheit der 64 ff, 87, 100 ff,

106-09, 139, 166 ff, 182 und GROSSE ZEIT 125 ff, 131 ff, 134 f, 139, 160-63 und Klang 177f, 273 Kommunikation der 104 f, 129, 135, 181 ff, 193, 263 Kontrolle der 129 f, 140 ›Leistung‹ der 140, 181 ›Musterbilden‹ der 156 ›Niedere‹ siche unter ›niedere Zeit‹ und Objekte 121, 127, 152, 180 f und Raum 101-11, 122 f, 138, 145 die Raum ›ausmißt‹ 151 f und SEIN 259, 261, 284 und ›Seinszustände‹ 153 sequentielle Natur der 120 ff, 125,

133 f, 146 ff, 174 fserielle, gelebte 123 ff, 128 f, 133 ff, 139 f, 146 fSpiel der 137, 159 ff, 187 fStufe zwei 141-54, 158-63, 180 ff,184, 187 funendliche 107 f, 129, 131, 160 Vergangenheit, Gegenwart und Zu­kunft und 126, 128, 152, 181 ›verkörpernde‹ Tendenz der 144 f,

153und Wissen 120, 146, 152, 170 f und GROSSES WISSEN 71, 170 zeigt GROSSEN RAUM 146 f

›Zeitigen‹ 127 f, 142, 144, 146-49, 167 f, 189, 269, 271, 273, 287 und Raum 149, 158, 163, 169-74,

177, 192und Wissen 190 ff

Zeitstruktur 49, 87 f, 106 ff, 120 f, 126 ff,

134, 137 f, 146-49, 161 f, 165, 183 f, 192Aufweichen der 168-75 Umkehrung der 167 f

ZEIT-Übungen 164-69, 175-79,190 ff, 271 ff

Zukunft 165 f Zukunftsschau 192 f Zulassen 58 f, 74 f, 287

294

Page 299: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

Die Psychologie des

Neuen Bewußtseins

320 Seiten/Leinen

«Eine faszinierende Einführung in die Psychologie der Zukunft. Die klarsten und kompetentesten Arbeiten auf diesem Gebiet in einem Band.»

Marilyn Ferguson

Page 300: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

tran

sfor

mat

ion Alan Watts

Dies ist EsÜber Zen und spirituelle Erfahrungen (7908)

Bruno MartinHandbuch der spirituellen Wegeüberarbeitete Neuausgabe (7909)

Gary ZukavDie tanzenden Wu-Li MeisterDer östliche Pfad zum Verständnis der modernen Physik: vom Quantensprung zum Schwarzen Loch (7910)

Theodore Roszak Das unvollendete TierEine neue Stufe in der Entwicklung des Menschen (7913)

Norbert A EichlerDas Buch der WirklichkeitDas I Ging für das Wassermann-Zeitalter (7921)

Janwillem van de Wetering Ein Blick ins Nicht«Erfahrungen in einer amerikanischen Zen-Gemeinde (7936)

Morris BermanWiederverzauberung der WehAm Ende des Newtonschen Zeitalters (7941)

Joachim-Emst BerendtNada Brahma - die Welt ist Klang(7949)

Paul HawkenDer Zauber von FindhornEin Bericht (7953)

Page 301: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

ThemaPhilosophie

J.M. Zemb H. Gumnior/R RingguthAristoteles (63) Max Horkheimer (208)

Silvia Markun Haas SanerEmst Bloch (258) Karl Jaspers (169)

Jochen Kirchhoff Uwe SchuteGiordano Bruno (285) Immanuel Kant (101)

Marion Giebel Peter P. RohdeMarcus Tullius Cicero Sören Kierkegaard(261) (28)

Rainer Specht Pierre Do-DinhRené Descartes (117) Konfuzius (42)

Helmut Hirsch Werner BlumenbergFriedrich Engels (142) Karl Marx (76)

Anton J. Gail Ivo FrenzelErasmus Friedrich Nietzschevon Rotterdam (214) (115)

Hans-Martin Sass Albert BeguinLudwig Feuerbach Blaise Pascal (26)(269)

Gottfried MartinWilhelm G. Jacobs Platon (150)Johann Gottlieb Fichte(336) Georg Holmsten

Jean-Jacques RousseauRainer Funk (191)Erich Fromm (322)

Emst P. SandvossHeino Rau Bertrand Russell (282)Mahatma Gandhi (172)

Wilhelm MaderFranz Wiedemann Max Scheler (290)Georg WilhelmFriedrich Hegel (110) Jochen Kirchhoff

Friedrich WilhelmWalter Biemel Joseph von SchellingMartin Heidegger (308)(200)

Friedrich W. KantzenbachFriedrich W. Kantzenbach Friedrich Daniel EmstJohann Gottfried Schleiermacher (126)Herder (164)

C2054/5

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Page 302: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

Wol

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baue

r Die Angst vor Nähe208 Seiten. Broschiert

Helfen als BerufDie Ware Nächstenliebe 256 Seitea Broschiert

Die hilflosen HelferOber die seelische Problematik der helfenden Berufe 250 Seitea Broschiert

Die Ohnmacht des HeldenUnser alltäglicher Narzißmus288 Seiten mit zahlreichen AbbfldungeaBroschiert

Alles oder nichtsÜber die Destruktivität von Idealen 439 Seiten. Broschiert

Als Taschenbuchausgaben liegen vor:

Weniger ist manchmal mehrZur Psychologie des Koasumverzichts rororo sachbuch 7874

Jugendlexikon PsychologieEinfache Antworten auf schwierige Fragen rororo handbuch 6198

C916/5

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Page 304: Tarthang Tulku - Raum, Zeit Und Erkenntnis

ir sind Gefangene eines Weltbildes, das uns zuwenig Raum zur Entfaltung unserer geistigen Möglichkeiten gewährt, in dem die Zeit zu schnell verfliegt, als daß wir uns des Augenblicks erfreuen könnten, und das unserer Erkenntnis zu enge Grenzen setzt, als daß wir damit un­sere Probleme lösen und unsere Ziele verwirklichen könnten.

DM 10.80

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