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Tectum Leseprobe Handke Hochschule

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Überfüllte Hörsäle, schlechte Studienbedingungen, hohe Studierendenzahlen: Das ist harte Realität an deutschen Hochschulen. Doppelte Abiturjahrgänge, Aussetzung der Wehrpflicht und geburtenstarke Jahrgänge haben dazu geführt, dass viele Universitäten und Fachhochschulen aus allen Nähten platzen. Eine vernünftige Lehre ist kaum noch machbar, klagen auch viele Lehrende. Jürgen Handke, als Universitätsprofessor selbst ein Insider, bringt die Probleme auf den Punkt. Er benennt klar die Schwächen einer Lehrbürokratie und bietet eine Fülle von konkreten Verbesserungsvorschlägen.

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Jürgen Handke

Patient HochschullehreVorschläge für eine zeitgemäße Lehre im 21. Jahrhundert

Tectum Sachbuch

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Blog zum Buchhttp://patienthochschullehre.wordpress.com/

Jürgen Handke

Patient HochschullehreVorschläge für eine zeitgemäße Lehre im 21. Jahrhundert© Tectum Verlag Marburg, 2014ISBN 978-3-8288-3256-5

Mit Cartoons von Astrid Hente-Eickhorst | www.und-ausserdem.deUmschlagabbildungen: fotolia.com © www.strubhamburg.de (Pflaster) und fotolia.com © MR.LIGHTMAN (Tafel)Umschlaggestaltung: vogelsangdesign.deSatz und Layout: Norman Rinkenberger | Tectum Verlag

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyAlle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internetwww.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Der Autor

Jürgen Handke hat Anglistik und Sport studiert, das erste Staatsex-amen in diesen beiden Fächern mit dem Nebenfach Philosophie ab-gelegt, in Großbritannien einen „Master of Philosophy“ erworben und ist seit 1991 Hochschullehrer.

Er war Fußballtrainer im Jugend- und Seniorenbereich, Ausbilder bei der Bundeswehr, leitete Schulungen an Musikschulen, unter-richtete an Volkshochschulen und diversen privaten Bildungsins-titutionen, war mehrere Semester lang studentischer Tutor in den Fächern Englisch und Sport und hat zahlreiche Unterrichtspraktika in Schulen absolviert.

Von 1981 bis 1991 lehrte er an den Universitäten Düsseldorf, Han-nover, Köln und Wuppertal, seit 1991 an der Philipps-Universität Marburg, hatte Lehraufträge an den Universitäten Erfurt und Pots-dam, und ist im Bereich Medienbildung in der Lehrerfortbildung tätig.

Immer wieder hat er seine Lehre an die sich verändernden Be-dingungen angepasst und frühzeitig auf Computerunterstützung gesetzt: in den 1980er Jahren durch den Einsatz elektronisch er-stellter Handouts und die Unterstützung durch computerbasierte Visualisierungen, in den 1990er Jahren durch selbst entwickelte Multimedia-Systeme auf CD-ROM und seit 2000 durch massive Internet-Unterstützung. Heute betreibt er zusammen mit seinen Mitarbeitern zwei der bekanntesten deutschen E-Learning-Plattfor-men: den Virtual Linguistics Campus und das Virtuelle Zentrum für Lehrerbildung, sowie die Forschungsplattform The Language Index. Seit 2012 stellt er zusätzlich seine gesamte Lehre über selbsterzeugte Lehrvideos, die sogenannten E-Lectures, auf YouTube frei zur Ver-fügung und bietet über den Virtual Linguistics Campus seit 2013

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regelmäßig auch Massive Open Online Courses mit linguistischen Inhalten an.

Mit den multimedialen Lerneinheiten, den Lehrvideos und der großen Erfahrung im Bereich des Lehrens in allen öffentlichen Be-reichen stellt sich Handke der globalen Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Mit Beginn der Internet-Ära hat er seine Lehre ra-dikal umgestellt und an die Gegebenheiten der digitalen Zeit an-gepasst. Er bekennt sich zum Lehrmodell des Inverted Classroom, dessen Hauptvertreter er in Deutschland ist und mit dem er im Jahr 2013 den 2. Preis im Hessischen Wettbewerb für Exzellenz in der Lehre errungen hat.

Handke hat mehrere Bücher im Bereich Sprachwissenschaft, Sprachtechnologie, sowie E-Education verfasst. Mit diesem Buch will er – mit einem Augenzwinkern, aber auch mit z.T. massiver so-wie konstruktiver Kritik – Wege aufzeigen, wie die Hochschullehre mit innovativen Ideen aus dem 20. Jahrhundert in eine neue Ära geführt werden kann.

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Inhalt

Der Autor 5

Vorwort 9

I Prolog 15I.1 Von der Freude zum Frust 16

I.2 Maximilians erweiterte Mängelliste 29

I.3 Fazit und Ausblick 42

II Anamnese, Diagnose und Therapie 47II.1 Die Hochschullehre im digitalen Zeitalter 51

II.1.1 Paradigmenwechsel im Bereich „Wissensrecherche“ 53

II.1.2 Paradigmenwechsel im Bereich der Lehre? 56

II.2 Digitale Lehr- und Lernmaterialien 74

II.2.1 Die Vorlesung als Ausgangspunkt für die Digitalisierung 76

II.2.2 Der Nutzen digitaler Lehr- und Lernelemente 82

II.2.3 Videomaterialien 94

II.2.4 Die Bereitstellung von Videomaterialien 108

II.2.5 Zusammenfassung 114

II.3 Der Hochschullehrer 117

II.3.1 Wie wird man eigentlich Hochschullehrer? 119

II.3.2 Warum wird man eigentlich Hochschullehrer? 127

II.3.3 Evaluationen im digitalen Zeitalter 135

II.3.4 Medienkompetenz 139

II.3.5 Zusammenfassung 149

II.4 Neue Lehrorganisationsformen 155

II.4.1 Die inhaltliche Quantität von Lehrveranstaltungen 156

II.4.2 Neue Verfahren der Anwesenheitsüberprüfung 161

II.4.3 Zeitgemäße Anmeldungen zu Prüfungsleistungen 162

II.4.4 Bewältigung von Unterrichtsausfall 164

II.4.5 Zeitmanagement 165

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8 Patient Hochschullehre. Vorschläge für eine zeitgemäße Lehre im 21. Jahrhundert

II.4.6 Der Stundenplan 170

II.4.7 Neue Lehr- und Lernformen 174

II.4.8 Das „Inverted Classroom Model” 179

II.4.9 Vom ICMM zum xMOOC 194

II.4.10 Hybride Lehrveranstaltungen 205

II.4.11 Referatskurse 206

II.4.12 Gastvorträge 213

II.4.13 Abschlussbemerkung 214

III Zusammenfassung 217III.1 Akute Probleme 217

III.2 Längerfristige Maßnahmen 220

III.3 Ein Ausblick 221

III.4 Abschlussbemerkung 223

IV Epilog 225IV.1 Studieren im 21. Jahrhundert 226

Literatur 233

Anhang A – Arbeitszeit und Aufwand 241

Anhang B – Publikationen des Autors 248

Glossar 250

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Vorwort

Hohe Studentenzahlen,1 überfüllte Hörsäle und schlechte Studi-enbedingungen prägen seit einigen Jahren das Bild der deutschen Hochschulen in der Öffentlichkeit. Doppelte Abiturjahrgänge, die Aussetzung der Wehrpflicht und die geburtenstarken Jahrgänge – Fakten, die man seit vielen Jahren kennt und denen man schon weit im Vorfeld hätte begegnen können, haben dazu geführt, dass die Universitäten und Fachhochschulen aus allen Nähten platzen. Eine vernünftige Lehre, so hört man aus den Führungsgremien der deutschen Hochschulen und deren Fächern und Fachbereichen, sei kaum noch zu garantieren.

Mit schnell gestrickten aber nur kurz gedachten Maßnahmen wie z. B. der Live-Übertragung von Vorlesungen in Nebenräume, der Anmietung von zusätzlichen Räumen wie Sporthallen, Kirchen oder Kinos für die Abhaltung von Lehrveranstaltungen bis hin zur Ausschüttung hoher Beträge für die Einstellung zusätzlichen Perso-nals für einen gewissen Zeitraum versuchen Politik und Hochschu-len in einer konzertierten Aktion dieses Problem zu lindern.

Bei näherer Betrachtung allerdings kann man all diese Maßnahmen nur als Aktionismus oder Schnellschuss bezeichnen. Durch die An-mietung von Hörsälen und die Rekrutierung zusätzlicher Lehrkräf-te ist zwar eine kurzfristige Linderung der Problematik zu erreichen, eine nachhaltige Lösung des Problems ist dies sicherlich nicht. Und auch die mittlerweile so oft erwähnten elektronischen Klausuren sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Zum einen werden in vielen universitären Lehrveranstaltungen gar keine Klausuren ge-schrieben, zum anderen sind die populärsten und sichersten elek-

1 Aus Gründen des besseren Leseflusses wird im gesamten Buch stets die kürzere maskuline Schreibweise verwendet. Ungeachtet dessen sind zu jeder Zeit Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schüler, Leh-rerinnen und Lehrer usw. gleichermaßen angesprochen.

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tronischen Testverfahren, die sogenannten Multiple-Choice-Tests, für viele Fächer unbrauchbar. Wer meint, dass mit den derzeitigen Maßnahmen eine Verbesserung der allgemeinen Situation und der Hochschullehre im speziellen erreicht werden kann, verkennt eines: Hauptproblem ist die Hochschullehre selbst. Sie ist seit vielen Jah-ren – um den Buchtitel aufzugreifen – ein kranker „Patient“, der einer dringenden Therapie bedarf.

Der „Patient“ Hochschullehre krankt nicht erst seit der Einfüh-rung sogenannter gestufter Studiengänge im Sinne des Bologna Protokolls. Er liegt auch nicht erst darnieder, seit uns die doppel-ten Abiturjahrgänge Berge von Studierwilligen an viele Hochschu-len gespült haben. Der Grund ist ein anderer: Die Hochschulen versäumen es seit Jahren, ihre Lehre und ihr Lehrpersonal an die veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Sie hal-ten an althergebrachten Konzepten fest, sie sind – was die Lehre angeht – in hohem Maße innovationsresistent und sind nicht in der Lage ihr Klientel, die Studenten, mit einer ihrer kontinuierlich steigenden Medienbedienkompetenz angemessenen Lehre zu ver-sorgen. Die Lehre ist ein Stiefkind der Hochschulen und vieler ihrer Hochschullehrer.

Ganz anders die Forschung: In der Forschung überbieten sich die deutschen Universitäten gegenseitig mit ihren Erfolgen: Drittmit-teleinwerbungen, Großprojekte, forschungsbezogene Auszeichnun-gen, beste Kontakte ins Ausland sowie internationale Forschungs-verbünde bestimmen nicht nur den Stellenwert einer Universität sondern auch den universitären Alltag. In Hochglanzprospekten und auf ihren Homepages werben die deutschen Universitäten mit ihren Glanzleistungen in der Forschung.

Doch zur Lehre, dem eigentlichen Kerngeschäft einer Universität, schweigen sich die Universitäten aus. Nahezu alles in der Außendar-stellung einer Universität dreht sich um ihre Forschungsstärke. Das macht auch Sinn. Denn bezogen auf ihre Forschung spielen viele deutsche Universitäten im Konzert der Großen mit, wenn auch mit leichtem Abstand.

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11Vorwort

Bezüglich der Lehre kommen aus den deutschen Hochschulen dagegen bloß unwesentliche Beiträge bzw. nur wenige innovative Ideen. Dass die Hochschullehre aber reformbedürftig ist, zeigen die zahlreichen Programme der letzten 20 Jahre, die mit zum Teil wech-selnden Titeln wie etwa „Programm zur Verbesserung der Hoch-schullehre“ oder „Für ein richtig gutes Studium“, immer wieder neu aufgelegt wurden, am Ende aber nur wenig Durchschlagskraft hat-ten. Auch gibt es ein „Handbuch zur Hochschullehre“, doch auch dort findet man in Masse eher theoretische Aspekte zur Lehre als Handreichungen für die Praxis.

Die Universitäten bieten zwar eine Unmenge verschiedener Studi-engänge an, doch wie die Lehre selbst, also der Unterricht, durchge-führt wird, bleibt eher geheimnisumwittert. Die meisten Universi-täten verfahren nach dem Prinzip „Das war schon immer so, warum sollen wir etwas ändern?“ Und die Studenten? Auch sie zeigen wenig Neigung zu Änderungen. Sie scheinen offenbar mit der Hochschul-lehre zufrieden zu sein, sie absolvieren ihre Lehrveranstaltungen ohne zu murren, sitzen auf Fensterbänken und nehmen die derzei-tige Situation als gegeben hin. Die Erlangung der benötigten Credit Points ist für sie nahezu die einzige Zielsetzung. Alles andere wird diesem Ziel untergeordnet.

Das vorliegende Buch zeigt, dass die Situation beileibe nicht so rosig ist, wie viele sich das einreden. Im Gegenteil, schon nach der Ein-führung aus der Sicht eines fiktiven Studenten wird klar, welch gro-ße Probleme die Hochschullehre hat. Wer vermutet hat, dass es sich dabei nur um die oben erwähnten hohen Studentenzahlen handelt, wird schnell eines Besseren belehrt. Hauptproblem der Hochschul-lehre sind die Lehrenden selbst. Ihre Einstellung zur Lehre hat dazu geführt, dass trotz einer sich rasend schnell wandelnden Informati-onsgesellschaft prinzipiell immer noch so gelehrt wird wie Mitte des 20. Jahrhunderts oder zuvor.

Das Buch versucht, zum Teil mit einem Augenzwinkern, zum Teil aber auch mit bissiger Kritik, die Hochschullehre aus verschiedenen Blickwinkeln zu hinterfragen. Dazu wird im Prolog zunächst die

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Geschichte des jungen Studenten Maximilian König2 erzählt, der 2012 voller Euphorie sein Lehramtsstudium aufnahm und schon nach wenigen Wochen desillusioniert vor den zahlreichen Unzu-länglichkeiten der Hochschullehre kapitulierte. Seine fiktive, aber mit vielen Studenten abgeglichene Geschichte zeigt, dass die Hoch-schullehre ein sehr kranker „Patient“ ist. Das Problem dieses Pa-tienten besteht aber nicht aus einer einzelnen mit einer globalen Therapie zu kurierenden Krankheit, sondern es ist vielmehr ein Mo-saik aus diversen Krankheitsbildern, die z.T. sehr unterschiedliche Therapien erfordern.

Daher wird im Anschluss an den Prolog im Hauptteil des Buches jeweils eine ausführliche Anamnese vorgenommen, in der die ver-schiedenen Facetten des Patienten Hochschullehre, von grundsätz-lichen Problemen, bis hin zu leicht kurierbaren kleineren Nachläs-sigkeiten aufgelistet werden.

Damit das Buch nicht zu einem reinen Beschwerdebuch verkommt, wird versucht, jedem Krankheitsbild ein Heilverfahren entgegen-zusetzen. Dazu werden klar umrissene Vorschläge gemacht, wie der Patient Hochschullehre auf einen guten, zukunftssicheren Weg gebracht werden kann, der den Herausforderungen des 21. Jahr-hunderts gerecht wird. Denn wie in der Forschung, so müssen wir uns auch in der Lehre nicht nur der globalen Konkurrenz stellen sondern insbesondere die Herausforderungen einer globalisierten Wissensgesellschaft annehmen.

Das Buch endet mit einem Epilog, in dem ein Enkel unseres fik-tiven Studenten Maximilian König im Jahre 2053 sein Studium an einer der wenigen verbliebenen deutschen Präsenzuniversitäten aufnimmt. Dabei werden wir eine Prognose wagen, wie sich die Hochschullehre im Laufe des 21. Jahrhunderts entwickeln kann und wie bzw. ob diese Entwicklung zur Gesundung des Patienten Hochschullehre wird beitragen können.

2 Alle im Buch verwendeten Namen sind rein fiktiv. Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit realen Personen sind nicht beabsichtigt.

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13Vorwort

Hinweis zur SchreibweiseEigentlich wollte ich in diesem Buch aus Gründen der Lesbarkeit auf Literaturverweise so weit wie möglich verzichten. Da aber bereits im Vorfeld bei vielen Vorgesprächen mit Kollegen Zweifel an meiner Argumentation geäußert wurden, habe ich mich dazu entschieden, ab Teil II des Buches dann doch auf die in akademi-schen Publikationen üblichen Literaturverweise sowie Fußnoten zurückzugreifen. Das erschwert möglicherweise die Lesefreude von Fachfremden, stützt aber die Argumentation vor den Augen des Fachpublikums.

Ein Buch dieser Art wäre nicht möglich ohne die Hilfe zahlreicher Studenten. Diese habe ich mit meinen nervenden Fragen, ob das, was ich in diesem Buch immer wieder ankreide, denn auch wirklich der Realität entspricht, mehrfach zum Nachdenken angeregt, wenn nicht gar überfordert. Diesen Studenten, die ich namentlich uner-wähnt lassen möchte, da sie zur Zeit der Drucklegung noch mitten im Studium steckten, danke ich von ganzem Herzen. Gleiches gilt für die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die zwar meine Aussagen im-mer wieder bestätigt haben, mich aber an manchen Stellen zu einer etwas moderateren Ausdrucksweise heruntergehandelt haben.

Zu großem Dank bin ich meinen Hochschullehrer-Kollegen Jens Dittrich, Jörn Loviscach und Christian Spannagel verpfl ichtet. Sie teilen nicht nur viele meiner Ideen, sondern sie haben sich der Mühe unterzogen, das Manuskript vorab zu lesen. Ihre wertvollen Hinweise und Kommentare haben mich nicht nur vor Fehlern be-wahrt, sondern mich dazu bewogen, in einigen Bereichen nochmal nachzuhaken und weitere Daten zur Unterstützung meiner Argu-mentation vorzulegen.

Ein besonderer Dank gilt meiner früheren Mitarbeiterin Astrid Hente-Eickhorst, die mit ihren wunderbaren Illustrationen das Buch enorm bereichert hat. Da Fotos von realen Szenen, z. B. Si-tuationen in Lehrveranstaltungen oder Schnappschüsse von dozen-tischen sowie studentischen Präsentationen aufgrund des Schutzes persönlicher Daten nur in Ausnahmefällen möglich waren, haben

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wir uns zu diesem Weg entschieden. Mithilfe der Illustrationen konnten wir Einiges vom universitären Alltag einfangen und die rein textuellen Aussagen im Buch auch grafisch untermauern.

Mir ist völlig klar, dass ein Buch dieser Form auf erheblichen Wi-derstand stoßen wird. Ziel ist es nicht, Fachkollegen auf besserwis-serische Art vor den Kopf zu stoßen und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Ziel ist es vielmehr, Impulse für eine echte Verbesserung der Hochschullehre zu geben und sie international konkurrenzfähig zu machen, sodass die deutschen Universitäten mit Stolz auf ihren Webseiten nicht nur mit ihren Forschungserfolgen, sondern auch ohne Schönfärberei mit ihren Lehr- und Lernkonzepten werben können.

Jürgen Handke, im Oktober 2013

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I Prolog

Endlich raus aus der Schule! Auf zu neuen Ufern!

„Das zurzeit zentrale pädagogische Modell der modernen Universität wird zunehmend obsolet. Es entfremdet sich mehr und mehr von den Bedürfnissen der neuen Studentengeneration, die dabei ist, Teil des glo-balen Wissensmarktes zu werden.“ (Tapscott/Williams, 2010:18)3

3 Originalzitat: Th e current model of pedagogy, which is at the heart of the mo-dern university, is becoming obsolete. It is increasingly failing to meet the needs

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I.1  Von der Freude zum Frust

Maximilian König, ein aufgeweckter, diskussionsfreudiger und immer lustiger Abiturient, begann sein Lehramtsstudium im Win-tersemester 2012/13. Die beiden Fächer, die er auswählte, sollen hier unerwähnt bleiben. Freudestrahlend verließ er im September 2012 seine Heimatstadt und begab sich in die Unabhängigkeit. Sei-ne neue Heimat, die mittelgroße Stadt mit ihrem typischen uni-versitären Flair, hatte es ihm angetan: die wunderbare Landschaft, die vielfältigen Sportmöglichkeiten und die bestens auf die vielen Studenten vorbereitete Kneipenlandschaft. Und in seiner neuen Wohngemeinschaft ließ es sich – wenn auch mit finanziellen Ein-schränkungen – gut leben und, so hoffte Max, auch studieren.

Max hatte sich gründlich über seine zukünftige Uni auf deren Homepage informiert: Hervorragende Forschungsergebnisse, eine hohe Drittmittelquote, international renommierte Projekte – nur über die Lehre und die Studienbedingungen konnte er auf den ers-ten Blick nicht viel herausfinden. Allerdings wurde er nach einigem Suchen auf einem nicht ganz so leicht zu findenden Unterpunkt der Universitäts-Web-Seite doch noch fündig: Er fand ein elektro-nisches Learning-Management-System. Na bitte, seine zukünftige Uni hatte offenbar modernste Lerntechnologie im Angebot, und er konnte sich darauf einrichten, mehr als den spärlichen Einsatz eines Interaktiven Whiteboards durch seinen früheren Biologielehrer zu erwarten.

Es war also alles gerichtet.

Die erste Kontaktaufnahme mit seiner Uni erfolgte Anfang Ok-tober, als Max nach seiner offiziellen Einschreibung im Rahmen der von seinen zukünftigen Kommilitonen organisierten Orientie-rungswoche zum ersten Mal Universitätsluft schnuppern konnte. Die erfahrenen Studenten gaben sich sehr viel Mühe und schafften

of a new generation of students who are about to enter the global knowledge economy.

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17I Prolog

es, durch Spiele, Diskussionen und motivierende Beratungen Max davon zu überzeugen, dass er mit seinem Lehramtsstudium genau die richtige Wahl getroffen hatte. Am Ende der Orientierungswo-che hatte Max einen unter Mithilfe der studentischen Berater ent-standenen Stundenplan in den Händen und konnte sich auf einen tollen Studienanfang freuen. Mit insgesamt sieben Lehrveranstal-tungen à 90 Minuten, von denen leider eine auf den Montag fiel und ihm ein noch längeres Wochenende nahm, hatte er sich ein durchschnittliches Pensum auferlegt, mit dem er am Semesterende 30 Leistungspunkte erzielen wollte.

Maximilians Stundenplan sah so aus:4

Zeit Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag08-1010-12 Übung Seminar Vorlesung12-14 Übung Übung14-16 Übung Seminar16-1818-20

Begleiten wir also Maximilian in sein erstes Semester, für das 15 Wochen Vorlesungszeit vorgesehen waren und wählen zwei Lehr-veranstaltungen aus seinem Stundenplan aus, die er in diesem Se-mester belegte: eine Grundlagenvorlesung am Mittwochvormittag von 10 bis 12 Uhr und ein Seminar mit Übungscharakter, das je-weils für den Donnerstagnachmittag von 14-16 Uhr angesetzt war. Am Mittwoch, den 17. Oktober 2012, begann sein Abenteuer.

Maximilians erste LehrveranstaltungDie Grundlagen-

vorlesung von Prof. Dr. Richter

beginnt erst am Mittwoch,

den 24.10.2012

Bevor es so richtig losging, war es aller-dings schon wieder zu Ende. In der ers-ten Woche, so war per Aushang an der Tür von Prof. Dr. Richter, dem Leiter der

4 Bei diesem Stundenplan handelt es sich um ein Beispiel das eher in den geisteswissenschftlichen Fächern zu finden ist. In den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist der Vorlesungsanteil in der Regel erheblich höher.

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Grundlagenvorlesung, zu lesen, würden dessen Lehrveranstaltungen ausfallen, da er sich noch auf einem wissenschaftlichen Kongress in Nordamerika befand. Und auch das Seminar fand in der ersten Wo-che noch nicht statt, da die Praxisausbildung in Maximilians Fach grundsätzlich immer erst in der zweiten Semesterwoche beginnt. Max hatte sich also umsonst auf den Weg in die Uni gemacht, bei der Größe der Stadt und den damit verbundenen kurzen Wegen zu den Gebäuden seines Faches aber kein großes Problem.

14 statt 15So begann das erste Semester also mit Verzögerung, oder an-ders ausgedrückt, statt 15 Semesterwochen und 15 Sitzungen pro Lehrveranstaltung, blieben nur noch 14 Semesterwochen mit 14 Sitzungen pro Lehrveranstaltung übrig.

Auf zum nächsten Versuch am Mittwoch, den 24. Oktober.

Doch dann das. Als Max den Hörsaal betrat, in dem die Vorlesung bei Prof. Dr. Richter angesetzt war, fand er sich inmitten einer kaum überschaubaren Masse von Gleichgesinnten wieder. Etwa 200 Stu-denten, so schätzte er, davon zirka 20 auf dem Fußboden, 30 auf den Fensterbänken und der Rest auf den betagten Klappsitzen des Hörsaals. „Komisch“, dachte er sich, „die sind ja so ruhig. In der Schule ging es bei 25 Teilnehmern stets hoch her, die geschätz-ten 200 Teilnehmer dagegen verhielten sich auff ällig schweigsam. Wahrscheinlich waren sie einfach nur gespannt, oder waren sie etwa durch die neue Atmosphäre eingeschüchtert?“

Da Max noch früh dran war, gelang es ihm, sich in einer der mittle-ren Reihen noch zwischen zwei sehr kompetent erscheinende Kom-militonen zu quetschen, sodass ihm der unbequeme Fensterplatz erspart blieb.

„Auch Lehramt?“ fragte er seine Nachbarin zur Rechten. „Nein, Bachelor!“ erwiderte sie und zerstörte seine Hoff nungen auf eine zukünftige Bundesgenossin mit gleichen Studieninteressen. Also

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19I Prolog

versuchte er es bei seinem linken Sitznachbarn. Doch auch dieser konnte ihm keine Aussichten auf eine zukünftige Zusammenarbeit bieten. Er hatte bereits einen BA-Abschluss in der Tasche und war nun in einem Masterstudiengang eingeschrieben, für den er die Leis-tungspunkte, die er in dieser Lehrveranstaltung erwerben würde, im Rahmen eines sogenannten Importmoduls benötigte. Eigentlich wollte er eine ganz andere Veranstaltung belegen. Auf Grund von zeitlichen Überschneidungen, im Fachjargon auch oft als „Stunden-plankollision“ bezeichnet, kam für ihn aber keine andere Veranstal-tung als die von Prof. Dr. Richter in Frage.

Auch bei anderen Teilnehmern der Lehrveranstaltung hatte Max mit dem Versuch, Kommilitonen seines Studienganges zu finden, nur geringen Erfolg. Erstaunt stellte er fest, dass an der Vorlesung Studenten aus insgesamt sieben zum Teil sehr unterschiedlichen Studiengängen teilnehmen wollten. Und auf seine Frage nach den Leistungspunkten, die von den einzelnen Teilnehmern der Lehrver-anstaltung erworben würden, bekam er Antworten zwischen drei und acht.

Max fasste zusammen: Eine Lehrveranstaltung für Studenten völlig verschiedener Studiengänge mit unterschiedlichsten Leistungsan-forderungen! Kann es solch eine Lehrveranstaltung überhaupt ge-ben, eine Veranstaltung die allen gerecht wird, sowohl inhaltlich als auch bezogen auf die zu erbringenden Leistungen? Das wäre doch so, als ob Fußballer, Volleyballer, Handballer, Basketballer und möglicherweise auch Wasserballer im Trockenen in einem gemein-samen Training bedient würden, aber alle ganz unterschiedliche Leistungen abliefern müssten: Die einen müssten zwei Kilometer laufen, die anderen vier, einige müssten gezielte Sprungfertigkeiten nachweisen, andere wiederum zusätzlich mehr Aufwärmgymnastik machen. Wie soll das der Trainer in einer gemeinsamen Trainings-einheit nur zusammenbringen?

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Verschiedene Disziplinen – ein Ziel. Geht so etwas?

„Naja“, dachte sich Max, „vielleicht ist ja der Dozent, Prof. Dr. Richter, ein Mit-Fünfziger, dermaßen beschlagen, dass er so etwas hinbekommt: unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Leistungsanforderungen gemeinsam bestens zu bedienen.“

Also fasste Max wieder Mut und freute sich auf unterhaltsame, auf-schlussreiche 90 Minuten.

Um Punkt 10:15, also 10 Uhr c. t. (lt. cum tempore = dt. mit Zeit, wie es in der klassischen Alma Mater heißt) betrat der Professor den Hörsaal, begleitet von einem Mitarbeiter. Letzterer teilte sogleich eine Liste aus, auf der sich alle mit Namen und E-Mail Adresse ein-tragen mussten. Zusätzlich setzte er die Technik in Gang und lud, während der Professor seine einleitenden Worte sprach, eine aus zwei Folien bestehende PowerPoint-Präsentation. Mehr war auch nicht nötig. Denn alles, was in dieser Auftaktsitzung besprochen wurde, war organisatorischer Natur: Es wurde ein vorher verviel-fältigter Semesterplan ausgehändigt, es gab eine Literaturliste, die im Detail von Prof. Dr. Richter abgearbeitet wurde, und schließlich wurden noch die Grundlagen für den Erwerb der Leistungspunkte erläutert. Nach ca. 45 Minuten beendete Prof. Dr. Richter diese

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21I Prolog

Auftaktsitzung. Und was hatte Max gelernt? Eigentlich kaum etwas Inhaltsbezogenes.

Auch im Seminar am Donnerstag danach erging es ihm ähnlich. Zwar waren es dieses Mal nur ca. 50 Teilnehmer, allerdings war der Seminarraum auch viel kleiner, sodass auch hier das gleiche Sitz-platzproblem entstand. Und auch die Stimmung war ähnlich: na-hezu völlige Schweigsamkeit unter den Seminarteilnehmern. Um 14:15 betrat dann die Lehrende, Frau Prof. Dr. Milde, den Semi-narraum in Begleitung ihrer Mitarbeiterin. Letztere überprüfte an-schließend im mündlichen Dialog die Anwesenheit anhand einer Liste, ehe die Professorin nach geschlagenen 15 Minuten wiederum die organisatorischen Abläufe des Seminars vorstellte. Anschließend konnte sich Max in eine Liste mit Referatsthemen eintragen und fand heraus, dass er in der sechsten Semesterwoche zusammen mit zwei weiteren Kommilitonen ein Referat halten würde. Da Max üb-rigens in der Mitte des Seminarraums saß, erreichte ihn die Referats-liste erst, nachdem sich ca. 20 Kommilitonen bereits für eines der vorgegebenen Referatsthemen eingetragen hatten. Da die „besten“ Themen erwartungsgemäß bereits vergeben waren, blieb Max nur die Wahl eines Themas, das ihn eigentlich nicht interessierte. Mit diesem leichten Frust endete für ihn die Auftaktsitzung des Semi-nars, das Frau Prof. Dr. Milde nach ca. 45 Minuten mit dem Hin-weis beendete, weitere Fragen würde ihre Mitarbeiterin beantwor-ten. Auch am Ende dieser Lehrveranstaltungen musste Maximilian feststellen, dass er wiederum keinen signifikanten Wissenszuwachs erzielt hatte.

Somit wurde in beiden Lehrveranstaltungen die mit einer Woche Verspätung abgehaltene Auftaktsitzung für rein organisatorische Aufgaben und nicht für die Inhaltsvermittlung verwendet.

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13 statt 15Statt ursprünglich 15 Semesterwochen mit 15 Sitzungen pro Lehrveranstaltung waren es somit genau genommen nur noch 13 Sitzungen pro Lehrveranstaltung.

Bis zum bitteren Ende

In den folgenden Wochen ging es aber dann doch um Inhalte. Doch wie diese Inhalte vermittelt wurden, war nicht nur für Maximilian einigermaßen ernüchternd.

In der Vorlesung monologisierte Professor Dr. Richter mehr oder weniger steif ohne Rücksicht auf sein Auditorium und ließ sich da-bei von textlastigen PowerPoint-Folien unterstützen, die er – wenn er nicht an seinem Manuskript klebte – fast wörtlich ablas.

Endlose, vom Bildschirm abgelesene, textlastige Power-Point Vorträge

Vielleicht tat er das in dem Wissen, dass man die kleine Schrift auf den Folien (damit mehr drauf passt!) ab Reihe zehn ohnehin nicht

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23I Prolog

mehr hätte lesen können. Dennoch, was Max hier an Präsentati-onstechnik zu hören und vor allem zu sehen bekam, unterschritt das Niveau seiner ehemaligen Schule in vielerlei Hinsicht: entweder war es dem Professor egal, oder er konnte es einfach nicht besser, weil es ihm niemand so richtig gezeigt hatte. „Ich habe gehört, mein Biolehrer musste eine Weiterbildung in Präsentationstechniken ma-chen, müssen das denn Hochschuldozenten nicht?“ fragte Max sei-nen Sitznachbarn, bevor er, wie an jedem Mittwochvormittag nach ca. zwanzigminütigem monotonen Vortrag des Professors wie so viele seiner Kommilitonen verstärkt mit der üblichen Müdigkeit zu kämpfen hatte.

Kein schöner Anblick, aber Alltag: Studentische Mitarbeit in einer Vorlesung

Doch weder das bemerkte der Professor, noch, dass sein Auditorium Woche für Woche mehr und mehr schrumpfte und seine Studenten intensiver mit ihren Smartphones und Laptops beschäftigt waren als mit seiner Vorlesung. „Vielleicht sollte uns Professor Dr. Richter einfach sein Manuskript auszuhändigen oder über eine andere Un-terrichtsform nachdenken.“, fl üsterte Max seinen Kommilitonen kurz vor Vorlesungsende zu. „Und wir sollten vielleicht mal keinen

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Beifall spenden und so dem Dozenten zeigen, dass uns sein Unter-richt nicht zusagt.“5, erwiderte sein Sitznachbar.

Auch im Seminar erging es Max kaum besser. Nur, dass hier nicht die Dozentin den Ton angab, sondern die Teilnehmer. Im wöchent-lichen Rhythmus wurden Referate gehalten, meistens zwei pro Sit-zung. Im Anschluss an die einzelnen Referate fand eine kurze Dis-kussion statt, an der immer die gleichen Personen teilnahmen: die Leiterin der Lehrveranstaltung, zwei off enbar höher-semestrige Stu-dentinnen und die Referatsgruppe, meistens zwei bis vier Studen-

Die Grundlagen-vorlesung

von Prof. Dr. Richterfällt

am 21.11.2012krankheitsbedingt

aus

ten. Die übrigen Studenten machten zwar einen interessierten Ein-druck, waren aber doch meistens mental abwesend. Wahrscheinlich

bereiteten sie sich in Gedanken wohl schon auf ihren Referatseinsatz in einer der Folgewochen vor.

Übrigens meinte es das Novemberwet-ter nicht gerade gut mit den Lehren-den: Krankheiten führten Woche für

Woche immer wieder zu Unterrichtsausfällen. Auch Maximilians Lehrveranstaltungen waren davon jeweils einmal betroff en.

12 statt 15So waren von den ursprünglich 15 Semesterwochen mit 15 Sit-zungen nur noch 12 Sitzungen pro Lehrveranstaltung übrigge-blieben.

Um auf die vier Leistungspunkte in der Vorlesung zu kommen, wurde dort übrigens kurz vor Weihnachten in der achten Sitzung eine „Mid-Term- Klausur“ geschrieben, und auch das Seminar wid-mete eine Sitzung der reinen Lektürearbeit und wurde kurzerhand abgesagt.

5 Es ist an deutschen Universitäten allgemein üblich, am Ende einer Vorle-sung auf den Tischen oder Schreibfl ächen „Beifall zu klopfen“. Allerdings wird dies nach meiner Erfahrung immer gemacht, unabhängig von der Güte einer Vorlesung oder eines Vortrages. Das „gehört sich einfach so.“

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11 statt 15So waren von den ursprünglich 15 Semesterwochen mit 15 Sit-zungen pro Lehrveranstaltung nur noch 11 echte inhaltsbezoge-ne Sitzungen pro Lehrveranstaltung übriggeblieben.

Außer diesem bloßen Zuhören hatte Max eigentlich nicht viel zu tun. Lediglich in der sechsten Sitzung des Seminars war er mit sei-nem Gruppenreferat dran. Es erging ihm wie allen anderen zuvor auch: Die zwei bis drei Interessierten stellten wie üblich hinterher ihre obligatorischen Fragen, die Dozentin leitete die zähe Diskussi-on, doch Max war erlöst. Für den Rest des Semesters konnte er die Hände in den Schoß legen. Er kam sich vor wie ein Teilnehmer an den Olympischen Spielen: sechs Tage warten bis zum eigenen Wett-kampf, dann der Höhepunkt und danach als „Tourist“ die Spiele ausklingen lassen. Genauso fühlte er sich auch: sechs Wochen vor-bereiten und warten, dann der Vortrag und danach der Ausklang.

Zwei Wochen vor Semesterende gab es noch ein vermeintliches Highlight: die Kursevaluation. In beiden Lehrveranstaltungen wur-den die Teilnehmer gebeten, einen mehrseitigen Fragebogen zur Lehrveranstaltung, der eigenen Vorbereitung, der Leistung des Kursleiters und der dargebotenen Inhalte auszufüllen. Der Fragebo-gen bestand aus einer Reihe von vorgefertigten Fragen, denen Schul-noten zugeordnet werden mussten, sowie aus zusätzlichen Feldern, in die man eigene Kommentare einsetzen konnte. Natürlich war der Fragebogen anonym, d. h. er wurde ohne Angaben des eigenen Namens eingesammelt. „Was ist, wenn ich etwas Schlechtes über Herrn Richter schreibe und er meine Handschrift erkennt?“ fragte Max seine Sitznachbarin. „Ich glaube, Herr Richter kennt uns so-wieso nicht, wieso sollte er Deine Handschrift kennen?“ „Also gut“, sagte sich Max und lud seinen Frust über die langweilige Vorlesung in Form einer schlechten Benotung des Kursleiters und kritischer Zusatzkommentare auf dem Fragebogen ab.

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Am nächsten Tag allerdings war er vorsichtiger. Bei nur knapp 40 anwesenden Seminarteilnehmern im Seminar von Frau Milde war es ihm dann doch zu heikel, handschriftliche Kommentare auf dem Fragebogen abzugeben. Zu leicht würde es sein, seine durch die Un-terschriften auf den Anwesenheitslisten und den Anmeldelisten für die Gruppenreferate bekannte Schrift zu identifizieren.

Mit Spannung warteten die Studenten auf die Auswertung der Fra-gebögen. Doch nichts geschah. Zur Vorlesung von Herrn Prof. Dr. Richter gab es überhaupt keine Rückmeldungen und bei der Veran-staltung von Frau Milde war alles bestens – nur positive Bewertun-gen. „Woran konnte das liegen?“ fragte Max einen Kommilitonen. „Bei Herrn Richter kann ich das nachvollziehen; der war offenbar nicht sehr angetan von dem Ergebnis und hat sich nicht weiter um die Evaluation und deren Auswertung gekümmert.“ „Und bei Frau Milde?“, hakte Maximilian nach. „Hier hat sich doch keiner so rich-tig getraut!“ erwiderte sein Kommilitone. „Solange die Evaluatio-nen nicht wirklich anonym sind, machen sie keinen Sinn!“ „Und Konsequenzen haben sie ohnehin nicht, weder positive noch nega-tive“, ergänzte Max. So waren die Kursevaluationen, bei den Lehr-veranstaltungen, die Maximilian besucht hatte, letztlich wertlos und lediglich eine ca. zwanzigminütige Verschwendung kostbarer Unterrichtszeit. Dass dies auch ganz anders sein kann, erfuhr Maxi-milian von einem seiner Mitbewohner, der ihm später erzählte, dass an manchen Universitäten Evaluationen durchaus gewisse Konse-quenzen haben können, z. B. durch studentische Beschwerden im negativen Fall, sowie die Verleihung von Preisen bei positiven Eva-luationsergebnissen.

In der letzten Semesterwoche wurde in beiden Lehrveranstaltungen noch eine Abschlussklausur geschrieben – also wiederum keine in-haltsbezogene Sitzung, sondern eine der reinen Leistungsüberprü-fung gewidmete Präsenzzeit.

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10 statt 15So waren von den ursprünglich 15 Semesterwochen mit 15 Sit-zungen pro Lehrveranstaltung nur noch 10 echte inhaltsbezoge-ne Sitzungen pro Lehrveranstaltung übriggeblieben.

Ach, eines hätte Max fast vergessen. Am Mittwoch, dem 1. Novem-ber, dem in seinem Bundesland gesetzlichen Feiertag „Allerheili-gen“, fi el die Grundlagenvorlesung ebenso aus, wie das Seminar am 20. Dezember, als am letzten Unterrichtstag vor den Weihnachtsfe-rien ganze drei Studenten zusammen mit Max den drei für diesen Tag vorgesehenen Referenten zuhören wollten. Das Referat wurde verschoben und die Sitzung nach 30 Minuten beendet.

9 statt 15So waren am Semesterende von den ursprünglich 15 Semes-terwochen mit 15 Sitzungen pro Lehrveranstaltung nur noch 9 echte inhaltsbezogene Sitzungen pro Lehrveranstaltung übrig-geblieben.

Als Max diese magere quantitative Ausbeute mit seinen übrigen Lehrveranstaltungen verglich, musste er feststellen, dass dies keine Ausnahme, sondern eher der Normalfall war.

Unterrichts-„ausfall“ bzw. der Wegfall inhaltsbezogener Sitzungen, in der Folge auch „Inhaltlicher Quantitätsverlust“ genannt

• durch verspäteten Semesterbeginn: 1 Sitzung• durch Krankheit: 1 Sitzung• durch Feiertage: 1 Sitzung• durch Klausuren: 1 Sitzung

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sind in der universitären Lehre völlig normal.6 Hinzu kommt, dass die Auftaktsitzung der meisten Lehrveranstaltungen – wie beschrie-ben – vielfach rein organisatorischer Natur sind, sodass durch-schnittlich lediglich 10 von 15 möglichen Sitzungen der Inhaltsver-mittlung gewidmet sind.

10 von 15, das hört sich dramatisch an. Aber es ist ein realistisches Szenario. An manchen Universitäten, so erfuhr Max von Studenten anderer Hochschulen, ist z. B. der Wegfall der Inhaltsvermittlung den gleichzeitig stattfindenden Examensprüfungen geschuldet; andernorts werden spezielle „Lektüre- oder Projektwochen“ einge-richtet, in denen natürlich kein Präsenzunterricht stattfindet, oder der Wegfall von Präsenzphasen kommt durch Ereignisse wie dem Hochschulsportfest oder anderen öffentlichen Terminen zu Stande.

Und aus studentischer Sicht? Max fehlte nie, zumindest in seinem ersten Semester. Aber auch das ist nicht die Regel: Kollisionen mit Klausuren, Exkursionen in anderen Fächern oder spezielle Praktika können die Anwesenheit von Studenten in ihren Regelveranstaltun-gen verhindern.

Inhaltlicher Quantitätsverlust ist somit fast zum Normalfall an den deutschen Unis geworden, wie geschildert aus organisatorischen, aber auch aus persönlichen Gründen.

Inhaltlicher Quantitätsverlust, aus welchen Gründen auch immer, ist allerdings nicht gerade das, worüber sich Studenten beschweren, auch Maximilian nicht. Aus seiner Schulzeit war ihm das noch bes-tens bekannt: Dort waren Unterrichtsausfall und daraus resultieren-de Freistunden willkommene Gelegenheiten, mit Klassenkamera-den Zeit zu verbringen, sich auf Folgestunden vorzubereiten oder Hausaufgaben nachzubessern. Da die beiden Lehrveranstaltungen bei Max sowieso keine Begeisterungsstürme entfesselten, war ihm dieser Quantitätsverlust ganz recht. Es gab ja auch noch andere Dinge in seiner neuen Umgebung zu tun.

6 Grundsätzlich müssen ausgefallene Lehrveranstaltungen nachgeholt werden (vgl. die Lehrverpflichtungsverordnungen der Bundesländer, z. B. Berlin: § 13. Abs. 3). Allerdings gibt es keine entsprechende Kontrollinstanz.

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Übrigens versuchte Frau Prof. Dr. Milde zweimal über sogenannte Doodle-Abstimmungen Ersatztermine für den krankheitsbedingen Unterrichtsausfall zu finden – ohne Erfolg. Die Studenten konnten (oder wollten) die vorgeschlagenen Termine nicht akzeptieren. So blieb es dann doch bei der reduzierten inhaltlichen Quantität ihrer Lehrveranstaltung.

I.2  Maximilians erweiterte Mängelliste

Neben den qualitativ und quantitativ so arg gebeutelten Lehrveran-staltungen störten Max allerdings noch ganz andere Dinge. Schil-dern wir sie aus seiner Sicht in loser Reihenfolge.

Die endlosen PowerPoint-Vorträge

Beide Dozenten setzten in ihren Lehrveranstaltungen voll auf das Präsentationsprogramm PowerPoint, allerdings auf ganz verschiede-ne Art und Weise. Prof. Dr. Richter nutzte in seinen Vorlesungen durchschnittlich etwa 30 Folien. Diese bestanden aus ca. 20 Zeilen Text pro Folie, die monoton heruntergelesen wurden, sodass die Teilnahme an der Vorlesung zu einem „Folien- und Zeilenzählen“ degradiert wurde (Max dachte sich immer: „Nur noch zwei, nur noch eine, Schluss.“). Die Vorlesung, also die Inhaltsvermittlung durch Prof. Dr. Richter, bestand somit im Wesentlichen aus einem emotionslosen Vorlesen der Folientexte.

Im Seminar von Frau Prof. Dr. Milde war dies anders. Hier hielten ja die Studenten die Vorträge – natürlich ebenfalls unterstützt durch PowerPoint. Auf die Idee, die Möglichkeiten des im Seminarraum angebrachten Interaktiven Whiteboards über die Nutzung als reine Projektionsfläche hinaus einzusetzen, kamen allerdings weder die Dozentin noch die Studenten.

Die Präsentationstechniken selbst waren extrem unterschiedlich. Einige Studenten kannten – wohl aus ihrer Schulzeit – die grund-legenden Regeln erfolgreicher Präsentationstechnik, andere nicht. Die Dozentin hatte offenbar aber auch keine große Expertise in

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Sachen Präsentationstechniken vorzuweisen. In ihrer Auftaktprä-sentation zur Organisation der Lehrveranstaltung flogen die ani-mierten Überschriften quer über den Bildschirm des Interaktiven Whiteboards. Und genauso machten es die Studenten ihr nach: Animationen, Übergangseffekte, wo immer (un)angebracht, von zeitgemäßer Präsentationstechnik unter Einhaltung der Regeln für gute Präsentationen, die in zahlreichen Publikationen aufgeführt sind und eigentlich zur Medienkompetenz eines Lehrers gehören sollten, keine Rede.

„Da waren meine Lehrer in der Schule erheblich weiter“, dachte sich Max, wenn er die langatmigen bzw. überfrachteten Präsentati-onen über sich ergehen lassen musste.

Die technische Kompetenz der Dozenten

Es war schon erstaunlich, wie unsicher die Lehrenden beim Um-gang mit der Technik waren. Als Prof. Dr. Richter in seiner fünf-ten Sitzung seine PowerPoint-Präsentation durch versehentliches Drücken der B -Taste ‚deaktivierte‘ („b“ steht für „Black“) und dazu noch die Windows-Taskleiste verschob, musste er seine Lehrveran-staltung kurz unterbrechen und seinen Mitarbeiter herbeiholen, der genau in diesem Moment nicht in der Vorlesung saß.