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HusserlStudies 13: t55--167, 1997. t55 (~) 1997 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands. Lebensgeschichte als Seibstkonstitution bei Husserl * LASZLO TENGELYI Eotvos Lorand University, Budapest, Hungary Es soil im folgenden deutlich gemacht werden, dab Husserls sp~iten Bemer- kungen fiber das Wechselverh/ilmis von Selbstkonstitution und Lebensge- schichte heute eine neue Aktualit/it zukommt. Um dies zu zeigen, gehe ich von einer Theorie der 'personalen Identit~it' aus, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten 0t~ vertreten wurde. Ich weise auf Schwierigkeiten hin, die in dieser Theorie unbew/iltigt bleiben, um die Notwendigkeit eines Rfickgangs auf die Ph~inomenologie zu erweisen. DaB bei Husserl die gleichen Schwie- rigkeiten gar nicht auftreten oder aber restlos aufgelfst werden, soil damit allerdings nicht gesagt werden. Gleichwohl kann man behaupten, dab er die n6tigen Denkmittel bereitstellt, um sie an ihrer Wurzel zu erfassen. Dies liegt daran, wie die folgenden Er6rterungen es im einzelnen nachzuweisen suchen, dab sie in der Ph~inomenologie aus dem Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Anderen begriffen werden. Der Begriff 'Lebensgeschichte' hat eine Zwittematur. Er kann vom Leben und Erleben her verstanden werden; so meint er den zeitlichen Verlauf eines Lebens im Ganzen. Er kann aber auch die Bedeutung einer sprachlich ausge- pr/igten Geschichte annehmen; dann hat er einen Sinn, in dem sich Erlebtes und Erz/ihltes durchdringen. Bei Dilthey, der als erster die Frage nach dem 'Zusammenhang des Lebens' gestellt hatte, haben sich diese beiden Wege der Deutung noch nicht geschie- den. l Er hat vielmehr versucht, durch sein Grundwort 'Zusammenhang des Lebens' so ungleichartige Begriffe wie Kraft und Sinn miteinander zu ver- knfipfen und in einer untrennbaren Einheit zusammenzuhalten. 2 Die Ph~ino- menologie schlug dann entschieden den ersten Weg ein. Dagegen hat die in den letzten anderthalb Jahrzehnten entwickelte Lehre yon einer 'narrativen Identit~it '3 den zweiten Weg betreten. * Der vorliegcnde Aufsatz ist w~arend eines zweij~ihrigen Forschungsaufenthaltes in Deutschland entstanden,den die Alexander yon Humboldt-Stiftung erm6glichte. Es sei hiermit mein Dank fiir diese Unterstiitzungausgesprochen. Mein Dank gilt anch der Central Euro- pean University, die meine Forschungstiitigkeit im Rahmen eines Research Support Scheme f6rderte. Schliefllich m6chte ich den beiden Betreuernmeiner Arbeit, Herrn Prof. Dr. Klaus Held (Wuppertaf) und Herrn Prof. Dr. Bernhard Waldenfels(Boehum), Fir die vielfachen Anregungen,die ich von ihnenw~ihrend dieserZeit erhaltendun%, herzlichdanken.

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  • HusserlStudies 13: t55--167, 1997. t55 (~) 1997 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands.

    Lebensgesch ichte als Seibstkonst i tut ion bei Husser l *

    LASZLO TENGELYI Eotvos Lorand University, Budapest, Hungary

    Es soil im folgenden deutlich gemacht werden, dab Husserls sp~iten Bemer- kungen fiber das Wechselverh/ilmis von Selbstkonstitution und Lebensge- schichte heute eine neue Aktualit/it zukommt. Um dies zu zeigen, gehe ich von einer Theorie der 'personalen Identit~it' aus, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten 0t~ vertreten wurde. Ich weise auf Schwierigkeiten hin, die in dieser Theorie unbew/iltigt bleiben, um die Notwendigkeit eines Rfickgangs auf die Ph~inomenologie zu erweisen. DaB bei Husserl die gleichen Schwie- rigkeiten gar nicht auftreten oder aber restlos aufgelfst werden, soil damit allerdings nicht gesagt werden. Gleichwohl kann man behaupten, dab er die n6tigen Denkmittel bereitstellt, um sie an ihrer Wurzel zu erfassen. Dies liegt daran, wie die folgenden Er6rterungen es im einzelnen nachzuweisen suchen, dab sie in der Ph~inomenologie aus dem Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Anderen begriffen werden.

    Der Begriff 'Lebensgeschichte' hat eine Zwittematur. Er kann vom Leben und Erleben her verstanden werden; so meint er den zeitlichen Verlauf eines Lebens im Ganzen. Er kann aber auch die Bedeutung einer sprachlich ausge- pr/igten Geschichte annehmen; dann hat er einen Sinn, in dem sich Erlebtes und Erz/ihltes durchdringen.

    Bei Dilthey, der als erster die Frage nach dem 'Zusammenhang des Lebens' gestellt hatte, haben sich diese beiden Wege der Deutung noch nicht geschie- den. l Er hat vielmehr versucht, durch sein Grundwort 'Zusammenhang des Lebens' so ungleichartige Begriffe wie Kraft und Sinn miteinander zu ver- knfipfen und in einer untrennbaren Einheit zusammenzuhalten. 2 Die Ph~ino- menologie schlug dann entschieden den ersten Weg ein. Dagegen hat die in den letzten anderthalb Jahrzehnten entwickelte Lehre yon einer 'narrativen Identit~it '3 den zweiten Weg betreten.

    * Der vorliegcnde Aufsatz ist w~arend eines zweij~ihrigen Forschungsaufenthaltes in Deutschland entstanden, den die Alexander yon Humboldt-Stiftung erm6glichte. Es sei hiermit mein Dank fiir diese Unterstiitzung ausgesprochen. Mein Dank gilt anch der Central Euro- pean University, die meine Forschungstiitigkeit im Rahmen eines Research Support Scheme f6rderte. Schliefllich m6chte ich den beiden Betreuern meiner Arbeit, Herrn Prof. Dr. Klaus Held (Wuppertaf) und Herrn Prof. Dr. Bernhard Waldenfels (Boehum), Fir die vielfachen Anregungen, die ich von ihnen w~ihrend dieser Zeit erhalten dun%, herzlich danken.

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    Diese Lehre bestimmt die rechtverstandene 'personale Identit/it' - die Selbstheit- als Lebensgeschichte. Das Beiwort 'narrativ' begreift sich daraus, dab 'Lebensgeschichte' und 'Erz/ihlung' dabei ftir gleichsinnig erachtet wer- den. Wie ein Losungswort klingt die Annahme dieser Bedeutungsgleichheit bei Maclntyre an: Stories are lived before they are told. 4 Man findet aber auch bei Ricoeur die Aussage: "Wir setzen das Leben der Geschichte oder den Geschichten gleich, die wir davon erz/ihlen. ''5

    Manche lJ-berlegungen sprechen jedoch daffir, dab dieser zweite Weg der Deutung am Ende doch zum ersten zurfickffihrt. Offenbar kfnnen mehre- re Erz/ihlungen- mit verschiedenem Genauigkeitsgrad- ein und dasselbe Leben zum Gegenstand haben. Es ist jedoch bei weitem nicht gleichgiiltig, welcher Erz/ihlung - oder welchen Erz/ihlungen - wir die Geschichte eines Lebens gleichsetzen. Handelt es sich dabei um die Geschichte unseres eige- nen Lebens, so steht besonders viel auf dem Spiel: Die Wahl entscheidet ja, wenn man der Lehre von der narrativen Identit/it Glauben schenken daft, fiber unsere Selbstheit. Allein schon die bloBe M6glichkeit einer derartigen Wahl deutet darauf bin, dab Lebensgeschichte und Erz/ihlung - trotz ihrer nicht zu leugnenden Zusammengeh6rigkeit- keineswegs unterschiedslos in eins fallen. Ricoeur spricht an einer Stelle selbst davon, dab wir durch Erz/ihlung von Geschichten aus dem eigenen Leben die narrative Identitat, die unsere Selbstheit ausmacht, zu entdecken, nicht aber uns von auBen her aufzuzwin- gen suchen. 6 Es ist leicht einzusehen, dab die Rede von einem 'Entdecken' hier eine Lebensgeschichte voraussetzt, die zwar in Erz/ihlungen eingeht, aber nie in ihnen vollends aufgeht. Damit finden wir uns jedoch in der Tat auf den ersten Deutungsweg mwfickverwiesen. So setzt sich die Zwittema- tur von 'Lebensgeschichte' gegen ein allzu eindeutiges, allzu verkfirzendes Verst/indnis durch. Deshalb sieht sich aber eine Betrachtung fiber Selbst- heit und Lebensgeschichte auch heute noch auf einen Rfickgang auf die Ph/inomenologie angewiesen.

    In den Cartesianischen Meditationen findet man zwei S/itze, die eigent- lich der gesamten Sp~itlehre Husserls einen Ort im Umkreis einer derar- tigen Betmchtung zuweisen. Der erste Satz spricht von der Deckung der Phiinomenologie der Selbstkonstitution des lch mit der Ph~inomenologie iiberhaupt (Hua, Bd. I, S. 103). Der andere Satz behauptet, dab das Ich sich sozusagen in der Einheit einer "Geschichte" konstituiert (Hua, Bd. I, S. 109). 7 An anderer Stelle gebraucht dann Husserl ausdriicklich das Wort 'Lebens- geschichte' -wenn auch nur in AnfOhmngszeichen (Hua, Bd. XV, S. 419). Damit stellt sich ein Zusammenhang zwischen den Begriffen 'Selbstkonstitu- tion' und 'Lebensgeschichte' her. Im folgenden versuchen wir, diesen Zusam- menhang zu verstehen. Deckt sich aber die Ph/inomenologie der Selbstkonsti- tution mit der Ph/inomenologie fiberhaupt, so ~hrt dieser Zusammenhang zu

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    weit. Die Untersuchung braucht deshalb eine angemessene Einsatzstelle. Wir wtihlen einen Einstieg bei Veriinderungstriichtigem. Wir greifen, mit anderen Worten, Gedankengtinge heraus, die einen Wandel in Husseds Grundansich- ten andeuten. Unser Anliegen ist dabei, den ph/inomenologischen Ansatz im Reiehtum seiner M6gliehkeiten darzustellen.

    Dazu bieten sich Sptittexte aus der Zeit nach der Abfassung der Carte- sianischen Meditationen an. In der ersten H/ilfte der dreiBiger Jahre kommt Husserls Denken fiber 'Lebenszeit', 'Lebensumwelt', 'Ich', 'Selbstsein' und 'Gemeinschaft' noch einmal voll in FluB. Die Wandlungen-und Schwankun- gen - seiner f3-berzeugungen zeichnen sich in den Forschungsmanuskripten, die Iso Kern im XV. Band der Husserliana herausgegeben hat, deutlich ab. Im folgenden sollen hier vor allem Aufzeichunungen aus diesem Band zur Er6rterung stehen.

    Es ist jedoch dabei geboten, daran zu erinnem, dab es sich hier um Tex- te handelt, denen die Wohlerwogenheit und die gedankliche Einstimmigkeit der von Husserl selbst ver6ffentlichten Werke in den meisten Fallen abgeht. Deshalb eignet auch den folgenden Ausffihrungen ein gewisser Versuchscha- rakter.

    Wir k6nnen den neu eingeffihrten Begriff einer 'transzendentalen Allzeit' zum Ausgangspunkt unserer fJ'berlegungen w~ihlen. Friiher kannte Husserl einerseits nur die subjektive Zeit der Erlebnisse, andererseits die objektive Zeit der Natur. Als er sich im Vorlesungstext Grundprobleme der Phiinomenologie aus dem Wintersemester von 1910/11 zum erstenmal vor die Aufgabe gestellt sah, vonder Mitgegenwart des Anderen und der Gleichzeitigkeit seiner Erleb- nisse mit den eigenen Erlebnissen des Ich Rechenschatt zu geben, fand er sich gen6tigt, aufdie empirisch-objektive Zeit der Natur zurOckzugreifen. Er sagte: "Die im Einfiihlen gesetzte Zeit ist [. . .] ein Jetzt, das empirisch als dersel- be objektive Zeitpunkt gesetzt wird wie das Jetzt des eigenen BewuBtseins." (Hua, Bd. XIII, S. 190.) 8 In seinem Sp/itdenken verwandelt er diesen Ansatz von Grund auf. Er spricht jetzt von einer "transzendental-objektiven Kon- temporalittit und Kompr/isenz' (Hua, Bd. XV, S. 74). Er verwirft damit aus- driicklich die Annahme, dab verschiedene Erlebniszeiten nur"durch Methexis an der universalen Naturzeit" miteinander im Verh/iltnis zeitlicher Koexistenz stehen k/Snnten (Hua, Bd. XV, S. 341). Er nimmt vielmehr den Standpunkt ein, dab eine einzelne 'Lebenszeit' immer schon eine "universale Koexistenz" mit anderen 'Lebenszeiten' voraussetzt, ehe noch von einer objektiven Zeit der Natur die Rede sein k6nnte (Hua, Bd. XV, S. 340). 9 Diese universale Koexistenz tr~gt jetzt den Namen 'transzendentale Allzeit' (Hua, Bd. XV, S. 334).

    Der neue Standpunkt deutet sich durch eine formelhafte Aussage an. Es heiBt: "Der Plural geht voran dem Singular [...]" (Hua, Bd. XV, S. 341). Die

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    Er6rterungen, die unter dem Zeichen dieses Grundsatzes stehen, sind vonder Absicht getragen, "die 'Erweiterung' der phfinomenologischen Reduktion auf die monadische Intersubjektivitfit" (Hua, Bd. VIII, S. 433), die Husserl bereits in dem erw/ihnten Vorlesungstext von 1910/11 angestrebt hare, dann aber ffir eine Zeitlang aus den Augen verlor, nun endlich im Einzelnen durchzufOhren. Sie bewegen sich weitgehend in den Bahnen einerpluralistischen, multipolar angelegten Monadologie. 1o

    Der Auffassungswandel, der sich in der EinfOhrung des Begriffs 'transzen- dentale Allzeit' anmeldet, bringt sowohl in der Zeitph/inomenologie als auch in der Lehre vom Ich und der Person fimderungen mit sich. Die subjektive Zeit der Erlebnisse wird jetzt, wie schon angedeutet, als 'Lebenszeit' - oder auch 'Lebensstromzeit' - gefal3t (Hua, Bd. XV, S. 339). Sie wird so - als 'Selbst- zeit' (Hua, Bd. XV, S. 359) - im engsten Zusammenhang mit der Frage nach der 'personalen Individualit/it' behandelt (Hua, Bd. XV, S. 333). 12 Anderer- seits wird das identische Ich als das "Ich eines Lebens" begriffen (Hua, Bd. XV, S. 451). Der "pure Ichpol" stellt sich als "etwas Abstraktes" heraus (Hua, Bd. XV, S. 541); mehr aber als der Ichpol ist das "Ichleben" (Hua, Bd. XV, S. 452). Allerdings geh6rt zum Ichleben als 'Selbstsein' (Hua, Bd. XV, S. 452) immer auch 'Anderheit' (Hua, Bd. XV, S. 450). Als das Bindeglied von Selbstheit und Andersheit wie auch von Zeitlichkeit und personaler Iden- titfit erweist sich jedoch der Begriff des Lebens. Nicht zuf'~illig hebt Husserl jetzt einmal als das eigentlich Bezeichnende der ph/inomenologischen Ein- stellung hervor, dab sie "die Welt zum Ph~nomen des Lebens" macht (Hua, Bd. XV, S. 540). Die multipolar angelegte, pluralistische Monadologie der sp~iten Aufzeichnungen grOndet in einer Phiinomenologie des Lebens.

    Allerdings bleibt dieser Ausdruck mehrdeutig. Wir versuchen deshalb, die 'lebensphfinomenologische' Grundlage der transzendentalen Monadenlehre dadurch sichtbar und zugleich eindeutiger begreiflich zu machen, dab wir uns zun/ichst die beiden erwfihnten Reihen von fimderungen gesondert vor Augen ~hren, um dann ihr Zusammenspiel in Husserls Bemerkungen fiber 'Lebensweg' und 'Lebensgeschichte' aufzuweisen.

    1. 'Lebenszeit' und 'transzendentale Allzeit'

    Husserls groSe Entdeckung in seinem frtihen Vorlesungtext tiber das 'innere ZeitbewuBtsein',12 den Michel Henry den sch6nsten Text der Ph~inomenologie nennt, l 3 ist, dal3 das jeweilige Jetzt einer 'Urimpression' durch einen Horizont von 'Retention' und 'Protention' umgeben ist. Diese Erkenntnis ist mit dem weiteren Gedanken verbunden, dab die Vergangenheit- und auf andere Weise auch die Zukunft - durch "kontinuierliche Modifikation" aus der Gegenwart entsteht. (Siehe Hua, Bd. X, besonders S. 29 f.) Rudolf Bemet zeigt in sei-

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    ner Einleitung zu Husserls frfihen Texten zur PMinomenologie des inneren Zeitbewufltseins, wie sich Denker wie Merleau-Ponty, L6vinas, Derrida und Ricoeur in den letzten Jahrzehnten immer mehr gegen diese Voraussetzung der ursprOnglichen Ph/inomenologie der Zeiterfahrung gekehrt haben. Als gemeinsame Grundelemente ihrer iibrigens weit auseinanderstrebenden kri- tischen 0-berlegungen hebt er unter anderem hervor, "wie sie alle [. . .] sich gegen eine lineare Bestimmung der zeitlichen Modifikation wenden und wie sie betonen, dab diese Modifikation den Charakter einer ursprOnglichen Diffe- renz hat [...],,14 So findet sich heute das Denken vor eine Streitfrage gestellt, zu der Husserl stillschweigend Stellung nahm, ohne sie eigens erkannt zu haben. Ricoeur faBt den Standpunkt der frOhen Vorlesungen tiber das 'innere ZeitbewuBtsein' im Hinblick auf die gegenw~rtige Problemlage in die fol- gende These: "la modification pr~cdde la diffbrence".15 Es entsteht die Frage, ob diese These auch noch fiir Husserls Sp/itdenken zutrifff.

    Um diese Frage entscheiden zu k6nnen, miissen wir uns in den verwickelten Wechselbeziehungen von 'Lebenszeit' und 'transzendentaler Allzeit' zurecht- finden. 'Transzendentale Allzeit' meint eine Koexistenz von "unOberbrfickbar unterschiedenen" einzelmonadischen 'Lebenszeiten'. (Hua, Bd. XV, S. 336; vgl. S. 335: "unfiberbriickbare Trennung".) Dabei gilt der Satz: keine 'Lebens- zeit' ohne 'transzendentale Allzeit'. Folgt daraus nicht, dab die 'kontinuierli- che Modifikation' nicht mehr das Zeitigungsprinzip des Einzellebens bleiben kann, ohne der 'Differenz' eine Rolle der Mitwirkung einzur/iumen? Ist dieser SchluB in der Tat zu ziehen, so wirff die Einffihrung des Begriffs einer 'tran- szendentalen Allzeit' auf die Streitfrage von 'Modifikation' und 'Differenz' ein v611ig neues Licht.

    Allerdings darf dabei nicht unbeachtet bleiben, dab die 'transzendentale Allzeit' eine "Zeit h6herer Ordnung" ist (Hua, Bd. XV, S. 334 und S. 340) und als solche die einzelnen 'Lebenszeiten' immer schon voraussetzt. Die Wechselbeziehungen zwischen 'Lebenszeit' und 'transzendentaler Allzeit' sind in der Tat h6chst verwickelt. Die Konstitution der 'transzendentalen All- zeir nimmt von "einer Deckung zwischen meiner urmodalen Gegenwart und der fremden" ihren Ausgang (Hua, Bd. XV, S. 334). Dazu miissen also die ein- zelnen 'urmodalen Gegenwarten' im Zusammenhang der sie je umfassenden 'Lebensstromzeiten' bereits gegeben sein. Aus dem Deckungsverh/iltnis, das sie miteinander eingehen, ergibt sich ein "objektives Jetzt", das jedoch kein Jetztpunkt der Naturzeit ist, vielmehr durchaus "str6mende Gegenwart" bleibt (Hua, Bd. XV, S. 334). Das so entstehende 'Zugleich' nimmt in Anmessung an die Interessenhorizonte, die dabei im Spiele sein m6gen, einenje verschie- denen Sinn an: Ffir Kaufleute bestimmt es sich etwa als die gegenw/irtige 'Saison', fill" Staatsm/inner als das laufende 'Etatsjahr', ffir Mitglieder des Parlaments als die andauernde 'Session' (Hua, Bd. XV, S. 397). All die-

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    se Beispiele "gemeinsamer Gegenwart" (Hua, Bd. XV, S. 335) weisen aber offenbar auf die voneinander "abgrundtief geschiedenen ''16 einzelmonadi- schen 'Lebenszeiten' zurfick.

    Die phfinomenologische Zugangsart h/ilt jedoch noch eine letzte Wendung in der Bestimmung des Wechselverh/iltnisses von 'Lebenszeit' und 'transzen- dentaler Allzeit' bereit. Husserl sagt: "Bei genauer Erw/igung kehrt sich hier die Sachlage freilich um gegenfiber der venneintlich selbstverst/indlichen: Nicht sind erst mehrere Seelen, und ist die Frage, unter welchen Bedingun- gen sie miteinander im Dasein 'vertr/iglich' sind, sondern die Frage ist, wie kann ich, wenn ich einer Seele gewiB bin und mich in ihr Eigenwesen [.. .] vertiefe, da entnehmen, dab sie bloB 'eine' Seele ist und nut so sein kann, dab sie also in diesem Wesen selbst verweisen mug auf andere Seelen, dab diese Seele zwar in sich und ~ sich ist, dab sie aber doch nut Siun hat in einer in ihr selbst gegrfindeten, aus ihr selbst zu entfaltenden Pluralit~t?" (Hua, Bd. XV, S. 341.)

    Es ist demnach nicht so, dab wir einen unmittelbaren Zugang zur 'tran- szendentalen Allzeit' finden k6nnten, um unsere eigene 'Lebenszeit' darin zu verorten. Die 'transzendentale .41lzeit' ist vielmehr nur in und durch die ]e eigene "Lebenszeit' gegeben. Dies meint Husserl, wenn er behauptet, dab "jede Einzelseele die Koexistenzform ihrer eigenen Zeit hat" (Hua, Bd. XV, S. 333).

    Der Begriffder Lebenszeit ist von vomherein dazu bestimmt, den im Eigen- wesen der 'Einzelseele' liegenden Verweis aufandere 'Seelen' zum Ausdruck zu bringen. Er ist dazu seiner Natur nach auch durchaus geeignet. Denn Leben ist nie bloB Eigenleben, sondem immer zugleich "Mitleben': Mitwahrneh- men, Mitttrteilen, Mitmeinen und ebensosehr Mitleiden, Mitbegehren, Mit- wollen. (Hua, Bd. XV, S. 342; S. 462; S. 512 f. Vgl. S. 446, S. 452, S. 455.) Ja, auch fiber den Mitvollzug von intentionalen Akten hinaus ist Leben nie bloB Eigenleben, sondern immer auch "Lebenseinheit": "Ich-Du-Gemeinschatt" in der Mitteilung, "Zweieinigkeit der Personen" in der Liebe und was alle Monaden trotz ihrer 'uniiberbriickbaren Trennung' umgreift: "universal kon- stituierte Triebgemeinschaft". (Hua, Bd. XV, S. 342; S. 476; S. 596.)

    Durch die EinfOhrung des letztgenarmten Begriffes er/Jffnet Husserl ein neues Feld der Untersuchungen. Zur Er6rterung steht hiermit nicht mehr nut das 'Ichleben' und die 'ichliche Zeit' (Hua, Bd. XV, S. 451), sondem auch "das radikal Vor-Ichliche" (Hua, Bd. XV, S. 598).

    Wie betriflt die Entdeckung dieser tiefsten Schicht des phfinomenologischen Lebensbegriffes die Streitfrage von 'Modifikation' und 'Differenz'? Husserl scheint die 'kontinuiediche Modifikation' auch weiterhin als das Zeitigungs- prinzip des Einzellebens anzusehen. Er meint nach wie vor, dab nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukuntl "erst durch Wiederer-

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    innerung"-"ihr Verm6gen des Immer-wieder" -"erworben" seien (Hua, Bd. XV, S. 349)17 und dab es deshalb in der Selbstkonstitution darauf ankomme, "die Welt m6glicher Wiedererinnerung als Kontinuum zu erkennen" (Hua, Bd. XV, S. 346). Wie sehr aber der abgrfindige Begriffdes Lebens den Vorrang des so beibehaltenen Kontinuit/itsprinzips in Abrede zu stellen droht, zeigt sich besonders deutlich an einer Stelle, wo Husserl sich auf die ,~nderungen in seiner Lehre vom inneren ZeitbewuBtsein besinnt.

    Er unterscheidet hier im Riickblick auf den eigenen Entwicklungsweg drei Denkabschnitte. Er hat dabei vor allem die den BewuBtseinsstrom durchwal- tende Intentionalit~t vor Augen. Er sagt: "In meiner alten Lehre vom inneren ZeitbewuBtsein babe ich die hierbei aufgewiesene Intentionalit~it eben als Intentionalitfit, als Protention vorgerichtet und als Retention sich modifizie- rend, aber Einheit bewahrend, behandelt, aber nicht vom Ich gesprochen, nicht sie als ichliche (im weitesten Sinn Willensintentionalit~it) charakterisiert." (Hua, Bd. XV, S. 594 f.) Dann ffigt er hinzu: "Sp/iter habe ich die letztere als in einer ichlosen ('Passivit/it') fundierte einge~ihrt." (Hua, Bd. XV, S. 595.) Er verweist damit offenbar auf die Anf'~inge seiner genetischen Ph/inomenologie, wie wir sie aus dem Husserliana-Band Analysen zurpassiven Synthesis ken- nen. (Siehe Hua, Bd. XI, besonders 27, S. 125-128.) 18 Aber er ist jetzt selbst mit dieser bereits veriinderten Behandlungsweise unzufrieden. Er fragt sich: "Dfirfen oder m0ssen wir nicht eine universale Triebintentionalit~it vor- aussetzen, die jede urtOmliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegenwart zu Gegenwart forttreibt derart, daB aller Inhalt Inhalt von Trieberfiillung ist und vor dem Ziel intendiert ist, und dabei auch so, dab in jeder primordialen Gegenwart transzendierende Triebe h6herer Stufe in jede andere Gegenwart hineinreichen und alle miteinander als Monaden verbinden, w~ihrend alle ineinander impliziert sind - intentional?" (Hua, Bd. XV, S. 595.) Mit diesem Gedanken einer 'universalen Triebinten- tionalit~it' enthiillt sich 'ein radikal Vor-Ichliches' unter der Oberfl/iche der 'kontinuierlichen Modifikation', der das identische Ich als "dasselbe eines selbigen Lebens" seine Konstitution zu verdanken hat. 19 Zugleich 1/iBt der Ausdruck 'universale Triebintentionalit~it' die grunds~itzliche Angewiesen- heit des je Eigenen eines Lebens aufFremdes deutlich hervortreten.

    2. Selbstheit und Andersheit

    Die Beziehung des Ich zum Anderen ist mit dem Schieksal des Prinzips der 'kontinuierlichen Modifikation' aufs engste verbunden. Die Verbindung ergibt sich daraus, dab Husserl immer wieder eine Parallele zwischen Fremd- erfahrung und Wiedererinnerung zieht und so das Verh/iltnis des Ich zum Anderen st~ndig in Analogie mit dem Verh/ilmis zwischen dem gegen-

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    w~rtigen und dem vergangenen Ich betrachtet. Diese Analogie ffihrt ihn in den Cartesianischen Meditationen zur Behauptung, daB "der Andere ph~no- menologisch als 'Modifikation' meines Selbst" zu gelten habe. (Hua, Bd. I, S. 144.) Diese Behauptung hat selbst unter Phfinomenologen einen heRigen Widerstand hervorgerufen? in seinen sp/iten Aufzeichnungen scheint auch Husserl sich von dieser ()berzeugung immer mehr zu entfernen. Er drfickt verschiedentlich seine Bedenken aus. Er sagt zum Beispiel: "[...] Ich, gedacht als wie wean ich anders w~ire, das heiBt noch nicht ein anderer." (Hua, Bd. XV, S. 335.) An einer nicht weniger bedeutungsvollen Stelle spricht er dann von dem eigenti~nlichen 'Deckungsverh/iltnis', das die Fremderfahrung zwischen dem Ich and dem Anderen herstellt. Er hebt hervor, dab diese Deckung- im Gegensatz zur Deckung zwischen dem gegenwfirtigen und dem vergangenen Ich - "Deckung (GemeinschaR) in der Anderheif' ist. (Hua, Bd. XV, S. 450.) Er setzt aber gleich hinzu: "Das ist nun leichter gesagt als verstanden- leicht gesagt, ich verbaliere, ganz/iuBerlicherweise auch selbstverst/indlich, dab ich nicht der Andere bin [...] Aber wie ist dieser Unterschied zu verstehen [...]?" (Hua, Bd. XV, S. 450.)

    Eine befriedigende Antwort auf diese Frage ist in den sp/iten Aufzeich- nungen kaum zu finden. Soviel ist klar, dab die Analogie zwischen Fremder- fahrung und Wiedererinnerung mit diesen Bedenken an eine Grenze st6Bt. Umso beachtenswerter ist, dab Husserl sie trotzdem nicht fallenl/iBt. Sie bleibt auch in der Sp~itzeit ein wichtiger Leitfaden der Untersuchungen fiber Selbstheit und Andersheit. Dabei verkehrt sich aber ihr Sinn beinahe in sein Gegenteil. Es wird nicht mehr das Verh/iltnis vom Ich und dem Anderen dem Verh/iltnis zwischen dem gegenw/irtigen und dem vergangenen Ich angegli- chen. Vielmehr dient jetzt das Verh/iltnis des Ich zum Anderen als Vorlage zum Verst/indnis der Beziehungen zwischen dem gegenw/irtigen und dem vergangenen Ich.

    Die "Parallele der Gemeinschaft mit Anderen" (Hua, Bd. XV, S. 416) ist so in den spfiten Forschungsmanuskripten ein Antrieb zur Neufassung der Lehre vom Ich and der Person. Dieses Leitmotiv pr/igt sich in der wiederholt begegnenden Formel 'Ich mit mir selbst in Gemeinschaft' aus (Hua, Bd. XV, S. 398; S. 488; S. 574 f.). Der aufgezeigte Funktionswandel der Analogie zwischen Fremderfahrtmg und Wiedererinnerung w/ire aber kaum m/)glich, wenn Husserl in seinen bereits herangezogenen Ausffihrungen fiber 'Mitle- ben' und 'Lebenseinheit' nicht eine unmittelbare Erfahrung yon Gemein- schaft mit Anderen entdeckt h/iRe. So gehen auch die Ver/inderungen in der Lehre vom Ich und der Person letztlich aufden neu entwickelten Lebensbegriff der sp~iten Aufzeichmmgen zurfick.

    Dieser Begriff bestimmt auch die Bemerkungen, die Husserl den Aus- driicken 'Lebensweg' und 'Lebensgeschichte' widmet. Der Zwitterbegriff,

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    dem unsere Aufmerksamkeit gilt, wird in diesen Bemerkungen vom Leben und Erleben her verstanden.

    3. 'Lebensweg' und 'Lebensgeschichte'

    Die fr0he Lehre der Vorlesungen fiber das 'innere ZeitbewuBtsein' beruhte auf dem Gedanken, dab die "Retention' zwarjede 'Urimpression' in "kontinuier- licher Modifikation' abwandelt, zugleich aber in dieser abgewandelten Form die ganze Vergangenheit des jeweiligen Einzellebens der Wiedererinnerung st/indig zur Verffigung stellt. 21 DaB Husserl in den sp~iten Aufzeichnungen die Wiedererinnemng unter Rticksichtnahme auf die 'Parallele der Gemein- schaft mit Anderen' betrachtet, hat zur wichtigsten Folge, dab er sich immer mehr gezwungen sieht, der Vergangenheit diese restlose Ver~gbarkeit abzu- sprechen. Er behauptet zwar noch immer: "[...] meine Vergangenheit steht mir erinnemngsm/il3ig zu Gebote; wenn ich will, kann ich mir sie wieder vergegenw/irtigen." (Hua, Bd. XV, S. 418.) Jetzt Rigt er jedoch wie eine Warnung hinzu: "Abet das ist nicht so einfach zu sagen?' (Hua, Bd. XV, S. 418.) Denn: "Mein selbiges vergangenes Sein bietet sieh mir in verschie- dener Gegenwart je nach dem lebendig wirksamen Horizont tier Gegenwart sehr verschieden dar, seinerseits in verschiedenem anschaulichen Gehalt und verschiedenem vonder Gegenwart her gewecktem und in Fortweckung vor- schreitendem Horizont." (Hua, Bd. XV, S. 418.) So tritt eine eigentiimliche Unverfiigbarkeit in der eigenen Vergangenheit hervor. Wie es mit mir ein- mal war, steht mir erinnerungsm/iBig erst dann wirklich zu Gebote, wenn es zu einem Horizont geh6rt, der "von der Gegenwart her" gerade "geweckt" wird. Das Prinzip der 'kontinuierlichen Modifikation' erweist sich somit als erg/inzungsbediirftig. Es allein vermag die Entstehung erinnerungsm/iBiger Vergangenheit keineswegs zu erkl~iren. Der angeftihrte Gedankengang legt es nahe, zur Erg/inzung ein Prinzip retroaktiver Konstitution anzunehmen.

    Die in den sp/iten Forschungsmanuskfipten hervortretende Unverffigbarkeit der Vergangenheit weist darauf hin, dab nicht nur die Deckung des Ich mit dem Anderen, sondem auch die Deckung des gegenw~irtigen und des vergangenen Ich eine 'Deckung (Gemeinschaft) in der Anderheit' genannt werden kann. Nicht nur in der Gemeinschaft mit Anderen, sondem auch in der "Gemeinschat~ mit mir selbst' liegt ein Fremdes,in Selbstheit nie v611ig Aufgehendes. Von diesem Fremden, dieser Andersheit in der Selbstheit gilt aber mutatis mutandis dasselbe, was Husserl vonder 'unfiberb~ckbaren Trennung' der Monaden sagt: Sie hindert nicht, ja, sie ist die Bedingung dafOr, dab ich in 'Gemeinschaft' mit mir selbst sein kann, wie die erw/ihnte 'unfiberbr0ckbare Trennung' die Bedingung da~r ist, "dab Monaden sich

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    'decken' k6nnen, dab sie, mit anderen Worten, in Gemeinschaff sein k6nnen" (Hua, Bd. XV, S. 335).

    Ohne diesen Klarblick fiir die Verstrickung der Andersheit in die Selbst- heit und fiir das Unverfftigbare der je eigenen Vergangenheit k6nnte Hus- serl der "allt~glichen" Retie von einem 'Lebensweg' oder einer 'Lebens- wanderung' schwerlich "ein Hauptsttick der Konstitution der vorgegebenen Welt als vorgegebener menschlicher Welt" und "ein Gmndunterschied gegeniiber dem Tier" entnehmen (Hua, Bd. XV, S. 419). Wollte er an tier unverbrtichlichen Geltung des 'Kontinuit/itsprinzips' unbedingt festhalten, so erb6te sich ibm kaum die M6glichkeit, in der durchaus "'vagen' Ein- heit" (Hua, Bd. XV, S. 418), die der Vergleich mit einem 'Wanderweg' dem Ganzen menschlicher 'Lebenszeit' zueignet, das Eigentiimliche eines 'Selbst- seins' (Hua, Bd. XV, S. 452) zu erkennen. Damn l/iBt sich ermessen, wie weit sich Husserl von dem Standpunkt seiner Voflesungen tiber das 'innere Zeit- bewuBtsein' entfemen muBte, um dem Begriff 'Lebensgeschichte' eine Vor- rangstellung zuzuweisen, wie sie ibm in den neuen gedanklichen Vorst6Ben der sp/iten Aufzeichnungen tats/ichlich zukommt. Statt die personale Identit/it dutch das Prinzip 'kontinuierlicher Modifikation' von vomherein gesichert zu wissen, muBte er sich mit der befremdlichen Einsieht vertraut machen, dab 'Selbstsein' eine st/indige Bemiihung um 'Selbsterhaltung' erfordert (Hua, Bd. XV, S. 352 und S. 367, Anm. 1, S. 519 f.), dab das Ich sich deshalb gera- dezu als 'identisches Ich der Widerspriiche' bezeichnen 1/iBt (Hua, Bd. XV, S. 520) und dab man in einem menschlichen Werdegang demgem/iB immer erst im nachhinein soetwas wie Richtung und Sinn entdecken kann, so dab es zu sagen gilt: "Rtickblickend habe ich den Weg als Einheit [...]" (Hua, Bd. XV, S. 419.) Mit einem Worte: Husserl muBte sehr nahe dazu kommen, ein Prinzip retroaktiver Konstitution anzunehmen, urn die 'Selbstkonstitution der Zeitlichkeit der Subjektivit/it' (Hua, Bd. XV, S. 348) als 'Lebensgeschichte' begreifen zu k6nnen.

    All die neuen Gedankenf~iden der sp~iten Aufzeiehnungen, die wir kurz verfolgt haben, laufen im Begriff einer 'universalen Teleologie' zusammen. (Hua, Bd. XV, besonders S. 378-386 und S. 592-597.) Dieser Begriff sehl/igt zugleieh eine Brfieke zu den Forsehungsmanuskripten aus den letzten Lebens- jahren. Der vor kurzem herausgegebene Ergfinzungsband zur Krisis-Abhandl- ung zeigt besonders deutlieh, wie Lebensgeschichte und Menschheitsge- schichte sich in Husserls Denken immer mehr verbinden. Ansfitze dazu finden sich allerdings auch schon frfiher. So heiBt es etwa an einer Stelle im XV. Band der Husserliana-Reihe: ich bin immer "Ich in meiner Tradition" (Hua, Bd. XV, S. 519). Diese Ans/itze entfalten sich wahrend der dreiBiger Jahre in dem Mafle, wie Husserl die Erkenntnis, dab "nicht alle Tradition vorweg bekannte und verffigbar zugfingliche ist" (Hua, Bd. XXIX, S. 343), immer mehr in

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    all ihrer Tragweite zu begreifen vermag. Diese Erkenntnis leitet ihn dazu hin, dem 'Rfickgang auf das Leben', den er mit seiner Spiitphiinomenologie anstrebt, 22 dutch eine "Rtickfrage nach der Sinnbildung" (Hua, Bd. XXIX, S. 345) Richtung zu weisen.

    Es darf hier nicht unerwiihnt bleiben, dab die Bemerkungen fiber 'Lebens- weg' und 'Lebensgeschichte' im XV. Band der Husserliana-Reihe auch einen Vorbehalt zur Sprache bringen. Husserl finder den Ausdruck 'Lebensweg' nicht unbedenklich. Wie er sagt: "Ein Weg im gew6hnlichen Sinne ist vorbe- dacht und vorgewollt [...] So ist es nicht mit dem Lebensweg, obschon es ein nachkommendes Ideal sein mag, dem Ganzen des Lebens 'von nun ab' vor- besinnlich [...] die Einheit eines universalen Zwecksinnes zu erteilen [...]" (Hua, Bd. XV, S. 419.) Diese Feststellung gibt zu einer Wamung und einer Frage Anlal3. Die Wamung lautet: "Nicht von vomherein, und im allgemeinen tiberhaupt nicht, hat das Leben eine solche teleologische Einheit, die alle Son- derzwecke und -handlungen vereinheitlicht." (Hua, Bd. XV, S. 419.) Nicht weniger wichtig ist die Frage: "~e sieht also menschlicher Lebensweg vor dieser ldeal-Bildung aus, und wie versteht sich die konstitutive Motivation, in derer als Einheit erwdchst?" (Hua, Bd. XV, S. 419.)

    Es handelt sich hier allerdings wieder einmal um eine Frage, die unbe- antwortet bleibt. Eine n~ihere Bestimmung des Verh/iltnisses yon personaler Identit/it und universaler Teleologie sucht man im XV. Band der Husserliana- Reihe vergebens. Einer Textstelle liil3t sich aber wenigstens noch ein Wink ent- nehmen, der das Eigenartige in Husserls Auffassung von diesem Verh/iltnisse anzudeuten scheint. Hier spricht Husserl davon, dab "Sein als Mensch" soviel heiBt wie "Sein aus Selbstverantwortung" (Hua, Bd. XV, S. 422). In einem langen Text aus dem Jahre 1937, in dem das Verhiiltnis von personaler Iden- titiit und universaler Teleologie emeut zur Erfrterung steht, kehrt dann dieser Gedanke wieder. (Hua, Bd. XXIX, besonders S. 377.) Wie aber 'Freiheit, sich verantworten zu k6nnen' (Hua, Bd. XXIX, S. 377), und 'Sinnbildung' aus Unverffigbarem sich miteinander im Gewebe einer 'Lebensgeschichte' verkniipfen, bleibt bei Husserl auch in dieser sp/itesten Zeit im Dunkel.

    No~s

    1. Vgl. P. Ricoeur, Soi-mdme comme un autre (Pads: Seuil, 1990), S. 168. Siehe W. Dilthey, Der Aufoau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaflen, Gesammelte Schriften (Stuttgart--G6ttingen: Teubner-Vandenhoeck & Ruprecht, 1965), Bd. VII, S. 191-204 und S. 228-251.

    2. Siehe W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaflen (zit. Ausg.), S. 199 und 203.

    3. Als erster hat Alasdair Maelntyre eine narrative Deutung dor personalen Identitit vorgelegt. Siehe A. Maelntyre, After Hrtue (London: Duckworth, 21987 [11981]), Kap. XV, S. 204- 225. Unabhiingig yon ihm kam dann Paul Ricoeur durch seine Untersuchungen fiber Zeit

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    und Erz~hlung dazu, den Begriff 'narrative Identit~it' zu bilden. Vgl. P. Ricoeur, Temps et rbcit (Paris: Seuil, 1983--1985), Bd. III, S. 355--359; siehe auch P. Ricoeur, Soi-mdme comme un autre (zit. Ausg.), besonders Abhandlung VI, S. 167-198. Im AnschluB an Maclntyre und Ricoeur legten endlich auch Denker wie David Carr und Charles Taylor ~hnliche Gedanken dar. Vgl. D. Carl l~me, Narrative, andHistory (Bloomington: Indiana University Press, 1986), Kap. III, S. 73-99; Ch. Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), S. 47-51; siehe auch S. 288 f. und S. 351.

    4. Siehe A. Maclntyre, After Hrtue (zit. Ausg.), S. 212. Maclntyre wendet sich hier gegen eine Theorie der Geschichtsschreibung, die vor allem Hayden White und Louis O. Mink ausgearbeitet hatten. Die angefuhrte Parole ist eine Antwort auf Minks These 'Stories are not lived but told'. Eine Darstellung dieser Streitfrage in ihrer Entstehung und ihrem Gehalt findet sich in David Carrs Buch Time, Narrativity, and History (zit. Ausg.), besonders S. 7-17 und S. 65-72.

    5. P. Ricoeur, "L'identit6 narrative", Esprit, Nr. 7-8/1988, S. 300: "Nous 6gaions la vie h l'histoire ou aux histoires que nous racontons a son propos."

    6. P. Ricoeur, "Life in Quest of Narrative", in: D. Wood (Hrsg.), On Paul Ricoeur Narrative andlnterpretation (London-New York: Routledge, 1991), S. 32: "Our life [...] appears to us as the field of a constructive activity, borrowed from narrative understanding, by which we attempt to discover and not simply impose from outside the narrative identity which constitutes us."

    7. Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, hrsg. von E. StrOker (Hamburg: Meiner, 1987), S. 78, wo das Wort 'Geschichte' in Anftihrungszeichen gesetzt ist.

    8. Vgl. zum folgenden vom Vf., "Das Zweideutige an Husserls Kopernikanischer Drehung", Mesotes (Wien), 3 (1/1993), besonders S. 132 f.

    9. Vgl. Hua, Bd. XV, S. 371. "Kein Absolutes kann sich der universalen Koexistenz entziehen [...]".

    10. Vgl. M. Richir, "Monadologie transcendantale et temporalisation", S. IJsseling (Hrsg.), Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung (Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers, 1990), S. 151-172, besonders S. 160 f.

    11. Vgl. a.a.O.: "ihre [so. der Eirmelseele] Lebenszeit, die Zeit ihres Verharrens in ihrer personalen Individualitiit".

    12. E. Husserl, Vorlesungen zur Phiinomenologie des inneren Zeitbewufltseins, hrsg. von M. Heidegger, in: dahrbuchfiir Philosophie undphiinomenologische Forschung, Bd. IX (Halle: M. Niemeyer, 1928). Neu hrsg. von R. Boehm in Hua, Bd. X.

    13. M. Henry, Phbnom~nologie matbrielle (Paris: PUF, 1990), S. 33 14. R. Bernet, "Einleitung" zu E. Husserl, Texte zur PMinomenologie des inneren Zeitbe-

    wufltseins (1893--1917) (Hamburg: Meiner, 1985), S. LXII. 15. P. Ricoeur, Temps et r~cit (zit. Ausg.), Bd. III, S. 5 i 16. Siehe Hua, Bd. XV, S. 339: "Die Zeit meines strOmenden Lebens und die meines Nachbarn

    ist also abgrundtief geschieden, und selbst dieses Wort sagt noch in seiner Bildlichkeit zu wenig."

    17. Zu diesem Begriffdes 'Erwerbs' siehe R. Bernet, "L'encadrement du souvenir chez Hus- serl, Proust et Barthes", [~tudes phbnombnologiques 7 (1991), S. 65: "Le re-souvenir ras- sure le sujet, il ressemble it ces contracts d'assurance par lesquels nous nous prrmunissons contre la possibilit6 d'une perte future de ce que nous avons acquis darts le passr?'

    18. Zum Neuartigen der Zeitph~inomenologie, wie sic in diesem Band entwickelt wird, siehe M. Richir, "Synth~se passive et temporalisation/spatialisation", in: E. Eseoubas-M. Richir (dir.), Husserl (Grenoble: J. Millon, 1989), S. 9--41

    19. Vgl. Hua, Bd. XV, S. 347: "[...] das eine Ich als [...] dasselbe eines selbigen Lebens, das seine Seibigkeit darin hat, dab es, sich kontinierlich abwandelnd vonder lebendigen Gegenwart, in der es ursp~nglich lebendiges Leben ist, einerseits fortstrOmend immer Neues in Kontinuit~t erlebt, andererseits verstr~mt und immer weiter und weiter verstr/~mt in die 'Unendlichkeiten' 'der' Vergangenheit."

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    20. Wie K. Held in seinem grundlegenden Aufsatz "Das Problem der Intersubjektivitiit und die Idee einer phiinomenologischen Transzendentalphilosophie" erwiesen hat, beruht Husserls Lehre vom alter ego in der fantten Cartesianischen Meditation auf einer 'Kontaminati- onsformel': der von Husserl wiederholt gebrauchte Wendung 'wie wenn ich dort wiire' bedeutet in einer unentwirrbaren Zweideutigkeit einerseits so viel wie 'wenn ich dort win're', andererseits abet ebensosehr so viel wie 'als ob ich dort wiire'; sie driickt also nicht weniger Irrealitfit als Potentialitiit aus. Siehe U. Ciaesges- K. Held (Hrsg.), Perspektiven transzendentalphdnomenologischer Forschung (Den Haag: M. Nijhoff, 1972), S. 35.

    21. R. Bemet, "L'encadrement du souvenir chez Husserl, Proust et Barthes", [ftudes phd- nomdnologiques (zit. Ausg.), S. 65: "La r6tention tient le pass6 ~ ma disposition, il r6pond 'pr6sent!'/l l'appel de mon re-souvenir."

    22. Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit undMethode (Tiibingen: J.C.B. Mohr [Paul Siebeck] 41975 [11960]), S. 244.