The European 3/2014

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    Themensitzung

    Wo beginnt und wo endet Debatte? Wie nhert man sich dieser

    zuweilen tzenden Gemengelage unbequemer Haltungen?

    Liebe Leserinnen und Leser,

    es ist diese Herausforderung vom richtigen Umgang mit den Ideen der anderen, die uns

    als Redaktion eines Debatten-Magazins besonders beschftigt. Eine Anekdote: Wie soll

    unsere Gesellschaft in zehn Jahren aussehen? Diese Frage stellten wir Ende 2009 den

    Jugendorganisationen der Parteien. Aber auch der NPD? Die Partei sa immerhin in Land-

    tagen und auch wenn ihre Ansichten mindestens fragwrdig sind, korrespondierte diesem

    moralischen Einwand kein juristischer. Drfen wir sie dennoch ignorieren?

    Fragen wie diese sind Grund genug, pnktlichzum fnften Geburtstag des The European der

    deutschen Debatten-Kultur nachzuspren: Was

    wird man in Deutschland wohl noch sagen drfen?

    Diese Frage haben wir Menschen gestellt, die eine Antwort darauf haben, da sie selbst Teil

    einer Debatte waren. Freuen Sie sich u. a. auf Gesprche mit Jrg Kachelmann (S. 66),

    Thilo Sarrazin (S. 61) und Gabriele Pauli (S. 68).

    Infokriege sind eine Meinungsschlacht ganz anderer Art. Von Peking bis Moskau und

    Caracas nimmt ein neuer, kampflustiger Journalismus westliche Medienhuser in die

    Zange: Es ist ein Kampf um die globale Deutungshoheit. Lesen Sie dazu u. a. den Kom-

    mentar des ehemaligen Al-Jazeera-Direktors Wadah Khanfar (S. 35) sowie unser Gesprch

    mit der Schriftstellerin und Brgerrechtlerin Juli Zeh (S. 42).

    Der dritte Kampf, dem wir uns widmen, ist der um die Rettung der Welt. Was ist eigentlich

    aus der Energiewende geworden? Fr die nrdlichen Bundeslnder kommentiert Torsten

    Albig, Ministerprsident Schleswig-Holsteins (S. 110), fr den Sden bezieht sein grner

    Amtskollege Winfried Kretschmann aus Baden-Wrttemberg Position (S. 107).

    In weiteren Debatten gehen wir den Fragen nach, warum die Deutschen so eisern an den

    Staat und seine Brokratie glauben (S. 18 + Gesprch mit Christian Lindner), ob Technik-

    angst in Zeiten von Fukushima und Golden Rice eher ein Problem oder doch gesunde

    Vorsicht ist (S. 116 + Gesprch mit Peter Singer) und warum es heute schwierig ist wie

    nie zuvor, mit seinem Krper ins Reine zu kommen (S. 72 + Gesprch mit Susie Orbach).

    Unsere Gesprchsreihe Neuropa bestreitet der australische Historiker Christopher Clark

    (S. 146) und im Gesellschaftsgesprch geht es mit Kult-Regisseur David Lynch (S. 152)

    zur Sache.

    brigens: Nach langer Diskussion haben wir uns gegen eine Anfrage bei der NPDent-

    schieden. Der Bauch siegte, Journalisten sind eben auch nur Menschen.

    Ihre Redaktion

    ICH MISSBILLIGE, WAS DU SAGST, ABER WRDE BISAUF DEN TOD DEIN RECHT VERTEIDIGEN, ES ZU

    SAGEN EVELYN BE ATRICE HA LL 1868 1956

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    STAATSLIEBEWarum glaubt niemand so blind an Vater Staat wie die Deutschen?

    Die verschiedenen Gesichter des LiberalismusBODO HOMBACH 21

    Deutsche UntertanenmentalittLUDWIG THEODOR HEUSS 23

    Wo Staat ntig i stBODO RAMELOW 26

    Ich bin der grte Freund des StaatesGESPRCH MIT CHRISTIAN LINDNER 28

    18

    03

    THEMENSITZUNG

    08

    SPRUCHREIF!

    10

    FLOTTER DREIER

    Debatten aus der Schweiz,

    sterreich und Luxemburg

    12

    KOLUMNE

    Thomas Ramge:

    Meaning ist das neue Money

    14

    KOLUMNE

    Christoph Schlegel:

    Demografischer

    Schlafwandel

    16

    KOLUMNE

    Meike Bttner:

    Von groen und kleinen

    Monstern

    17

    KOLUMNE

    Peter Wittkamp:

    Bekriegssystem

    DEBATTENKULTURWas darf man noch sagen und wo hrt der

    Spa auf?

    Auch bei Stalin konnte jeder allessagenGESPRCH MIT THILO SARRAZIN 61

    Pbeln, beleidigen, bedrohen allesim Namen der ToleranzGESPRCH MIT BIRGIT KELLE 63

    Jeder Scharlatan bekommt ein Forumfr seinen StussGESPRCH MIT JRG KACHELMANN 66

    Eine Frau gegen alleGESPRCH MIT GABRIELE PAULI 68

    So schamlosGESPRCH MIT ROGER WILLEMSEN 70

    58

    Unsere Debatten

    INFOKRIEGWer gewinnt den Kampf um die

    Deutungshoheit?

    US-Medien verspielen ihre Glaub-wrdigkeitWADAH KHANFAR 35

    Die dreckigen Tricks der K lima-skeptikerJA MES HO GG AN 37

    So funktioniert der InfokriegLUCIANO FLORIDI 39

    Wer Verschwrungstheorie sagt,

    fordert DenkverboteGESPRCH MIT JULI ZEH 42

    Ein unsichtbarer KriegBILDSTRECKE VON RICHARD MOSSE 46

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    KAMPFZONE KRPERWarum drfen wir uns in unserer Haut nicht mehr wohlfhlen?

    Gesunder Krper, gesunder GeistCHRISTIAN ZIPPEL 75

    Die Imperative der SchnheitsindustrieDANIEL KBLBCK 77

    Hassobjekt KrperJE NN IFE R C OP EL AN D 80

    Zwanghaftes Training ist das Gleiche wie EsssuchtGESPRCH MIT SUSIE ORBACH 82

    Alte PlayboyhasenBILDSTRECKE VON ROBYN TWOMEY 86

    72

    146

    GESPRCHSREIHE NEUROPA

    Christopher Clark: Die Deutschen

    haben sich gedrckt

    152

    GESELLSCHAFTSGESPRCH

    David Lynch: Jeder kann das Rtsel

    entschlsseln

    156

    KOLUMNE

    Jennifer Nathalie Pyka: Krieg der

    Schwrme

    157

    KOLUMNE

    Hasso Mansfeld: Thema verfehlt

    158

    KOLUMNE

    Julia Korbik: Schlssel zur Freiheit

    160

    IMPRESSUM

    161

    EDITORIAL DES CHEFREDAKTEURS

    Alexander Grlach:

    Streitlust162

    DEBATTENSTOFF

    Die Redaktion stellt die 10 besten

    Ideen des Hefts vor

    ENERGIEWENDE &KLIMASCHUTZWas ist eigentlich aus der Welt-

    rettung geworden?

    Schluss mit nationalen Klima-zielenOLIVER GEDEN 105

    Endlich Spielregeln festlegenWINFRIED KRETSCHMANN 107

    Auf dem richt igen WegTORSTEN ALBIG 110

    Ich werde nicht mit erhobenemZeigefinger durch die GegendlaufenGESPRCH MIT BARBARA HENDRICKS 112

    102

    TECHNIKANGSTVerspielen wir unsere Zukunft?

    Irrationale AngstVINCE EBERT 119

    Warnung aus JapanKENICHI MISHIMA 121

    Wissenschaft hilf tROLFDIETER HEUER 123

    Wir mssen vorsichtiger mit unsererVorsicht umgehenGESPRCH MIT PETER SINGER 126

    Toaster-Bau in EigenregieBILDSTRECKE VON THOMAS THWAITES 130

    116

    PLUS EINS:KOMMUNISMUSIst er in der Krise eine

    Alternative?

    Freihandel hilft vor allem denMchtigenGESPRCH MIT ROBERT REICH 98

    98

    KLAGEN BER DIE JUGENDDie historische Debatte

    Fiese StreicheMARK TWAIN 139

    Dstere ZukunftPLATON 141

    Strmisches TemperamentFJODOR DOSTOJEWSKI 143

    136

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    2010 2011

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    FIEBERKURVE

    Auf dieser Doppelseite sehen Sie, wieviele Leserbriefe wir im Lauf der letztenfnf Jahre auf www.theeuropean.debekommen haben. Die Spitzen stehenfr besonders heftig gefhrte Debatten.Ob Stuttgart 21, Deutschland schafftsich ab oder die Causa Wulff: Zuden grten Kontroversen haben wir

    zustzlich besonders skurrile und schneZuschriften herausgesucht. Pnktlichzum fnften Geburtstag des Magazinswerfen wir also einen Blick auf unsereeigene Debatten-Kultur.

    SPRUCHREIF!

    06/02/2010: ADOERNOR

    KOMMENTIERT SCHWARZ

    GELB 01/09/2010: WILFRIED WHLER

    KOMMENTIERT SARRAZIN

    27/02/2011: DIETRICH

    KOMMENTIERT GUTTENBERG

    20/06/2011:JRG BEHLEN KOMMENTIERT

    ZWEITES RETTUNGSPAKET GRIECHENLAND

    13/10/2010: PETERS KOMMENTIERT

    STUTTGART 21

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    17/02/2012: DERBLONDEHANS

    KOMMENTIERT WULFF RCKTRITT

    29/01/2013: MARTIN KOMMENTIERT

    BRDERLE DEBATTE

    11/06/2013: LORD_MORD

    KOMMENTIERTPRISM

    26/02/2014: STAATSBRGER

    KOMMENTIERT MATUSSEK

    04/08/2012: P. FELDMANN KOMMENTERT PUSSY RIOT

    05/08/2012: P. FELDMANN

    04/08/2012: BECK

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    KOLUMNE BULLSHITBINGO

    MEANING IST DAS

    NEUE MONEY

    Die schnsten Formulierungen aus

    Gesprchen mit Entscheidern. Teil 8:Up or out!

    Mein Freund Jan-Friedrich ist Strategie-

    berater. Principal. Es geht ihm nicht

    gut. Wir sitzen im Green Door. Ich habe

    es satt, Blitzableiter zu sein. Oder Eseltrei-

    ber. Oder am Ende sogar ein Krankheits-

    bertrger, sagt Jan-Friedrich. Da steht

    sein Drink noch nicht einmal vor ihm.

    Der Barkeeper schttelt ihn gerade.

    Oha. Beziehungsweise: Wow.

    McKinsey-Berater knnen auch bei derSelbstanalyse gnadenlos sein. Ich habe

    zwar eine vage Ahnung, warum Jan-Fried-

    rich ausgerechnet mich als Sparringspart-

    ner fr die Suche nach mehr Meaning

    ausgesucht hat. So wird er es zumindest

    nach vier Whiskey Sour nennen. Aber

    dass er so schnell zum Punkt kommt.

    h, wie meinst du das?, frage ich. Der

    Barkeeper stellt das Kristallglas mit

    dezent geschliffenem Karomuster hin. Jan-

    Friedrich leert die Hlfte in einem Zug.Gegenfrage: Was macht ein Berater?

    Die landlufige Vorstellung wre: Er

    bert, weil er sich in bestimmten Dingen

    besser auskennt.

    Falsch! Er sucht nach Zahlen, die

    Entscheidungen schlssig begrnden.

    Damit meine ich Entscheidungen, die das

    Management bereits getroffen, aber noch

    nicht verkndet hat. Dabei gibt es zwei

    Mglichkeiten, beide sind scheie. Wenn

    auch in unterschiedlichem Grad.

    Nmlich?

    Option A: Die Entscheidung ist in-

    haltlich richtig. Aber der Vorstand

    braucht einen Blitzableiter, an dem sich

    alle Aggression entldt. Kein gutes Ge-

    fhl, aber damit kann man noch leben

    und sich denken: Schade, dass der Vor-

    stand kein Rckgrat hat, aber immerhin

    wird hier nicht grundstzlich gegen wirt-

    schaftliche Prinzipien verstoen. Der

    Berater hat eine Funktion, wenn auch

    nicht die, fr die er offiziell eingekauftwird. Wir kassieren dann im Grunde ein

    Schmerzensgeld. Mein Mitleid ist be-

    grenzt. Jan-Friedrich hat mir mal nachacht Whiskey Sour erzhlt, dass er

    300.000 im Jahr macht. Ohne Bonus.

    Ich verkneife mir eine Bemerkung, son-

    dern frage:

    Und was ist Option B?

    Wenn die Entscheidung inhaltlich

    falsch ist, bekommen wir eine schlssig

    klingende Begrndung zwar auch

    immer irgendwie hingebogen. Aber

    dann sitzt du im Flieger nach Hause

    und denkst: Warum bezahlt dich einer

    dafr, dass du einen Scherbenhaufenhinterlsst?

    Wir nehmen einen Schluck. Jan-

    Friedrich fhrt fort: Und auerdem

    kennen wir uns auch nicht besser aus.

    Nicht?

    Nein. Wir haben nur eine aus-

    geprgte Inkompetenz-Kompensations-

    kompetenz.

    Hehe.

    Wir sind verdammt gut darin,

    uns schnell in irgendein Thema ein-zuarbeiten, und dann Expertentum zu

    simulieren.

    Er macht sein Glas leer. Ich auch. Jan-

    Friedrich geht kurz pinkeln. Auf dem

    Rckweg von der Toilette signalisiert er

    dem Barmann mit zwei Fingern, dass wir

    noch sehr durstig sind. Mit etwas Mhe,

    rutscht er auf den Barhocker, findet sein

    Gleichgewicht. Sein ueres. Mit dem

    inneren sieht es nicht so gut aus: Ver-

    dammte Scheie. Wir Berater sind doch

    nur hochbezahlte Klugscheier. Und das

    bei maximaler Verantwortungslosigkeit.

    Und was folgt daraus?, frage ich.

    Ich muss mein Leben in drei Dimen-

    sionen optimieren: Work-Life-Balance,

    Perspektive und Meaning!

    Meaning ist das neue Money, sage

    ich. Habe ich irgendwo gelesen.

    Jan-Friedrich nickt. Dann strzt er

    seinen neuen Whiskey Sour runter und

    legt 100 Euro auf den Tisch. Er steht up.

    Und sagt: I am out!Bingo!

    THOMAS RAMGE IST TECHNOLOGIE

    KO RRESPO N DEN T DES WIRT SCHAFT S

    MAGAZINS BRAND EINS UND

    SCHREIB T AL S CO N T RIB U T IN G EDIT O R

    FR THE ECONOMIST. ER IST AUTOR

    M EHRERER B EST SEL L ER. Z U L ET Z T

    VERFFENTLICHTE ER EQUITY STORY

    TELLING ZUSAMMEN MIT VEIT

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    www.theeuropean.de/thomas-ramge

  • 8/12/2019 The European 3/2014

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    DAS WIRDMAN JA WOHLNOCH SAGENDRFEN ber die Debatten-Kultur

    in Deutschland.

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    I ch bin nicht nur berzeugt, dass das, was ich sage,falsch ist, sondern auch das, was man dagegensagen wird. Trotzdem muss man anfangen, davon zu

    reden, so beschreibt Robert Musil 1922 in seinem

    Essay Das hilflose Europa, wie man gegen die geis-

    tige Orientierungslosigkeit nach dem Ersten Welt-krieg vorgehen knnte. Seine Aussage ist aktuell wie

    lange nicht. Denn in den vergangenen Jahren hat

    sich in Deutschland ein anscheinend unberwind-

    barer Graben aufgetan, ein Graben der Intoleranz.

    Zwei Seiten stehen sich unerbittlich gegenber.

    Die eine fordert ultimative Toleranz fr alles, was

    sie sagt. Die andere Seite fordert ultimative Toleranz

    fr alles. Whrend fr die eine Seite schon das Wort

    Schwarzer ein Skandal ist (aktuell politisch korrek-

    ter Begriff: Person of Color), verwenden die ande-

    ren immer skandaltrchtigere Wrter wie EUdssR,

    um die dramatische Situation darzulegen, in der sich

    die Gesellschaft angeblich befindet. Beide Seiten eint

    dasselbe Problem, obwohl sie das natrlich nie zuge-

    ben wrden: Sie sind Opfer von Tretmhlen.

    DIE SPRACHE WIRD KRASSER, DIE UMSTNDE

    BLEIBEN GLEICH

    Der Psychologe Steven Pinker beschreibt das Phno-

    men, dass euphemistische Wortneubildungen stets

    die negativen Assoziationen der Vorbegriffe aufneh-

    men. Er nennt das die Euphemismus-Tretmhle.Wrter werden zwar immer wieder ausgetauscht:Aus dem Neger wird der Schwarze wird die Person

    of Color die Diskriminierung wegen der Haut-

    pigmentierung (noch so ein Wort, keiner sagt mehr

    Hautfarbe) bleibt gleich. Und die andere Seite? Dort

    hat sich eine Dyphemismus-Tretmhle etabliert:

    Aus dem Demokratiedefizit der EUwird die Euro-kratie, wird die EUdssR die Wrter werden immer

    bedrohlicher, die Kritik an der EUbleibt im Kern

    die gleiche.

    Dieses zunchst rein sprachliche Phnomen deu-

    tet auf ein groes Problem hin. Denn wenn sich an

    den ueren Umstnden wenig ndert, die Sprache

    aber krasser wird, dann wird es immer schwieriger,

    einen Diskurs zu fhren. Wer die richtigen Vokabeln

    nicht kennt, darf nicht mitreden. Wer die falschen

    Vokabeln verwendet, wird ausgeschlossen. Der De-

    battensprech zwischen diesen beiden Polen ist auf

    einem Tiefpunkt angekommen: Anstatt sich inhalt-

    lich auseinanderzusetzen, wird auf der einen Seite

    die Verrohung der Sprache angeprangert, auf der an-

    deren Seite stndig Zensur! gerufen.

    Das ist ein Problem, das der Rest des Landes zu

    spren bekommt. Dort sind die Debatten zwar wie

    eh und je: also langweilig (im Parlament), mit leich-

    tem Einschlag nach links (in den Medien) oder mitHang zum Krawall (am Frhstcks- und Stamm-

    tisch). Was sich verndert hat, sind die Strfeuer, die

    die alte Ordnung kaputt machen. Wo frher hchs-

    tens der Journalist und der Politiker mit Presse-

    mappe mitbekommen haben, was im Land geschrie-

    ben und gesendet wurde, ist man heute innerhalbkrzester Zeit ber die Meinungslage informiert.

    Vieles von dem, was sich frher versendet htte

    oder im Altpapier gelandet wre, wird heute bei You-

    Tube hochgeladen oder als Screenshot rumgereicht.

    Und es geht noch weiter: Whrend frher eine hohe

    Zahl aufgebrachter Menschen ntig war, bis bei Me-

    dien oder Politik des Volkes Zorn ankam, reicht heute

    ein Blog-Eintrag, ein Tweet oder eine Online-Petition.

    Anstatt sich diesen neuen Mglichkeiten zu stel-

    len, sie gar zu nutzen, sind die Mchtigen bisher

    wenig souvern mit den neuen Strfeuern umgegan-

    gen. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel Thilo

    Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab als

    nicht hilfreich bezeichnet ohne es gelesen zuhaben , ist vor allem ihre uerung nicht hilfreich.

    Wenn die Medien Sarrazins Bcher ignorieren, ob-

    wohl sie immer wieder die Bestsellerlisten strmen,gilt das Gleiche. Noch immer fhlen sich Journalis-

    ten als die einzigen Gatekeeper und die Politiker als

    die einzigen Entscheider.

    EINE PLATTFORM FR JEDE MEINUNG

    Es fehlt die Erkenntnis, dass manche Themen auch

    abseits der alten Kanle gesetzt werden. Das kann

    man kritisieren, man darf es aber nicht runterspielen.

    Natrlich macht es die Debatte nicht leichter, wenn

    einem ein wtender Mob im Internet gegenbersteht.

    Und wie hilfreich Sarrazins Meinungen tatschlich

    sind, darber lsst sich trefflich streiten. Aber eine

    Demokratie sollte es aushalten, ber ein Buch zu dis-

    kutieren, ohne dass gleich das Abendland untergeht.

    Der aus Kreisen der EUdssR-Verschwrer und

    Konsorten vorgebrachte Vorwurf, einzelne The-

    men wrden tabuisiert oder gar zensiert, ist na-

    trlich nicht haltbar. Fr jede erdenkliche Mei-

    nung gibt es eine Plattform. Und bis eine Meinung

    ILLUSTRATION: LUIS F. MASALLERA

    -

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    Konsequenzen hat, muss schon sehr viel passieren.

    Der Groteil der Meinungen trgt vor allem zur Plu-

    ralitt der Meinungen bei.

    Man muss aber nicht gleich von Sprechverboten

    und Zensur reden, um sich kritisch mit der deut-

    schen Debatten-Kultur zu beschftigen. Um zu erfah-ren, wie es nun wirklich um sie bestellt ist, haben wir

    mit Menschen gesprochen, die es wissen mssen.

    Denn sie waren und sind selbst Teil einer Debatte.

    Ihre Diagnose, so viel vorweggenommen, fllt er-

    nchternd aus: Die Debatten-Kultur in Deutschland

    schwchelt in beiden Wortteilen, bei den Debatten

    wie bei der Kultur.

    Um zu verstehen, wie fatal das ist, muss man

    noch einmal Robert Musil lauschen. Der schreibt

    nmlich weiter: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte,

    sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder

    neuen Meinung, die man hineinstopft, seine Formndert, aber immer fester wird.

    Wir wollen mit unserer Debatte dazu beitragen.

    VON THORE BARFUSS IM NAMEN DER REDAKTION

    THILO SARRAZIN

    AUT OR

    GESPRCH S. 61

    BIRGIT KELLE

    PUBLIZISTIN

    GESPRCH S. 63

    JR G K ACH ELMANN

    MODERATOR UND UNTERNEHMER

    GESPRCH S. 66

    GABRIELE PAULI

    EHEMALIGE POLITIKERIN

    GESPRCH S. 68

    ROGER WILLEMSEN

    SCHRIFTSTELLER

    GESPRCH S. 70

    ES DEBATTIEREN

    DIESE DEBATTE IST EIN EXPERIMENT: ALLE GESPRCHE HABEN

    WIR VORAB BEREITS AUF W WW.THEEUROPEAN.DE VER

    FFENTLICHT. DIE INTERESSANTESTEN LESERBRIEFE ZU DEN

    GESPRCHEN DRUCKEN WIR HIER AB, UM AUCH UNSERE

    EIGENE DEBATTENKULTUR ABZUBILDEN.

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    KULTUR DES

    KLEINSTENRISIKOS

    Wir Deutschen frchten uns vorGentechnik, Atomkraft und Co. hchste Zeit, unser Verhltnis zu neuerTechnologie unter die Lupe zu nehmen.

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    T echnikpessimismus macht mir Sorgen. Ich binvllig berzeugt davon, dass Technik ein Segenist solange man sie richtig anwendet und den rich-

    tigen Nutzen aus ihr zieht.

    Die oft ablehnende Haltung gegenber dem Fort-

    schritt stammt daher, dass Technik hufig nicht aus-

    reichend reflektiert wird. Wie sehr wir von den Ideen

    und der Forschung unserer Altvorderen profitieren,wird klar, wenn wir uns ihre Produkte fr einen Mo-

    ment wegdenken wrden: Auf vieles mssten wir

    verzichten. Schon ein Fahrrad ist technischer Fort-

    schritt, ein Auto ist eine Innovation und Mobiltele-

    fone basieren selbstverstndlich auf Ideen von vor

    weit ber hundert Jahren. Der bergang vom Ker-

    zenlicht zur Glhbirne war ein Riesenschritt und

    niemand mchte mehr darauf verzichten. Die Liste

    liee sich ewig lang ausfhren.

    Dass die heutige Technik aus der Grundlagen-

    forschung von einst entstanden ist, macht sich aber

    leider nicht jeder klar. Daraus ergibt sich dieses Un-

    behagen in der Gesellschaft; ein Unbehagen davor,neue Schritte zu gehen und dabei in Bereiche vorzu-

    stoen, die einem bislang unbekannt waren. Es ist

    die Angst vor dem Neuen, der Ungewissheit und den

    Risiken, die man zwar noch nicht erkennen, dafr

    aber frchten kann. Aus diesem Grund schwindet

    die Akzeptanz fr den technologischen Fortschritt

    und Forschung, insbesondere wenn diese schwer zu

    fassen oder zu erklren sind.

    Unsere Arbeit am CERN ist sehr abstrakt: Wir

    erforschen die Grundbestandteile des Universums.Das Unbekannte spielt dabei eine sehr groe Rolle,

    Wenn die Bevlkerung ein Unbehagen

    vor der Technik versprt, is t es

    Aufgabe der Wissenschaft, etwas daran

    zu ndern.

    von ROLF-DIETER HEUER denn es geht dabei auch um die Beantwortung von

    Fragen, die uns heute noch vor groe Rtsel stel-

    len z. B. wie sich das Universum in den ersten

    Sekundenbruchteilen seines Lebens entwickelte. Die

    Frage knnen wir Physiker auch nicht beantworten.

    Unsere Forschung ist daher eine spannende Arbeit

    im Grenzbereich des Wissens, eine Arbeit, die oft-mals schon in die Bereiche der Philosophie und der

    Theologie vorstt. Trotz aller zuletzt erlangten wis-

    senschaftlichen Erkenntnisse, wie der Entdeckungdes Higgs-Bosons, bleiben noch jede Menge Fragen

    offen und oft konnten wir bislang nur fundierte Extra-

    polationen machen von dem heutigen Wissen zu-

    rck bis zum Urknall.

    Neuland zu betreten, liegt in der Natur der Grund-

    lagenforschung. Und selbstverstndlich ist Angst ein

    natrlicher Teil der Erkundung von Neuland. Umso

    wichtiger ist es, unsere oft schwer zu fassende Arbeit

    auf verstndliche Art und Weise zu vermitteln und

    Fragen, die uns gestellt werden, nach bestem Wis-

    sen und Gewissen zu beantworten.

    WIR MSSEN DIE GRBEN VERKLEINERN

    Vor der Inbetriebnahme des Large Hadron Colliders,

    dem Herzstck der Forschungsanlage am CERN,

    haben wir genau dies getan. Anfangs gab es gegen

    die Anlage sogar Protest aus der Bevlkerung, die

    sich durch sie bedroht fhlte. Uns wurde damals klar,

    wie gro der Graben zwischen Bevlkerung auf der

    einen, und Wissenschaft und Technik auf der an-

    deren Seite tatschlich ist. Ich glaube: Als Wissen-

    schaftler ist es unsere Aufgabe, diese Grben nachMglichkeit zu verkleinern.

    Vom Risiko lernen

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  • 8/12/2019 The European 3/2014

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    STREITLUST

    AL EX AN DE RP LAT Z ED ITO RIAL DE S C HE FR ED AK TE UR S

    AL EX AN DE R G RL AC H IST CHE FREDAK TEUR UND H ERAUSGE BER VON THE E UROPEAN. IM HERBST 2014 ER

    SCHEINT SEIN BUCH WIR WOLLEN EUCH SCHEITERN SEHEN. WIE DIE HME UNSER LAND ZERFRISST BEI CAMPUS.

    Bei allem Zoff geht die Freude am Debattieren verloren. Die Gesellschaft steht voreinem Kollaps.

    Wir whlen diese Menschen, kaufen ihre Musik, gehen in ihre Filme, feuern sie

    im Stadion an. Wir bewundern sie und beneiden sie zur selben Zeit; wir sind fr ihrenAufstieg verantwortlich. Wir knnen ihren Abstieg befeuern. Aus dieser Mischung

    entsteht der Cocktail, der am Ende nach Hme schmeckt.

    Ob Christian Wulff, Andreas Trck, Uli Hoene, Annette Schavan, Jrg Kachel-

    mann, Rainer Brderle oder Karl-Theodor zu Guttenberg: Wir wollen sie scheitern

    sehen und stellen diese Menschen erbarmungslos an den ffentlichen Pranger.

    Die Unschuldsvermutung spielt keine Rolle; wir wollen uns nicht stren lassen beim

    Runtermachen. Um Sachargumente geht es dabei nicht mehr. Auch der vermeint-

    liche oder echte Fehltritt ist uns ziemlich egal.

    In den Talkshows des Landes werden Maximal-Posi-

    tionen gegeneinandergestellt. In der Diskussion geht esnicht darum, Lsungen fr drngende Fragen zu finden,

    sondern die Grben weiter und tiefer zu machen. Die

    ffentlichen Foren der Konsensbildung kommen ihrer Aufgabe nicht nach. Am Ende

    stehen sich die Lager unvershnlich gegenber, der Dialog erlahmt oder kommt im

    schlimmsten Fall zum Erliegen.

    Thilo Sarrazin, Akif Pirinci und Sibylle Lewitscharoff gehren zu den Scharf-

    machern des Landes. Vor ihre Thesen stellen sie den Satz: Das wird man ja wohl

    noch sagen drfen. Sie verkennen: Sie drfen auch. Die Auslagen in den Buch-

    handlungen, die Namensartikel, die Einladungen ffentlich zu sprechen zeigen es:

    Man darf sagen, man darf so ziemlich alles sagen. Man darf aber auch und das

    vergessen die genannten Herrschaften alles Gesagte kritisieren. Mundtot gemacht

    werden, sieht anders aus. Die Scharfmacher gieen Brandbeschleuniger auf die Hme.

    Was sagen diese Beispiele ber unsere Debatten-Kultur? Dass wir vor einem

    Kollaps stehen. Uns fehlt die Empathie fr den anderen und damit auch das Ver-

    stndnis dafr, wie er zu seiner Meinung gekommen ist. Wir kennen keinen Respekt

    mehr und wahren keine Distanz, sondern schieen scharf und persnlich. Milde

    und Barmherzigkeit fehlen in unseren Diskursen.

    Die Hme ist die einzige Emotion, mit der wir noch ein gesellschaftliches Wir

    erzeugen. Die da oben machen wir verchtlich und berziehen sie mit Hme. Die

    Hme ist die kleine Schwester des Neides, einer Todsnde. Ihre letale Wirkung

    begrenzt sich nicht auf die Prominenten, sondern befllt die ganze Gesellschaft und

    verndert das Verhalten der Menschen, sei es in einer Gewerkschaft oder bei den

    katholischen Landfrauen.Dieser Prozess wird die Vereinzelung in unserer Gesellschaft beschleunigen und

    vorantreiben: Denn wer mchte unter diesen Umstnden noch ein Amt, ein Mandat

    annehmen oder sich einfach nur in einer Gruppe Menschen uern, wenn perma-

    nent die Gefahr besteht, verchtlich gemacht zu werden? Die Frage, wie wir Debatten

    fhren, ist daher eine entscheidende fr die Zukunft unserer Gemeinschaft.

    HME IST DIE EINZIGE EMOTION, MIT DER

    WIR NOCH EIN GESELLSCHAFTLICHESWIR ERZEUGEN

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