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Herausgegeben von Maria Borcsa Michael Broda Volker Köllner Henning Schauenburg Wolfgang Senf Barbara Stein Bettina Wilms Psychotherapie im Dialog Psychoanalyse, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Humanistische Therapien Nr. 1 | März 2012 | 13. Jahrgang Diagnostik und Evaluation

Thieme: PiD1 - Diagnostik und Evaluation · Katharina Köck · Wolfgang Lutz 16 Mit Karte und Kompass – OPD im Alltag ... Alexander Heimbeck · Katharina Alexandridis Diagnostik

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Herausgegeben vonMaria BorcsaMichael Broda Volker KöllnerHenning SchauenburgWolfgang SenfBarbara SteinBettina Wilms

Psychotherapieim Dialog

Psychotherapie im D

ialog

Psychoanalyse, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Humanistische Therapien

Diagnostik und Evaluation • H

eft 1 • März 2012 • 13. Jahrgang • Seite 1–98

Nr. 1 | März 2012 | 13. Jahrgang

Diagnostik und Evaluation

Editorial1 Diagnostik und Evaluation – zähneknirschend oder neugierig?

Henning Schauenburg · Volker Köllner

Standpunkte2 Psychotherapie braucht strukturierte Diagnostik!

Jürgen Hoyer · Susanne Knappe

6 Risiken und Nebenwirkungen strukturierter Diagnostik –Oder: Wie viel strukturierte Diagnostik braucht Psychotherapie?Eva Maria Meiser-Storck

Aus der Praxis

Richtungen und Verfahren10 Therapieverlaufs- und Ergebnismessung im Rahmen einer patientenorientierten

PsychotherapieforschungKatharina Köck · Wolfgang Lutz

16 Mit Karte und Kompass – OPD im AlltagJohannes C. Ehrenthal

22 Klinische RessourcendiagnostikBodo Klemenz

26 Wer findet was? – Vergleich von klinischer Diagnostik und strukturiertemInterview bei Angst- und AnpassungsstörungenSaskia Terber · Isabella Untersinger · Volker Köllner

Anwendungen, Schritte zur Integration, spezielle Settings30 Diagnostik in der Traumatherapie

Laura Pielmaier · Andreas Maercker

36 Depressionsfragebögen für den alltäglichen klinischen EinsatzBenjamin Gierk · Inka Wahl

41 Diagnostik bei somatoformen Störungen und chronischem SchmerzClaas Lahmann · Andreas Dinkel

46 Löst „CSSD“ die somatoformen Störungen ab?Heinz Rüddel · Winfried Rief · Joel Dimsdale

49 Diagnostik von PersönlichkeitsstörungenSerge Sulz

54 Diagnostik und Evaluation in der Klinischen BewegungstherapieAlexander Heimbeck · Katharina Alexandridis

Diagnostik und EvaluationHerausgegeben von Volker Köllner und Henning Schauenburg

1 · 2012März 2012 · 13. Jahrgang · Seite 1–98

Volker Köllner Henning Schauen-burg

I

60 Psychotherapieevaluation: Empfehlungen für niedergelassenePsychotherapeutinnen und -therapeutenJens Heider · Alexandra Zaby

65 Das Dokumentationssystem Psychosomatische Medizin und Psychotherapiefür die ambulante Versorgung (DSP)©

Bernhard Palmowski

68 Therapieevaluation in der stationären Psychotherapie mit Web-AKQUASIBenjamin Zimmer · Markus Moessner

72 Diagnostik in der psychosomatischen RehabilitationMarkus Bassler · Birgit Watzke · Volker Köllner

Interview77 „Gutes tun und es auch zeigen“ – Psychotherapeuten und Qualitätssicherung

Hans-Jochen Weidhaas im Gespräch mit Henning Schauenburg

DialogLinks81 Mit der Lizenz zum Testen – Testverfahren aus dem Internet

Sonja Heintz · Nadine Wunder

DialogBooks86 Buchempfehlungen

Daniela Matte

Résumé89 Diagnostik und Therapieevaluation – doch eher eine Chance?

Volker Köllner · Henning Schauenburg

Im Dialog91 Allgemeine Psychoedukation in der Akutpsychosomatik am Beispiel

einer TagesklinikAndreas A. B. Joos · Brigitte Kemter · Angelika Schmidt · Kristina Flößer · Thomas Unterbrink ·Michael Wirsching · Armin Hartmann · Almut Zeeck

96 Herausgeberteam97 Impressum98 Vorschau

März 2012 · 13. Jahrgang · Seite 1–98www.thieme.de/pid

www.thieme.de/pidBesuchen Sie die PiD imInternet! Auf der Website sind dieZusammenfassungen allerBeiträge frei zugänglich.

Indexiert in PSYNDEX

II

Die PiD hat sich diesmal ein auf den erstenBlick etwas trockenes Thema ausgesucht.Und noch dazu eines, das in Psychothera-peutenkreisen hochgradig ambivalent be-setzt ist. Diagnostik? „Machen wir, weilwir müssen.“ „ICD ist doch für unser Feldkaum relevant“, „ist trivial und haben wirdoch alle in der Ausbildung schon ge-lernt“. Oder: „verzerrt nur den therapeu-tischen Kontakt und engt uns ein“. Das istnur ein Teil der typischen Reaktionen aufdas Thema standardisierte Diagnostik.Diese hat also im Feld der Psychotherapieeinen zwiespältigen Ruf.Und Evaluation, also die normierte Erhe-bung von Veränderungen durch Psycho-therapie, sei es im Verlauf, sei es zumEnde einer Therapie? Obwohl jeder imPrinzip den Sinn anerkennt, therapeuti-sche Ergebnisse zu dokumentieren, ist an-gesichts des Wissens um die Komplexitätvon Veränderungen und deren Dynamikund Dauerhaftigkeit die Skepsis gegen-über standardisierten Erhebungen groß.Wie können wir Sie also für unser neuesHeft erwärmen?Es ist richtig, Diagnostik ist einerseitsGrundlage unseres Handelns, insofernwir erst dann sinnvoll therapeutisch tätigwerden können, wenn wir die Problemeunseres Gegenübers, wenn nicht verstan-den, so doch wenigstens eingeordnet ha-ben. Aber dann ist es mit der Akzeptanzauch schon schnell vorbei. Die von denKrankenkassen geforderte Vergabe vonICD-Ziffern hängt nicht unbedingt mitden lebens- und alltagsnahen Belastun-gen und Symptomen unserer Patientenzusammen – geschweige denn, dass siederen Hintergrund erhellen. Viele vonuns sehen die Vergabe solcher Ziffern alsnotwendigen, ungeliebten und ein wenigkränkenden (uns und die Patienten!) Aktan. Und schwierig ist das allemal nicht.Auf der anderen Seite: Wie genau ist un-

Diagnostik und Evaluation –zähneknirschend oder neugierig?

Henning Schauenburg · Volker Köllner

Editorial 1

ser durch die Routine beeinflusster Blickwirklich, wie tief dringen wir in die Be-gleitsymptome, Folgeerscheinungen einerSymptomatik wirklich systematisch ein?Könnte esnicht sein, dass es unsmit einemsolchen Selbstbild des routinierten diag-nostischenBlicks so gehtwie denbekannt-lich 85% aller Autofahrer, die fest derÜber-zeugung sind, besser als der Durchschnittzu fahren? Vielleicht ist unsere Perspekti-ve manchmal doch ein wenig begrenztundwirkönnenvon standardisiertendiag-nostischen Verfahren durchaus Nutzen imInteresse unserer Patienten ziehen.Und Evaluation?Wir als Therapeutenwis-sen doch, wie es unserem Patienten undKlienten geht und wie erfolgreich oderauch begrenzt die gemeinsamen thera-peutischen Bemühungen ggf. sind. Dafürbrauchen wir keine Fragebögen mit ihrerproblematischen Validität und begrenz-ten Reichweite – oder?Aber vielleicht entgehen uns trotz unsererErfahrungen manche unterschwelligentherapeutischen Prozesse oder auch sogargelegentlich gravierende Dinge, die dastatsächliche Endergebnis eines therapeu-tischen Prozesses in anderem Licht er-scheinen lassen können.Systematische Evaluationen mit einergroßen Zahl von Therapeuten ergaben,dass es den perfekten Therapeuten nichtgibt, dass sich bei genauerem Hinschauenbei jedem Bereiche finden lassen, in de-nen wir unseren Patienten nicht so guthelfen können, wie andere. Es gibt alsoimmer etwas zu tun und zu lernen undEvaluationsverfahren können uns, wennwir möchten, evtl. sogar genau sagen, wo.Ein spannendes Feld.Sie merken, die Diskussion um Sinn undZweck von Diagnostik und Evaluation be-rührt den Kern unseres Selbstverständ-nisses. Es könnte sein, dass wir hier nie-mals zufrieden sein dürfen, weil uns dies

in trügerischer Sicherheit wägen und unsauch unsere Aufgabe vergessen lassenwürde, gemeinsammit unseren Patientensowohl nach einem immer tieferen Ver-ständnis als auch nach immer umfassen-deren „Lösungen“ zu suchen.Gleichzeitig stellt die Gesellschaft in Ge-stalt der Kostenträger zunehmend durch-aus nachvollziehbare Fragen nach der Le-gitimität und dem Ergebnis unseres Han-delns. Auch wenn wir uns der Wirksam-keit unseres Handelns einigermaßen si-cher sein können, sind dennoch im Be-reich der Versorgung nicht alle Fragen be-antwortet. Wir finden deshalb, dass dasungeliebte Thema ausgezeichnet geradejetzt in die PiD passt.Wir haben uns bemüht, sowohl die span-nungsreiche Dialektik von Nutzen undBegrenzung diagnostischer und bewer-tender Prozesse zu beschreiben als auchpraktische Handlungsanleitungen, z.T.für Krankheitsbilder, z.T. für therapeuti-sche Settings zu geben. Die hilfreichenMöglichkeiten des Internets werdenebenso beschrieben wie die grundsätzli-chen Möglichkeiten, die uns die EDV indiesem Bereich bietet. Zuletzt sprechenwir mit Hans-JochenWeidhaas, der als er-fahrener Standesfunktionär und inzwi-schen Vorsitzender der Vertreterver-sammlung der KBV einen guten Einblickin die gesamtgesellschaftlichen und stan-despolitischen Aspekte der Legitimierungvon Psychotherapie hat.Wenn wir also trotz der Ambivalenz ge-genüber dem Thema den einen oder dieandere mit diesem Heft anregen, sich derAuseinandersetzung zu stellen, vielleichttatsächlich mit der Möglichkeit und Chan-ce der Diagnostik und vor allem der Eva-luation eigener Therapien etwas zu spie-len, ohne dies deshalb gleich zu absolutzu setzen, dann würde uns das freuen.

PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1277008 Diagnostik und Evaluation

Psychotherapie braucht strukturierte Diagnostik!

Jürgen Hoyer · Susanne Knappe

Schlüsselwörter●" standardisierte Diagnostik

●" Reliabilität

●" Qualitätssicherung

●" Prozessqualität

●" Akzeptanz von Maßnahmen

Korrespondenzadresse●" Prof. Dr. Jürgen Hoyer

Institut für Klinische Psychologieund PsychotherapieTechnische Universität DresdenChemnitzer Straße 4601187 [email protected]

Psychotherapie braucht strukturierte Diagnostik!2

Wie die Attributionsforschung zeigt, ma-chen sich Menschen fast ununterbrochen,wenn auch meist nur implizit, „einenReim“ auf das, was sie sehen und erleben.Je nachdem, worauf sie das zurückführen,was passiert, werden sie ihr Handeln aus-richten. Diagnostik imweitesten Sinne, alseine Einordnung von Dingen und Erleb-nissen, findet schlichtweg statt, egal obwir wollen oder nicht. Das ist in der Psy-chotherapie nicht anders. Nur erwartetdie behandlungsbedürftige Person mitRecht, dass die Diagnostik der Therapeu-tIn professionell, wissenschaftlich fun-diert und möglichst präzise ist. Diese Er-wartung ist nachvollziehbar und gerecht-fertigt, und die helfende Profession solltesie so gut wie möglich erfüllen!

Diagnostik und Psychotherapie sind un-trennbar verbunden. Diagnostik in derPsychotherapie umfasst vielfältige Funk-tionen: Sie wird gebraucht, um das Prob-lem oder die Störung zu beschreiben undzu analysieren, um mögliche Zielbereichezu definieren und die richtigen Interven-tionsstrategien zu identifizieren undschließlich den Behandlungserfolg zuprognostizieren. Sie erfüllt eine zwingend

notwendige Kontroll- und Steuerungs-funktion, nämlich die Dokumentationund Evaluation des Behandlungsfort-schrittes (vgl. Hoyer u. Uhmann 2008, Lai-reiter 2000). Nicht zuletzt erfüllt Diagnos-tik aber auch eine therapeutische Funk-tion: Symptome, die einzuordnen sindund für die es etwa Behandlungsleitliniengibt, sind in der Regel weniger beängst-igend als Symptome unklarer Natur. Trotz-dem enthalten einige PsychotherapeutIn-nen ihren PatientInnen die Informationüber ihre Diagnose offenbar vor: In einerStudie aus dem Jahr 2006 konnten sich je-denfalls 30% der PatientInnen, die einenFragebogenüber ihreDepressionstherapiebeantworteten, nicht erinnern, jemals klarüber die Diagnose informiert worden zusein. Bemerkenswert dabei: Diese Sub-gruppe der PatientInnenwies amEnde ge-genüber denjenigen, denen ihre Diagnosemitgeteilt wurde, einen signifikant gerin-gerenBehandlungserfolg auf (Hoyer, Helbigu.Wittchen2006). Geradedieklassifikato-rische Funktion der Diagnostik – nämlichdie nachvollziehbare Zuordnung der be-richteten Symptomatik zu diagnostischenKriterien und zu einer prüfbaren Diagnose– scheint trotz solcher Ergebnisse immernoch umstritten. Das ist ein Fehler! EinestrukturierteklassifikatorischeDiagnostikbringt klare Vorteile nicht nur für die For-schung, sondern auch und in erster Liniefür PatientInnen und TherapeutInnen:Mi-nimierung potenzieller Fehlerquellen,Transparenz und Struktur des therapeuti-schen Vorgehens, frühzeitige Identifika-tion des Behandlungsfokus und gezielteZuweisung zu Behandlungsstrategien –

also letztlich gar eine Verhinderung diag-nostischer Fehler mit möglicherweiseweitreichenden Folgen für PatientInnenund Vorbeugung von Frustration übereinen „schwierigen“ Behandlungsverlauffür TherapeutInnen.

Zusammenfassung Strukturierte klassifikatorische Diagnostik ist für dieklinisch-psychologische Forschung von kardinaler Bedeutung. Epidemiologie,Grundlagenforschung, Psychotherapieforschung sind ohne reliable und valideDiagnostik nicht denkbar. Aber brauchen wir strukturierte Diagnostik in Formvon diagnostischen Interviews oder Selbstbeurteilungsverfahren auch in derPraxis der Psychotherapie? Ist durch eine stärker standardisierte diagnostischePraxis ein echter Zugewinn bei den Erfolgsraten der Therapie zu erwarten?Lassen sich so Misserfolge minimieren? Im vorliegenden Beitrag werden dieArgumente vorgestellt, die für den Einsatz psychologischer Testverfahren undinsbesondere für eine strukturierte Diagnostik sprechen: Vorteile ergeben sichdabei nicht nur im Hinblick auf Fragen der Qualitätssicherung und Professio-nalisierung psychotherapeutischen Handelns; sie helfen auch, den therapeuti-schen Prozess transparenter und effektiver für TherapeutIn und PatientIn zugestalten.

Diagnostik und Evaluation PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1298922

Auch ein professioneller diagnostischerProzess muss Fehlerquellen berücksichti-gen. Dass klassifikatorische Entschei-dungen oft schwer zu treffen sind, liegt inder Natur der Sache. Die Komplexitätmenschlichen Erlebens und Verhaltens„in Schubladen zu pressen“ verlangt Ver-einfachung, Reduktion und Abstraktion.Das ist durchaus nicht einfach, mituntermit Fehlern behaftet – und dennoch einMuss in der Psychotherapie! So nenntStieglitz (2000) die Subjekt- bzw. Situa-tionsvarianz (eine PatientIn wird zu zweiverschiedenen Zeitpunkten die Sympto-me ihrer Störung immer unterschiedlicherleben und darstellen), die Informations-varianz (unterschiedliche Untersucherhaben unterschiedliche Informationenzur Verfügung), die Beobachtungsvarianz(verschiedene Beobachter legen ihr Au-genmerk auf verschiedene Merkmale undgewichten sie anders) und die Kriterien-varianz (verschiedene Beurteiler habenunterschiedliche – oft implizite – Krite-rien hinsichtlich einer Störung). Die Ent-wicklung klarer Kriterien für psychischeStörungen in den klassifikatorischen Sys-temen ICD und DSM hilft, das letztge-nannte Problem zu minimieren; der Ein-satz strukturierter Interviews kontrolliertzudem die Informations- und Beobach-tungsvarianz deutlich. Derartige Inter-views sind für Epidemiologie, klinischeGrundlagen- und Psychotherapiefor-schung längst unverzichtbar gewordenund halten zunehmend Einzug in die psy-chotherapeutische Praxis.Im deutschsprachigen Raum am weites-ten verbreitet sind das Diagnostische In-terview psychischer Störungen (DIPS;Schneider u. Margraf 2011), das Struktu-rierte Klinische Interview für DSM-IV(SKID; Wittchen, Zaudig u. Fydrich 1997)und das Computerisierte International Di-agnostic Interview (CIDI;Wittchen u. Pfis-ter 1997). Strukturierte Interviewleitfä-den wie das DIPS und das SKID geben dieFragen lediglich vor und verlangen vomUrteiler die diagnostische Entscheidungdarüber, ob der Bericht der PatientInnenfür die Erfüllung eines diagnostischen Kri-teriums spricht. Deshalbwird für das DIPSund auch das SKID eine Durchführung nurvon diagnostisch/psychotherapeutischerfahrenem Personal empfohlen. Insbe-sondere das DIPS erlaubt auch die Ablei-tung verhaltenstherapeutisch-relevanterAspekte für die Antragsstellung und The-rapieplanung. Das standardisierte CIDIhingegen verfolgt auch eine Codierungder Antwort, um die Beobachtervarianzweiter zu minimieren, sodass dieses In-

strument auch von trainierten Laien wieetwa Sprechstundenhilfen, Pflegeperso-nal, Praktikanten etc. durchgeführt wird.Die computerisierte Version des CIDI er-möglicht zudem eine rasche und objekti-ve Auswertung nach ICD und/oder DSM-Kriterien quasi auf Knopfdruck, von derEbene einzelner Symptome bis hin zumDiagnoseschlüssel.Alle Interviews liegen mittlerweile in ver-schiedenen Formen, u.a. für Kleinkinder(Baby-DIPS; Schneider u. Wolke 2007)und Frauen (CIDI-V; Martini et al. 2009),für die spezielle Erfassung einzelnerSymptomgruppen wie etwa Substanzkon-sum und in Kurz- und Langversionen (z.B.Mini-DIPS; Margraf u. Schneider 1994)vor und werden – nicht nur in unseremInstitut – von TherapeutInnen und Pa-tienInnen als effektive und zugleich um-fassende Form der klassifikatorischen Di-agnostik geschätzt. Die Reliabilität undValidität dieser diagnostischen Instru-mente sind dem klinischen Urteil deutlichüberlegen (vgl. zusammenfassend Knap-pe et al. 2008).Immer wieder gibt es Einwände undHemmnisse, diagnostische Interviews inder klinischen Praxis einzusetzen. Füreine wissenschaftliche Überlegenheit derintuitiven klinischen Diagnose wird je-doch nur vereinzelt argumentiert (z.B.Becker et al. 2006). Viel häufiger scheinenpraktische Erwägungen gegen die ver-meintlich relativ aufwendigen Interviewszu sprechen: vor allem der Zeit- und Aus-wertungsaufwand. Ferner dürfte sich somanche KollegIn angesichts vorgegebenerFragenabfolgen ihrer Kunst beraubt füh-len, schnell diagnostische Heuristiken zuentwickeln und diese durch geeigneteFragen flexibel zu überprüfen. Auch denPatientInnen ist es vermeintlich lieber,gleich in den hilfreichen Kontakt, in dieTherapie, einzusteigen, als sich dem auf-wendigen Vorgeplänkel der Diagnostikunterziehen zu müssen. Menschlich ver-ständlich ist das. Aber trotzdem: Sind sol-che Interviews in der Praxis nicht dochmachbar und nützlich? Der zeitliche As-pekt allein mag auf den ersten Blick dage-gen sprechen; neben Zeit für eine Schu-lung zur Durchführung und Auswertung(zumindest für SKID und CIDI) werdenpro Interview ca. 90 Minuten veran-schlagt; ggf. bedarf es eines zusätzlichenTermins, wenn stark belastete Patienteneine Pause benötigen bzw. eine sehr um-fangreiche Symptomatik berichten.Auf den zweiten Blick ergeben sich jedocherhebliche Vorteile: Aufgrund der umfas-senden und vollständigen Symptombe-

schreibung sowie der Einordnung in diediagnostischen Systeme erübrigt sicheine zeitraubende, und manchmal für Pa-tienten auch irritierende Nachexplora-tion; der Behandlungsfokus kann mög-lichst früh bestimmt und bearbeitet wer-den. Dies zeigt, dass diagnostische Inter-views in der Praxis durchführbar sind –

ihr Nutzen steht ohnehin außer Frage.An der Institutsambulanz und Tagesklinikfür Psychotherapie der TU Dresden be-handeln wir seit mehr als einem Jahr-zehnt PsychotherapiepatientInnen imRahmen der Richtlinienpsychotherapie.Dabei gehen wir, was die klassifikatori-sche Diagnostik anbetrifft, etwas unge-wöhnlich vor. Der Erstkontakt zur Thera-peutIn erfolgt erst nach der – in unseremFall: standardisierten – Diagnostik. Wa-rum diese Abfolge? Die Antwort: Die Ent-scheidung, ob eine Richtlinienpsycho-therapie indiziert ist und ob sie sozial-rechtlich zu begründen ist, hängt ganzwesentlich mit dem (gemäß Psychothera-pierichtlinien) „Anwendungsbereich“ (al-so letztlich mit der Diagnose) zusammen.Erst wenn feststeht, ob und welche Diag-nose(n) gegeben sind, erfolgt die Zuwei-sung zur Ausbildungs- oder zur For-schungs- und Lehrambulanz oder zu an-deren Behandlungs- und Beratungsange-boten. Der erste genuin therapeutischeKontakt erfolgt also erst, wenn bereits ab-geklärt ist, dass bei der gegebenen psy-chischen Störung eine Verhaltenstherapiemit hoher Wahrscheinlichkeit indiziertist. Das erscheint uns eine gute Vorausset-zung für eine Therapie, aber eben auch füreine gute therapeutische Beziehung zusein. Umgekehrt gilt: Die TherapeutInkann relativ sicher sein, dass sich nichterst im Verlauf herausstellt, dass gar keinepsychische Störung gegeben ist undeigentlich eher eine Beratung indiziertist. Auch hier kann also ein diagnostischesInterview helfen, frühzeitig den Behand-lungsfokus und ggf. das weitere Prozedere(wie etwa die gezielte Zuweisung zu an-deren Versorgungsstrukturen oder auchspezialisierten Behandlern) reliabel zu be-stimmen.Sicherlich ist dieses Vorgehen in einer Ein-richtung mit einem größeren Behand-lungsteam leichter durchzuführen als inder niedergelassenen Psychotherapiepra-xis. Aber auch dort ist es machbar. Zweider fünf probatorischen Sitzungen für diestrukturierte Diagnostik aufzuwenden,erscheint handhabbar und legt sichereGrundlagen für die weiteren Indikations-entscheidungen. Was die Patienten davonhalten, haben wir übrigens bei einer

Standpunkte 3

PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1298922 Diagnostik und Evaluation

größeren Stichprobe erfragt. Die über-wältigende Mehrheit der PatientInnenhält die standardisierte Diagnostik fürgut. 88% der PatientInnen begrüßten,dass in dem Interview exakte und detail-lierte Fragen gestellt wurden. Nur 4,9%fanden es in irgendeiner Weise störend,dass Fragen und Antworten per Computerbearbeitet wurden. Obwohl dies nicht dasprimäre Ziel der Diagnostik ist, war dieAussage von 76% der PatientInnen erfreu-lich, die das Interview angenehm odersehr angenehm fanden (Hoyer et al.2006). Kontraindikationen sind selbstver-ständlich zu erwähnen. Bei akuten Not-fallsituationen oder bei akuten schwerenpsychischen Störungen (Psychosen) sind(standardisierte) Interviews nicht anzu-wenden. Bei Älteren und ggf. bei Patien-ten mit einer Vielzahl komorbider Störun-gen dauern die Interviews oft außerge-wöhnlich lang und müssen ggf. auf zweiTermine verteilt werden.Sicherlich werden manche PatientInnenmöglicherweise zunächst etwas andereserwarten, nämlich die Möglichkeit, aus-führlich und in freier Form von ihren Pro-blemen zu berichten, „das Herz auszu-schütten“ und so eine Entlastung zu er-fahren. Unserer Erfahrung nach ist esaber wenig problematisch, die PatientIn-nen von dem strukturierten Vorgehen zuüberzeugen, wenn sie von Anfang an da-rüber aufgeklärt werden und die Funktionder Diagnostik angemessen erläutertwird. Auf eine umfassende und vollständi-ge Diagnostik zu verzichten, solange diePatientIn emotional in Not ist, kann je-denfalls nicht die Alternative sein.Strukturierte Diagnostik wird in der Regeldurch Tests im Sinne von Selbst- oderFremdbeurteilungsverfahren oder durchstrukturierte Tagebücher ergänzt. Selbst-beurteilungsinstrumente sind dabei ins-besondere im Rahmen einer aussagefähi-gen Verlaufs- und Ergebnisevaluation un-erlässlich (Hoyer u. Uhmann 2008). Be-sonders die Beurteilung inter- und in-traindividueller Abweichungen wirddurch normierte Instrumente erheblicherleichtert. Idiografische und normorien-tierte Diagnostik sind alternative Zugän-ge, die das gleiche Phänomen auf ver-schiedenen Messebenen, und damit voll-ständiger, beschreiben (Hoyer, Margraf u.Schneider 2008). Der Aufwand selbst fürdas fortlaufende Ausfüllen und Auswer-ten, zum Beispiel eines Depressionsfrage-bogens, ist dabei gering.

Was passiert, wenn eine standardisierteDiagnostik fehlt? Der klinische Eindruck

ist immer Teil der Diagnostik, er entschei-det zum Beispiel über den Einsatz (Tes-tierfähigkeit: ja oder nein), sowie Art(welche Instrumente) und Umfang (Dau-er) der Diagnostik und fließt bei der Ge-samtschau aller diagnostischen Befundeein. Der Ableitung von Diagnosen alleinanhand des klinischen Eindrucks oder an-hand freier Explorationen fehlt es jedochan der Replizierbarkeit, was für die weite-re (Behandlungs-)Planung und Prognoseernsthafte Nachteile haben kann (Knappeu. Hoyer 2010). Fehldiagnosen oder dasNichterkennen komorbider Störungensind nie gänzlich auszuschließen; sie soll-ten aber so weit wie möglich minimiertwerden. Besonders wichtig sind dabei Ha-lo-Effekte, die entstehen, wenn nach einervermeintlichen Hauptdiagnose gesuchtwird. Ist sie einmal gefunden, werdenweitere Symptome durch die Hauptdiag-nose „überstrahlt“ oder werden durchdiese erklärbar. So ist eine depressive Epi-sode augenscheinlich recht gut zu erken-nen, wenn der Patient über Antriebsman-gel, fehlendes Interesse, Rückzug und Un-sicherheiten in der Entscheidungsfindungklagt. Vorbestehende und nicht selten dieRezidive einer Depression verursachendeAngststörungen werden aber oft überse-hen, solange die Diagnostik nicht syste-matisch und strukturiert vorgenommenwird.Das Nichterkennen einer Störung mussnicht notwendigerweise zu gravierendenNachteilen für den Patienten führen. Inmanchen Fällen liegen der behandeltenund der nicht-behandelten Störung diegleichen psychologischen Vulnerabilitä-ten zugrunde. Werden diese gut behan-delt, so bessert sich gegebenenfalls auchdie nicht behandelte Störung. So habenUntersuchungen von Borkovec gezeigt,dass erfolgreiche Behandlungen einer Ge-neralisierten Angststörung in der Mehr-zahl der Fälle auch zu einem Rückgang ko-morbider Panikstörungen führte (Borko-vec, Abel u. Newman 1995). Eigene Datenzeigen, dass komorbide sexuelle Funk-tionsstörungen nach erfolgreicher Angst-oder Depressionsbehandlung remittieren,ohne explizit behandelt worden zu sein(Hoyer et al. 2009). Dieser „positive Anste-ckungseffekt“ mag vielen TherapeutInnenbekannt sein und sie bewegen, an ihrerintuitiv-klinischen Diagnostik festzuhal-ten. Dennoch gilt aber: Allein auf einen„globalen Therapieeffekt“ zu setzen, derauf alle komorbiden Störungen generali-siert, wäre schlicht fahrlässig und inak-zeptabel.

Hierzu ein Fallbeispiel:

» Eine ca. 35-jährige Patientin stellte sichin der Institutsambulanz vor und durchliefzunächst das oben dargestellte diagnosti-sche Prozedere. Mittels der computerisier-ten Version des CIDI wurden eine schwererezidivierende depressive Störung und eineSoziale Phobie diagnostiziert. Die sozialeAngst der Patientin, insbesondere die Angstvor Autoritäten, war so schwer, dass sieauch im Kontakt zum Behandler spürbarwar, denn die Patientin wirkte sehr befan-gen und submissiv. Trotz zahlreicher statio-närer Behandlungsintervalle in der Psy-chiatrie innerhalb der letzten 15 Jahre,wurde zu keinem Zeitpunkt die SozialePhobie diagnostiziert. Die detaillierten CI-DI-Informationen etwa zum Alter bei Erst-auftreten von Symptomen ergaben, dassdie Patientin schon seit ihrer Kindheit un-ter starken Symptomen der Sozialen Angst-störung einschließlich sozialer Vermei-dungstendenzen litt. Die Soziale Phobieging außerdem der ersten Episode der de-pressiven Störung voraus und trat auch un-abhängig von den depressiven Episodenauf. Aufgrund dieser neuen diagnostischenEinschätzung ergab sich eine Fallkonzep-tion, die sich deutlich vom früheren Be-handlungsansatz „Depression“ unter-schied: Die Belastung durch die SozialePhobie löste immer wieder neue depressiveEpisoden aus. Wir vereinbarten, so baldwie möglich die sozialen Ängste zu behan-deln und definierten diesbezügliche Verhal-tensziele (z.B. Kollegen auf der Arbeit umHilfe bitten; im Urlaub mit Leuten in Kon-takt kommen etc.). Die Patientin erlebte al-lein schon durch diesen neuen Zugang unddiese neue Erklärung ihrer Symptomatikeine erhebliche Reduktion ihrer anfängli-chen Hoffnungslosigkeit. Beide Störungenwaren am Ende einer verhaltenstherapeu-tischen Langzeittherapie vollremittiert.Circa drei Jahre nach dem ersten Behand-lungsintervall kam es in Zusammenhangmit einer Extrembelastung zu einem Rück-fall, eine stationäre Behandlung war aller-dings nicht nötig, da die Beeinträchtigungviel geringer als in früheren Störungsepiso-den war. Die Patientin ist nach der zweitenBehandlung mit Kurzzeit-Verhaltensthera-pie seit über fünf Jahren störungsfrei. «

Diagnostische Interviews und psycho-metrische Tests helfen, Verschlechterungder Symptomatik und Behandlungsmiss-erfolge zu verhindern. Die wissenschaft-liche Auseinandersetzung mit Behand-lungsfehlern und Misserfolgen in der Psy-chotherapie ist gegenüber der Erfolgsfor-

Psychotherapie braucht strukturierte Diagnostik!4

Diagnostik und Evaluation PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1298922

schung deutlich unterrepräsentiert. Eige-ne Daten zeigen, dass messbare Ver-schlechterungen und als Misserfolg einzu-stufende Behandlungen eher selten sind(Jacobi, Uhmann u. Hoyer, im Druck).Trotzdem gilt es, diese weiter zu minimie-ren. Aus unserer Sicht ist es dabei eherwahrscheinlich, dass eine große Zahl derMisserfolge letztlich auf diagnostischeFehler zurückgeht, wie sie bei der klini-schen Urteilsbildung schlichtweg häufigerauftreten als bei einer standardisiertenoder strukturierten Diagnostik. Niemandwird z.B. mit einer Depressionsbehand-lung Erfolg haben, wenn diagnostischeinemanische Episode, und damit eine bi-polare Störung, übersehen wurde. Die Be-handlung einer Essstörung wird kaum Er-folg haben können, wenn eigentlich eineemotional-instabile Persönlichkeitsstö-rung vorliegt und das Essverhalten defacto der Emotionsregulation dient.

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Wittchen H-U, Zaudig M, Fydrich T. SKID. Struk-turiertes Klinisches Interview für DSM-IV.Achse I und II. Handanweisung. Göttingen:Hogrefe; 1997

Wittchen H-U, Pfister H. DIA-X-Interviews: Ma-nual für Screening Verfahren und Interview;Interviewheft Längsschnittuntersuchung(DIA-X-Lifetime); Ergänzungsheft (DIA-XLifetime); Interviewheft Querschnittsunter-suchung (DIA-X-12 Monate); Ergänzungs-heft (DIA-X-1 Monate); PC-Programm zurDurchführung des Interviews (Längs- undQuerschnittsuntersuchung); Auswertungs-programm. Frankfurt: Swets & Zeitlinger;1997

Jürgen HoyerProf. Dr., PsychologischerPsychotherapeut, wissen-schaftliche Qualifikation inGöttingen und Frankfurt,seit 2002 Leitung der Insti-tutsambulanz und Tages-klinik für Psychotherapie(IAP) an der TU Dresden.Forschungsschwerpunkt:

verhaltenstherapeutische Behandlung derAngststörungen.

Susanne KnappeDr. rer. nat., Studium derPsychologie an der Fried-rich-Schiller-UniversitätJena, 2007 Aufnahme desWeiterbildungsstudien-gangs „PsychologischePsychotherapie“, therapeu-tische Tätigkeit in der Insti-

tuts- und Forschungsambulanz (IAP) der Tech-nischen Universität Dresden. Seit 2006 Wissen-schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klini-sche Psychologie und Psychotherapie der Tech-nischen Universität Dresden. 2010 Promotionzum Thema „Familial Risk Factors for the Onsetand Course of Social Anxiety Disorder. A Com-munity-Based Study in Adolescents and YoungAdults“ an der Technischen Universität Dresden.Seit 2011 tätig im einem EU-weiten Projekt„ROAMER – A Roadmap for Mental Health inEurope“.Forschungsschwerpunkte: Epidemiologie undVerlauf von Angststörungen (insbesondereSozialer Phobien), familiäre Transmission psy-chischer Störungen.

Fazit

Behandlungsbedürftige Personen dürfeneine professionelle, wissenschaftlich fun-dierte und präzise Diagnostik ihrer Be-schwerden erwarten. Das Ergebnis desdiagnostischen Prozesses entscheidetüber die Zuweisung zu Behandlern undBehandlungsstrategien, und damit letzt-lich über das „Wohl und Wehe“ der Pa-tientInnen. Die Berufsordnung der Psy-chotherapeutInnen verlangt eine Behand-lung nach aktuellsten Standards; einestrukturierte / standardisierte Diagnostikhilft diese Standards zu erfüllen. Poten-zielle Fehlerquellen klinischer Urteile wer-den minimiert, eine reliable und valideDokumentation und Evaluation des Be-handlungsverlaufes wird möglich, wennzusätzlich standardisierte Testverfahreneingesetzt werden. Auch ein professionel-ler diagnostischer Prozess kann fehlerbe-haftet sein. Eine gänzlich fehlende struk-turierte / standardisierte Diagnostik birgtdie Gefahr, relevante Störungen zu über-sehen und Behandlung fehlerhaft zu pla-nen; sie stellt letztlich einen groben Be-handlungsfehler dar.

Standpunkte 5

PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1298922 Diagnostik und Evaluation

Risiken und Nebenwirkungen strukturierter DiagnostikOder: Wie viel strukturierte Diagnostik braucht Psycho-therapie?

Eva Maria Meiser-Storck

Schlüsselwörter●" klinische Diagnostik

●" strukturierte Diagnostik

●" Selbstbeurteilungsverfahren

●" klinische Interviews

●" Ökonomie

●" Zumutbarkeit

●" Nützlichkeit

●" therapeutische Beziehungs-gestaltung

●" therapeutischer Prozess

Korrespondenzadresse●" Dipl.-Psych. Eva Maria Meiser-Storck

Fachklinik für PsychosomatischeMedizinMediclin Bliestalkliniken66440 [email protected]

Risiken und Nebenwirkungen strukturierter Diagnostik6

Einleitung

Die Kritik an psychologischen Testinstru-menten ist vielfältig. Sie reicht von grund-sätzlicher Infragestellung der theoreti-schen Grundannahmen bis hin zur Kritikan bestimmten Durchführungsbedingun-gen. Während die „seriöse“ wissenschaft-liche Kritik an Gütekriterien, Testkon-struktion, Normierung etc. an einzelnenTestverfahren berechtigt erscheint, wer-den grundsätzlichere Bedenken der erfah-renen, oftmals niedergelassenen Kollegenvon den Testbefürwortern belächelt oderabgetan. Leider scheinen hier die Frontenetwas verhärtet, da keiner mehr dem an-deren wirklich zuhört. Oftmals mischensich unter die Testkritiker, denen zuzuhö-ren sich lohnen würde, Polemiker, welchefundierte, erfahrene Aussagen in den Hin-tergrund treten lassen und versuchen, mitausgefeilter Eloquenz und viel Engage-ment, aber wenig durch klinische Erfah-rung belegbare Aussagen die Testbefür-worter zu überzeugen. Das geht in zweier-lei Hinsicht schief. Erstens hören die Test-befürworter nach spätestens zwei Sätzennicht mehr zu, da die Testgegner schon ineiner Schublade für unfundierte Polemikgelandet sind, zweitens könnte eine sol-

che Kritik ja auch bedrohlich sein und dieeigene vermeintliche Daseinsberechti-gung, die sich vielleicht bei dem einenoder anderen an fundierten Testergebnis-sen misst, infrage stellen.Sicher ist ein annähernder Dialog für bei-de Seiten hilfreich. Dieser Artikel versuchtdiesen Dialog anzuregen. Er stellt keinenwissenschaftlichen Anspruch, er orien-tiert sich an der klinischen Erfahrung. DieKritikpunkte finden ihren Beleg auch imklinischen Alltag. Der Schwerpunkt sollallerdings auf dem Versuch liegen, zu-nächst möglicherweise unbegründet wir-kende Bedenken vor demHintergrund desklinischen Alltags ernst zu nehmen undzu beleuchten mit dem Ziel, eine „ungifti-ge“, sinnvolle, aber auch notwendige Test-dosis im klinischen Alltag zu finden.Vorab einige Überlegungen zu Definitionund Zielsetzung von Diagnostik: Diagnos-tik beschreibt die Zuordnung eines Diag-nosenamens zu einem bestimmten klini-schen Störungsbild (Hiller et al. 2004).Ziele der Diagnostik sind die Ordnung derVielfalt psychischer Auffälligkeiten unddie Subsumierung unter Allgemeinbe-grifflichkeiten sowie die Verbindung derDiagnosen mit einer Reihe von Informa-tionen wie z.B. Angaben über Ursachen,Zusammenhänge, Verlauf oder Therapie.Diagnosen dienen also der Arbeitsökono-mie, was u.a. einen raschen Informations-austausch z.B. auch im Schriftverkehr er-leichtert. Diagnosen können helfen, Aus-sagen über Therapierbarkeit zu treffenoder das Störungsbild als krankheitswer-tig gegenüber Kostenträgern zu verteidi-gen.Zusammengefasst dient die Diagnostikund Klassifikation der Vereinheitlichungmenschlicher Eigenarten von Krankheits-wert, um eine bessere Handhabe dersel-ben und Kommunikation über diese zu er-möglichen. Eine wichtige Funktion für die

Zusammenfassung Der Einsatz strukturierter Diagnostik im wissenschaftli-chen Kontext steht derzeit außer Frage. Allerdings nimmt der Einsatz struktu-rierter Diagnoseverfahren auch in der klinischen Praxis z.B. zur Therapieeva-luation immer mehr zu. Der Artikel befasst sich mit Risiken und Nebenwirkun-gen strukturierter Testdiagnostik im klinischen Alltag, welche z.B. durch dieStöranfälligkeit der Selbstbeurteilungsbögen, mangelnde Überlegungen zuÖkonomie, Zumutbarkeit und Nützlichkeit oder auch durch die Vernachlässi-gung der therapeutischen Beziehungsgestaltung bzw. Beeinflussung des the-rapeutischen Prozesses aufgrund intensiver Therapieevaluation provoziertwerden können. Durch eine pointierte Darstellung dieser Kritikpunkte sollder Dialog zwischen Testbefürwortern und Testkritikern angeregt werden,um einen sinnvollen Einsatz strukturierter Diagnostik für den klinischen Alltagzu finden.

Diagnostik und Evaluation PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1298923

Diagnostik psychopathologischer Stö-rungsbilder haben Klassifikationssyste-me. Bei der Nutzung der aktuellen Klassi-fikationssysteme sollte allerdings das Be-wusstsein für einen weiteren Optimie-rungsbedarf trotz der Nützlichkeit undder regelmäßigen Aktualisierung der Sys-teme präsent sein, was auch für die An-wendung diagnostischer Hilfsmittel, wiez.B. der auf den Klassifikationssystemenbasierenden strukturierten Interviewsoder Selbst- bzw. Fremdbeurteilungsska-len gilt. So gibt es immer noch Störungs-bilder, die durch das Raster der Klassifika-tion fallen, in keine Kategorie zu passenscheinen. Vor allem die zeitlichen Vorga-ben machen die Diagnosevergabe bei Stö-rungsbildern schwierig.Zudem stellt sich die Frage nach der Defi-nition standardisierter Diagnostik. Hierzuist es wichtig, das jeweilige diagnostischeVorgehen der erfahrenen Therapeuten zuhinterfragen. Um zu einer Diagnose zu ge-langen, richtet sich das Vorgehen sichernach den vorhandenen Klassifikationssys-temen und ist somit eigentlich ebenfalls„standardisiert“. Daraus würde sich dieFrage entwickeln, wie viel Standardisie-rung braucht die klinische Diagnostik?Die Klassifikationssysteme sind entwi-ckelt worden, um eine einheitlichere Di-agnosevergabe ökonomisch zu sichern.Stellt nicht das Plädoyer für weitere un-terstützende Messinstrumente zur Absi-cherung einer einheitlichen Diagnosestel-lung das einfache und risikoarme Hand-ling der Klassifikationssysteme infrage?Da in der klinischen Psychologie eine Viel-zahl von Verfahrensgruppen unterschie-den werden (wie z.B. strukturierte Inter-views, Verfahren zur Verhaltensbeobach-tung, projektive Verfahren, Felddiagnostiketc.), soll hier darauf hingewiesenwerden,dass sich dieser Beitrag hauptsächlich mitder kritischen Betrachtung der Anwen-dung klinischer Untersuchungsverfahren,hauptsächlich von Selbstbeurteilungsska-len und klinischen Interviews im statio-nären und ambulanten Setting befassenwird. Es folgt der Versuch der Zusammen-stellung möglicher Kritikpunkte für denunreflektierten Einsatz standardisierterTestverfahren in der klinischen Praxis zurAnregung von Reflexion und Diskussionzum Thema.

Vielzahl unterschiedlicherTestverfahren

Das Angebot an klinischen Untersu-chungsverfahren breitet sich aufgrundder wachsenden Begeisterung für immerwieder neue Testinstrumente mehr undmehr aus. Die Vielzahl der Testinstrumen-te zur Messung spezifischer Störungs-oder Leistungsbilder und die mangelndeBereitschaft, das Spektrum der Messin-strumente zum Wohle der eindeutigerenKommunikation zu reduzieren, führen zueiner unspezifischen Kommunikationsba-sis zwischen den Behandlern. Unter-schiedliche Messinstrumente kommenbeim gleichen Probanden nicht unbedingtzum gleichen Messergebnis.

Vernachlässigung desklinischen Eindrucks

Die Kritik der Vernachlässigung des klini-schen Eindrucks wird oftmals dahinge-hend formuliert, dass Testdiagnostik eheretwas „für Anfänger“ sei. Es wird davonausgegangen, dass alteingesessene Kolle-gen die Testdiagnostik nicht mehr benö-tigten. Aber gerade bei den Berufsanfän-gern besteht die Gefahr, dass sie durchdie Testergebnisse verunsichert und dieeigenen diagnostischen Fähigkeiten infra-ge gestellt werden. In Ausbildung undSchulung sollte daher ebenfalls Wert aufdie Schulung der Sensibilität für diagnos-tische Hinweise innerhalb der therapeuti-schen Beziehung (wie z.B. Gegenübertra-gungsphänomene) gelegt werden. Hierist es aber auch wichtig, dass der ange-hende Therapeut ein gewisses Selbstbe-wusstsein im Umgangmit Testinstrumen-ten entwickelt, das ihm auch erlaubt, dieTestergebnisse infrage zu stellen, z.B. beieinem BDI von 35 keine schwere depressi-ve Episode zu diagnostizieren, wenn dasklinische Bild derselben nicht entspricht,eventuell von einer Verdeutlichungsten-denz ausgegangen werden kann, die Er-gebnisse im Rahmen einer kurzfristigenProblemaktualisierung erklärbar sindoder die bevorstehende Entlassung dasTestergebnis beeinträchtigt. Ebenso solltez.B. bei besonders guten Testergebnissenein Augenmerk auf die Neigung des Pa-tienten zu sozial erwünschtem Verhaltenoder zur Akquieszenz gerichtet werden.Zudem sollten Therapeuten, die sich in-tensiver standardisierter Diagnostik be-dienen, in der Durchführung der Tests ge-schult sein. Hinreichende Kenntnisse dermethodischen Grundlagen und hinrei-

chende Voraussetzungen sollten für dieadäquate Anwendung der Instrumentegegeben sein.Bei den Fremdbeurteilungsverfahrenwer-den notwendige, aber meist auch zeitauf-wendige Schulungen oftmals vernach-lässigt. Aber ohne diese Trainings, welcheu.a. unter Berücksichtigung von Reliabili-tätsprüfungen durchgeführt werden, sindFremdbeurteilungsverfahren nicht zuver-lässig einsetzbar (Stieglitz 2000).

Eingeschränkter Einsatz bzw.Störungsanfälligkeit der Selbst-beurteilungsfragebögen

Prinzipiell sind Selbstbeurteilungsbögenbei fast allen Störungsbildern einsetzbar.Allerdings setzen bestimmte Störungsbil-der Grenzen, die den Einsatz der Verfah-ren verhindern. So können bestimmteSymptome der Schizophrenie (z.B. Denk-störungen) durch einen Selbstbeurtei-lungsbogen nicht erfasst werden, ebensosind Störungsbilder ab einem bestimmtenSchweregrad der Selbstbeurteilung nichtmehr zugänglich, wie z.B. schwere ge-hemmt-depressive Episoden (Hiller et al.2004). Das heißt, bestimmte Störungsbil-der werden nicht erfasst, die Diagnostikunterliegt der Beurteilung der Therapeu-ten.Die Gefahr, dass bestimmte Symptome,z.B. durch eine Bagatellisierungstendenzdes Patienten oder dem Versuch, nichtpsychisch krank zu wirken, nicht gesehenwerden, bestehen bei Selbstbeurteilungs-instrumenten genauso wie in einemstrukturierten Interview bzw. einem di-rekten Anamnesegespräch, wobei ineinem Anamnesegespräch direkte Verhal-tensbeobachtungen während der Frage-stellung die Diagnostik erleichtern kön-nen und einen Hinweis auf Bagatellisie-rungs- bzw. Verdeutlichungstendenz lie-fern können.

Woran misst TestdiagnostikTherapieerfolg?

Gerade in der Rehabilitation werden Test-ergebnisse besonders durch Aspekte derSozialmedizin beeinflusst. Hier haben Pa-tienten nicht selten das Bedürfnis nachVerdeutlichung ihrer Symptomatik, wel-che zu einer Verfälschung der Testergeb-nisse führen kann. Auch Akquieszenzbzw. Antworten im Sinne der sozialen Er-wünschtheit können aufgrund der Ab-hängigkeit vom Kostenträger bei beste-

Standpunkte 7

PID 1/2012 · 13. Jahrgang · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1298923 Diagnostik und Evaluation