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THÜRINGER OBERVERWALTUNGSGERICHT
- 3. Senat - 3 KO 1149/03 _________________________________________________ Verwaltungsgericht Gera - 6. Kammer - 6 K 992/97 GE
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Verwaltungsstreitverfahren des Kreises Höxter, vertreten durch den Landrat, Moltkestraße 12, 37671 Höxter
Kläger und Berufungsbeklagter
gegen
den Saale-Holzland-Kreis, vertreten durch den Landrat, Im Schloss, 07607 Eisenberg
Beklagter und Berufungskläger wegen Sozialhilferechts, hier: Berufung
3 KO 1149/03 2
hat der 3. Senat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden
Richter am Oberverwaltungsgericht Lindner, den Richter am Oberverwaltungsgericht
Dr. Schwachheim und die an das Gericht abgeordnete Richterin am Verwaltungsge-
richt Mößner
auf die mündliche Verhandlung vom 4. März 2004 f ü r R e c h t e r k a n n t :
Das Berufungsverfahren wird eingestellt, soweit die Berufung
zurückgenommen worden ist. Im Übrigen wird die Berufung zu-
rückgewiesen.
Die Kosten des - gerichtskostenfreien - Berufungsverfahrens
hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungs-
schuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages ab-
wenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicher-
heit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
Der Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen das Urteil des Verwaltungs-
gerichts Gera vom 29. Mai 2001 - 6 K 992/97 GE -, mit dem er zur Erstattung von
Sozialhilfekosten verurteilt worden ist, die der Kläger für die Spätaussiedlerfamilie
A_____ leistete.
Die Eheleute ______ und _____ A_____ sowie ihr gemeinsamer Sohn _____ reisten
am 2. Mai 1994 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie wurden dem Freistaat
Thüringen zugewiesen, wo sie vom 20. Mai bis 4. November 1994 in einem Über-
gangswohnheim im Kreisgebiet des Beklagten lebten. Der Beklagte gewährte der
Familie nach Auslaufen der Eingliederungshilfe ab 1. November 1994 Hilfe zum Le-
bensunterhalt.
3 KO 1149/03 3
Am 5. November 1994 verzog die Familie in das Gebiet der Stadt Brakel, die im
Kreisgebiet des Klägers liegt. Die Stadt Brakel hatte sich in einem an eine Verwandte
der A______, die für die Familie Wohnraum bereits angemietet haben sollte, ge-
richteten Schreiben vom 29. August 1994 bereit erklärt, die Familie A_____ für den
Fall der Zuweisung und Anrechnung auf die Aufnahmequote der Stadt im Rahmen
der Familienzusammenführung aufzunehmen. Sie gewährte den Eheleuten und dem
Kind als sog. Delegationsgemeinde des Klägers mit Bescheid vom 7. Dezember
1994 ab 7. November 1994 Hilfe zum Lebensunterhalt nebst einmaligen Beihilfen.
______ A_____ erhielt ab Januar 1995 Leistungen aus dem Europäischen Sozial-
fonds (ESF) und nahm ab 1. August 1996 eine Erwerbstätigkeit auf; ebenso ab
diesem Zeitpunkt erhielt _____ A_____ im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme
Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz.
Die im Zeitraum 7. November 1994 bis 31. Juli 1996 aufgewandten Sozialhilfekosten
betragen insgesamt 8.122,87 DM. Auf _____ A_____ entfallen 2.149,31 DM, und
zwar für November 1994 bis Januar 1995 2.027,31 DM und im Dezember 1995 eine
einmalige (Weihnachts-)Beihilfe in Höhe von 122,00 DM; für seine Ehefrau _____
wurden insgesamt 5.007,49 DM (im Zeitraum November 1994 bis Oktober 1995
3.668,83 DM und von November 1995 bis Juli 1996 1.338,66 DM) sowie für das ge-
meinsame Kind _____ 966,07 DM (von November 1994 bis Februar 1995 905,07 DM
und im Dezember 1995 eine einmalige Beihilfe in Höhe von 61,00 DM) aufgewandt.
Bereits mit Schreiben vom 7. Dezember 1994 meldete die Stadt Brakel die Kostener-
stattung gem. § 107 BSHG für die ab November 1994 beantragten Sozialhilfeleistun-
gen für die Spätaussiedlerfamilie A_____ beim Beklagten an. Die Kostenerstattung
lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 20. Dezember 1994 mit der Begründung ab,
Spätaussiedler könnten in einem Übergangswohnheim keinen gewöhnlichen Aufent-
halt begründen. Nachdem auch eine Erinnerung der Stadt Brakel zur Kostener-
stattung im Januar 1996 erfolglos geblieben war, wandte sich der Kläger am
13. Februar 1996 unter Bezugnahme auf das Schreiben seiner sog. Delegations-
nehmerin, der Stadt Brakel, selbst an den Beklagten mit der Bitte, im Hinblick auf die
anstehende höchstrichterliche Klärung der Streitfrage des gewöhnlichen Aufenthalts
von Spätaussiedlern in einem Übergangswohnheim auf die Einrede der Verjährung
zu verzichten. Dem entsprach der Beklagte nicht.
Der Kläger hat am 20. Juni 1997 beim Verwaltungsgericht Gera Klage erhoben.
3 KO 1149/03 4
Er hat im Wesentlichen vorgetragen, die mit Umzug der Familie A_____ am
5. November 1994 und Bewilligung von Sozialhilfe ab dem 7. November entstandene
Hilfebedürftigkeit sei auch nicht während des Bezuges von Leistungen aus dem ESF
entfallen. Die Spätaussiedler hätten im Übergangswohnheim des Beklagten ihren
gewöhnlichen Aufenthalt begründet, da sie dort für 5 Monate und 16 Tage gelebt
haben. Die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG sei in der zum 1. August
1996 in Kraft getretenen Fassung anzuwenden.
Der Kläger hat unter Bezugnahme auf die von ihm eingereichte Kostenaufstellung
beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 8.122,87 DM für die in der Zeit vom
7. November 1994 bis 31. Juli 1996 geleistete Hilfe zum Lebensunterhalt
für _____, _____ und _____ A_____ nebst 9,26 % Zinsen seit dem
20. Juni 1997 zu erstatten.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Spätaussiedler könnten in einem Übergangwohnheim keinen gewöhnlichen Aufent-
halt begründen. Im Übrigen sei die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG a. F. von
5.000,00 DM pro Person im maßgeblichen Zeitraum 7. November 1994 bis 31. Juli
1996 nicht überschritten.
Das Verwaltungsgericht Gera hat ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom
29. Mai 2001 - 6 K 992/97 GE - den Beklagten zur Zahlung eines Betrages in Höhe
von 8.122,87 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20. Juni 1997 verurteilt und die Klage
im Übrigen abgewiesen.
Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Erstattungsanspruch bei Umzug (§ 107
BSHG) sei vorliegend gegeben, da die Mitglieder der Familie A_____ im Er-
stattungszeitraum im Übergangswohnheim des Beklagten ihren gewöhnlichen Auf-
enthalt im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs begründet hätten und binnen eines
Monats nach ihrem Umzug der Hilfe bedurften. Die Hilfebedürftigkeit sei bezüglich
_____ A____ im Erstattungszeitraum durchgängig gegeben gewesen. Da der Kläger
für diese im Zeitraum 7. November 1994 bis 31. Juli 1996 über 5.000,00 DM geleistet
habe, spiele die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 S. 1 BSHG für sie keine Rolle.
3 KO 1149/03 5
Etwas anderes gelte zwar für _____ und _____, deren Hilfeleistungen jeweils unter
der Bagatellgrenze lägen. Bezogen auf die Familie überschritten die Leistungen ins-
gesamt jedoch die Bagatellgrenze und seien daher zu erstatten. Denn zugunsten des
Klägers greife Satz 2 der Norm, eingefügt durch das Gesetz zur Reform des Sozial-
hilferechts vom 23. Juni 1996, in Kraft getreten zum 1. August 1996, ein. § 111
Abs. 2 S. 2 BSHG in der zum 1. August 1996 in Kraft getretenen Fassung beziehe
sich auch auf vor diesem Zeitpunkt liegende Erstattungsforderungen, sofern diese im
Streit geblieben seien. Dies ergebe sich bereits aus der Gesetzesüberschrift, wonach
diese Vorschrift den Umfang der Kostenerstattung regele. § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG
stelle weder einen Ausschlusstatbestand noch eine materiell-rechtliche Einrede dar,
sondern regele, in welcher Höhe Kostenerstattungsansprüche durchsetzbar seien.
Es sei daher eine Vorschrift des Verfahrensrechts und erfasse alle noch nicht abge-
schlossenen Rechtsverhältnisse. Die zur Problematik der Rückwirkung von Gesetzen
entwickelte Rechtsprechung greife mangels Vertrauensschutz des Beklagten nicht
ein. Mit der zum 1. August 1996 in Kraft getretenen Gesetzesfassung habe das
Redaktionsversehen bei der Einfügung von S. 1 der Vorschrift beseitigt werden
sollen. Denn mit der Anhebung der Bagatellgrenze von 400,00 DM auf 5.000,00 DM
in § 111 Abs. 2 S. 1 BSHG durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konso-
lidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 sei die Auswirkung der Neuregelung auf
Bedarfsgemeinschaften nicht bedacht worden, so dass Satz 2 der Norm eingefügt
worden sei. Der Zinsanspruch in Höhe von 4 % ergebe sich aus § 288 Abs. 1 S. 1
BGB i. V. m. § 291 BGB entsprechend. § 288 Abs. 1 S. 1 BGB in der Fassung des
Änderungsgesetzes vom 30. März 2000, wonach eine Geldschuld während des Ver-
zuges für das Jahr mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 1 des
Diskont-Überleitungs-Gesetzes vom 9. Juni 1998 zu verzinsen sei, finde nach
Art. 229 § 1 Abs. 1 S. 3 EGBGB nur auf solche Geldschulden Anwendung, die seit
dem 1. Mai 2000 fällig geworden seien.
Gegen das dem Beklagten am 19. Juli 2001 zugestellte Urteil hat dieser am
9. August 2001 die Zulassung der Berufung wegen Divergenz beantragt und diesen
Antrag unter Hinweis auf § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dahin gehend begründet, das
Urteil des Verwaltungsgerichts Gera weiche hinsichtlich der Geltung von § 111
Abs. 2 S. 2 BSHG von dem Urteil des ThürOVG vom 12. September 2000
- 2 KO 38/96 - ab und beruhe darauf auch.
3 KO 1149/03 6
Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 28. November 2003 - 3 ZKO 540/01 -
wegen Divergenz gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4, § 124a VwGO a. F. zugelassen. Der
Beschluss ist dem Beklagten am 5. Dezember 2003 zugestellt worden.
Der Beklagte begründet die Berufung mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2003 dahin
gehend, die Auslegung des § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG durch das Verwaltungsgericht
widerspreche dem W illen des Gesetzgebers. Zwingend sei eine Übergangsvorschrift
gefordert.
Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist durch den Vorsitzenden des
Senats bis zum 19. Januar 2004 führt der Beklagte mit an diesem Tag eingegan-
genem Schriftsatz ergänzend aus:
Er mache sich die Rechtsprechung des 2. Senats des ThürOVG (Urteil vom
12. September 2000 - 2 KO 38/96 -) und des VG Magdeburg in seinem Urteil vom
9. Februar 1999 - 6 K 579/97 - zu Eigen und nehme auf seinen Zulassungsantrag
Bezug. Vorliegend sei der Leistungszeitraum zum 31. Juli 1996 beendet, somit am
1. August 1996 abgeschlossen und der Erstattungsanspruch schon entstanden ge-
wesen. Die rechtliche Beurteilung abgeschlossener Sachverhalte richte sich grund-
sätzlich nach dem Recht, das im Zeitpunkt der in der Vergangenheit liegenden oder
eingetretenen Tatsachen Geltung besessen habe. Es sei somit rechtlich unbeacht-
lich, ob der Erstattungsanspruch zwischen Sozialhilfeträgern über einen Gesetz ge-
wordenen Stichtag hinaus weiter in Streit geblieben sei. Folglich greife § 111 Abs. 2
S. 2 BSHG in der alten Fassung ein. Allein aus der Überschrift und der Stellung einer
Regelung im Gesetz könne nicht der Schluss auf eine verfahrensrechtliche Vorschrift
gezogen werden. Für die Zuordnung einer Vorschrift zum Verfahrens- oder mate-
riellen Recht sei allein deren Regelungsgehalt maßgeblich. Da nach § 111 BSHG nur
aufgewendete Kosten zu erstatten seien, soweit die Hilfe dem Gesetz entspreche,
sei bei Erstattungsansprüchen stets die materielle Rechtmäßigkeit der Sozialhilfege-
währung im Zeitpunkt der Leistung zu prüfen. Auf die Entstehungsgeschichte und
den Willen des Gesetzgebers komme es bei der Auslegung nicht entscheidend an.
Daher gehe die Auffassung des Gerichts, der Gesetzgeber habe S. 2 der Norm zum
1. August 1996 gerade ohne Übergangsvorschrift eingefügt, um den erstattungsbe-
rechtigten Sozialhilfeträgern die Geltendmachung ihrer vor diesem Datum ent-
standenen Erstattungsansprüche durch Teilhabe an einer günstigeren Regelung
quasi zu erleichtern, fehl. Es werde nachträglich in einen abgeschlossenen Sachver-
3 KO 1149/03 7
halt mit der Folge eingegriffen, dass ein Erstattungsanspruch wieder auflebe. Dies
verstoße jedoch gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes,
auf das sich auch der Beklagte berufen könne. Er müsse seine Haushaltswirtschaft
verlässlich planen und müsse sich daher auf geltendes Recht verlassen können.
Sein insoweit schützenswertes Vertrauen schließe ein, von belastenden Eingriffen
mit Rückwirkung und den daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen verschont
zu bleiben. Das Urteil sei daher insoweit aufzuheben, als der Beklagte um einen
5.000,00 DM übersteigenden Betrag bzw. in Höhe der an ______ und _____
A______ geflossenen Leistungen verurteilt worden sei.
Mit Schriftsatz vom 11. Februar 2004 hat der Beklagte die Berufung insoweit zurück-
genommen, als sie sich gegen die Verurteilung zur Erstattung der für _____ A_____
aufgewandten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 5.007,49 DM gerichtet hat.
Der Beklagte beantragt nunmehr,
unter entsprechender Abänderung des ohne mündliche Verhandlung er-
gangenen Urteils des Verwaltungsgerichts Gera vom 29. Mai 2001
- 6 K 992/97 GE - die Klage abzuweisen, soweit ein Betrag von mehr als
5.007,49 DM mit 4 % Zinsen gefordert wird.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er führt aus: Da auf eine Übergangsregelung verzichtet worden sei, gelte die Neu-
regelung in § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG ab In-Kraft-Treten auch für zuvor abge-
schlossene Leistungszeiträume. Aus der Überschrift der Norm und ihrem Sinn und
Zweck sei klar erkennbar, dass der Abs. 2 keine materiell-rechtlichen Voraus-
setzungen für die Entstehung regele. Es handele sich um eine bloße Verfahrensvor-
schrift, die die gerichtliche Durchsetzbarkeit des Anspruchs betreffe und verhindern
wolle, dass für relativ geringe Zahlungsleistungen ein überproportionaler Bürokratie-
aufwand betrieben werde. Auf Vertrauensschutz könne sich der Beklagte nicht be-
rufen, da die Rechtsprechung zur Rückwirkung von Gesetzen allein dem Schutz des
Bürgers gegen den Staat diene, nicht jedoch einem Sozialhilfeträger, der selbst Teil
des Staates sei. Vertrauensschutzgesichtspunkte hätten auch in dem Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 4. März 1993 - 5 C 6/91 -, wonach die zum 1. Juli 1983
3 KO 1149/03 8
ohne Übergangsregelung in Kraft getretene Ausschlussfrist des § 111 SGB X auch
auf zuvor entstandene Erstattungsansprüche anzuwenden sei, keine Rolle gespielt.
Bezüglich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des Ver-
waltungsvorgangs des Klägers (Beiakte I) und die Verwaltungsvorgänge des Be-
klagten (Beiakten II und III) Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Ver-
handlung waren.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Das Berufungsverfahren ist nach §§ 125 Abs. 1 S. 1, 92 Abs. 3 S. 1 VwGO einzu-
stellen, soweit der Beklagte seine Berufung zurückgenommen hat.
Im Übrigen ist die vom Senat zugelassene Berufung zulässig, die sich gegen das
Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 29. Mai 2001 - 6 K 992/97 GE - nur noch
insoweit richtet, als der Beklagte darin zur Erstattung der für _____ und _____
A_____ aufgewandten Sozialhilfekosten in Höhe von 3.115,38 DM nebst Zinsen
verurteilt worden ist. Das Rechtsmittel ist nach entsprechender Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist durch den Vorsitzenden des Senats (§ 194 Abs. 2 VwGO
i. V. m. § 124a Abs. 3 S. 3 VwGO a. F.) fristgerecht begründet worden. Die
Berufungsgründe entsprechen den formellen Erfordernissen (§ 124a Abs. 3 S. 4
VwGO a. F.).
Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht verurteilt, die mit der Leistungs-
klage geltend gemachten Aufwendungen für _____ und _____ A______ aus der
Hilfe zum Lebensunterhalt im Zeitraum von November 1994 bis Juli 1996 zu er-
statten.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Kostenerstattung ist § 107 Abs. 1 BSHG in der
Fassung vom 23. März 1994 (BGBl. I S. 646), gültig ab 1. Januar 1994. Danach gilt:
Verzieht eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts, ist der
Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zu-
ständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außer-
halb von Einrichtungen im Sinne des § 97 Abs. 2 S. 1 zu erstatten, wenn die Person
3 KO 1149/03 9
innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. Gemäß
Abs. 2 S. 1 der Norm entfällt diese Verpflichtung, wenn für einen zusammenhän-
genden Zeitraum von zwei Monaten keine Hilfe zu gewähren war. Sie endet spätes-
tens nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Aufenthaltswechsel (§ 107 Abs. 2 S. 2
BSHG).
Die Voraussetzungen nach Abs. 1 der Norm sind erfüllt. Das hat das Verwaltungsge-
richt im angefochtenen Urteil näher ausgeführt und darauf nimmt der Senat Bezug.
Entgegen den Bedenken des Beklagten hat die Spätaussiedlerfamilie mit ihrem Zu-
zug am 4. November 1994 in den Zuständigkeitsbereich des Klägers auch einen
Wohnsitz i. S. d. § 30 Abs. 3 SGB I aufgegeben.
Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11/98 -
NVwZ-RR 1999, 583 = FEVS 49, 434 (vorgehend ThürOVG, Grundurteil vom 1. Juli
1997 - 2 KO 38/96 - ThürVBl. 1997, 279) ausgeführt hat, ist zur Begründung eines
gewöhnlichen Aufenthalts ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich;
es genüge vielmehr, dass sich der Betreffende am Ort „bis auf weiteres“ im Sinne
eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbe-
ziehungen hat. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem Über-
gangswohnheim setzt nicht - positiv - voraus, dass der Spätaussiedler bei Bezug der
Unterkunft erklärt hat, auch nach Verlassen des Übergangswohnheimes am Zu-
weisungsort bleiben zu wollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 1999 - 5 C 21/98 -
FEVS 51, 385). Die zeitliche Dauer des Aufenthalts ist somit nicht allein maßgeblich;
auch bei einem Aufenthalt von kürzerer Dauer kann ohne gegenteilige Anhaltspunkte
grundsätzlich ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden (vgl. Sächsisches OVG,
Beschluss vom 22. September 1999 - 1 S 761/98 - FEVS 52, 113; OVG Rheinland-
Pfalz, Urteile vom 11. Mai 2000 - 12 A 10908/99 - FEVS 53, 41, vom 17. August
2000 - 12 A 10912/99 - FEVS 53, 171, vom 25. Juli 2003 - 12 A 10656/03 -, zitiert
nach Juris, und Beschluss vom 22. Januar 2002 - 12 A 11101/01 - FEVS 53, 475),
auch wenn andererseits ein längerer Aufenthalt grundsätzlich ein Verbleiben bis auf
weiteres zu indizieren vermag, wie angemerkt sei. Das Verwaltungsgericht hat in
Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.
BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 1999 - 5 C 21/98 - a. a. O. sowie Beschluss vom
24. Januar 2000 - 5 B 211/99 - Buchholz 436.0 § 107 BSHG Nr. 3 = FEVS 51, 389;
ferner BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2001 - 5 C 3/00 - NVwZ-RR 2002, 284 =
3 KO 1149/03 10
FEVS 53, 200) das objektive Moment des über einige Monate andauernden Aufent-
halts im Gebiet des Beklagten herangezogen.
Die Bestätigung der Stadt Brakel vom 29. August 1994, wonach von einer Ver-
wandten bereits Wohnraum für die Familie in Brakel angemietet worden sein soll,
führt zu keiner anderen Beurteilung. Dazu wäre nur dann Anlass, wenn bereits am
20. Mai 1994, dem Zeitpunkt der Aufenthaltsnahme im Übergangswohnheim des Be-
klagten, Anhaltspunkte für einen sich manifestierenden gegenteiligen Willen der
Familie A_____, nur kurzfristig im Bereich des Beklagten zu verweilen, vorhanden
gewesen wären. Dazu wurde weder vorgetragen, noch gibt es entsprechende tat-
sächliche Hinweise.
Der Kostenerstattungsanspruch ist nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen, der
mangels anderweitiger Regelungen im BSHG gemäß § 37 SGB I auch für Er-
stattungsansprüche des BSHG als eines besonderen Teils des Sozialgesetzbuches
(§ 68 Nr. 11 SGB I) gilt. Der Kläger hat seinen Kostenerstattungsanspruch bereits
während des Laufs der Ausschlussfrist des § 111 SGB X a. F., in Kraft getreten
durch das Gesetz vom 4. November 1982 (BGBl. I S. 1450), gültig ab 1. Juli 1983 (im
Folgenden: § 111 SGB X a. F.) geltend gemacht. Mithin kommt es nicht auf die
Fassung der Norm durch Art. 10 Nr. 8 des Gesetzes zur Einführung des Euro im
Sozial- und Arbeitsrechts sowie zur Änderung anderer Vorschriften (4. Euro-Ein-
führungsgesetz) vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I S. 1983) an.
Gemäß § 111 S. 1 SGB X a. F. ist ein Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen,
wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des
letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Nach Satz 2 der
Norm beginnt der Lauf der Frist frühestens mit Entstehung des Erstattungsan-
spruchs. Dies ist fristgerecht geschehen.
Der Kostenerstattungsanspruch des Klägers ist mit Schreiben vom 7. Dezember
1994 von der Stadt Brakel dem Beklagten angezeigt worden, die ihn als beauftragte
Gemeinde des Klägers auch anmelden durfte.
Grundsätzlich ist der Erstattungsanspruch zwar vom „Erstattungsberechtigten“ (§ 111
S. 1 SGB X a. F.) geltend zu machen. Danach ist erstattungsberechtigt der
Leistungsträger, dem ein Erstattungsanspruch gegen einen anderen Leistungsträger
(dem „Erstattungsverpflichteten“) nach §§ 102 ff. SGB X oder nach den besonderen
3 KO 1149/03 11
Teilen des Sozialgesetzbuches (§ 68 Nr. 11 SGB I) zusteht, mithin vorliegend der
Kläger und nicht die Stadt Brakel. Deren Anmeldung als der zur Aufgabendurch-
führung herangezogenen Gemeinde ist dem Kläger als örtlichem Träger der Sozial-
hilfe indessen zuzurechnen.
Ob generell in Fällen eines bestehenden Auftragsverhältnisses zum erstattungsbe-
rechtigten Leistungsträger für die fristwahrende Anmeldung im Sinne des § 111
SGB X allein auf das rechtzeitige Tätigwerden des beauftragten Trägers abzustellen
ist, mag dahin stehen (vgl. Hauck/Haines, SGB X, Loseblatt-Kommentar, Band 3,
Stand: Januar 2000, Rn. 4 zu § 111 und zur früheren Rechtslage im Bereich der
Sozialhilfe: Schellhorn, BSHG, Kommentar, 14. Auflage, Rn. 4 zu § 112 BSHG a. F.).
Jedenfalls bei gesetzlich ausgestalteten Auftragsverhältnissen ist davon auszu-
gehen, dass der Erstattungsanspruch von dem und bei dem für die Leistung zu-
ständigen Träger angemeldet werden kann (vgl. näher Beschlüsse des Senats vom
5. Februar 2004 - 3 ZKO 561/01 - und vom 11. März 2004 - 3 ZKO 733/03 -). So liegt
es hier.
Handelt es sich um einen örtlich zuständigen Sozialhilfeträger, der Kostenerstattung
gemäß § 107 BSHG verlangen kann, richtet sich die Aufgabenwahrnehmung ggf.
nach weiteren landesrechtlichen Bestimmungen, zu denen § 96 Abs. 1 S. 2 BSHG
ermächtigt. Für die Stadt Brakel ergab sich deshalb die Befugnis zur Verfolgung des
Erstattungsanspruchs nach Maßgabe der Jahresfrist des § 111 SGB X a. F. aus § 2
Abs. 2 der Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe im Kreis Höxter vom
30. Mai 1975 und der Ersten Änderungssatzung vom 4. August 1981. Zu einer
solchen Regelung durch Satzung ermächtigt § 3 Abs. 1 S. 1 des Nordrhein-
Westfälischen Ausführungsgesetzes zum BSHG vom 25. Juni 1962 (GV NW S. 344)
in der maßgeblichen Fassung vom 18. Dezember 1984 (GV NW 1985 S. 14) (i. F.:
NWAGBSHG). Die herangezogene Gebietskörperschaft wird zwar insoweit im eige-
nen Namen tätig, wie § 3 Abs. 1 S. 2 NWAGBSHG a. F. ausdrücklich anordnet. Die
Heranziehung von kommunalen Körperschaften durch die örtlichen Träger der Sozi-
alhilfe, sei es, dass diese im eigenen, sei es im fremden Namen entscheiden, ändert
aber in beiden Fällen nichts daran, dass Anspruchsinhaber der zuständige Träger
der Sozialhilfe bleibt. Die kreisangehörige Gemeinde handelt gleichsam als „Außen-
stelle“; auch an der Verantwortlichkeit des zuständigen örtlichen Trägers der Sozial-
hilfe ändert sich dadurch nichts; sie nimmt nur auf Grund einer besonderen Form der
3 KO 1149/03 12
Aufgabenübertragung in ihrem Gebiet Teile der dem örtlichen Träger obliegenden
Aufgaben wahr. Liegt mithin keine echte Delegation mit Zuständigkeitswechsel vor,
kann dem Kläger als Anspruchsinhaber und nach wie vor zuständig gebliebenem
örtlichen Sozialhilfeträger gemäß § 96 Abs. 1 BSHG auch nicht von Rechts wegen
die Verfolgung des Erstattungsanspruchs im Verwaltungsstreitverfahren verwehrt
sein (vgl. zum Verhältnis von Delegation und Mandat: Mergler/Zink, BSHG, Lose-
blatt-Kommentar, Teile I und II, Stand: Mai 2003, Rn. 46 zu § 90 BSHG und Rnrn. 15
und 16 zu § 96 BSHG).
Das genannte Schreiben der Stadt Brakel vom 7. Dezember 1994 (wegen des ge-
nauen Wortlauts wird auf Blatt 8 der Beiakte I Bezug genommen) genügt als für die
Wahrung der Ausschlussfrist rechtssichernde Mitteilung; es wird angegeben, für
welchen Hilfeempfänger welche Sozialleistungen gewährt werden und für welche
Leistungen Kostenerstattung begehrt wird. Die Behörde benennt die Mitglieder der
Spätaussiedlerfamilie und schildert in groben Zügen den maßgeblichen Sachverhalt.
Nicht erforderlich ist, dass das Bestehen einer vorrangigen Leistungspflicht nach
Grund und Höhe in allen Einzelheiten ausgeführt, bewiesen oder die Kostener-
stattungsforderung beziffert wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. April 2003 - 5 C 18/02 -
FEVS 54, 495). Auch erst zukünftig entstehende, wiederkehrende Ansprüche auf
Sozialhilfeleistungen konnten durch eine solche Anmeldung erfasst werden (vgl.
BSG, Urteil vom 22. August 2000 - B 2 U 24/99 R - FEVS 52, 145 sowie Urteil vom
28. November 1990 - 5 RJ 50/89 - zitiert nach Juris; Hauck/Haines, SGB X, Band 3,
Stand: Januar 2000, § 111 Rnrn. 1, 3a, 7; a. A. Bayerischer VGH, Beschluss vom
22. August 2001 - 12 B 99.889 - FEVS 53, 165).
Ist der Anspruch auf Kostenerstattung nach § 107 Abs. 1 BSHG somit dem Grunde
nach gegeben, bestehen auch der Höhe nach keine Einschränkungen. Dazu ist
wegen der Bagatellgrenze nach § 111 Abs. 2 BSHG ohne Rücksicht auf die Be-
schränkung auf den strittigen Betrag für Leistungen an _____ und _____ A______
bis Dezember 1995 (durch Rücknahme der Berufung hinsichtlich der Erstattungs-
forderung für _____ A_____) die Gesamtleistung bis Juli 1996 zu betrachten.
Dies gilt zunächst im Hinblick auf den Grundsatz der Interessenwahrung. Gemäß
§ 111 Abs. 1 S. 1 BSHG sind aufgewendete Kosten nur zu erstatten, soweit die Hilfe
dem Gesetz entspricht.
3 KO 1149/03 13
Eine Beschränkung auf die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe ergibt
sich im vorliegenden Fall nicht aus den §§ 3a Abs. 1 S. 2, 3b Abs. 1 S. 1 des Ge-
setzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom
6. Juli 1989 (BGBl. I S. 137), eingefügt durch Art. 1 Nr. 3 des zum 1. März 1996 in
Kraft getretenen Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung
eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 26. Februar 1996 (BGBl. I
S. 223) - Wohnortzuweisungsgesetz (WoZuG 1996) -. Denn zum einen erfasst § 3a
Abs. 1 S. 1 WoZuG 1996 nur Spätaussiedler, die abweichend von der Verteilung
bzw. Zuweisung an einem anderen Ort ihren ständigen Aufenthalt nehmen und gilt
daher nach seinem Wortlaut schon nicht - wie vorliegend - auf ein Verziehen von
Spätaussiedlern vor In-Kraft-Treten der Norm. Zum anderen schließen § 6 WoZuG,
neu gefasst durch Art. 1 Nr. 3 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3222) - in Kraft getreten zum 1. Januar 1998 -,
und der ab 1. Juli 2000 geltende § 5 WoZuG,
in der Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Wohnortzuweisungs-gesetzes vom 2. Juni 2000 (BGBl. I S. 775),
die Anwendung der §§ 3a und b WoZuG 1996 auf Spätaussiedler, die vor dem
1. März 1996 in der Bundesrepublik Deutschland ohne Rücksicht auf die Zuweisung
den Wohnsitz gewechselt haben - wie vorliegend -, aus.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese rückwirkenden Rechtsänderungen aus
Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sind nicht zu erheben
(vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2001 - 5 C 3/00 - FEVS 53, 2002 =
NVwZ-RR 2002, 284 und eingehend Beschlüsse des Senats vom 29. Januar 2004
- 3 ZKO 219/01 - zur Veröffentlichung vorgesehen und vom 6. April 2004
- 3 ZKO 245/04 -).
Der Anspruch auf Erstattung der für _____ und _____ A_____ aufgewandten Sozi-
alhilfekosten scheitert ebenso nicht an der Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG.
Die an die Familie A_______ geleisteten Beträge überschreiten in einem Zeitraum
von 12 Monaten insgesamt die Bagatellgrenze von 5.000,00 DM:
Im Zeitraum November 1994 bis Oktober 1995 wurden für _____ A_____
3.668,83 DM, für _____ A_______ 2.027,31 DM sowie für das gemeinsame Kind
3 KO 1149/03 14
____ 905,07 DM, mithin insgesamt 6.601,21 DM aufgewandt. Damit gilt die Bagatell-
grenze auch für den sich anschließenden Leistungszeitraum (§ 107 Abs. 2 BSHG)
als gewahrt (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Dezember 2000 - 5 C 30.99 -
BVerwGE 112, 294 und vom 26. September 2002 - 5 C 1/02 - FEVS 54, 193).
Die Erstattungsverpflichtung ist auch nicht davon abhängig, dass der für jeden ein-
zelnen Familienangehörigen aufgewandte Sozialhilfebetrag die Bagatellgrenze von
5.000,00 DM des § 111 Abs. 2 BSHG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung
des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944) über-
schreitet (im Folgenden: § 111 Abs. 2 BSHG a. F.). Danach sind Kosten unter
5.000,00 DM, bezogen auf einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf
Monaten, außer in den Fällen einer vorläufigen Leistungsgewährung nach § 97
Abs. 2 S. 3 nicht zu erstatten. Vielmehr ist im vorliegenden Fall, in dem die
Sozialhilfeleistungen für _____ A____ zum 31. Juli 1996 endeten, in Anwendung des
S. 2 des § 111 Abs. 2 BSHG, der mit Art. 1 Nr. 34 des Gesetzes zur Reform des
Sozialhilferechts vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S. 1088) (im Folgenden: § 111 Abs. 2
BSHG n. F.) angefügt wurde, nur gefordert, dass die für die Familie insgesamt auf-
gewandten Sozialhilfekosten über einem Betrag von 5.000,00 DM liegen.
§ 111 Abs. 2 S. 2 BSHG n. F. lautet:
Die Begrenzung auf 5.000 Deutsche Mark gilt, wenn die Kosten für die Mit-glieder eines Haushalts im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 2 zu erstatten sind, ab-weichend von Satz 1 für die Mitglieder des Haushalts zusammen.
Die Vorschrift ist zwar erst zum 1. August 1996 in Kraft getreten. Jedenfalls in Fällen
der vorliegenden Art, in denen der zweijährige Kostenerstattungszeitraum des § 107
Abs. 2 S. 2 BSHG (hier bis 4. November 1996) bei In-Kraft-Treten der Gesetzes-
änderung noch nicht abgeschlossen war, ist die Rechtsänderung auch auf solche
Kostenerstattungsansprüche anzuwenden.
Aus dem In-Kraft-Treten des § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG n. F. zum 1. August 1996 folgt
nicht, dass die Norm erst auf danach gewährte Leistungen Anwendung findet (so
aber: ThürOVG, Urteil vom 12. September 2000 - 2 KO 38/96 - ThürVBl. 2001, 58;
Schellhorn, Kommentar zum BSHG, 16. Aufl., § 111 Rn. 30). Diese Ansicht schließt
aus dem Fehlen einer Übergangsvorschrift, § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG n. F. entfalte
keine Rückwirkung und erfasse nur diejenigen Sachverhalte, in denen die an-
spruchsbegründenden Tatsachen für Kostenerstattungsansprüche nach dem In-
3 KO 1149/03 15
Kraft-Treten entstanden seien (vgl. Lehr- und Praxiskommentar zum BSHG, 5. Aufl.,
im Folgenden: LPK-BSHG, § 111 Rn. 32; Schoch, Änderung der §§ 94 bis 152
BSHG [einschließlich der Maßgaben des EV] durch das Gesetz zur Reform des
Sozialhilferechts, NDV 1997, 65 ff.; Schiedsspruch der Zentralen Schiedsstelle vom
13. Februar 1997 - B 26/96 - ZfF 1997, 84 zum In-Kraft-Treten der Bagatellgrenze
des § 111 Abs. 2 BSHG zum 1. Januar 1994). Eine Übergangsregelung in diesem
Sinne bildet auch § 144 BSHG nicht, da sie auf „dieses Gesetz“, mithin auf die da-
mals in Kraft getretene Fassung des Bundessozialhilfegesetzes bezogen ist, wie an-
gemerkt sei.
Indes ist eine Übergangsvorschrift nur dann vonnöten, wenn „altes“ Recht und nicht
das neue Recht auf vor In-Kraft-Treten der Neuregelung liegende Sachverhalte an-
gewandt werden soll. Im Grundsatz hat vielmehr zu gelten, dass das neue Recht
maßgeblich wird. Für sozialrechtliche Erstattungsansprüche hat dies das Bundes-
verwaltungsgericht zu der am 1. Juli 1983 in Kraft getretenen Ausschlussfrist des
§ 111 SGB X für die Anmeldung ausdrücklich entschieden (vgl. BVerwG, Urteil vom
4. März 1993 - 5 C 6/91 - BVerwGE 92, 167).
Nach diesem im intertemporalen Verwaltungsrecht allgemein geltenden Grundsatz
der sofortigen Anwendung des neuen Rechts auch auf nach altem Recht ent-
standene Rechte und Rechtsverhältnisse gilt im Zweifel ab In-Kraft-Treten das neue
Recht auch für die bereits unter dem früheren Recht begründeten Rechte (vgl. nur
Manfred Aschke, Übergangsregelungen als verfassungsrechtliches Problem, Dis-
sertation, in: Europäische Hochschulschriften, Reihe 2, Band 598, 1987, S. 16 ff.,
215). Etwas anderes kann dann anzunehmen sein, wenn nach dem früheren Recht
diese Rechtsverhältnisse bereits endgültig abgeschlossen sind (Grundsatz der Un-
antastbarkeit in der Vergangenheit abgeschlossener Rechtsverhältnisse; vgl. Kopp,
Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, in: Die Sozialgerichtsbarkeit
1993, S. 593 ff.; Hans Schneider, Gesetzgebung, 2. Aufl., Rn. 531).
Dem letzteren Grundsatz folgt die Ansicht, die § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG erst auf ab
dem 1. August 1996 beginnende Leistungszeiträume anwenden will; sie wird unter
Hinweis auf die Regeln des intertemporalen Verwaltungsrechts damit begründet,
dass die Norm auf im Zeitpunkt der Verkündung bereits abgewickelte, geregelte und
abgeschlossene Sachverhalte nicht anwendbar sei, da Gesetze grundsätzlich in die
Zukunft wirkten und deshalb auch nur die unter ihrer Herrschaft begründeten
3 KO 1149/03 16
Rechtsverhältnisse erfassten. Abgeschlossen seien auch solche Erstattungssach-
verhalte, bei denen zwar nicht das Erstattungsverhältnis, aber der Leistungszeitraum
beendet sei. Mit Erbringung der Leistung sei der Kostenerstattungsanspruch ent-
standen und damit abgeschlossen. Eine Anwendung auf vor In-Kaft-Treten abge-
schlossene Leistungszeiträume sei damit eine echte Rückwirkung und grundsätzlich
unzulässig (vgl. Schiedsspruch der Zentralen Schiedsstelle vom 13. Februar 1997
- B 26/96 - ZfF 1997, 84 zum In-Kraft-Treten der Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2
BSHG zum 1. Januar 1994; vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 8. März 2001
– 16 A 1909/00 – FEVS 53, 185 und vom 29. Mai 2001 – 16 A 455/01 – FEVS 53,
273 und Niedersächsisches OVG, Urteil vom 14. August 2002 - 4 LB 629/01 - NDV-
RD 2003, 12). Diese Auffassung trägt dem Umstand nicht hinreichend Rechnung,
dass jedenfalls bei noch aktuellen und etwa noch anhängigen Sachverhalten
schwerlich von einer Abgeschlossenheit gesprochen werden kann (vgl. zur ver-
gleichbaren Fragestellung: Burkhard Hess, Intertemporales Privatrecht, Habilitation,
1998, im Folgenden: Hess, § 1 II. Dogmatische Grundpositionen zum Übergangs-
recht S. 12 ff., § 2 III. Temporäre Wirkungen von Gesetzen S. 51, § 7 I. 1. Rück-
wirkungsverbot und Vertrauensschutz S. 291 ff., § 8 II. 3. c. Anknüpfung im intertem-
poralen Privatrecht, wandelbare und unwandelbare Anknüpfungen S. 331 [347]).
Ein Rechtsverhältnis kraft öffentlichen Rechts ist erst dann „abgeschlossen“, wenn es
durch rechtskräftiges Urteil, bestandskräftigen Verwaltungsakt, Vergleich, Verzicht,
Anerkenntnis etc. definitiv festgestellt oder abgewickelt ist (vgl. Kopp, a. a. O., S. 597
Fn. 51, S. 598 m. w. N., Fn. 76 f.; Hess, a. a. O. S. 13). Davon kann keine Rede sein,
wenn zwischen den Beteiligten im Gerichtsverfahren um Grund und Höhe des Leis-
tungsanspruchs gestritten wird.
Auch der Grundsatz der Sofortwirkung und der Nichtrückwirkung rechtfertigt keine
andere Beurteilung. Danach kann vom Gesetz auch gewollt sein, dass der Rechts-
satz im Zweifel nur die Zukunft und nicht die Vergangenheit ordnen will, so dass Ent-
stehung und Fortbestand eines Rechts sich grundsätzlich nach dem bisherigen
Recht richten (vgl. Kopp, a. a. O., S. 595). Dieser Grundsatz kann indessen schon
nicht durchgreifen: Die Bagatellgrenze selbst lässt als Leistungsverweigerungsrecht
Entstehung und Fortbestehen des Erstattungsanspruches unberührt, da der Er-
stattungsanspruch - soweit er die Bagatellgrenze nicht erreicht - nur nicht durch-
gesetzt werden kann (vgl. VG Hannover, Gerichtsbescheid vom 3. November 1999
3 KO 1149/03 17
- 15 A 5821/98 - ZfF 2001, 88, zitiert nach Juris; Gutachten des Deutschen Vereins
vom 30. September 1998 - G 62/98 - NDV 1998, 349; zur Bagatellgrenze des § 110
SGB X: Hauck/Haines, SGB X, Band III, Stand: Januar 2000, § 110 SGB X Rn. 10;
Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG, Stand: November 2001, § 111 Rn. 14; a. A.: LPK-
BSHG, § 111 Rn. 32; Schoch, Änderung der §§ 94 bis 152 BSHG [einschließlich der
Maßgaben des EV] durch das Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts, a. a. O.).
Der Senat sieht sich vielmehr in der Auffassung, dass es regelmäßig bei der An-
wendung des neuen Rechts zu bleiben hat, durch den ebenso anerkannten Grund-
satz bzw. Gesichtspunkt des Gewichts und der Dringlichkeit des Regelungsanliegens
des neuen Rechts bestätigt (Kopp, a. a. O., S. 600). Danach ist anzunehmen: Je ge-
wichtiger und dringlicher das Anliegen ist, auf dem ein neues Gesetz beruht, desto
eher folgt daraus, dass es auch bereits vorher unter dem früheren Recht begründete
Rechte, Pflichten oder Rechtsverhältnisse erfassen soll. Wenn das neue Recht ein
gesetzgeberisches Versagen beseitigt - wie hier -, spricht alles dafür, dass die Ver-
einfachung der Kostenerstattung in den typischen Fällen der Sozialhilfegewährung
an Familien nicht nur für die Zukunft wirken soll.
Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 13/3904 zu Nr. 20 b):
„... Die Kostenerstattung bei Umzug oder bei Übertritt aus dem Ausland betrifft jedoch häufig Familien, d. h. Haushalte im Sinne von § 11 Abs. 1 S. 2, die er-gänzende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten. In diesen Fällen verhindert die bisherige Begrenzung auf 5.000.- DM pro Person oftmals eine Kostener-stattung, so dass die §§ 107 und 108 auch in typischen Fällen nicht zur An-wendung kommen. Die Begrenzung wird deshalb auf 5.000.- DM pro Haushalt im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 2 bezogen. ... Die Änderung dient auch der Ver-waltungsvereinfachung. Es ist in Zukunft nicht mehr erforderlich, im Wege komplizierter Berechnungen die für den Haushalt einheitlich errechnete Hilfe auf die haushaltsangehörigen Hilfeempfänger umzulegen.“
Der Gesetzgeber schätzte mithin das Ergebnis der Regelung des § 111 Abs. 2
BSHG a. F. ab Januar 1994 als unbefriedigend ein und nahm dies daher zum Anlass
der Änderung. Bei Familien konnte die Anwendung des S. 1 des § 111 BSHG von
5.000,00 DM pro Person dazu führen, dass Aufwendungen von jeweils knapp unter
5.000,00 DM gleichwohl zur Leistungsverweigerung berechtigten, obwohl der Sinn
der ursprünglichen Bagatellregelung damit nicht mehr getroffen wurde. In der Sache
sind dies gerade typische Fälle.
3 KO 1149/03 18
Gerade die für die Zukunft erstrebte Verwaltungsvereinfachung legt die Anwendung
der Neufassung der Norm nicht nur auf erst beginnende Leistungszeiträume,
sondern gerade auch auf anhängige und anhängig werdenden Erstattungsstreit-
verfahren nahe, um das erwünschte Ziel zu erreichen. Auch bei zuvor beendeten
Leistungszeiträumen muss nach der Neufassung im Gerichtsverfahren nach dem
1. August 1996 keine personengenaue Aufschlüsselung mehr erfolgen. Mithin sind
auch Streitfragen, z. B. wem das Kinder- oder Wohngeld als Einkommen zuzu-
rechnen sind sowie die Aufteilung der Unterkunftskosten etc., nicht mehr zu ent-
scheiden. Ein erheblicher Verwaltungsaufwand, der für eine Aufschlüsselung der
Kosten auf verschiedene Personen anfällt, wird damit auch in diesen Fällen ver-
mieden. Aus dem Hinweis im W ortlaut der Gesetzesbegründung, dass in Zukunft
eine komplizierte Berechnung nicht mehr erforderlich werde, kann mithin nicht ge-
schlossen werden, dass eine Anwendung der Vorschrift auf bereits entstandene An-
sprüche nicht gewollt gewesen ist (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom
8. März 2001 - 16 A 1909/00 - a. a. O. und vom 29. Mai 2001 - 16 A 455/01 - a. a. O.
und Niedersächsisches OVG, Urteil vom 14. August 2002 - 4 LB 629/01 - a. a. O.).
Ob durch die ergänzende Regelung in § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG auch Erstattungsan-
sprüche für Leistungszeiträume erfasst werden, die im Zeitpunkt der Gesetzes-
änderung bereits längere Zeit beendet sind, kann offen bleiben. Eine faktische
Grenze für den zeitlichen Anwendungsbereich der Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2
S. 2 BSHG n. F. folgt ohnedies aus der Jahresfrist des § 111 SGB X für die
Geltendmachung des Erstattungsanspruches und der Kostenerstattung für zwei
Jahre nach § 107 Abs. 2 S. 2 BSHG bei Überschreitung der Bagatellgrenze innerhalb
eines beliebigen 12-Monatszeitraumes (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 2002
- 5 C 1/02 - a. a. O.).
Im vorliegenden Fall indes begann der Leistungszeitraum am 7. November 1994 und
schloss nach § 107 Abs. 2 S. 2 BSHG spätestens am 6. November 1996. Galt mithin
für die Erstattungsansprüche wegen Leistungen an ____ A_____ die Bagatellgrenze
in der neuen Gesetzesfassung und damit einheitlich für die gesamte Familie, kann
die anzuwendende Gesetzesfassung bei den Erstattungsansprüchen für die Leistun-
gen an die übrigen Familienmitglieder _____ und _____ A______, an die die lau-
fende Hilfe zum Lebensunterhalt zum Januar bzw. Februar 1995 eingestellt worden
ist, keine andere sein. Hinzu kommt, dass der Kläger ohnehin wegen der Leistungen
3 KO 1149/03 19
an die Spätaussiedlerfamilie bis einschließlich 31. Juli 1996 den Erstattungsanspruch
vollständig nicht unter der Geltung des bisherigen Rechts hätte beziffern können.
Vielmehr war eine Abrechnung der erbrachten Hilfen zum Lebensunterhalt zur Er-
stattung frühestens am Tag des In-Kraft-Tretens der Neuregelung möglich.
Der Anwendung des § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG n. F. steht auch nicht eine etwa unzu-
lässige Rückwirkung aus verfassungsrechtlichen Gründen entgegen.
Entscheidend ist, dass die an Kostenerstattungsstreitigkeiten nach § 107 BSHG Be-
teiligten Hoheitsträger sind, die in Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben nach dem
BSHG um einen gesetzlich geregelten Kostenerstattungsausgleich streiten (insofern
schon die Schutzwürdigkeit von Hoheitsträgern im Rahmen des Kostenerstattungs-
anspruches nach § 103 BSHG bezweifelnd : ThürOVG, Urteil vom 27. August 1996
- 2 KO 310/95 - ThürVBl. 1997, 37). In dieser Funktion können Hoheitsträger ent-
gegen der Ansicht des Beklagten als Teil des Staates grundsätzlich nicht den für
Bürger geschaffenen Schutz gegen rückwirkende Gesetze für sich in Anspruch
nehmen.
Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 23. Oktober 2001
- 5 C 3/00 - (FEVS 53, 200) zur Rechtsänderung des § 3b WoZuG 1996 durch § 5
WoZuG 2000 bereits klargestellt, dass verfassungsrechtliche Bedenken in Er-
mangelung schutzwürdiger Vertrauenslagen nicht zu erheben sind. In der Sache hat
das Bundesverwaltungsgericht damit bei fehlenden Übergangsvorschriften den
Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts Rechnung getragen, dass
nämlich gesetzgeberische Änderungen im Regelfall ab deren In-Kraft-Treten zu be-
achten sind; dies gilt insbesondere dann, wenn Behörden im Verhältnis unter-
einander Ansprüche verfolgen (vgl. zum fehlenden Vertrauensschutz insoweit be-
reits: BVerwG, Urteil vom 20. Juni 1967 - V C 175.66 - BVerwGE 27, 215).
Ein allgemeines Verbot rückwirkender Gesetze enthält das Grundgesetz außerhalb
des unmittelbaren Anwendungsbereichs von Art. 103 Abs. 2 GG nicht. Ein Rück-
wirkungsverbot ergibt sich vielmehr aus den Grundrechten und dem Rechtsstaats-
prinzip, zu dessen wesentlichen Elementen die Rechtssicherheit zählt, der auf Seiten
des Einzelnen das Vertrauen in den Bestand von Rechtsnormen und Rechtsakten
bis zu ihrer ordnungsgemäßen Aufhebung entspricht (st. Rspr. des BVerfG, vgl. nur
3 KO 1149/03 20
BVerfG, Beschluss vom 25. Mai 1993 - 1 BvR 1509/1648/91 - BVerfGE 88, 384
[403]). Aus dieser Gedankenverbindung Rechtsstaatsprinzip - Rechtssicherheit -
Vertrauensschutz folgt, dass für den Bürger Rechtssicherheit in erster Linie Ver-
trauensschutz bedeutet (vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum
Grundgesetz, Band II, Stand: Februar 2003, Art. 20 GG Rn. 65 m. w. N. zur Rspr.
des BVerfG). Als spezifischer Schutz des Bürgers gegen den Staat kann somit die zu
rückwirkenden Gesetzen ergangene Rechtsprechung des BVerfG nicht auf juristi-
sche Personen des öffentlichen Rechts übertragen werden, um Hoheitsträger im
Streit untereinander zu schützen oder für die Einhaltung gesetzmäßiger Formen bei
einer Gesetzesänderung zu sorgen. Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen kann
nur für solche juristische Personen des öffentlichen Rechts oder ihre Teilgliede-
rungen anerkannt werden, die von den ihnen durch die Rechtsordnung übertragenen
Aufgaben her unmittelbar einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebens-
bereich zuzuordnen sind oder kraft ihrer Eigenart ihm von vornherein zugehören, die
also wie Bürger schutzwürdig sind und die als eigenständige, vom Staat unab-
hängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtungen bestehen. Ihre Tätigkeit betrifft
insoweit nicht den Vollzug gesetzlich zugewiesener hoheitlicher Aufgaben, sondern
die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten. In den von den Grundrechten und dem
Prinzip der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geschützten Lebens-
bereich von Bürgern gehört das Wirken juristischer Personen des öffentlichen Rechts
nicht allein deshalb, weil ihnen Selbstverwaltungsrechte zustehen. Besteht die Funk-
tion, in der eine juristische Person des öffentlichen Rechts von einem rückwirkenden
Gesetz betroffen wird, in der Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener und geregelter
öffentlicher Aufgaben, so ist die juristische Person insoweit als Teil des Staates
offensichtlich nicht schutzwürdig (vgl. zum Grundrechtsschutz juristischer Personen
des öffentlichen Rechts: BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 1984 - 1 BvR 35, 356,
794/82 - BVerfGE 68, 193 [206 ff.]). Etwas anderes gilt nur, soweit der Kernbereich
der verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) betroffen
ist, was vorliegend ausscheidet.
Die Aufgaben nach dem BSHG, unter anderem die Gewährung von Sozialhilfe, sind
örtlichen und überörtlichen Trägern (§§ 9, 96 BSHG in Verbindung mit den jeweiligen
landesrechtlichen Ausführungsgesetzen) als hoheitliche Aufgabe übertragen worden;
die kreisfreien Städte und Landkreise werden in Wahrnehmung dieser gesetzlich zu-
gewiesenen und geregelten öffentlichen Aufgaben als Teil des Staates tätig. Daher
3 KO 1149/03 21
sind sie unabhängig davon, ob sie die Aufgaben des BSHG nach Landesrecht im
eigenen (wie in Thüringen, § 1 S. 2 Thüringer Gesetz zur Ausführung des BSHG in
der Fassung vom 24. Juni 2003 - GVBl. S. 369) oder übertragenen Wirkungskreis
wahrnehmen (vgl. die Nachweise zum Landesrecht bei Schellhorn, BSHG, Kom-
mentar, 16. Aufl., Rn. 34 zu § 96 BSHG), nicht in diesem Sinne als zum Kernbereich
gehörend (vgl. BVerfG, Entscheidung vom 18. Juli 1967 - u. a. 2 BvF 3/62 -
BVerfGE 22, 180) schutzwürdig. Deshalb kann die einen Annex zur Sozialhilfege-
währung darstellende Kostenerstattung zwischen Sozialhilfeträgern gemäß § 107
BSHG ebenso wenig in die Selbstverwaltungsgarantie eingreifen. Diese Regelung
verlängert nur die ursprüngliche, durch einen Umzug entfallende Verpflichtung zur
Sozialhilfegewährung, indem der zuvor örtlich zuständige Träger der Sozialhilfe dem
örtlichen Träger der Sozialhilfe am Zuzugsort die entstandenen Kosten für einen
Leistungszeitraum von maximal zwei Jahren zu erstatten hat (vgl. Beschluss des
Senats vom 29. Januar 2004 - 3 ZKO 219/01 - und vom 6. April 2004
- 3 ZKO 245/04 -).
Die vom Gesetzgeber ergänzte Norm des § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG erfordert daher
zur Bagatellgrenze von 5.000,00 DM eine Beurteilung für die gesamte Familie
A______. Der geltend gemachte Erstattungsanspruch im Zeitraum 7. November
1994 bis 31. Juli 1996 ist daher auch für _____ und _____ A_____ - wie vom Ver-
waltungsgericht festgestellt - sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach gegeben:
Die für _____ A_____ aufgewandten Sozialhilfekosten erreichten von November
1994 bis Januar 1995 2.027,31 DM und für _____ von November 1994 bis Februar
1995 905,07 DM. Zusammen mit den für seine Ehefrau ____ im Zeitraum November
1994 bis Oktober 1995 aufgewandten Beträge von 3.668,83 DM ist in dem ersten
Zwölfmonatszeitraum die Bagatellgrenze von 5.000,00 DM für die gesamte Familie
überschritten, so dass auch die restlichen Kosten für _____ und _____ A_____
(Weihnachtsbeihilfen im Jahre 1995 in Höhe von 122,00 DM bzw. 61,00 DM) zu er-
statten waren.
Darauf, dass die Erstattungspflicht für die an _____ und _____ A______ im
Dezember 1995 geleisteten Beihilfen (insgesamt 183,00 DM) gemäß § 107 Abs. 2
S. 1 BSHG entfallen ist, hat sich der Beklagte nicht berufen. Im Hinblick auf den fort-
dauernden Hilfebedarf der _____ A_____ während des eingeklagten Zeitraumes wird
bei einer Gesamtbetrachtung nach § 11 Abs. 1 S. 2 BSHG auch eine Unterbrechung
3 KO 1149/03 22
fern liegen, zumal § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG in der geltenden Fassung die Mitglieder
eines Haushalts im Erstattungsverfahren als Einheit zusammenfasst.
Das Verwaltungsgericht hat ferner dem Kläger den Zinsanspruch in Höhe von 4 %
seit Rechtshängigkeit zu Recht zugesprochen. Auf die Ausführungen des Gerichts
auf Seite 9 des angegriffenen Urteils wird ebenso Bezug genommen.
Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Soweit das
Rechtsmittel zurückgenommen worden ist, ergibt sich die Kostenfolge aus § 155
Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 194 Abs. 5 VwGO i. d. F. des Gesetzes zur
Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess [RMBereinVpG] vom
20. Dezember 2001 [BGBl. I S. 3987] i. V. m. § 188 S. 2 VwGO a. F.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m.
§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe, aus denen die Revision zuzulassen ist (§ 132 Abs. 2 VwGO), bestehen
nicht.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung angefochten werden. Die Beschwerde ist beim
Thüringer Oberverwaltungsgericht
Kaufstraße 2 - 4
99423 Weimar
durch einen Rechtsanwalt oder eine andere nach näherer Maßgabe des § 67 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung zur Vertretung befugte Person einzulegen. Die Be-schwerde muss die Entscheidung bezeichnen, die angefochten werden soll.
3 KO 1149/03 23
Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung dieser Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Thüringer Oberverwaltungsgericht einzureichen. In der Begründung muss entweder
− die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden
oder
− die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet werden, wenn geltend gemacht wird, von ihr werde in der in dem vorliegenden Verfahren ergangenen Entscheidung abgewichen und die Entscheidung beruhe auf dieser Abweichung,
oder
− ein Verfahrensmangel bezeichnet werden, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Lindner Dr. Schwachheim Mößner