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Instant Books

Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH

© der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2013

Text © Olaf Hauke, 2013

Redaktion: Katrin Kremmler

Umschlagbild: Shutterstock / Shelli Jensen

Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge, Vivien Heinz

Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck

Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral

Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund

ISBN 978-3-64680-025-8

www.carlsen.de

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K A P I T E L 1

»Und seien Sie mir bloß mit diesem Schmied vorsichtig, der ist, wie soll ich

sagen, nicht ganz einfach.« Peppi strich sich über die frisch gezupften

Augenbrauen und schüttelte sich. Den Namen ›Peppi‹ hatte er sich selbst

gegeben. Wollte man ihn provozieren, sprach man ihn wahlweise mit ›Peter‹

oder mit ›Herr Doktor Walser‹ an. Beides sorgte in der Agentur für ein

mittelschweres Erdbeben. Denn im Gegensatz zu seiner fast weiblichen

Erscheinung mit den vollen schwarzen Locken und dem schmalen, dezent

geschminkten Gesicht war Peppi alles andere als weiblich schüchtern und

zurückhaltend. Er konnte brüllen, dass dabei jeder Maurer blass geworden

wäre – immer vorausgesetzt, man nahm es als Tatsachen hin, dass Frauen

schüchtern waren und Maurer brüllten.

Trotzdem wusste Peppi immer, was er wollte. Er war ein Arbeitstier,

geschickt im Umgang mit Kunden und Zahlen. Nicht umsonst war seine

Werbeagentur eine der gefragtesten der Stadt geworden. Nach und nach

hatte Peppi mit seinen Kampagnen nicht nur die Geschäftsleute, sondern

sogar den biederen Senat davon überzeugt, dass er der Richtige war, um die

Stadt in ihrem Jubiläumsjahr mit einer riesigen und für die Agentur äußerst

lukrativen Werbekampagne zu überziehen. Vor vier Jahren war das sein

großer Durchbruch gewesen. Seitdem kannte man ihn als einen Exzentriker,

wie man ihn sich nur in der Werbung vorstellen konnte. Konkurrenten, die

über ihn gelacht hatten, war ihr Lachen schnell im Hals stecken geblieben.

Seine Agentur hatte mittlerweile fast dreißig feste Mitarbeiter, die ihren

Chef zum Teil schon fast andächtig verehrten. Entweder man liebte oder

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hasste Peppi, es gab kein dazwischen. Er war beinahe einsneunzig groß,

durchtrainiert und hatte ein eigenartig altersloses Gesicht. Natürlich ging

man allgemein davon aus, dass er homosexuell war, doch über sein

Privatleben wussten auch die engsten Mitarbeiter so gut wie nichts.

Peppi lebte in einem dreistöckigen Haus direkt am Fluss, ein Stück

außerhalb der Stadt. Er hatte einen Chauffeur, der allgemein als sein

Lebensgefährte betrachtet wurde, doch niemand wusste das mit Sicherheit.

Und niemand hätte es gewagt, den Chef danach zu fragen.

»Die Kampagne für diese Salami? Ich habe Christoph mit der Präsentation

beauftragt, sie läuft im Besprechungsraum.« Silvia de Vries arbeitete schon

seit einigen Jahren als Sekretärin für die Agentur und wusste, wie sie den

Chef und die Kunden zu nehmen hatte. Sie war eine hochgewachsene,

unerschütterliche Mittdreißigerin, immer in einem konservativen Kostüm,

das braune Haar adrett hochgesteckt. Böse Zungen behaupteten, ihr gesamtes

Privatleben bestünde aus gelegentlichen Besuchen in der Kaffeeküche.

»Hat Christoph sich vorher mit Schmied vertraut gemacht?« Peppi hätte

die Stirn gerunzelt, wenn das Botox dies nicht verhindert hätte. Er wühlte in

einigen Papieren vor sich auf dem Schreibtisch und zischelte mit den Zähnen,

wie er es häufig machte, wenn er unruhig war. »Verdammt, ich hätte die

Sache selbst in die Hand nehmen sollen.«

»Ich bin sicher, Christoph hat alles im Griff. Es ist schließlich nicht sein

erster Auftrag, er ist ein erfahrener Produktmanager. Denken Sie an die

Shampoo-Serie, die hat er gerettet.«

»Ja, das hat er.« Peppi seufzte und hörte auf zu wühlen. Vom Fenster aus

hatte er einen wunderschönen Panoramablick über den Marktplatz. Peppis

Agentur nahm inzwischen das ganze oberste Stockwerk des ehemaligen

Kaufhauses ein, das vor einigen Jahren pleite gemacht hatte. Doch das

unruhige Gefühl wollte nicht weichen. Und sein Instinkt hatte ihn selten im

Stich gelassen.

Kaum hatte er diese Überlegung zu Ende gedacht, als im Hintergrund eine

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Tür knallte und eine kleine, dicke Gestalt ins Büro geschossen kam. Sie schob

Silvia zur Seite, die um ein Haar gestolpert wäre. Ich hatte es geahnt, schoss es

Peppi noch durch den Kopf, als er die massige kleine Gestalt von Harald

Schmied vor seinem Schreibtisch sah. Verdammte Scheiße, fluchte er innerlich,

knipste jedoch sofort sein gewinnendstes Lächeln an. Er streckte dem

Besucher forsch die Hand hin und warf mit einer geschmeidigen Geste seine

dunkle Haarpracht in den Nacken.

»Herr Schmied, zauberhaft, Sie zu sehen, wie geht es Ihnen?« Er übersah

Schmieds hässlichen dunkelgrünen Anzug und sein hochrotes Gesicht. Der

Mann war immerhin einer der größten Wurstproduzenten Deutschlands. Er

hatte die Metzgerei seines Vaters übernommen und daraus ein gewaltiges

Unternehmen gemacht. Was Charakter und Durchsetzungskraft anging,

waren Peppi und Schmied sich durchaus ähnlich, es äußerte sich nur völlig

anders. Schmied war konservativ, Kleidung und Auftreten waren ihm absolut

egal. Peppi kannte eines seiner Häuser, sinnlos vollgestopft mit teuren

Antiquitäten und hässlichen Jagdtrophäen an den Wänden. Trotzdem war

allein das Grundstück locker einen siebenstelligen Betrag wert.

Aber ähnlich wie Peppi kümmerte Schmied sich um alles Wichtige gerne

selbst, und dazu gehörte auch die Werbung für seine neue Salami. Peppi als

überzeugter Veganer hätte das Zeug nicht mal mit der Kneifzange angefasst,

aber Millionen von Konsumenten dachten da eben anders.

Schmied übersah Peppis ausgestreckte Hand. »Was machen Sie hier oben?

Ich dachte, Sie sind bei der Präsentation dabei und überlassen Sie nicht

einem ihrer Lakaien!«

Peppi kam um den Schreibtisch herum. Das Schlimme war, dass der

kleine, dicke Mann im schlechtsitzenden Anzug völlig Recht hatte. »Ich kann

Ihnen versichern, dass Christoph Hamberger mein engster Mitarbeiter ist,

der schon unzählige Kampagnen … «

»Der? Der kann doch nicht mal meinen Hunden eine Wurst andrehen!«

Schmied lachte kurzatmig über seinen Scherz, wedelte mit einigen Fotos und

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knallte sie Peppi auf den Schreibtisch, so dass einige andere Papiere

herunterfielen. Silvia wollte sich anschicken, sie aufzuheben, doch Peppi

winkte ungehalten ab, nahm die Bilder und betrachtete sie.

Es waren die Erstabzüge für den Vorschlag einer Plakatwerbung. Ein

schmales blondes Model hielt in beiden Händen eine Salami und war eben

dabei, die obere Spitze mit der Zunge zu berühren. Ihr Gesicht war bekannt.

»Wissen Sie, wie das aussieht?« fragte Schmied schnaubend.

Natürlich wusste Peppi das. Die Frau stand kurz davor, mit der Wurst

Oralverkehr zu haben. Peppi erinnerte sich daran, einmal gelesen zu haben,

dass Schmied bekennender Katholik war. Die Kampagne konnte ihm

unmöglich gefallen.

»Tut mir entsetzlich leid! Ich werde natürlich alles tun, um das wieder

gerade zu rücken!«

»Will ich schwer hoffen. Ich hatte ursprünglich vor, Ihnen die Aufträge für

ganz Norddeutschland zu geben, aber unter diesen Umständen … !« Schmied

brauchte die Drohung nicht einmal auszusprechen.

»Ich muss sagen, auch ich bin über diese Vorschläge erstaunt.« In Peppis

Kopf jagten sich die Gedanken. Wie war Christoph bloß auf die blödsinnige

Idee gekommen, diese dämlichen Salamis als überdimensionale Penisse

darzustellen? Hatte er sich vorher nicht über den Mann informiert? Wie

konnte ihm ein solcher Fehler unterlaufen? Aber, und das war noch viel

schlimmer - wie sollte er das wieder ausbügeln? Er sah in Schmieds hochrotes

Gesicht. Seine blassblauen kleinen Augen starrten ihn bösartig an. Das würde

keine einfache Aufgabe werden.

»Wenn Sie meinen Aufsatz in der letzten Ausgabe von ›Verkauf aktuell‹

gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich mich gegen die übertriebene

Sexualisierung in der Werbung ausgesprochen habe. Ich … «

Schmied lief noch eine Spur roter an. »Sie schreiben Artikel für Zeitungen?

Na herzlichen Glückwunsch, das erklärt, weshalb Sie Ihren Laden nicht im

Griff haben.«

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Peppi gab Silvia ein Zeichen, Christoph unverzüglich zu ihm

hochzuschicken. Sollten alle Stricke reißen, musste er ihn hier vor den Augen

des Kunden entlassen, um Stärke zu demonstrieren. Diese blöden Würste,

das kam davon, wenn man zu viel von diesem ungesunden Zeug in sich

reinstopfte. Er bot Schmied einen Platz an. Leute, die saßen, rannten nicht so

schnell davon. »Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass ich über

diese Präsentation ebenso erschüttert bin wie Sie. Die plumpe Darstellung

der Lust, die in diesem Bild zum Ausdruck kommt … « Er schüttelte den Kopf,

als sei er tatsächlich entsetzt. Die junge Blondine auf dem Bild trug ein enges

Top und eine Lederhose, die kurz über ihrem Hintern endete und mehr

zeigte, als sie verhüllte.

»Ha, sehen Sie?« Schmied wedelte mit seinem kurzen Finger wie mit

einem Degen durch die Luft. »Ihnen macht das auch keine Lust, oder?« Mit

einer Hand lockerte er seine Krawatte.

Peppi, der gerade etwas sagen wollte, stutzte. »Ich fürchte, ich verstehe

nicht recht?« Verwundert setzte er sich auf die äußere Kante des mächtigen

Schreibtisches. Christoph kam im Eiltempo heran, er hatte den Mund offen,

doch Peppi schnitt ihm mit einer herrischen Geste jedes Wort ab.

»Na, diese Frau hat doch noch nie in ihrem Leben ein ordentliches Stück

Wurst gegessen, sehen Sie das denn nicht?«

Christoph mischte sich ein, ehe Peppi reagieren konnte. »Das ist Sonja

Fürst, eines der exklusivsten Models in Deutschland. Es war alles andere als

leicht, sie für den Job zu bekommen.«

Schmied drehte sich um und rollte mit den Augen. »Eben, genau das ist es.

Wenn die da was isst, kotzt sie es doch gleich wieder aus.«

»Sie macht Werbung für einige Fast-Food-Ketten. Diese Burger sind auch

nicht gerade leichte Kost.«

Schmied drehte sich wie ein Tänzer auf seinen Füßen und schlug sich vor

die Stirn. »Aber da kaufen pickelige Jungen, die glauben, in den Läden rennen

tatsächlich solche Frauen rum wie die da. Ich verkaufe meine Wurst an

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gestandene Frauen und Männer, die wollen doch nicht bei jedem Bissen

damit konfrontiert werden, dass sie eigentlich nur Tofu und Magerquark

essen dürften, um so auszusehen.« Er verzog das Gesicht, als hätte er selbst

gerade einen Löffel Quark herunterwürgen müssen. Ohne es zu ahnen, hatte

er Peppis Ernährungsgewohnheiten genannt. Der enthielt sich jedoch eines

Kommentars.

»Woran hatten Sie also gedacht?«

»Also Freunde, wenn ich eure Arbeit machen soll, dann will ich auch dafür

bezahlt werden. Na, appetitlich soll das Plakat eben aussehen, schon mit einer

hübschen Frau, aber einer, die Lust macht, Salami zu essen – meine Salami!«

Er sah Peppi und Christoph an. Beide waren sehr schlank. Christoph hatte

sein blondes Haar zu einer Art Turm gestylt, trug eine silberne Hose und ein

rosafarbenes Hemd.

Schmied sah auf die Uhr. »Ich muss jetzt los, habe heute noch eine

Markteröffnung. Ich gebe Ihnen eine Woche. Dann möchte ich ein Plakat

sehen mit einer hübschen Frau, die den Kunden Appetit macht. Nicht diesen

Hungerhaken, der taugt doch höchstens als Wäscheleine.« Er sah noch einmal

auf das Plakat und verzog das Gesicht. »Wissen Sie übrigens, dass es so

aussieht, als hätte das Gerippe eben Sex mit meiner Wurst?« Er schüttelte

den Kopf. »Da kann einem ja übel werden!«

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K A P I T E L 2

»Wer kann denn ahnen, dass er Sonja Fürst als Werbeträgerin ablehnt? Das ist

doch unfassbar! Auf diese Idee wäre ich nie im Leben gekommen!« Um seiner

Aussage zusätzliche Dramatik zu verleihen, warf Christoph die langen Arme

in die Höhe, während er wie ein Hahn durch Peppis weitläufiges Büro lief. In

langen Reihen hingen dort Bilder von erfolgreichen Werbekampagnen, die

die Agentur schon gefahren hatte.

Versonnen sah Peppi sie an und massierte sich dabei die Stirn. Eigentlich

war sie fast taub vom Botox, dass man ihm unter die Haut gejagt hatte. Nur

an manchen Tagen kribbelte es leicht, als sei die Stirn schlecht durchblutet

und eben dabei, zu neuem Leben zu erwachen. Diese Anfälle waren das

Zeichen, dass die nächste Spritze fällig war. Konnte er sich wirklich

vorstellen, diese Kampagne in seine Ahnengalerie, wie er sie nannte,

aufzunehmen? »Wie bist du auf die Fürst gekommen?« fragte er

unvermittelt, ohne den Blick von den Bildern zu nehmen.

»Ich habe durch einen blanken Zufall erfahren, dass sie frei war«, sagte

Christoph so betont beiläufig, dass Peppi hellhörig wurde.

»Und die Kampagne? Wie hast du die entwickelt?«

Christoph blieb stehen. »Na, ich hatte die Fürst an der Angel. Und sex sells,

was soll ich da groß sagen?« Wieder flogen seine Arme Richtung

Zimmerdecke, aber dieses Mal mit deutlich weniger Überzeugung.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Was sollte die Kampagne

bringen?« Er lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Sollte Fürst diese Wurst verkaufen oder nur sich selbst?«

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Christoph schlenkerte mit seinem Kopf hin und her. »Ich verstehe dich

wirklich nicht. Natürlich ging es um diese eklige Wurst. Hast du das Zeug mal

probiert?«

Peppi lächelte in sich hinein. Christoph versuchte nur, ihn abzulenken, er

wusste genau, dass Peppi die Salami nie angerührt hätte. »Wir wissen doch

beide, dass der Stern der Fürst im Sinkflug ist, nicht? Ich habe munkeln

hören, dass ihre Tagesgagen halbiert wurden.«

»Das hängt doch vom Geschäft ab. Ein großer Auftrag, und ihre Gagen

gehen wieder nach oben, das weißt du so gut wie ich.«

Peppi ging zum Fenster und sah über die Innenstadt hinaus. Jetzt um die

Mittagszeit herrschte dort rege Betriebsamkeit. Peppi liebte es, die Menschen

zu beobachten. An manchen Tagen saß er hier mit einem Fernglas. Dabei

kamen ihm die besten Inspirationen und Eingebungen für seine Arbeit. Es

hatte nichts mit Voyeurismus zu tun, es war wie eine Art Hobby von ihm.

Sein Blick fiel auf ein älteres Ehepaar, das sich die Last einer schweren

Einkaufstasche teilte, jeder an einem Henkel. Sie liefen an dem großen

Brunnen vorbei zur Bushaltestelle und schienen es dabei nicht eilig zu haben.

Zeit war das Vorrecht des Alters, dachte Peppi. Er würde noch einige Jahre

hier oben stehen müssen, ehe er irgendwann einmal Zeit haben würde. Nein,

dachte er, das war Unsinn. Fehlende Zeit deutete fast immer auf schlechte

Organisation hin.

»Eben, ein großer Auftrag, zum Beispiel eine breit ausgelegte Kampagne

für Salami bei Schmied-Wurstwaren. Das würde ihren angeschlagenen

Marktwert beträchtlich steigern.« Peppi drehte sich um und wartete einen

Moment, ehe er weitersprach. »Wenn ich dich nicht besser kennen würde,

würde ich sagen, sie hat mit dir geschlafen. Wer war's? Ihr Manager?«

Peppi brauchte seinen Angestellten nur kurz anzusehen, um zu merken,

dass er ins Schwarze getroffen hatte. »So ein Quatsch«, empörte sich

Christoph hilflos. »Ich bin Profi, ich lasse mich nicht auf so einen Mist ein!«

»Also der Manager. Ich kenne den Typen nicht, war er es wert? Aber ist mir

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auch egal. Dir ist klar, dass ich dich dafür feuern müsste, nicht?«

»Aber … aber das kannst du nicht machen. Ich habe gute Arbeit

abgeliefert.« Christoph wurde sichtlich heiß, seine Gesichtszüge entglitten.

Er fing an zu zittern.

»Hättest du gute Arbeit abgeliefert, hätte Schmied eben nicht wie eine

überreife Tomate ausgesehen. Aber lassen wir das. Du hast eine Woche, das

hast du ja gehört. In einer Woche will ich ein ausgereiftes Konzept ohne die

da.« Er deutete auf die Bilder auf seinem Schreibtisch. »Ich will ein hübsches

Gesicht, ruhig stämmig, warum nicht?« Er sah wieder nach draußen, dort

gingen gerade zwei Frauen Ende Zwanzig am Brunnen vorbei. Die eine schob

einen Kinderwagen. Sie waren beide kräftig, brachten bestimmt mehr als das

Doppelte als das Model auf die Waage.

»Siehst du, das ist es, so was meine ich. Das sind Frauen, wie Schmied sie

meint. Die Kampagne ohne diese Übersexualisierung, mehr Fokus auf die

Frau, die einfache, solide Frau mit ein paar Kilo mehr auf den Hüften. Das

darfst du natürlich nicht betonen, denn Salami soll nicht fett machen. Sie soll

sinnenfroh wirken, keine Ahnung, wie du das nennst.«

»Soll ich die Frauen casten?«

»Mach dich nicht lächerlich.« Peppi stemmte die Hände in die Hüften. »Du

hast eine Woche Zeit, dann habe ich die Kampagne auf dem Tisch. Oder du

hast keinen Job mehr, haben wir uns verstanden?«

»Ich will dir aber nochmal sagen, dass ich nicht … «

Peppi steuerte auf seinen Schreibtisch zu. »Lass gut sein, ich weiß es, und

du weißt es. Eine Woche, denk dran, in Ordnung?«

Christoph verließ fast fluchtartig das Büro, Peppi sah ihm nach. Im

Türrahmen erschien die unerschütterliche Silvia. »Christoph verlässt uns?«

Peppi wandte sich wieder seinen Papieren zu. »Er hat eine Woche Zeit,

also vermutlich ja. Sein Job ist es, ein passendes Model für diese Salami zu

finden.«

»Aber Models gibt es doch wie Sand am Meer, auch etwas Üppigere

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dürften kein Problem sein.«

Peppi, der sich einen Kuli genommen hatte, um etwas zu schreiben, ließ

den Stift wieder sinken. »Jeder erklärt, dass er diese dürren, bulimischen

Models nicht mehr sehen kann. Jedes Jahr wird von irgendeinem Magazin der

Trend zur neuen Weiblichkeit ausgerufen. Und jedes Jahr träumen Hunderte

von dicken Frauen, jetzt werden sie entdeckt. Aber niemand will diese Frauen

sehen, alle wollen sie die Schlanken. Schmied hat einfach eine falsche

Vorstellung von dem, was ihm Umsatz bringt. Und Christoph ist ein Idiot mit

einer schlechten Kampagne.« Peppi zuckte mit den Schultern, um sich dann

wieder seinem Schriftstück zuzuwenden. Er würde eine zweite Kampagne

entwerfen. In einer Woche hätte er Schmied als Kunden gewonnen und

Christoph gefeuert, so einfach war die Welt.

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K A P I T E L 3

Die rötliche Fassade hatte sich in den letzten sechzehn Jahren kein bisschen

verändert. Nur die weißen Fenster waren wohl kürzlich erneuert worden, sie

strahlten noch hell und hatten noch nicht viel vom Staub der Straße

angenommen. Jetzt, im Sonnenlicht eines freundlichen und entspannten

Nachmittags, wirkte das Gebäude ruhig und beschützend.

Das Hauptportal lag vier Stufen erhöht. Darüber schwang sich in einem

grauen Halbbogen der Schriftzug der Schule: Albert-Einstein-Gymnasium.

Um diese Tageszeit waren die Türen der Schule längst geschlossen, nur in

zwei Fenstern war es noch hell. Entweder machte ein Lehrer Überstunden,

oder jemand hatte schlicht vergessen, das Licht auszumachen. Mit einem

Blick auf die Uhr stellte Marina fest, dass es inzwischen kurz vor neun war.

Der Zug hatte fast zwei Stunden Verspätung gehabt. Dann hatte sie ihren

Koffer ins Hotel gebracht und festgestellt, dass es ein viel zu schöner

Sommerabend war, um ihn vor dem Fernseher in einem anonymen, sterilen

Zimmer zu verbringen. Doch als sie die Plastikkarte aus der Zimmertür

gezogen hatte, waren ihre Zweifel wiedergekommen. Vielleicht sollte sie sich

einfach etwas zu Essen kaufen und sich im Zimmer vergraben. Hier konnte

sie niemand sehen, hier hatte sie ihre Ruhe.

Nein, dachte Marina, das ist Unsinn. Sie war eine junge, selbstbewusste Frau,

was sprach dagegen, sich nach ihrer langen Bahnfahrt noch einmal die Beine

zu vertreten. Jeder vernünftige Mensch hätte das getan.

Die junge Frau an der Rezeption hatte ihr freundlich zugenickt, als sie das

Hotel verlassen hatte. »Alles in Ordnung mit dem Zimmer?« hatte sie

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beiläufig gefragt und dabei gelächelt.

»Aber ja, sicher, vielen Dank«, hatte Marina geantwortet und gemerkt, wie

sie ins Stottern geraten war. Dann war sie etwas schneller als nötig nach

draußen auf die Straße gegangen, um das Hotel und die Lobby schnell hinter

sich zu lassen. Morgen musst du dich besser im Griff haben, hatte sie noch gedacht.

Wenn dich schon eine so einfache Frage aus der Fassung bringt, wie schwierig wird es

dann erst, wenn du die anderen wiedersiehst?

Natürlich hatte sich ihre Heimatstadt in den letzten Jahren ein wenig

verändert, aber ihre Straßen waren Marina gut vertraut. Sie hatte sich im

Internet ein Zimmer in einem Hotel in Bahnhofsnähe gebucht, von dem sie

aber auch die Schule bequem erreichen konnte und morgen nicht zu früh

aufstehen musste. Wie häufig in ihrem Leben war sie logisch und strategisch

vorgegangen. Sie hatte sich sogar einen Plan mit Zugverbindungen für die

Rückfahrt ausgedruckt. In ihrem jetzigen Leben war es sehr wichtig,

strukturiert vorzugehen und möglichst viele Eventualitäten zu

berücksichtigen.

Ihre Schritte hatten sie direkt zu ihrer alten Schule geführt, aber

eigentlich war es ganz unbewusst geschehen. Erst als sie das Gebäude

wiedersah, redete sie sich ein, dass hinter ihrem Spaziergang natürlich ein

Plan gesteckt hatte: Sie hatte nur herausfinden wollen, wie weit es war, ob es

mögliche Baustellen oder andere Hindernisse gab. Nein, ein Blick auf die Uhr

sagte ihr, dass sie morgen früh ziemlich genau fünfzehn Minuten brauchen

würde, plus-minus einer Minute wegen der beiden Ampeln. Aber auf jeden

Fall würde ihr ausreichend Zeit bleiben, sich zu duschen, zu schminken, zu

frühstücken und sich auf den Weg zu machen.

Natürlich wusste Marina, dass man in der Schule einen Brunch aufgebaut

hatte, aber sie wollte unbedingt schon vorher etwas essen, damit sie dort

nicht so hungrig war. Sie hatte es schon immer gehasst, mit Leuten zu essen,

die sie kannte. Die würden bloß wieder mitzählen, was sie aß, und

anschließend darüber reden. Dabei ging es niemanden etwas an, sie konnte

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essen, was und so viel sie wollte. Doch es war besser, in der Anonymität des

Hotels zu frühstücken. Außerdem, versuchte sie wieder praktisch zu denken,

hatte sie das Frühstück bezahlt. Es wäre idiotisch, es einfach zu verschenken.

Marina überquerte die Straße und sah an der roten Fassade des

Backsteingebäudes empor. Rechts von ihr lag der Musikturm mit dem

hässlichen grauen Dach. Dort hatte dieser merkwürdige Musiklehrer immer

Klavier gespielt und seine alten Platten aufgelegt, die niemanden interessiert

hatten. Sie erinnerte sich noch, dass er immer mit der linken Gesichtshälfte

gezuckt hatte, die Schüler hatten sich darüber lustig gemacht. Später hatte

sie durch einen Zufall erfahren, dass dieses Zucken ein Nervenleiden gewesen

war, weil der unglückliche Mann mit dem Auto ein Kind überfahren hatte.

Blieb einem nicht zu selten das Lachen im Hals stecken? Inzwischen musste

der Mann um die siebzig sein, er würde kaum noch Schüler mit seinem

Klavierspiel belästigen. Vielleicht hatte er es sogar geschafft, seinen Frieden

mit sich und der Welt zu machen. Der Name des Lehrers wollte ihr einfach

nicht einfallen.

Die Straße um die Schule herum war um diese Uhrzeit kaum noch belebt.

Marina lief einige Schritte am Schulgebäude vorbei. Neben dem Altbau hatte

man das Haus mit einem kleineren Anbau erweitert. Die Fassade bestand

weitestgehend aus Glas, man konnte die einzelnen Treppen erkennen. Marina

erinnerte sich, dass dieser Trakt vor sechzehn Jahren noch in Planung

gewesen war. Hier hatte sie nie Unterricht gehabt, sie war hinter den roten

Backsteinen gefangen gewesen.

Vor ihrem geistigen Auge erschien der graue PVC, die Klassenräume mit

den Stühlen aus Metall und den hellen Sitzflächen aus Holz. Warum hatten

sie eigentlich die Jacken immer draußen aufhängen müssen, wo Gefahr

bestand, dass sie geklaut wurden? Marina schmunzelte. Ob sie die Jacken

morgen auch auf dem Flur aufhängen mussten? Wenigstens würde es

deswegen keinen Eintrag ins Klassenbuch mehr geben.

Vor dem Haus lag der Lehrerparkplatz, beschattet von zwei großen

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Buchen. Inzwischen wurden die Parkbuchten von einer rot-weißen Schranke

gesichert. Jetzt am Samstagabend war der Parkplatz verwaist.

Marina griff in die Tasche und holte einen Schokoriegel heraus. Sie hätte

sich das süße Zeug längst abgewöhnen sollen, aber vom warmen, klebrigen

Gefühl im Mund durchströmte sie immer eine angenehme Ruhe. Und sie

merkte, dass ihr das Gebäude trotz er langen Zeit, die inzwischen vergangen

war, immer noch Angst machte. Sie konnte sich nicht erinnern, an ihrem

jetzigen Wohnort jemals ein derart mulmiges Kribbeln verspürt zu haben. Sie

biss auf eine Nuss, ihr Blick wanderte nach oben. Überrascht stellte sie fest,

dass sie Tränen in den Augen hatte. Verdammt. Es war wohl doch keine gute

Idee gewesen, die Einladung anzunehmen.

Sie hatte sich doch fern ihrer Heimatstadt ein gutes Leben aufgebaut. Seit

mittlerweile acht Jahren arbeitete sie als Fachkraft für

Röntgenuntersuchungen in einer Praxis für Unfallchirurgie. Der Job war

stressig, aber sie liebte ihn. Dort war sie anerkannt, bei allen beliebt und

nicht, wie hier in der Schule damals, die ›dicke Marina‹. Sie hatte keine

Bindungen mehr zu dieser Stadt. Ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter

reiste die meiste Zeit des Jahres mit ihrem neuen Freund in der

Weltgeschichte herum. Ab und an erhielt sie eine Karte oder eine SMS, das

war alles. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war nie das Beste gewesen, aber so

schmerzte auch kein Abschied. An ihrem Vater hatte sie immer sehr

gehangen, aber solange er gelebt hatte, war ihre Schwester ihm das liebere

Kind gewesen. Das hatte er auch offen gesagt. Ein Mädchen hatte klein und

zierlich zu sein, lieb und bescheiden. Aber Marina konnte nichts dafür, dass

sie über einsachtzig groß geworden war. Und schon als Kleinkind hatte sie

viel gegessen und war nicht gerade das gewesen, was man einen Hungerhaken

nennt.

Marina biss versonnen in die Schokolade. Im Laufe der letzten Jahre war

ihre Ernährung nicht eben besser geworden, das wusste sie selbst. Immerhin

war sie im Gesundheitsbereich tätig. Doch geregelte Pausen gab es in ihrem

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Job nicht. Es ging oft hektisch zu, an vielen Tagen vergaß sie schlicht das

Essen. Und irgendwann meldete sich dann der Hunger. Eine liebe Kollegin,

oder Marina selbst, hatte dann hinter dem Tresen eine Tüte mit Keksen oder

Schokolade stehen. Da man hungrig war, griff man zu. Ein Apfel war viel zu

umständlich zu essen, ein Keks machte schnell satt, musste nicht geschnitten

werden und schmeckte natürlich auch leider viel zu gut. Bei ihr in der Praxis

waren sie alle ein wenig kräftiger. Dafür leisteten sie gute Arbeit, waren

freundlich und schnell.

»Das gibt's doch nicht, Marina!« Sie zuckte zusammen, als sie hinter sich

die Stimme hörte. Sie drehte sich um und wusste im gleichen Moment, dass

die Vergangenheit sie eingeholt hatte.

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K A P I T E L 4

Heike sah noch immer gut aus, auch nach all den Jahren. Sie blinzelte Marina

gegen die untergehende Sonne an und hielt dabei einen kleinen, hässlichen

Hund an der Leine, der unbedingt seinen Weg fortsetzen wollte. Ihre Haare

waren heller, vermutlich eine Tönung. Sie hatte noch ihr schmales Gesicht

mit den vielen Sommersprossen und die kleine Lücke zwischen den oberen

Schneidezähnen. Sie trug eine leichte Strickjacke und modische Jeans. »Bist

du jetzt schon da, das Klassentreffen ist doch erst morgen?« lächelte sie und

zog kräftiger an der Hundeleine.

»Oh, ich bin vorhin mit dem Zug gekommen, habe mein Hotel bezogen

und wollte schon mal schauen, ob die Schule noch steht.« Marina merkte, wie

sie unsicher wurde. So ein Blödsinn, sagte ihr ihre innere Stimme, reiß dich

gefälligst zusammen. Du stehst mit einer alten Klassenkameradin vor deiner

ehemaligen Schule, die Prüfungen und das Spießrutenlaufen sind vorbei. Aber sie

fühlte, wie Heike sie unauffällig musterte.

»Gut schaust du aus«, sagte sie, doch es klang nicht ehrlich. »Was machst

du jetzt? Du wohnst nicht mehr hier, oder?«

Marina wurde bewusst, dass sie Heike nie sonderlich hatte leiden können.

Der hässliche Hund zerrte weiter an der Leine.

»Nein, schon lange nicht mehr. Ich habe mir damals eine Ausbildung als

Röntgenassistentin gesucht. Heute arbeite ich in einer Praxis.«

»Ah so«, sagte Heike und zog so kräftig an der Leine, dass der Hund einen

Satz nach hinten machte. Für eine Sekunde herrschte zwischen den beiden

Frauen ein fast unangenehmes Schweigen. »Und verheiratet bist du auch?«

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fragte Heike schließlich.

»Nein, nicht verheiratet, keine Kinder!« Marina lachte, um ihrer

Bemerkung die Schärfe zu nehmen. Es klang, als würde sie von einem

Polizisten verhört und müsste Auskünfte zu ihrem Personenstand geben.

»Aber was machst du hier? Wohnst du hier?«

Das war anscheinend das Stichwort, auf das Heike gewartet hatte. Sie

schilderte sofort die Vorzüge ihrer ›entzückenden‹ und ›riesigen‹

Vierzimmerwohnung, die sie mit ihrem Mann hier in der Straße bewohnte.

Diese Vorteile, viel Licht und Platz, waren Heike anscheinend so wichtig, dass

sie sie mehrfach wiederholte. Schließlich, so schob sie noch einmal hinterher,

brauchte sie viel Platz um sich herum und liebte diese alten Fassaden. Marina

wollte lieber nicht einwenden, dass das ganze Viertel im Krieg zerstört

worden war und die Fassaden demnach nicht ganz so alt sein konnten. Sie

ließ Heike reden, die gerade einen fließenden Übergang von ihrer

›bezaubernden‹ Wohnung zu ihrem überaus erfolgreichen Mann fand.

»Ich habe gar nicht gewusst, dass man so leicht so unanständig viel Geld

verdienen kann«, sagte sie plötzlich und kicherte in sich hinein. Marina rang

sich ein Lächeln ab. Sie tat ihrer ehemaligen Mitschülerin nicht den Gefallen,

zu fragen, wie der Mann denn so viel Geld verdienen konnte, doch diese Frage

war auch überflüssig, denn die Antwort folgte auf dem Fuß. »Wir vertreiben

Juguh«, sagte Heike im Brustton der Überzeugung.

»Joghurt?« Marina hatte mit Schlimmerem gerechnet, allerdings auch mit

Aufregenderem.

»Nein, Juguh, das ist der Schlüssel zu einem gesunden Leben.« Da sie

Marina ihr Unverständnis ansah, fuhr sie fort: »Juguh ist ein rein pflanzliches

Präparat, das du zu allen Mahlzeiten einnimmst. Es reinigt und entschlackt

deinen Körper auf natürliche Weise von Isotonen und freien Radikalen.«

Marina arbeitete seit vielen Jahren in der Medizin, aber diese Begriffe

waren ihr noch nie untergekommen. »Also eine Nahrungsergänzung?« fragte

sie schüchtern.

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Heike riss wieder an der Leine, der Hund folgte dem Befehl nur

widerwillig. »Na, komm mal mit, ich zeig's dir.« Ehe sich Marina sammeln

konnte oder eine Ausrede parat hatte, wurde sie von Heike mitgerissen.

Marina fühlte sich wie der Hund, nur dass sie keine Leine trug.

Der Weg zu Heikes Wohnung dauerte nur wenige Minuten. Die ganze Zeit

über philosophierte Heike über die obskure Wunderdroge. Angeblich

stammte sie aus irgendwelchen Regenwäldern und war hierzulande so gut

wie unbekannt, weil man befürchtete, die armen Indianer, die das Zeug in

mühevoller Handarbeit gewannen, würden sonst durch den Massenmarkt

ausgebeutet. In jedem zweiten Satz kamen außerdem wahlweise die Begriffe

›rein pflanzlich‹ und ›ökologisch‹ vor.

Die ›entzückende‹ Vierzimmerwohnung blieb Marina vorenthalten, sie

wurde von Heike gleich in einen etwas muffig riechenden Keller geführt.

Zumindest von außen sah das Haus ein wenig anders aus als in Heikes

Schilderungen, aber über diese Kleinigkeit ging sie großzügig hinweg. Der

Kellerraum war riesig, dort standen einige alte Fahrräder und ein nach

Benzin stinkender alter Rasenmäher. Marina überlegte sich noch, ob es eine

gute Idee war, Nahrungsmittel neben so einer Gerätschaft zu lagern, da hatte

Heike schon aus einem Karton eine Tüte mit kleinen weißen Tabletten

hervorgezaubert. In einer Tüte mussten sich einige Hundert von ihnen

befinden. In dem Karton waren, durch Packpapier geschützt, noch weitere

Tüten.

Heike öffnete die Tüte und nahm eine Tablette heraus, als habe sie den

heiligen Gral gefunden. »Das ist Juguh«, sagte sie beifallheischend.

Marina nickte nur, irgendwie waren die Umgebung und der leichte

Benzingeruch nicht dazu angetan, Juguh ausreichend zu würdigen.

Andererseits wollte sie Heike nicht vor den Kopf stoßen. Heike erklärte

euphorisch, dass man das Mittel zu jeder Mahlzeit einnehmen sollte. Die

Wirkung sei klinisch getestet, ein fühlbarer Effekt trete schon nach wenigen

Tagen ein. Im Hintergrund gluckerte ein Rohr. Marina merkte, wie ihr der

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Benzingeruch immer mehr auf den Magen schlug.

»Du solltest es dir wert sein«, sagte Heike und sah abschätzig Marinas

Figur an. »Wenn man beruflich eingespannt ist, achtet man häufig nicht so

auf seine Ernährung.« Sie sprach, als hätte sie Marinas Gedanken von vor

einigen Minuten erraten. Oder war es doch nur eine leere Floskel, die einfach

auf viele Menschen zutraf?

»Und du verkaufst dieses Juguh?« fragte Marina und betrachtete im

trüben Licht der Kellerleuchte die weiße Tablette, die ihr Heike auf die

Handfläche gelegt hatte.

»Du solltest dir ruhig eine Kur gönnen. Mal ehrlich, deine Gesundheit

sollte dir doch dreißig Cent pro Tag wert sein«, sagte Heike und kräuselte

dabei süßlich die Lippen. Dreißig Cent hatte schließlich jeder übrig.

»Die Tüte kostete dreißig Cent?« Marina schaute immer noch die Tablette

an, als käme sie von einem anderen Stern. Sie hatte in ihrem Leben schon

Hunderte von Tabletten gesehen, aber noch nie hatte ihr jemand in einem

Kellerverschlag eine ganze Tüte verkaufen wollen.

»Nein, natürlich nicht, sie kommen schließlich aus Bolivien!« Dinge aus

Bolivien waren offensichtlich teurer als Dinge aus dem Rest der Welt. »Aber

weil wir uns schon so lange kennen, lasse ich dir diesen Dreimonatsvorrat für

einen Hunderter.« Heike sah den Beutel so abschätzig an, als würde sie durch

den Verkauf ein äußerst schlechtes Geschäft machen.

In Marina schrillten die Alarmglocken los. Sie verdiente nicht schlecht,

aber auch nicht gut genug, um einfach so mal hundert Euro auszugeben.

Heike drückte ihr die Tüte in die Hand. »Probier's einfach mal, es wird dir gut

tun!« Wieder sah sie Marina abschätzig an.

Marina sah Heikes schlanke Figur. Natürlich war das mit den Tabletten

Quatsch. Oder doch nicht? Heike sah jung und fit aus, sie wog vielleicht die

Hälfte von Marina. »Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass die Welt

ungerecht ist?« fragte Heike unvermittelt.

»Ungerecht? Inwiefern?« Marina war durch den Hund irritiert, den Heike

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draußen angebunden hatte, und der nun anfing zu kläffen.

»Manche Menschen können essen, was sie wollen, bei anderen schlägt jedes

Gramm sofort an.« Heike sagte nicht, dass die Tüte mit den Tabletten, die sie

noch in der Hand hielt, die Lösung sei, aber hielt sie demonstrativ in die

Höhe. Und hundert Euro waren auch wirklich nicht die Welt für ein besseres

Leben, oder nicht?