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Theorien langsam, aber stetig ein, woran Deuser nicht ganz unschul- dig ist. »Peirce kann man sich nur mit Zeit und Geduld nähern«, so der Frankfurter, der sich an seine intensive Studienzeit in Boston er- innert. Der Bibliotheksdiener kam, brachte ihm die locker gebundenen losen Blätter dieses Genies, und in der anregenden Atmosphäre der holzgetäfelten Library spürte Deu- ser förmlich, was Peirce mit Philo- sophieren gemeint hatte: die Arbeit des ermittelnden Detektivs, der die Vielfalt der Möglichkeiten entdeckt, dann wahrnimmt, wie sich aus all dem Möglichen blitzartig, fast in- stinktiv die Hypothese entwickelt und diese dann über viele Stufen des logischen Denkens ausarbeitet. Peirce, dieser kauzige Grenzgänger zwischen Naturwissenschaften und Religionsphilosophie, hinterließ sei- ner Nachwelt seine Gedanken auf unzähligen Blättern, die er nur teil- weise systematisiert hatte. Seine Philosophie beruht darauf, dass er Aussagen als Zeichengefüge be- trachtet, die aus Interpretationen Perspektiven 79 Forschung Frankfurt 4/2006 Vom »Little Book on Religion« zum Opus magnum der Religionsphilosophie Privilegiert: Der Theologe Hermann Deuser und die geschenkte Zeit D ie Klammern des dicken Ord- ners wollen das Werk einfach nicht zusammenhalten: Nur ein Satzfragment, einen Quergedanken zu Luhmanns Religionssoziologie, wollte Hermann Deuser dazwi- schen heften, doch nun lässt sich das detaillierte Inhaltsverzeichnis »on top« kaum mehr bändigen, schiebt sich raus aus der Umklam- merung. »Es ist an der Zeit, dass ich mein Werk zur Religionsphiloso- phie abschließe«, deutet Hermann Deuser die Zeichen der Zeit, er lä- chelt hintergründig und bugsiert die vorwitzigen Seiten zurück in ihre ursprüngliche Ordnung. Seit An- fang Oktober hat er endlich die Muße, sich voll einzulassen auf all die Themen, die er seit Jahren in seinem Kopf bewegt und die er, systematisch vorsortiert, aus seinen Vorlesungs- und Vortragspapieren in diesem weißen Ordner gebündelt hat. Der Frankfurter Theologe hat das bekommen, was Geisteswissen- schaftler am dringendsten benöti- gen, um kreativ zu sein und kom- plexe Zusammenhänge zu Papier zu bringen: freie Zeit, damit das große Werk, sein Opus magnum, vollendet werden kann. Als der Frankfurter Wissenschaft- ler im Juni 2005 einen Aushang am Schwarzen Brett des Fachbereichs Evangelische Theologie auf dem Campus Westend entdeckte und kurz danach auch die Ausschrei- bung für das Programm »Pro Geis- teswissenschaften« der Fritz Thys- sen-Stiftung und VolkswagenStif- tung bekam, sah er darin sofort eine enorme Chance, die es zu nut- zen galt. Wusste er doch bereits, wie intellektuell beflügelnd ein Jahr ohne Vorlesungen, Seminare und Sprechstunden sowie ohne jegliche administrative Aufgaben werden könnte, um seine Beschäftigung mit der europäischen und nord- amerikanischen Religionsphiloso- phie voranzubringen. »Der Verlag de Gruyter drängt mich seit Jahren, aber neben den alltäglichen Ver- pflichtungen als Professor bleibt nur wenig Freiraum, an einem in sich geschlossenen Werk zu schreiben. Mein Ziel ist es vor allem, neue Be- züge herzustellen, wie sie durch die analytische Religionsphilosophie, den amerikanischen Pragmatismus und die Neuaufnahme kosmologi- scher und metaphysischer System- bildungen möglich geworden sind.« Während es im englischsprachigen Bereich geradezu eine Serie von re- ligionsphilosophischen Handbü- chern, Lexika und Sammelwerken gibt, ist dieses Themenfeld in Deutschland immer noch sehr ver- nachlässigt. »Sabbatical« in der Harvard Library Deuser hatte bereits Anfang der 1990er Jahre erfahren, wie inspirie- rend »sabbatical time« ist: Damals studierte er ein halbes Jahr in der Houghton Library der Bostoner Harvard University die Originale von Charles Peirce; finanziert wur- den seine Forschungsmonate von der German Marshall Fund of the U.S. Peirce, in den USA zunächst verschmäht, gilt in traditionsrei- chen Kreisen der amerikanischen Religionsphilosophen längst als ei- ner der genialsten Denker, in Euro- pa sickert das Wissen um Peirces Manuskriptsamm- lung für das Opus magnum.

UNI 2006/04 Teil 4 · denden Anteil an der enormen wis-senschaftlichen Kleinarbeit, sie ist sozusagen Expertin der ersten Stunde.« Auch sie studierte an der Quelle und arbeitete

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Theorien langsam, aber stetig ein,woran Deuser nicht ganz unschul-dig ist. »Peirce kann man sich nurmit Zeit und Geduld nähern«, soder Frankfurter, der sich an seineintensive Studienzeit in Boston er-innert. Der Bibliotheksdiener kam,brachte ihm die locker gebundenenlosen Blätter dieses Genies, und inder anregenden Atmosphäre derholzgetäfelten Library spürte Deu-ser förmlich, was Peirce mit Philo-sophieren gemeint hatte: die Arbeitdes ermittelnden Detektivs, der dieVielfalt der Möglichkeiten entdeckt,dann wahrnimmt, wie sich aus alldem Möglichen blitzartig, fast in-stinktiv die Hypothese entwickeltund diese dann über viele Stufendes logischen Denkens ausarbeitet.Peirce, dieser kauzige Grenzgängerzwischen Naturwissenschaften undReligionsphilosophie, hinterließ sei-ner Nachwelt seine Gedanken aufunzähligen Blättern, die er nur teil-weise systematisiert hatte. SeinePhilosophie beruht darauf, dass erAussagen als Zeichengefüge be-trachtet, die aus Interpretationen

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Vom »Little Book on Religion« zum Opus magnum der ReligionsphilosophiePrivilegiert: Der Theologe Hermann Deuser und die geschenkte Zeit

Die Klammern des dicken Ord-ners wollen das Werk einfach

nicht zusammenhalten: Nur einSatzfragment, einen Quergedankenzu Luhmanns Religionssoziologie,wollte Hermann Deuser dazwi-schen heften, doch nun lässt sichdas detaillierte Inhaltsverzeichnis»on top« kaum mehr bändigen,schiebt sich raus aus der Umklam-merung. »Es ist an der Zeit, dass ichmein Werk zur Religionsphiloso-phie abschließe«, deutet HermannDeuser die Zeichen der Zeit, er lä-chelt hintergründig und bugsiert dievorwitzigen Seiten zurück in ihreursprüngliche Ordnung. Seit An-fang Oktober hat er endlich dieMuße, sich voll einzulassen auf alldie Themen, die er seit Jahren inseinem Kopf bewegt und die er,systematisch vorsortiert, aus seinenVorlesungs- und Vortragspapierenin diesem weißen Ordner gebündelthat. Der Frankfurter Theologe hatdas bekommen, was Geisteswissen-schaftler am dringendsten benöti-gen, um kreativ zu sein und kom-plexe Zusammenhänge zu Papierzu bringen: freie Zeit, damit dasgroße Werk, sein Opus magnum,vollendet werden kann.

Als der Frankfurter Wissenschaft-ler im Juni 2005 einen Aushang am

Schwarzen Brett des FachbereichsEvangelische Theologie auf demCampus Westend entdeckte undkurz danach auch die Ausschrei-bung für das Programm »Pro Geis-teswissenschaften« der Fritz Thys-sen-Stiftung und VolkswagenStif-tung bekam, sah er darin soforteine enorme Chance, die es zu nut-zen galt. Wusste er doch bereits,wie intellektuell beflügelnd ein Jahrohne Vorlesungen, Seminare undSprechstunden sowie ohne jeglicheadministrative Aufgaben werdenkönnte, um seine Beschäftigungmit der europäischen und nord-amerikanischen Religionsphiloso-phie voranzubringen. »Der Verlagde Gruyter drängt mich seit Jahren,aber neben den alltäglichen Ver-pflichtungen als Professor bleibt nurwenig Freiraum, an einem in sichgeschlossenen Werk zu schreiben.Mein Ziel ist es vor allem, neue Be-züge herzustellen, wie sie durch dieanalytische Religionsphilosophie,den amerikanischen Pragmatismusund die Neuaufnahme kosmologi-scher und metaphysischer System-bildungen möglich geworden sind.«Während es im englischsprachigenBereich geradezu eine Serie von re-ligionsphilosophischen Handbü-chern, Lexika und Sammelwerkengibt, ist dieses Themenfeld inDeutschland immer noch sehr ver-nachlässigt.

»Sabbatical« in der Harvard Library

Deuser hatte bereits Anfang der1990er Jahre erfahren, wie inspirie-rend »sabbatical time« ist: Damalsstudierte er ein halbes Jahr in derHoughton Library der BostonerHarvard University die Originalevon Charles Peirce; finanziert wur-den seine Forschungsmonate vonder German Marshall Fund of theU.S. Peirce, in den USA zunächstverschmäht, gilt in traditionsrei-chen Kreisen der amerikanischenReligionsphilosophen längst als ei-ner der genialsten Denker, in Euro-pa sickert das Wissen um Peirces

Manuskriptsamm-lung für das Opusmagnum.

UNI 2006/04 Teil 4 06.12.2006 18:00 Uhr Seite 79

und in jüngster Zeit mit der Einbe-ziehung der Islamwissenschaftennoch weiter geöffnet wurde.

Die Doppelchance: Fellow am Max-Weber-Kolleg undgefördert von »Pro Geistes-wissenschaften«

Der Zeitpunkt für Deusers Vorha-ben ist aus mehrerlei Hinsicht opti-mal gewählt: Zwei Jahre ist er vonallen universitären Verpflichtungenfreigestellt – im ersten Jahr als Fel-low am Max-Weber-Kolleg, einemInstitut for Advanced Studies derUniversität Erfurt, und im zweitendurch das neue Förderprogramm»Pro Geisteswissenschaften – Opusmagnum«, in das bundesweit nurneun Wissenschaftler aufgenom-men wurden, finanziert von derFritz Thyssen Stiftung und derVolkswagenStiftung. Zufall oder Fü-gung? »In der gleichen Woche, alsich die Zusage für das ›Opus mag-num‹ bekam, rief mich auch HansJoas aus Erfurt an und lud mich alsFellow des Max-Weber-Kollegs ein.Als Theologe, der sich intensiv mitPeirces Pragmatismus beschäftigt,könne ich die Diskussion der Fel-lows und Kollegiaten nachhaltig be-reichern.« Als Fellow hat er keineResidenzpflicht in Erfurt, er darfseine Anwesenheit auf wenige Tageim Monat begrenzen und in qualifi-zierter Runde insbesondere The-men der Religionssoziologie voran-bringen, mit denen er sich zurzeitin seinen Lektürestunden zu Hauseintensiv beschäftigt. Warum geradeer in diese beiden handverlesenenZirkel aufgenommen wurde, das in-teressiert den Theologen ehrlich ge-sagt weniger. »Bei ›Pro Geisteswis-senschaften‹ kenne ich weder dieGutachter noch ihre Kriterien, ichhabe es schlicht mit einem Antragversucht, von dem zumindest ichüberzeugt war.«

Deusers kreative und zudem fi-nanziell abgefederte Schaffensphasebietet Nachwuchswissenschaftlerneine Chance: So vertritt nun diePrivatdozentin Dr. Gesche Linde[siehe auch Gesche Linde, »DemWirklichen liegt das Mögliche vo-raus – Über Religion und Theologienach der Aufklärung«, Seite 39] ih-ren Kollegen, ihre Stelle wird zu-nächst über die Universität Erfurtund im zweiten Jahr aus dem För-dertopf »Pro Geisteswissenschaf-ten« finanziert. Die Wissenschaftlerarbeiten seit Anfang der 1990er

von Zeichen entstehen; danach istalles Denken an Zeichen gebunden,die zwischen Objekt- und Subjekt-welt vermitteln. [siehe auch GescheLinde »Allem Wirklichen liegt dasMögliche voraus – Über Religionund Theologie nach der Aufklä-rung«, Seite 39].

Die Genialität seines Werks er-schließt sich nur dem, der sich in-tensiv einlässt auf seine Gedanken-welt zwischen Metaphysik und Ma-thematik. Wenn man im wahrstenSinne des Wortes befasst ist mit denPeirceschen Originalen, dann istdies zusätzlicher Ansporn, tiefereinzudringen in die schwierige Ma-terie. Welche Handschrift hat esdem Frankfurter denn damals be-sonders angetan? »Es war ›My littleBook on Religion‹, ein unscheinba-

res Heft, ein handschriftlicher Ent-wurf mit einem fragmentarischenInhaltsverzeichnis.« Dieses ein-drucksvoll unvollendete Büchleinbeflügelt Deuser auf seine Art zum»Opus magnum«, zu einem mäch-tigen Werk, das ein umspannendesGanzes erwarten lässt – konzen-triert und hochdosiert auf über 400Seiten zwischen zwei leinenenBuchdeckeln. »Schon seit Jahrentreibt mich die Idee um, die großenTraditionen der europäischen Reli-gionsphilosophie mit ihren aktuel-len Bezügen darzustellen«, so der60-jährige Theologe, der seit 1997an der Johann Wolfgang Goethe-Universität lehrt und der seit 1999auch dem Direktorium des Institutsfür religionsphilosophische For-schung (IRF) angehört, mit dem dieFrankfurter Tradition von Paul Til-lich und Martin Buber, über dieGrenzen der einzelnen Theologienhinauszuschauen, wieder belebt

Jahre eng zusammen, sind beideabsolute Peirce-Experten. »Ihrenursprünglichen Plänen einer Disser-tation ist die Entdeckung des ameri-kanischen Pragmatismus und vorallem der Texte von Peirce dazwi-schengekommen«, und daran warder Frankfurter Theologe nichtganz unschuldig. Denn Gesche Lin-de arbeitete an seiner Edition derPeirce-Texte zur Religionsphiloso-phie mit. »Sie hatte ganz entschei-denden Anteil an der enormen wis-senschaftlichen Kleinarbeit, sie istsozusagen Expertin der erstenStunde.« Auch sie studierte an derQuelle und arbeitete ein Jahr am»Peirce Edition Project« in Indiana-polis mit.

»Opus magnum« ist das Werkeines Einzelnen, das bisher vonbundesdeutschen Forschungsorga-nisationen kaum bedacht wurde,das Gegenkonzept zu »Forschungs-clustern«, die für Naturwissen-schaftler unabdingbare Vorausset-zung für erfolgreiches Forschensind. Auch wenn sein Werk letzt-lich im Alleingang entsteht, so ver-körpert Deuser nicht den Typus desEinzelgängers, der einzig auf seineGedankenwelt konzentriert ist.»Ohne ein gewachsenes Netzwerkund kritisch-inspirierende Diskus-sionen ist eine solche Phase deskreativen Denkens und Schreibensfür mich völlig unvorstellbar.«Nicht zuletzt deshalb empfindetDeuser die Auswahl in den Kreisder Max-Weber-Fellows, die ausverschiedenen geistes- und sozial-wissenschaftlichen Disziplinen kom-men, als so bereichernd. Zudem ge-hört Deuser seit über 20 Jahren ei-nem »organisierten Debattenzirkel«von 15 etwa gleichaltrigen Theolo-gen an, der sich einmal im Jahr –ursprünglich im schwäbischen Pful-lingen – trifft, inzwischen unter derMarke »Theologischer ArbeitskreisPfullingen« firmiert und seine Bei-träge nach oft kontroverser Diskus-sion im Marburger Jahrbuch Theo-logie veröffentlicht. »Ohne einensolchen geschlossenen Kreis, in demwir offene Sachdebatten führen, diegelegentlich hart, aber erhellendsind, kommt kein Geisteswissen-schaftler aus.« Im Kreise der intel-lektuellen Sparringpartner eröffnetsich für Deuser »die Möglichkeitdes kreativen Entdeckens, was wirtheologisch als Offenbarung be-zeichnen – kurz gesagt: Mir leuch-tet definitiv etwas ein!«

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Zur rechten Zeit: Die Zeit der Reife

Der Ruf zur rechten Zeit – das be-zieht Deuser auch auf sein Lebens-alter: Während Naturwissenschaft-ler ihre kreativen Leistungen vornehmlich in jungen Jahren her-vorbringen, benötigen Geisteswis-senschaftler für ein großes WerkÜberblick, Perspektiven und Erfah-rungen. »Die Zeit war jetzt erst reiffür mich.« Die Liste der Philoso-phen und Theologen aus dem 19.und 20. Jahrhundert, die Deuser inseiner wissenschaftlichen Sozialisa-tion entscheidend geprägt haben,liest sich imposant: Ohne das inten-sive Studium Sören Kierkegaards,mit dem Deuser sich in seiner Pro-motion und Habilitation, aber auchals Herausgeber der deutschenKierkegaard Edition permanentauseinander gesetzt hat, ohne dieVorlesungen Adornos und die ver-tiefte Lektüre seiner Schriften (»Ichsaß Mitte der Sechziger in AdornosVorlesungen in Frankfurt ganz hin-ten, war fasziniert von seinem frei-en Vortrag, habe auch gemeint, ichverstehe ihn ... – doch intensiver er-schlossen habe ich mir AdornosMetaphysik erst während meinerHabilitation.«), ohne die eigenwilli-gen Ansätze von Ludwig Wittgen-stein und Charles Peirce wäre seingroßer Wurf zur Religionsphiloso-phie nicht umzusetzen. Prozessedes Verstehens, Erschließens undErfahrens sind nur begrenzt zu be-schleunigen – eben durch intensiveLektüre, Zeit des Nachdenkens undnicht zu unterschätzende Einflüsseder fortschreitenden Lebenserfah-rung.

Hat ihn auch der »Zeitgeist« inseinem wissenschaftlichen Interessegelenkt, das, was gesellschaftlich»en vogue« ist, sich gut vermarktenlässt? Dass Religionen eine solcheRenaissance erleben würden undfundamentalistische Strömungendie Beschäftigung mit den Gemein-samkeiten der Religionsphiloso-phien von Judentum, Christentumund Islam wichtiger denn je er-scheinen lassen, hatte Deuser zuBeginn seiner wissenschaftlichenKarriere nicht voraussehen kön-nen. Was er in den vergangenenJahrzehnten allerdings immer stär-ker wahrnahm, waren eine Verun-sicherung und der Abschied vomreinen Fortschrittsoptimismus. Überdie Wissenschaftstheorie, zu der

eben auch die Religionsphilosophiezählt, sieht Deuser Chancen, umBrücken zwischen Religion und Na-turwissenschaften zu schlagen. »DieWissenschafts- und möglicherweiseauch die Gesellschaftsentwicklungdes 20. Jahrhunderts hätten andersverlaufen können, wären die Ent-scheidungen der technischen Ver-nunft nicht vom geisteswissen-schaftlich repräsentierten Lebenszu-sammenhang derart selbstsicherabgetrennt worden.«

Seine Lehrer: Zwischen Kurvendiskussion und Gottesbeweis

Der intellektuelle Diskurs zwischenden Disziplinen reizte Deuser schonin jungen Jahren, als er den natur-wissenschaftlichen Zweig des

Frankfurter Ziehen-Gymnasiumsbesuchte. »Es gibt nur eine ehrlicheDiskussion, und das ist die Kurven-diskussion.« Dieser Satz seines ge-schätzten Mathelehrers aus derKriegsgeneration, die sich nach denerschütternden Erfahrungen mitHolocaust und Zweitem Weltkriegnur noch an rational Beweisbaremorientieren wollte, provozierte denOberstufenschüler, spornte ihn an,sich mit Beweisen anderer Art –wie den Gottesbeweisen in der Phi-losophie und Theologie – auseinan-der zu setzen.

Zu den charismatischen Persön-lichkeiten seiner frühen Studien-jahre zählt Deuser den MarburgerProfessor Carl-Heinz Ratschow, derihm die Weite der religionsphiloso-phischen Betrachtungsweisen eröff-nete. »Das war zu jener Zeit in Eu-ropa eher die Ausnahme.« DieseImpulse haben Deusers wissen-schaftliche Karriere bis heute ge-

prägt: »Es geht mir dabei im We-sentlichen um die Fragen, wie dieeuropäische Aufklärung kritisch,destruktiv oder konstruktiv mit Re-ligion umgegangen ist, wie wir heu-te daran produktiv anknüpfen kön-nen oder warum dieser aufkläreri-schen Tradition mit guten Gründenauf der Basis der philosophischenund theologischen Entwicklungendes 20. und 21. Jahrhunderts auchwidersprochen werden muss.« InCharles Peirces »Scientific Metaphy-sic« – für europäische Gelehrte ehereine inakzeptable Wortschöpfung –stieß Deuser Mitte der 1970er Jahreauf neue Pfade: Peirce überwanddie prinzipielle Opposition zwischender Sphäre des Geistes und der Na-tur, »indem er den unabdingbarenZusammenhang von Begriffs- undÜberzeugungsbildungen mit Hand-lungen im Lebenshorizont nachge-wiesen hat«, so Deuser. »Darin be-steht die Grundeinheit des philoso-phischen Pragmatismus.«

Sich mit Religionsphilosophie zubeschäftigen, klappt nicht ohne Of-fenheit und Toleranz, reklamiertDeuser lebhaft – nur so öffnetensich Räume des Dialogs zwischenden Religionen, wie sie schon dieVorsokratiker sahen. »Religionsphi-losophie beginnt dann, wenn es ineiner Kultur erlaubt ist, die eigeneReligion mit Distanz und Kritikver-mögen zu betrachten.« Auch ab-seits der ausgetretenen Pfade zudenken – das ist für den Wissen-

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Die Autorin

Ulrike Jaspers, 50,ist seit 1988 alsReferentin fürWissenschafts-kommunikationder UniversitätFrankfurt unteranderem verant-wortlich für dasWissenschaftsma-gazin »ForschungFrankfurt«. Die Diplom-Journalis-tin, die sich wäh-rend eines von derRobert-Bosch-Stif-tung finanziertenStipendiums beider Max-Planck-Gesellschaft fürden Wissen-schaftsjournalis-mus qualifizierte,war in den vergan-genen MonatenkommissarischeLeiterin der Abtei-lung Marketingund Kommunikati-on der JohannWolfgang Goethe-Universität.

Textarbeit amhäuslichenSchreibtisch in Treis.

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›Beliefs‹, seiner Grundüberzeugun-gen, nicht aussetzen will, der neigtzum Fundamentalismus.«

Als Deuser und seine Familie vor12 Jahren nach Treis, einem zwi-schen Gießen und Marburg gelege-nen Ortsteil von Staufenberg zogen,hätten sie nicht gedacht, dass sie imOberhessischen solche Wurzelnschlagen würden. Den Impuls, sichstärker in das Gemeindeleben zuintegrieren, brachten die positivenErfahrungen aus dem halben Jahrin Boston: »Diese gelebte Gemein-defrömmigkeit mit ihrem lebendi-gen Gottesdienst und der Offenheitfür religiöse Erfahrungen habenmich verändert und den Wunschnach einem stärkeren Engagementin der Gemeinschaft geweckt«, be-richtet Deuser begeistert, wie ersich aus der »akademischen Reser-ve« locken ließ. »Als ›ordinierterPfarrer im Ehrenamt‹ predige ichinzwischen auch regelmäßig hier inTreis, nehme die Herausforderungan, mich den konkreten Lebensfra-gen im Gottesdienst zu stellen.«

Fühlt sich der Wissenschaftler anseinem Schreibtisch nicht unmerk-lich bedrängt von den HundertenBüchern von Sokrates (»Die Ausei-nandersetzung mit Texten der Klas-siker spielen bei meinem Opusmagnum wieder eine besondereRolle«) bis Habermas (»einer der

schaftler Deuser unumgänglicheVoraussetzung. Schöpfung, Erlö-sung, Leid, Liebe, Vergebung – diese»großen Symbole« finden sich inallen Religionen, aber jeder erfährtdie »göttliche Offenbarung« dieserSymbole auf seine individuelle Wei-se. »Doch wer sich dem Prozess desintersubjektiven Erklärens seiner

ersten, der Peirce in Deutschlandeinbrachte«), die dicht gereiht rechtsund links in den Regalen seinesschmalen Arbeitszimmers stehen?Mehr als Stimulation denn als Lastempfindet er die Nähe zu den Geis-tesgrößen und genießt gleichzeitigden Fernblick über das DörfchenTreis auf die Wiesen und Felder derRabenau. Die Landschaft übte aufden Großstädter eine ähnliche Fas-zination aus, wie sie offensichtlicheinst Rilke verspürt hatte, der häu-fig bei der befreundeten Familie derGräfin Luise Schwerin in der Rabe-nau verweilte.

Zeit zur Muße und zum Weit-blick über den Kirchturm hinaus:Wenn sich Deuser morgens gleichnach dem Frühstück in sein Ar-beitszimmer zurückzieht, dann ver-gisst er die Zeit, studiert, macht sichNotizen, schreibt Textpassagen inseinen Laptop. Drei bis vier Stun-den können solche intensivenSchaffensphasen andauern, undnicht selten gönnt sich der Autornach kurzen Unterbrechungen imGarten zwei oder drei dieser Peri-oden konzentrierter Arbeit am Tag.Die geschenkte Chance, ein in sichgeschlossenes Werk, eben eine Mo-nografie, schreiben zu können, hilftihm, dieses Rad, das ihn inSchwung hält, jeden Tag aufs Neueanzuwerfen. ◆

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Heute Uni, morgen Biotech-Branche»humatrix AG« – erfolgreich mit Vaterschaftstests und prädiktiver Gendiagnostik

Wer das futuristische, mit demArchitekturpreis der Stadt

Frankfurt im Jahr 2004 ausgezeich-nete Gebäude betritt, findet sich ineiner hypermodernen Designerweltwieder. Abgerundete Betonmauern,abgedunkelter Fahrstuhl mit End-los-Video, abgesicherte Eingänge zudiversen Kommunikations- undHightech-Firmen. Hier hat auch dieFirma »humatrix« seit knapp dreiJahren ihren Sitz. Die Geschichtedieser Unternehmensgründung ausder Universität Frankfurt herausbegann jedoch schon Ende 1999,als fünf begabte junge Leute be-schlossen, ihr erworbenes Wissenmöglichst bald in Geld umzusetzen.Alle wollten sich schnell selbststän-dig machen, der Akademie den Rü-cken kehren, anders sein als die

Masse. Eine von ihnen war die Bio-chemikerin Anna Eichhorn – mitihren damals 27 Jahren die Ältesteim Team und die einzige Frau. 2000war der erste Businessplan fertig,und im Februar 2001 folgte derEintrag ins Handelsregister. Gleich-berechtigte Inhaber des Unterneh-mens waren Eichhorn und zwei ih-rer Kommilitonen, ein Informatikerund ein Jurist. »Als wir uns grün-deten, war die Hochzeit der Biotech-Branche gerade vorbei. Dennochsahen wir alle schon vor unsereminneren Auge den Porsche in derGarage und das dicke Bankkonto«.

Übrig geblieben vom Gründer-team sind neben Anna Eichhorn,die immer noch gerne ihren Polofährt, der Biochemiker MatthiasSchneider und der Informatiker

Martin Thoma. »Einer der Gründerist bereits nach einem Jahr ausge-stiegen – ihm war wohl das Risikozu hoch. Ein anderer vor kurzem.Dafür kam der WirtschaftsingenieurTobias Gerlinger neu ins Team, derauch den Posten des Vorstandsvor-sitzenden innehat,« berichtet sieund betont: »Wir sind ein einge-schworenes Team.« Kein Wunder,haben sie doch neben Studium be-ziehungsweise Doktorarbeit die Fir-ma gegründet, entwickelt und ge-führt. »Am Anfang gab es keineGehälter – dafür aber reichlich Ar-beit. Mein Doktorvater hat mir zumGlück unkonventionelle Arbeitszei-ten zugestanden – promoviert habeich von 18 Uhr bis 4 Uhr morgens.Leider hat uns die Universität amAnfang keine Räumlichkeiten zur

Mit Charles Peir-ces »ScientificMetaphysic« ent-deckte der Frank-furter TheologeProf. Dr. HermannDeuser den ameri-kanischen Prag-matismus.

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