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Verortung(en) des Ecocriticism in transkulturellen Zeiten Eine Untersuchung zur Verknüpfung einer ökologisch orientier- ten Literaturwissenschaft mit Konzepten der kulturellen Ge- dächtnisstudien am Beispiel von Peter Handkes Die Obstdiebin Wiebke Lenz Institutionen för slaviska och baltiska språk, finska, nederländska och tyska Examensarbete (30 hp) Masterprogram i litteraturvetenskap (120 hp), inriktning mot tyska Vårterminen 2021 Handledare: Caroline Merkel English title: The Place(s) of Ecocriticism in Transcultural Times – A study link- ing Ecologically Oriented Literary Studies with concepts of Cultural Memory Studies using the example of Peter Handke’s The Fruit Thief

Verortung(en) des Ecocriticism in transkulturellen Zeiten

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Verortung(en) des Ecocriticism in transkulturellen Zeiten Eine Untersuchung zur Verknüpfung einer ökologisch orientier-

ten Literaturwissenschaft mit Konzepten der kulturellen Ge-

dächtnisstudien am Beispiel von Peter Handkes Die Obstdiebin

Wiebke Lenz

Institutionen för slaviska och baltiska språk, finska, nederländska och tyska

Examensarbete (30 hp)

Masterprogram i litteraturvetenskap (120 hp), inriktning mot tyska

Vårterminen 2021

Handledare: Caroline Merkel

English title: The Place(s) of Ecocriticism in Transcultural Times – A study link-

ing Ecologically Oriented Literary Studies with concepts of Cultural Memory

Studies using the example of Peter Handke’s The Fruit Thief

Verortung(en) des Ecocriticism

in transkulturellen Zeiten

Eine Untersuchung zur Verknüpfung einer ökologisch orientierten Li-

teraturwissenschaft mit Konzepten der kulturellen Gedächtnisstu-

dien am Beispiel von Peter Handkes Die Obstdiebin

Wiebke Lenz

Abstract

The academic field of Ecocriticism has in recent years developed into an increasingly

interdisciplinary, multifaceted field that no longer only concerns literary studies. This

thesis aims to find a new angle that mostly has been overlooked by academics so far. It is

therefore suggested to draw a connection between Ecocriticism and Cultural Memory

Studies since both fields share interests in their considerations of place. The development

of global and transcultural concepts in ecologically oriented literary studies, illustrated by

Ursula Heise’s concept of an eco-cosmopolitanism are discussed and related to new ap-

proaches in Cultural Memory Studies about Heimat (homeland) and belonging to certain

places. The study then exemplifies these theoretical concepts by aiming for a close read-

ing of Peter Handke’s novel Die Obstdiebin (The Fruit-Thief) where traditional percep-

tions of Heimat and a local affiliation are criticized and simultaneously new,

deterritorialized perspectives introduced.

keywords: Ecocriticism, Cultural Memory Studies, Heimat, belonging, place, memory,

globalisation, transculturality, deterritorialization, migration, Peter Handke, Die Obst-

diebin

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitendes zur Arbeit ............................................................................................... 1

1.1 Die Herausforderungen unserer Zeit ....................................................................... 1

1.2 Aufbau und Ziele der Arbeit .................................................................................... 5

2. „There is no such thing as a local environmental problem“ ................................... 7

2.1 Migration, Globalisierung und der transcultural turn ............................................. 7

2.2 Staatsangehörigkeit Erdenbürger: ökokritische Neuentdeckungen ....................... 11

2.3 Ökokosmopolitische Perspektive auf Peter Handkes Die Obstdiebin ................... 19

3. Knotenpunkte zwischen Ecocriticism und den Cultural Memory Studies ............ 32

4. „Challenging Heimat“: Orte in (der) Bewegung .................................................... 37

4.1 Entwicklung von Heimatkonzepten....................................................................... 37

4.2 Erinnerungen und Identität in Peter Handkes Die Obstdiebin .............................. 42

4.3 Handkes Entwurf einer deterritorialisierten Heimat .............................................. 46

5. „Solche Internationalitäten – mehr davon!“ .......................................................... 54

5.1 Abschließende Bemerkungen ................................................................................ 54

5.2 Forschungsausblick ............................................................................................... 56

Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 58

1

I’ve got no roots

But my home was never on the ground

I’ve got no roots.

(Alice Merton & Nicolas Rebscher: „No Roots“, 2016)

1. Einleitendes zur Arbeit

1.1 Die Herausforderungen unserer Zeit

Eine fast schon magische Welt mit saftig grünen Wiesen und hellblau strahlendem Him-

mel. In der Ferne Waldtiere, die ungestört durch diese Landschaft streifen. Bäume und

Sträucher mit kleinen, bunten Früchten so weit das Auge reicht und ein kristallklarer

Fluss, der sich durch das Land schlängelt. Keine Anzeichen menschlicher Zivilisation,

nur das Zwitschern der Vögel, die durch die Lüfte segeln. Das ist Eco,

ein vollständig simuliertes Ökosystem mit Tausenden wachsenden Pflanzen und Tieren, die ein-

fach nur ihr Leben leben. Baue, ernte und nutze die Ressourcen aus einer Umwelt, in der jede

deiner Aktionen die Welt um dich herum beeinflusst. Ein kurz bevorstehender Asteroidenein-

schlag könnte den ganzen Planeten zerstören. Kannst du die Welt retten, ohne sie dabei zu zer-stören? […] Schränke schädliche Aktivitäten ein, ohne den technischen Fortschritt aufzuhalten.

Finde ein Gleichgewicht zwischen deinen persönlichen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der

Gemeinschaft und halte dabei das Ökosystem im Gleichgewicht. Die Zukunft der Welt liegt in

deinen Händen.1

Eco ist ein Computer-Simulationsspiel von 2018 und hat, obwohl es noch nicht abschlie-

ßend programmiert ist und derzeit als „early access“ Version zur Verfügung steht, bereits

zahlreiche positive Rezensionen. In Eco gibt es keine Länder oder Staaten, klicken die

Spielenden auf die Computertaste „M“ erscheint eine Darstellung der Erdkugel, lediglich

eingeteilt in verschiedene Klima- und Rohstoffzonen. Das Spiel weist zu Beginn darauf

hin, dass nur eine schonende Ressourcennutzung in Kombination mit einer rücksichtsvol-

len Entwicklung von Technologien zur Entstehung einer „nachhaltigen“ menschlichen

Population und der abschließenden Abwehr des Asteroideneinschlags führen kann. Die

Entwickler:innen schreiben, dass Eco zugleich unterhaltend und bildend sein soll, da das

Spiel zu einem besseren Verständnis der Verkettung von Mensch und Natur und der

1 Beschreibung des Spieles auf der Plattform Steam unter dem Abschnitt „Über dieses Spiel“:

https://store.steampowered.com/app/382310/Eco/?l=german (zuletzt abgerufen am: 12.04.2021).

2

negativen Auswirkungen unseres Handelns beitragen will.2 Des Weiteren stellt Eco das

„Dilemma“ der Menschheit dar, einen Mittelweg zwischen verantwortlicher Anwendung

von Technologien und einer ethischeren Beziehung zur Umwelt zu finden. Gleichzeitig

beinhaltet das Spiel aber auch eine utopische Wunschvorstellung, die ebenso in vielen

literarischen und filmischen Repräsentationen demonstriert wird: „Tabula rasa“, ein Neu-

beginn, durch den die Menschen die Möglichkeit bekommen, von Anfang an alles besser

zu machen.

Umweltthematiken werden aufgrund der immer offensichtlicheren global-ökologischen

Krise nicht nur in Computerspielen behandelt, sie sind ferner seit dem Ende des 20. Jahr-

hunderts im akademischen Diskurs sehr präsent. Dies wird beispielsweise durch die Ent-

wicklung der umweltorientierten Literaturwissenschaft – dem Ecocriticism – verkörpert,

die sich vor allem der literarischen Repräsentation des Verhältnisses zwischen Mensch

und Umwelt, der Natur/Kultur-Dialektik und der Frage widmet, wie ein Ortszugehörig-

keitsgefühl und eine emotionale Verbindung zur Umgebung zu einem verantwortungs-

volleren Umgang mit der Natur führen kann. Vor allem in Nordamerika (dort nahm die

umweltorientierte Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren ihren Anfang) ist die An-

nahme, dass ein Heimatbewusstsein und die affektive Bindung an einen Ort signifikant

für ein neues, moralischeres Verständnis zur Begegnung mit der Umwelt seien, noch im-

mer stark vertreten.3 Ein geläufiger Ansatz in tradierten Studien der ökokritischen Lite-

raturwissenschaft ist demnach die notwendige (Wieder-)Entwicklung eines „sense of

place“, einer Wertschätzung der eigenen, lokalen Umgebung und das Wissen über diese,

um die Konsequenzen unseres Handelns erkennen und unsere Verhaltensmuster überden-

ken zu können.4 Nur so sei eine Wiederannäherung an die natürliche Umwelt und der

Weg in eine bessere Zukunft möglich und „[o]n the basis of such perspectives, place con-

tinues to function as one of the most important categories through which American envi-

ronmentalists articulate what it means to be ecologically aware and ethically

responsible“5. Es wird, wie die Literaturwissenschaftlerin Ursula Heise treffend be-

schreibt, in diesen Ansätzen des Ecocriticism eine „ethic of proximity“ vertreten, die

2 Vgl. Beschreibung des Spieles auf der Plattform Steam unter dem Abschnitt „Was die Entwickler zu sagen

haben“: https://store.steampowered.com/app/382310/Eco/?l=german (zuletzt abgerufen am 09.04.2021). 3 Vgl. Heise, Ursula K.: „Ökokosmopolitismus“. In: Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriti-

cism – eine Einleitung. Köln: Böhlau 2015, S. 22 f. 4 Vgl. Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet: The Environmental Imagination of the Global.

Oxford: Scholarship Online 2008, „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 13. 5 Ebd., S. 13.

3

räumliche Nähe mit emotionaler Verbundenheit und moralischer Nähe gleichsetzt.6 Folg-

lich werden unter anderem die gegenwärtigen Erscheinungen der Globalisierung, Migra-

tion und Transkulturalität in diesen Konzepten als Auslöser für die moralische

„Entfremdung“ des Menschen zur Natur gesehen. Gleichwohl scheinen ökokritische so-

wie umweltaktivistische Ansätze, die ein „Zurück zum Ursprünglichen“ fordern und sta-

tische Ansätze einer Ortszugehörigkeit und eines Heimatbewusstseins vertreten, durch

die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts obsolet. Aufgrund der zunehmenden Mobilitäts-

und Deterritorialisierungsprozesse der Gegenwart sowie technologischer und kommuni-

kativer Entwicklungen, wirkt ein Zurück zur Natur und zum Traditionellen nicht nur un-

möglich, sondern ferner auch nicht zielführend bei der Lösung globaler

Umweltproblematiken.

Bei erneuter Betrachtung des Computerspiels Eco zeigt sich die Illustration einer trans-

nationalen Perspektive, in der die globusähnliche Spielwelt als etwas Ganzes, Zusam-

menhängendes dargestellt wird und die Handlungsauswirkungen der Spieler:innen

„global“, das heißt in allen Teilen der fiktiven Spielwelt, zu spüren sind. Eco vermittelt

somit einen modernen Blickwinkel auf die Welt, der mit aktuellen gesellschaftlichen Dis-

kussionen einhergeht. Denn die Auswirkungen sozialer und ökologischer Herausforde-

rungen des 21. Jahrhunderts, wie die Bewältigung der globalen Umweltkrise oder

Veränderungen durch weltweite Globalisierungs- und Migrationserscheinungen, wirken

sich nicht nur auf die Konzeption fiktiver Computerspiele aus, sie sind seit einigen Jahr-

zehnten auch im akademischen Diskurs präsent. So lässt sich in den letzten Jahrzehnten

besonders auch im Ecocriticism eine Hinwendung zu transkulturellen und transnationalen

Konzeptionen und Untersuchungen der narrativen Darstellungen der Beziehung zwischen

Mensch und Umwelt und zu Entwürfen einer verantwortungsvolleren Beziehung zur Na-

tur erkennen. Da sich Forscher:innen im deutschsprachigen Raum, anders als in Nord-

amerika, durch die missbrauchende Verwendung von Heimat- und Naturkonzepten durch

die Nationalsozialist:innen nicht auf eine „unbroken tradition of thought and writing

about place“7 stützen können, erscheint es wenig widersprüchlich, dass sich gerade hier

eine Vielzahl dynamischer Konzepte der emotionalen Bindung zu Orten oder der Nation

sowie zu der Beziehung zur Umwelt entwickelt haben. Eine der wichtigsten Konzeptua-

lisierungen, die durch die beschriebenen Entwicklungen der umweltorientierten

6 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 18. 7 Heise (2008): „Introduction“, S. 7.

4

Literaturwissenschaft entstanden sind, ist Heises bedeutsamer Entwurf eines Ökokosmo-

politismus, bei dem sie eine Abwendung von lokalen beziehungsweise nationalen emoti-

onalen Bindungen zu Orten vorschlägt und stattdessen das Zentrum ihres Interesses auf

ein globales Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl für eine konstruktive

Konfrontation der ökologischen Krise legt.8

Die vorliegende Arbeit legt den Fokus auf die gegenwärtigen Entwicklungen des Ecocri-

ticism zu transkulturellen Konzeptionen hinsichtlich einer Beziehung und eines Zugehö-

rigkeitsgefühls zu lokalen, beziehungsweise globalen Orten und veranschaulicht dies

insbesondere an Heises Konzept des Ökokosmopolitismus. Die vorgeschlagene Fokus-

sierung auf eine umweltorientierte Konzeption der Ortsbindung legt eine Verbindung mit

Konzepten der Cultural Memory Studies nahe. Ansätze der kulturellen Gedächtnisfor-

schung verweisen überwiegend auf die wichtige emotionale und lokale Bindung an Orte,

aufgrund ihrer bedeutenden Rolle als Erinnerungsträger für die Herausbildung von indi-

vidueller wie kollektiver Identität.9 Dennoch lässt sich auch in Studien zum kulturellen

Gedächtnis eine ähnliche Entwicklung wie im Ecocriticism kosmopolitischer und dyna-

mischer Konzepte zu Erinnerungen, Heimat und Identität erkennen, weshalb die vorlie-

gende Untersuchung eine Verknüpfung von umweltorientierten Konzepten mit

Heimatkonstruktionen der kulturellen Gedächtnisforschung anstrebt.10 Der Ecocriticism

hat sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem interdisziplinären Forschungsfeld

entwickelt und betrifft schon lange nicht mehr nur die Literaturwissenschaft.11 Dessen

ungeachtet wurde diese interdisziplinäre Überschneidung mit Studien zum kulturellen

Gedächtnis in ihrem gemeinsamen Interesse an Konzeptionen von Orten, einer Ortsbin-

dung und einem Heimatbewusstsein von ökokritischen Forscher:innen bisher größtenteils

übersehen.12

8 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 45. 9 Vgl. z.B. Schliephake, Christopher: „Literary Place and Cultural Memory“. In: Zapf, Hubert (Hrsg.):

Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology. Berlin/Boston: de Gruyter 2016: S. 574 ff. 10 Vgl. z.B. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration, Gattungstypologie und Funktionen ka-

nadischer „Fictions of Memory“. Berlin: De Gruyter 2005, S. 19 ff. Oder Levy, Daniel: „Changing Tem-

poralities and the Internationalization of Memory Cultures“. In: Gutman, Yifat et al.: Memory and the

Future - Transnational Politics, Ethics and Society. New York: Palgrave 2010. 11 Vgl. z.B. Einleitung in Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriticism – Eine Einführung. Köln

2015, S. 9 ff. 12 Es gibt einige Forschungsansätze, die auf diese Verbindung hinweisen, vergleiche z.B. Goodbody, Axel:

„Sense of Place and Lieu de Mémoire: A Cultural Memory Approach to Environmental Texts“. In: Good-

body, Axel & Rigby, Kate (Hrsg.): Ecocritical Theory. Charlottesville/London: Virginia Press 2011. O-

der Schliephake (2016).

5

1.2 Aufbau und Ziele der Arbeit

Diese Studie will aufzeigen, dass die gegenwärtigen transkulturellen Veränderungen in

Heimat- und Identitätskonzeptualisierungen eine vorerst unrealisierbar erscheinende Ver-

knüpfung mit einem ökokosmopolitischen Blickwinkel ermöglichen. Dazu legt die Un-

tersuchung im folgenden Kapitel zunächst dar, wie die gesellschaftlichen

Veränderungen des 20. und 21. Jahrhunderts auch zu Umorientierungen im akademischen

Diskurs und insbesondere im Ecocriticism hinsichtlich transkultureller und globalisierter

Vorstellungen geführt haben. Nach einer Beleuchtung von Heises Ökokosmopolitismus

wird dieser zum Abschluss des ersten Teiles anhand des literarischen Beispiels – Peter

Handkes Die Obstdiebin – konkretisiert. Einige literaturwissenschaftliche Studien haben

sich bereits mit der Darstellung von Erinnerungen, Heimat und Ortszugehörigkeit in

Handkes Werken beschäftigt und dabei herausgestellt, dass Handke sowohl vorherr-

schende traditionelle Konzepte von Heimat kritisiert und gleichzeitig neue, kosmopoliti-

sche und deterritorialisierte Bilder eines Heimatbewusstseins skizziert.13 Aus einer

umweltorientierten Sicht sind Peter Handkes Werke jedoch bisher nur wenig erforscht.

Eine Verbindung seiner Werke mit ökokritischen Ansätzen findet ohnehin erst seit der

Feststellung eines Wendepunkts in Handkes Schaffen ab 1970, nach welchem er auch

Naturschilderungen in seinen fiktiven Narrativen einen Platz bietet, im akademischen

Diskurs eine Aufmerksamkeit.14 In Die Obstdiebin stellen sich bei der Analyse charakte-

ristische Merkmale einer ökologisch orientierten Literatur heraus, wie beispielsweise die

bedeutsame Beziehung der Protagonistin zu ihrer Umwelt durch ihr „Obstdiebestum“,

das wiederum für die Herausbildung eines Heimatbewusstseins im Roman eine wichtige

Rolle spielt. Des Weiteren zeigt sich bei der Untersuchung von Handkes Werk die Skiz-

zierung einer globalisierten und (öko-)kosmopolitischen Weltvorstellung mit einer

gleichzeitigen Hervorhebung einer affektiven Bindung zu Orten, die sich nicht gegensei-

tig widersprechen, sondern miteinander verknüpft werden. Durch seine Illustrierung

transkultureller Konzepte anhand der dargestellten Beziehung zur Natur, der Wahrneh-

mung der Welt als etwas Ganzes und der Darstellung eines deterritorialisierten

13 Vgl. z.B. Schröder, Simone: „Transient Dwelling in German-language Nature Essay Writing: W.G. Se-

bald’s Die Alpen im Meer and Peter Handke’s Die Lehre der Sainte-Victoire“. In: Ecozon@, Band 6, Nr.

1, 2015. Oder Eigler, Friederike: „Critical Approaches to Heimat and the Spatial Turn“. In: New German

Critique. Band 39, Nr. 1, Winter 2012. 14 Vgl. Hofer, Stefan: Die Ökologie der Literatur. Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie

zu Werken Peter Handkes. Bielefeld: transcript 2007: S. 229.

6

Heimatverständnisses, schafft Handke es in der Fiktion eine neue, moderne Verbindung

zwischen lokaler Ortszugehörigkeit und globalisierten Zusammengehörigkeitsgefühl zu

schaffen und verknüpft so den Ecocriticism mit den Cultural Memory Studies.

Bevor im zweiten Teil dieser Arbeit auf dieses Wechselspiel zwischen kosmopolitischer,

globalisierter Perspektive und einer affektiven Ortszugehörigkeit in Die Obstdiebin ein-

gegangen wird, sind zunächst im dritten Kapitel die Anknüpfungspunkte einer umwelt-

orientierten Literaturwissenschaft mit Studien zum kulturellen Gedächtnis darzustellen,

worauf im vierten Kapitel vor der Literaturbetrachtung – analog zum ersten Teil der

Arbeit – die derzeitigen Entwicklungen und Umorientierungen in den Cultural Memory

Studies und insbesondere bei Heimatkonstruktionen dargestellt werden. Im fünften und

letzten Kapitel der Arbeit werden die Ergebnisse abschließend zusammenfassend be-

trachtet und ein Blick auf weitere Forschungsmöglichkeiten geworfen. Ziel der Arbeit ist

es somit darzulegen, dass die aktuelle ökokritische Tendenz einer Ablehnung von festen

Bindungen an lokale Orte, illustriert anhand des Ökokosmopolitismus, mit dynamischen

Ansätzen in den kulturellen Gedächtnisstudien zu einem neuen Heimatbewusstseins, in

dem unter anderem die Deterritorialisierung der Ortszugehörigkeit im Blickwinkel steht,

zusammen gesehen werden können – ohne dass sie sich gegenseitig ausschließen, wie bei

der Analyse von Handkes Die Obstdiebin deutlich wird. Mit dieser bisher meistenteils

missachteten Zusammenführung von Konzepten des Ecocriticism sowie der Cultural Me-

mory Studies, zeigt die Untersuchung ferner auf, dass die Erweiterung der umweltorien-

tierten Literaturwissenschaft um eine interdisziplinäre gedächtnisorientierte Dimension

zu fruchtbaren Einsichten führen kann, wie eine Ortszugehörigkeit in gegenwärtigen Zei-

ten der Transkulturalität, Deterritorialisierung und der Bewältigung einer globalen öko-

logischen Krise zu denken ist.

7

2. „There is no such thing as a local environmental problem“15

2.1 Migration, Globalisierung und der transcultural turn

Würden sich alle Migrant:innen auf der Erde zusammengefasst dazu entschließen, eine

eigene Nation zu gründen, stünde diese auf der Liste der bevölkerungsreichsten Länder

der Welt auf Platz fünf: Weltweit leben zurzeit (Wert aus 2017) laut der Bundeszentrale

für politische Bildung um die 258 Millionen Menschen in Ländern, in denen sie nicht

geboren wurden.16 Und die Tendenz ist steigend, noch nie war das Reisen so einfach und

preisgünstig wie heute. Zumindest zwischen den europäischen Ländern werden nur noch

wenige Grenzkontrollen durchgeführt und ein offizieller Reisepass ist schon lange nicht

mehr nötig. Flüge von Frankfurt etwa nach Barcelona werden unter dreißig Euro angebo-

ten, Fernbusse fahren um die ganze Welt, um die Menschen an ihre Ziele zu bringen –

für einen Urlaub, eine Geschäftsreise oder einen Umzug in ein anderes Land. Diese schier

grenzenlose Mobilität betrifft nicht nur die Beförderung von Menschen, sondern auch

Güter und Informationen „reisen“ durch die ganze Welt.17 Nichts scheint einfacher, als

mit einem Klick über das Internet Lebensmittel aus China oder ein Möbelstück aus Eng-

land zu bestellen und sich vor die heimische Haustür liefern zu lassen. In unserer gegen-

wärtigen Zeit der Bewegung und dem Verschwimmen von deutlichen Landesgrenzen gilt

die Migration, sprich die geographische Neuverortung eines Individuums, als eines der

wichtigsten und auffälligsten Symptome der Globalisierung.18

Die zunehmende Migration des 20. und 21. Jahrhunderts, die Bewegung der Menschen

in andere, fremde Länder und Gebiete, ob unfreiwillig als Flucht oder als freiwillige

Reise, ist keine Neuerfindung unserer Zeit und auch nicht nur der Beschreibung mensch-

licher Mobilität vorenthalten, sondern wird ebenfalls in den Naturwissenschaften

15 Thomashow, Mitchell: Bringing the Biosphere Home: Learning to Perceive Global Environmental

Change. Cambridge/London: MIT 2002, zitiert nach Heise (2008): „From the Blue Planet to Google

Earth“, S. 23. 16 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Zahlen und Fakten: Globalisierung – Migration.

Produktion 06.2018, unter https://www.bpb.de/mediathek/265432/zahlen-und-fakten-globalisierung-

migration (zuletzt abgerufen am: 12.04.2021). Vergleiche dazu auch: Llena, Carmen Zamorano: Fictions

of Migration in Contemporary Britain and Ireland. Cham: Palgrave 2020, S. 1. 17 Vgl. Llena (2020): S. 4. 18 Vgl. ebd., S. 1. Dabei ist zu bemerken – wie auch Llena (S. 2 f) richtig betont –, dass ein großer Teil

dieser „geographischen Neuverortung“ durch Migration nur mehr oder weniger freiwillig geschieht, oft

als einziger Ausweg vor untragbaren Zuständen im Heimatland.

8

verwendet.19 Durch die Optimierung von technologischen Entwicklungen und Transport-

mitteln wie Autos, Schiffen und Flugzeugen, aber auch aufgrund der Verbreitung verbes-

serter kommunikativer Möglichkeiten wie dem Internet oder der Videotelefonie, entstand

ab dem späten 20. Jahrhundert eine andere, zuvor in der Menschheitsgeschichte noch

nicht registrierte Dimension von Migration.20 Die Menschen begannen für einen Wochen-

endausflug nach Mallorca zu fliegen, Weltreisen zu machen oder als ‚digital nomads‘ zu

arbeiten, mit Wohnmobilen durch Europa fahrend und dabei ihre Eindrücke auf Video-

plattformen für interessierte Zuschauer:innen auf der ganzen Welt für die Ewigkeit fest-

haltend. Diese deutlichen global-gesellschaftlichen Entwicklungen führten zu

Hinterfragungen klassischer sozialer Strukturen und Wertvorstellungen, wodurch sich

dementsprechend vorherrschende Konzepte und Auffassungen in der Gesellschaft verän-

derten und sich transnationale und globalisierte Perspektiven herausbildeten.21 Dieser be-

trächtliche Einfluss, den Globalisierung- und Migrationserscheinungen der heutigen Zeit

auf die Gesellschaften und Gemeinschaften weltweit haben, unterscheide sich laut der

Literaturwissenschaftlerin Carmen Zamorano Llena von allen bislang aufgefassten For-

men menschlicher Migration.22

Die Erscheinungen des späten 20. und 21. Jahrhunderts führten somit auch im akademi-

schen Diskurs der Geistes- und Sozialwissenschaften zu kritischen Überarbeitungen ins-

besondere der vorherrschenden Identitätskonzepte und des zuvor allgegenwärtigen

herderschen „Kugelmodells der Kulturen“, in dem von homogenen und geographisch fest

verankerten Gemeinschaften (den Kulturnationen) ausgegangen wird, die bestimmte

Werte und Traditionen teilen und den Staat beziehungsweise die Nation als oberste iden-

titäts- und kulturstiftende Instanz ansehen.23 Seit den letzten Jahrzehnten entstanden doch

zunehmend dynamischere Ansätze zur Beleuchtung der Beziehungen zwischen verschie-

denen Gesellschaften und Kulturen, beispielsweise Homi Bhabhas Culture’s In-Between

oder Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturalität, die den sogenannten transcultu-

ral turn in den Human- und Sozialwissenschaften einleiteten:24 Viele

19 Vgl. Llena (2020): S. 2. Oder Appadurai, Arjun: Modernity at Large – Cultural Dimensions of Globali-

zation. London: Minnesota Press 2010, S. 4. 20 Vgl. Llena (2020): S. 2 21 Vgl. ebd., S. 3 f. 22 Vgl. ebd., S. 2. 23 Vgl. Einleitung in Bond, Lucy & Rapson, Jessica: The Transcultural Turn – Interrogating Memory Be-

tween and Beyond Borders. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 7 f. 24 Vgl. Bhabha, Homi K.: „Culture’s In-Between“. In: Hall, Stuart & du Gay, Paul (Hrsg.): Questions of

Cultural Identity. London: Sage 2011 [1996], S. 53 – 60. Und: Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität:

9

Wissenschaftler:innen lehnten Herders Auffassung von Kulturnationen ab und formulier-

ten stattdessen ab den 1990er Jahren Identitätskonzepte, die nicht vom Staat, sondern

durch „hybridity, creolization, mestizaje, migration, borderlands, diaspora, nomadism,

exile, and deterritorialization“25 geformt und gekennzeichnet sind. Diese Konzepte wür-

den ebenfalls auf die Individuen zutreffen, die ihren Wohn- und Lebensort, ihre „ur-

sprüngliche“ Heimat, nicht verlassen und auch nie eine Zeitlang in einem anderen Land

verbringen: Denn wie Heise richtig herausstellt, würden auch im eigenen Heimatort trans-

kulturelle und globale Einflüsse zu bemerken sein, welche die Umgebung formen und

verändern, wodurch Individuen ein Gefühl von „displacement“ (wie es häufig bei Mig-

rant:innen vorkommt) verspürten.26 Diese Perspektiven des transcultural turns aktuali-

sieren demzufolge tradierte Konzeptionen zu Identität und einem Heimatbewusstsein auf

die Globalisierungs- und Migrationserscheinungen der Zeit, indem sie den Fokus auf

Hybridität sowie der Möglichkeit mehrfacher Orts- und Heimatbezüge legen und gleich-

zeitig eine Versteifung auf eine unflexible Ortszugehörigkeit ablehnen.27 Da das Thema

der Migration sich „from the margins to the core of cultural identity – not only that of

individuals but of entire societies“28 bewegt hat, beschäftigen sich also ab der Jahrtau-

sendwende auch Studien zur Identitätsbildung und Heimat, die zuvor von Herders Natio-

nalismus geprägt waren, zunehmend mit transnationalen und kosmopolitischen Ansätzen.

Nichtsdestotrotz entwickelten sich weiterhin Ansätze, welche die traditionellen Auffas-

sungen beibehalten wollen, was ab dem Ende des 20. Jahrhunderts zu Reibungen zwi-

schen lokalen und transkulturellen, globalen Belangen führte.29 Die globalisation

beziehungsweise global studies, die sich aus den Globalisierungserscheinungen und dem

transcultural turn Anfang des 21. Jahrhunderts herausgebildet haben, machten diese nun

entstandenen Spannungen zu ihrem Diskurs und kamen dabei nach Llena zu der Erkennt-

nis, dass beide Aspekte, sowohl das Lokale und Regionale als auch ein globales Verständ-

nis von Strukturen und Problemen, für eine tiefere Einsicht in die Komplexität der

heutigen Welt nötig seien.30 Darüber hinaus entwickelten Ansätze der globalisation

Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“. In: Information Philosophie, Band 20, Nr. 2, 1992, S.

5 – 20. Vergleiche auch: Bond & Rapson (2014): S. 8 ff. 25 Heise (2008): „Introduction“, S. 3. 26 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 35. 27 Vgl. ebd., S. 36. 28 Heise (2008): „Introduction“, S. 4. 29 Siehe zum Beispiel Lynch, Tom; Glotfelty, Cheryll & Armbruster, Karla: The Bioregional Imagination

– Literature, Ecology, and Place. Athen: University of Georgia Press, 2012. Vergleiche auch Llena

(2020): S. 15. 30 Vgl. Llena (2020): S. 15.

10

studies das Konzept der „Deterritorialisierung“, worunter die Tatsache zu verstehen ist,

dass unser alltägliches Leben bereits in jeder Hinsicht von verschiedensten globalen und

transkulturellen Strukturen, Prozessen und Produkten wie Musik, Nahrungsmittel und

Kleidung geprägt ist.31 Die Deterritorialisierung bezieht sich so auf „the detachment of

social and cultural practices from their ties to place“32. Dies impliziert ferner, dass Orten

und Ortszugehörigkeiten nun eine andere Bedeutung zugeschrieben wird, denn „local

places have changed through increased connectivity but also the structures of perception,

cognition, and social expectations associated with them“33. Daraus lässt sich schließen,

dass sich durch Migration und Globalisierung nicht nur die Menschen weltweit mehr be-

wegen, sondern auch, dass sich durch die Bedeutungsverschiebung von Orten (und folg-

lich auch von Ortszugehörigkeit und Heimat) eine Notwendigkeit ergibt, neue Konzepte

zu finden und anzuwenden, die aber dennoch auf der anderen Seite lokale Belange nicht

vollständig in den Hintergrund rücken.

Die zunehmende Verbundenheit und Vernetzung von Gesellschaften auf der ganzen Welt

und die daraus resultierende Entstehung neuer Formen von Kulturen, Gesellschaften und

Identitäten, die nicht mehr mit nur einem Ort verankert sind, müssen zu Veränderungen

bei Auffassungen von Ort, Zugehörigkeit, Heimat und Identität im akademischen Diskurs

führen – so die Annahme in Ansätzen der globalisation studies.34 Diese Erkenntnisse

führten auch in literaturwissenschaftlichen Diskussionen zu Überdenkungen und For-

scher:innen kamen zu der Einsicht, dass national-individuelle Literatur(en) nicht aus sich

selbst heraus, dem Kontext der eigenen Nation entstehen, sondern im Rahmen der ent-

standenen internationalen und interkulturellen Vernetzungen.35 Ansätze dieser Auffas-

sung gehen Llena zufolge davon aus, dass alle (zeitgenössische) „nationale Literatur“

durch die globalen Beeinflussungen und gesellschaftlich-kulturellen Prägungen der Au-

tor:innen, jeweils immer eine implizite oder explizite immanente transnationale Dimen-

sion beinhalte.36 Zeitgenössische Literatur kann in diesem Sinne auch als

„deterritorialisiert“ aufgefasst werden, da sie so unweigerlich immer das Globale und Lo-

kale miteinander verbindet. Daher ist es für eine wachsende Anzahl Literaturwissen-

schaftler:innen von großer Bedeutung, sich bei der Literaturbetrachtung von dem

31 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 37. 32 Ebd., S. 34. 33 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 37. 34 Vgl. Heise (2008): „Introduction“, S. 8. 35 Vgl. Llena (2020): S. 7. 36 Vgl. ebd., S. 8 f.

11

herderschen Paradigma und dem Staat als oberste identitätsstiftende Instanz abzuwenden

und stattdessen globale, transkulturelle Untersuchungsansätze für die Betrachtung fikti-

ver Narrative zu entwickeln.37 Dies gilt wie herausgestellt besonders für Untersuchungen

von Konzeptionen zu Orten, Ortszugehörigkeit und eines Heimatbewusstseins, die wie-

derum auch eine Verhandlung der menschlichen Beziehung zur Umwelt implizieren. Mit

diesen Zusammenhängen von Ort und dem Verhältnis zur Umgebung beschäftigen sich

auch sehr stark Ansätze des Ecocriticism. Insbesondere Ursula Heises Konzept des Öko-

kosmopolitismus wird im nächsten Abschnitt näher beleuchtet.

2.2 Staatsangehörigkeit Erdenbürger: ökokritische Neuentdeckun-

gen

Der Ecocriticism, „the study of the relationship of the human and the non-human, throug-

hout human cultural history and entailing critical analysis of the term ‘human’ itself“38,

ist tendenziell eher nicht für seine transkulturellen Konzeptionen und Auffassungen be-

kannt - der Bezug auf ortsbezogene, traditionelle Konzepte ist in der umweltorientierten

Literaturwissenschaft nach wie vor weit verbreitet, wie beispielsweise in der Bioregiona-

lismusbewegung.39 Der Beginn der Globalisierungs- und Migrationsprozesse Ende des

20. Jahrhunderts brachte (und bringt) nicht nur positive Stimmen mit sich, vielmehr führ-

ten diese bei einigen Wissenschaftler:innen zu der Sorge vor einer Homogenisierung, ei-

ner „monoculture of the mind“, und vor einem Verlust der Diversität lokaler Kulturen.40

Der Ecocriticism steht so seit seiner Herausbildung in den 1960er Jahren bereits in einem

Spannungsfeld zwischen „the embrace of and the resistance to global connectedness“41.

Des Weiteren lässt sich die Priorisierung und Fokussierung auf eine traditionelle Ortsbin-

dung darauf zurückführen, dass die Veröffentlichung von Rachel Carsons Silent Spring

37 Siehe dazu zum Beispiel Leonard, Philip: Literature After Globalization: Textuality, Technology and the Na-

tion-State. London: Bloomsbury 2013. Oder Jay, Paul: Global Matters – The Transnational Turn in Literary

Studies. Ithaca: Cornell 2010. Vergleiche auch Llena (2020): S. 4 f. 38 Garrard, Greg: Ecocriticism. Oxon/New York: Routledge 2012, S. 5. 39 Vgl. z.B. Heise (2015): S. 23. Oder Garrard (2012): S. 127 ff. 40 Garrard (2012): S. 184. 41 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 5.

12

in 1962 im Allgemeinen als der Beginn einer ökologisch orientierten Literaturwissen-

schaft angesehen wird.42

In Carsons Werk, das eigentlich als ein umweltwissenschaftliches Fachbuch deklariert

ist, beschreibt sie die negativen Auswirkungen von Pestiziden und zeichnet ein harmoni-

sches Bild von Natur und Mensch im Gleichgewicht, das sich alsbald zu einer Darstellung

der Zerstörung verändert – so vermittelt Carson das Bild einer durch den Menschen zer-

störten Balance, die es wiederherzustellen gilt.43 Durch die Verwendung von literarischen

Elementen in Silent Spring wurde neben der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auch die

Literaturwissenschaft auf das Buch und die Themengebiete Natur und Umwelt im Allge-

meinen in fiktiven Narrativen aufmerksam gemacht.44 Dadurch kam zusätzlich die Frage

auf, ob umweltbezogene Problematiken überhaupt eine Angelegenheit der Kultur- bezie-

hungsweise Literaturwissenschaft seien, was zu John Passmores Aufstellung einer Unter-

scheidung führte zwischen „problems in ecology“ (die Beschreibung von Problemen in

den Naturwissenschaften) und „ecological problems“ (normative, die Gesellschaft und

dessen Umgang mit der Umwelt betreffende Problematiken), die bis heute ihre Gültigkeit

besitzt.45 Die Naturwissenschaften sind damit bemüht, Konsequenzen und Entwicklun-

gen in natürlichen Prozessen objektiv zu beschreiben, während moralische und ethische

Probleme eine Fragestellung der Geistes- und Sozialwissenschaften sind, „[t]hus ecocri-

ticism cannot contribute much to debates about problems in ecology, but it can help to

define, explore and even resolve ecological problems in this wider sense“46. Demzufolge

sieht sich die umweltorientierte Literaturwissenschaft nicht in der Position, die Ver-

schmutzung der Weltmeere, den Klimawandel oder die Abnahme der Artenvielfalt zu

stoppen. Sie kann indessen durch die Untersuchung literarischer Verhandlungen von Um-

weltthematiken dazu beitragen, die kritische Auseinandersetzung mit ökologischen Fra-

gestellungen sowie das Aufzeigen alternativer Lebensweisen in den Fokus des

gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.

Wenn die Veröffentlichung von Silent Spring als der Ursprung der ökologisch orientier-

ten Literaturwissenschaft angesehen wird, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass

sich besonders in frühen Ansätzen des Ecocriticism viele Literaturwissenschaftler:innen

42 Vgl. Garrard (2012): S. 3. Siehe auch Carson, Rachel: Silent Spring. Boston: Mariner 2002 [1962]. 43 Vgl. Garrard (2012): S. 1 f. 44 Vgl, ebd., S. 3. 45 Vgl. ebd., S. 6 46 Ebd.

13

auf die Darstellung und Vermittlung eines verlorenen Gleichgewichts und den Versuch

der Rückkehr zum Ursprünglichen in literarischen Repräsentationen gestützt haben.

Diese Vorstellung, der Wunsch von einem Zurück zum Traditionellen ist auch heute noch

in der Gesellschaft, wie das anfängliche Beispiel des Computerspiels Eco gezeigt hat,

sehr präsent, obgleich die Ansicht eines Gleichgewichts der natürlichen Ökosysteme in

den Naturwissenschaften schon längst als veraltet gilt.47 Durch den Einfluss von Carsons

Veröffentlichung, war der Ecocriticism somit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts „vor-

wiegend von nordamerikanischen Naturvorstellungen, kulturellen Präferenzen und lite-

rarischen Genres geprägt: vom Interesse an von Menschen unberührter Natur, an der

individuellen Begegnung mit der Wildnis“48 und von dem Wunsch der Wiederherstellung

eines „Sense of Place“49. Dieses Ortsbewusstsein umfasst „die Entdeckung, Pflege und

Wiederherstellung unmittelbarer Naturbeobachtungen und -erfahrungen, […] die kogni-

tive, affektive und letztlich ethische Verwurzelung an einem Ort, der so lange wie mög-

lich bewohnt werden sollte“50. Eine effektive Umweltethik, eine „ethic of proximity“, sei

in diesen Ansätzen laut Heise nur durch das Wissen von und die Fürsorge gegenüber der

eigenen Nahumgebung – der Heimat – möglich und Problematiken würden „aus der Ver-

nachlässigung des Lokalen, aus zu viel Mobilität und Medienkonsum anstelle des direk-

ten Umgangs mit der Natur resultieren“51. Besonders im deutschsprachigen Raum wurden

diese Ansätze jedoch verstärkt kritisiert, unter anderem aufgrund der missbrauchenden

Verwendung von Heimat- und Naturkonzepten durch die Nationalsozialist:innen,

wodurch eine Vielzahl alternativer Vorstellungen entstanden ist – und entstehen musste.52

Darüber hinaus lässt sich jedoch auch seit Ende des 20. Jahrhunderts durch die immer

stärker hervortretenden kulturellen, politischen sowie sozialen Veränderungen aufgrund

zunehmender globaler Vernetzung und Migrationsbewegungen, allgemein im

47 Vgl. Garrard (2012): S. 63. Oder Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 47. 48 Heise (2015): S. 21. 49 Vgl. ebd., S. 22. 50 Ebd., S. 23. 51 Ebd., S. 22 f. 52 Siehe zu Naturkonzepten zum Beispiel Kirchhoff, Thomas & Trepl, Ludwig (Hrsg.): Vieldeutige Natur – Land-

schaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld: transcript 2009. Oder: Hermand,

Jost: „Literaturwissenschaft und ökologisches Bewußtsein – eine mühsame Verflechtung“. In: Bentfeld, Anne

& Delabar, Walter (Hrsg.): Perspektiven der Germanistik. Neuste Ansichten zu einem alten Problem. Springer:

Opladen 1997, S. 106 – 125. Vergleiche dazu auch Goodbody, Axel: „Ökologisch orientierte Literaturwissen-

schaft in Deutschland“. In: Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriticism – Eine Einführung. Köln: Böhlau

2015, S. 123 – 135. Zu „neuen“ Heimatkonzepten siehe beispielsweise Bausinger, Hermann: „Auf dem Weg zu

einem neuen, aktiven Heimatverständnis“. In: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Heimat heute. Stuttgart: Kohlham-

mer 1984, S. 11 – 27. Oder Blickle, Peter: Heimat – A Critical Theory of German Idea of Homeland. Rochester:

Camden 2002.

14

Ecocriticism ein Trend zu transkulturellen und kosmopolitischen Ansätzen hinsichtlich

eines moralischeren Umweltbewusstseins entdecken.53 Durch die geschilderten Umfor-

mungen wurden Kategorien, die in den Jahrzehnten zuvor immer als „natürlich“, offen-

sichtlich und sogar biologisch verankert angesehen wurden, nun als kulturell erzeugt und

durch gesellschaftliche Praktiken und Diskurse aufrechterhalten wahrgenommen, wie

beispielsweise die Bindung zur Nation und Ansätze zur Identitätsentwicklung.54 Darunter

fällt aber auch die jetzt etablierte Auffassung, dass unsere Ansicht der Umwelt alles an-

dere als „natürlich“ aufzufassen ist, sondern als im höchsten Maße kulturell konstruiert,

wodurch sich Ökokritiker:innen von traditionellen Konzepten lösen und der Entwicklung

von offeneren, transkulturelleren Konzepten zuwenden konnten, die zum einen den Kon-

struktcharakter unserer Beziehung zur Natur im Blick haben, zum anderen aber auch die

Umwelt als einen objektiv greifbaren, in der Realität verorteten Raum ansehen.55 Der

Historiker Christoph Schliephake betont passend, dass Ökokritiker:innen die „culturally

mediated frames of meaning that help us to make sense of our experiences and of our

perceptions of the environment“56 nicht vergessen dürften, und weiter fährt er fort: „a

landscape may come across as natural, but there are always (hi)stories attached to it that

are waiting to be unearthed and/or determine how we interact with them“57. Darin ergibt

sich bereits ein Schnittpunkt mit Ansätzen der kulturellen Gedächtnisforschung, die in

Kapitel 3 dieser Arbeit eingehender illustriert werden.

Aus der zunehmenden globalen Verflochtenheit resultiert zudem ein verstärktes Bewusst-

sein für globale Fragestellungen wie die weltweite Klimakrise; eine Tatsache, die – laut

der beiden Wissenschaftlerinnen zum kulturellen Gedächtnis Lucy Bond und Amy Rap-

son – anerkannt wurde als „having considerable impact on local concerns, as demonst-

rated in ecocriticial approaches to space, place and identity“58. Überdies trug der

technologische Fortschritt, durch den die Menschen ab den späten 1960er Jahren die

Möglichkeit bekamen, ihren Planeten als etwas Ganzes aus dem All auf einer Fotografie

53 Vgl. Goodbody, Axel: „Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor – Zu Ansät-

zen in Romanen um 1900 von Bruno Wille, Hermann Hesse und Josef Ponten“. In: Paulsen, Adam &

Sandberg, Anna (Hrsg.): Natur und Moderne um 1900, Räume – Repräsentationen – Medien. Bielefeld:

transcript 2013, S. 183. 54 Vgl. Heise (2008): „Introduction“, S. 3. 55 Vgl. z.B. Müller, Timo: „Kritische Theorie und Ecocriticism“. In: Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte

(Hrsg.): Ecocriticism – Eine Einführung. Köln: Böhlau 2015, S. 167. Oder auch Garrard (2012): S. 10. 56 Schliephake (2016): S. 575. 57 Ebd. 58 Bond, Lucy & Rapson, Jessica: The Transcultural Turn – Interrogating Memory Between and Beyond

Borders. Berlin/Boston: De Gruyter 2014: S. 9.

15

zu betrachten, zu einer „Globalisierung“ der Vorstellungskraft bei.59 Eine Entwicklung,

in der bis heute viele Ökokritiker:innen – neben der Publizierung und öffentlichen Re-

zeption von Silent Spring – den Ursprung der umweltorientierten Literaturwissenschaft

sehen.60 Aus dieser Perspektive ist der Ecocriticism und die Umweltbewegung im Allge-

meinen „initially fueled by powerful visions of the global“61. Diese Betrachtungsweise

macht es unmöglich, das Globale als den „Treibstoff“ ökokritischer Literaturwissen-

schaft, aus einer ökokritischen Perspektive auszuschließen und erklärt, warum es auch im

Ecocriticism zu Neuorientierungen und zu der Abwendung des Konzepts einer „ethic of

proximity“ gekommen ist. Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden nun von umweltorien-

tierten Literaturwissenschaftler:innen „globale Konzepte in Auseinandersetzung mit re-

gionalen, lokalen und ethnischen Erfahrungen in transkultureller und

ökokosmopolitischer Perspektive […] oder postkolonialer Hinsicht“62 vermehrt thema-

tisiert. Der Ecocriticism hat sich somit nicht nur für transkulturelle Konzepte geöffnet,

sondern im Zuge dessen auch in ein „stark ausdifferenzierte[s], interdisziplinäre[s] und

internationale[s] Forschungsfeld“63 entwickelt. Wie aus dem vorherigen Zitat hervorgeht,

besteht ein neuer ökokritischer Blickwinkel in der Hinwendung zu Konzepten der post-

colonial studies, die bereits seit ihrer Entstehung mehr an transkulturellen, mobilen und

dynamischeren Auffassungen interessiert sind und somit „einen anderen Zugang zu Raum

als der Ecocriticism“64 anstreben. Auf der anderen Seite lässt sich eine Wiederaufnahme

des Kosmopolitismus in ökokritischen Ansätzen entdecken. Ein Beispiel dafür ist Heises

Konzeptualisierung des Ökokosmopolitismus, als ein Versuch, globale sowie lokale As-

pekte miteinander zu kombinieren. Der ökokosmopolitische Ansatz wird in den nachfol-

genden Ausführungen nun näher beleuchtet und anschließend für die literarische Analyse

von Peter Handkes Die Obstdiebin herangezogen.

*

Die Neuaufnahme des Kosmopolitismus stellt Konzepte zur Verfügung, die sich mit der

Frage beschäftigen, wie Identitäten in Zeiten der Deterritorialisierung und der

59 Vgl. Garrard (2012): S. 183. 60 Vgl. z.B. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 5. 61 Ebd., S. 5. 62 Dürbeck & Stobbe (2015): S. 11. 63 Ebd., S. 9. 64 Mackenthun, Gesa: „Postkolonialer Ecocriticism“. In: Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocri-

ticism – eine Einleitung. Köln: Böhlau 2015, S. 85.

16

planetarischen Vernetzung aussehen können.65 Für einige umweltorientierte Literaturwis-

senschaftler:innen, im Gegensatz zu Vertreter:innen traditioneller ökokritischer Kon-

zepte, besteht schon lange keine Möglichkeit mehr für eine „Re-Territorialisierung“, für

ein Zurück zu einem vermeintlich ursprünglichen Kontakt mit der Natur, da unsere Ge-

sellschaften bereits jetzt zu sehr miteinander vernetzt seien: „once we have to perceive

and live in our own places with the expanded awareness of other regions that media such

as radio, television, telephony and the internet provide, our relationship to local places

changes irreversibly“66. Heise sieht daher eine Pflicht des Ecocriticism, sich mit Konzep-

ten gegenwärtiger Globalisierungstheorien zu beschäftigen, welche die zunehmende Ver-

bundenheit und Vernetztheit darstellen und den Fokus auf die Entstehung neuer

Kulturformen und hybrider Identitäten legen, die durch ihre Loslösung von einer stabilen

Ortsbindung gekennzeichnet sind.67 Aber auch die neuen, Ende des 20. Jahrhunderts ent-

standenen Ansätze des Kosmopolitismus, klammern eine lokale Ortsbindung nicht voll-

ständig aus, sie „challenges the rubric of globalization by seeking to find a place for the

local inside the global, the particular inside the universal“68. Moderne kosmopolitische

Betrachtungen versuchen demnach mithilfe von Erkenntnissen der globalisation studies,

globale Aspekte mit lokalen Belangen zu verbinden und teilen trotz Unterschiedlichkeiten

die Annahme, „that there is nothing natural or self-evident about attachments to the na-

tion, which are on the contrary established, legitimized, and maintained by complex, cul-

tural practices and institutions“69. Es ist folglich eine Ablehnung des Staates als

„natürliche“ Instanz beispielsweise für die kollektive wie individuelle Formung von Iden-

tität, die bei kosmopolitischen Konzepten eine maßgebliche Rolle spielt. Heise kritisiert

an diesen bestehenden Entwürfen jedoch, dass trotz Anerkennung der Wichtigkeit eines

globalen Zusammenhangs, nach wie vor eine lokale Ortszugehörigkeit und die Heima-

tumgebung bei der Bildung von Identität im Vordergrund stehe.70 Sie leitet daraus weiter

ab, dass der Ecocriticism wie auch die Umweltschutzbewegung im Allgemeinen noch

nicht mit dem geschilderten, bereits etablierten Konzept verknüpft worden seien, das

Identitäten als „mixtures, fragments, and dispersed allegiances to diverse communities,

cultures, and places“71 wahrnimmt und der Einsicht ist, dass „precisely these mixtures

65 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 45. 66 Ebd., S. 38. 67 Vgl. ebd., S. 5. 68 Bond & Rapson (2014): S. 11. 69 Heise (2008): „Introduction“, S. 4. 70 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 26. 71 Ebd., S. 26.

17

might be crucial for constituting ‚identities‘, politically as ‚subjects‘“72. Die Kernaussage

von Heises Kritik ist demnach, dass der Ecocriticism nicht auf gegenwärtige Forschungs-

einsichten zur Identitätsbildung und Ortszugehörigkeit in transkulturellen, globalisierten

Zeiten aktualisiert wurde und noch immer tendenziell auf lokale, ortsbasierte Konzeptu-

alisierungen von kollektiver und individueller Identität konzentriert sei.73

Mit der Entwicklung des Ökokosmopolitismus als „Resultat und Reaktion auf das erste

‚ökokritische‘ Jahrzehnt“74, will Heise die Einsichten gegenwärtiger Globalisierungsthe-

orien mit dem Ecocriticism verbinden, als einen Lösungsvorschlag, wie wir die vor uns

liegenden Umweltprobleme als Teile einer globalen Thematik und Verantwortung erken-

nen können. Ökokosmopolitische Konzepte streben in erster Linie ein Verständnis des

Globalen an und verstehen lokale Belange und Orte als „a matter of political or didactic

practicality rather than as an issue of the existential or spiritual significance“75. Ein öko-

logisch orientierter Kosmopolitismus lehnt somit die im Ecocriticism noch weitverbrei-

tete Annahme der „ethics of proximity“, also räumliche Nähe setzt moralische Nähe

voraus, ab und ist stattdessen darauf fokussiert, wie es Individuen und Gruppen gelingt,

sich selbst als ein Teil der globalen Biosphäre, einer „planetary ‚imagined communitites‘“

zu sehen.76 Ziel laut Heise sei es jedoch dabei im Blick zu behalten, dass es kulturell und

historisch bedingt unterschiedliche Formen des Umweltschutzes und der Bedeutung und

Auffassung von Natur in verschiedenen Ländern und Regionen gibt – die Kenntnis und

das Verständnis dessen wird in einer ökokosmopolitischen Anschauung als wichtiger an-

gesehen, als die eigene affektive Bindung zu einem Ort.77 Ein umweltorientierter Kosmo-

politismus bedeutet demnach, dass

Umweltdenken, Umweltpolitik und umweltorientierte Literatur- und Kulturwissenschaft sich im

Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung nicht auf unmittelbare Naturerfahrungen im lo-

kalen Bereich beschränken können, sondern im Gegenteil das Wissen über unvertraute, manch-

mal weit entfernte und oft durch Technologien und Medien vermittelte Ökosysteme, Geschichten,

Kulturen und Sprache fördern muss.78

Die im Ökokosmopolitismus angestrebte, notwendige globalisierte Wahrnehmung der

Welt kann überhaupt erst durch die Etablierung eines Verständnisses über die unter-

schiedlichen kulturellen, wie ökologischen Kontexte und Vorstellungen aufgebaut

72 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 26. 73 Vgl. ebd. 74 Heise (2015): S. 21. 75 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 23. 76 Vgl. ebd., S. 44. 77 Vgl. Heise (2015): S. 24. 78 Ebd.

18

werden – das Wissen über andere, fremde Systeme und Prozesse verhilft so zu einem

besseren Verständnis des Globalen.79 Der umweltorientierte Kosmopolitismus strebt

demzufolge, als ein Gegenentwurf zu einem „sense of place“, nach einer Entwicklung

eines „sense of planet“: der Imagination des Globalen als Ausgangspunkt für ein Be-

wusstsein über transkulturelle politische, soziale und ökologische Netzwerke, die bereits

jetzt unseren Alltag prägen, als Grundlage für eine umweltorientierte Ethik.80 So erken-

nen ökokosmopolitische Ansätze auch in Formen der Deterritorialisierung, die nach wie

vor in literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysen laut Heise häufig mit negativen

Konnotationen wie „experiences of loss and deprivation“81 verbunden sei, stattdessen die

Möglichkeit für fruchtbare „cultural encounters and a broadening of horizons“82.

Ansätze wie Heises Ökokosmopolitismus erweisen sich als sehr wichtige Konzepte für

die Weiterentwicklung der umweltorientierten Literaturwissenschaft, die den Herausfor-

derungen unserer Zeit begegnet. Dennoch bleibt in Heises Entwurf die Frage, wie eine

Umorientierung der lokalen Zugehörigkeit zu einem globalen Gemeinschafts- und Zu-

sammengehörigkeitsgefühl zu erreichen ist, offen. Darüber hinaus ist eine Unterordnung

lokaler Ortszugehörigkeit durchaus kritisch zu hinterfragen – denn wie der Literaturwis-

senschaftler und Ökokritiker Axel Goodbody bereits richtig herausgestellt hat, würde so

die emotionale Bindung an Orte, die bei der Identitätsbildung eine wichtige Rolle spielt,

unterschätzt.83 Geographische Orte und eine menschliche Verbindung zu diesen wird es

immer geben, auch wenn sich unsere Welt weiter in ein globales Netz von transkulturellen

Beziehungen entwickelt. Eine lokale Ortszugehörigkeit als „a matter of political or didac-

tic practicality“84 abzuschreiben, scheint hinsichtlich der in Kapitel 4 darzustellenden,

wichtigen Funktionen von Orten als Erinnerungsspeicher und Mitwirker bei der Formung

von Identität, zu leichtfertig. Dessen ungeachtet erweist sich eine ökokosmopolitische

Perspektive bei der Betrachtung literarischer Werke als ein wertvolles Mittel, um die Ver-

bindung von globalen und lokalen Belangen und die Konstruktion eines „sense of planet“

zu untersuchen. Dies wird nun zunächst durch eine Betrachtung des literarischen Bei-

spiels Die Obstdiebin von Peter Handke verdeutlicht. Anschließend wird im zweiten Teil

der Arbeit die Kritik an Heises Konzept wieder aufgenommen, um die Bedeutung von

79 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 46. 80 Vgl. ebd., S. 45. 81 Heise (2008): „Introduction“, S. 8. 82 Ebd. 83 Vgl. Goodbody (2011): S. 57. 84 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 23.

19

Orten – insbesondere von Heimatkonzepten – bei der Konstitution von Identität in An-

sätzen der Cultural Memory Studies zu beleuchten.

2.3 Ökokosmopolitische Perspektive auf Peter Handkes Die Obstdie-

bin

Lange Jahre war Handke im akademischen Diskurs für eine Ablehnung jeglicher Formen

von ökologisch orientierter Literatur bekannt, wodurch eine Betrachtung seiner Werke

aus einer ökokritischen Perspektive auf den ersten Blick nicht direkt auf der Hand liegt.85

Diese Wahrnehmung liegt zum einen daran, dass Handke sie selbst verstärkt hat, denn er

schreibt 1983 in den Phantasien der Wiederholung: „[s]icheres Zeichen, dass einer kein

Künstler ist: wenn er das Gerede von der ‚Endzeit‘ mitmacht“86. Zum anderen trägt auch

die Auffassung von Literaturwissenschaftler:innen dazu bei, die „Handkes Werk seit län-

gerem paradigmatisch für neue Innerlichkeit und narzisstische Selbstbespiegelung, was

kaum vereinbar scheint mit ökologischem Gedankengut“87, ansehen. Zudem würde sich

Handke, wie der Literaturwissenschaftler Stefan Hofer betont, in seinen Werken zu wenig

mit aktuellen Themen der Welt beschäftigen und geschichtliche Aspekte vernachlässi-

gen.88 Doch durch die Öffnung des umweltorientierten literaturwissenschaftlichen Ka-

nons, sprich die Einsicht, dass fast alle literarischen Werke auf die Gestaltung von

Umwelt und Natur direkt oder indirekt Bezug nehmen und somit auch aus einer ökokri-

tischen Perspektive betrachtet werden können, in Verbindung mit einem ab den 1970er

Jahren von literaturwissenschaftlichen Forscher:innen festgestellten „Wendepunkt“ in

Handkes Werken führten dazu, dass in den letzten Jahren Handkes Werke vermehrt auch

mit einer umweltorientierten Perspektive betrachtet wurden.89

85 Vgl. Hofer (2007): S. 228. 86 Handke, Peter: Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main 1996, S. 89. Zitiert auch in: Hofer

(2007) S. 228. 87 Hofer (2007): S. 228. 88 Vgl. ebd., S. 229. 89 Vergleiche dazu auch Klettenhammer, Sieglinde: „‘Die Bilder gelten nicht mehr‘ – Landschaft und

Schrift in Peter Handkes Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos“. In: Battiston-Zuliani, Régine

(Hrsg.): Funktion von Natur und Landschaft in der österreichischen Literatur. Bern: Peter Lang 2004, S.

319 – 338. Oder auch Hofer, Stefan: „‘Es drängt mich, damit einzugreifen in meine Zeit‘ – Peter Handkes

‚ökologische‘ Poetik“. In: Gersdorf, Catrin & Mayer, Sylvia (Hrsg.): Natur – Kultur – Text. Beiträge zu

Ökologie und Literaturwissenschaft. Heidelberg: Winter 2005, S. 125 – 146. Vergleiche auch Hofer

(2007): S. 229.

20

Der Wendepunkt würde laut Hofer darin sichtbar, dass Handke in seinen Werken ab dem

Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr Naturbeobachtungen, Landschaftsbeschreibungen

und die Beziehung des Subjekts zu seiner Umwelt ansprechen würde.90 Die natürliche

Umgebung ist in Handkes Werken häufig wie ein einziger Raum aufgebaut, in dem na-

türliche und kulturelle Prozesse miteinander verknüpft werden und genau aus diesem Zu-

sammenspiel schließlich etwas Neues, bisher Ungesehenes hervorgeht.91 Außerdem

spreche Handke den Ausführungen der Literaturwissenschaftlerin Simone Schröders zu-

folge der Natur in den Werken ab 1970 einen eigenen Wert zu und trennt sie damit von

einer reinen „menschlichen Zwecknutzung“, wodurch er eine besondere „ethic of respect

toward nature“ kreieren würde.92 Aspekte einer intensiven Wahrnehmung und eines ge-

nauen Beobachtens sowie Auseinandersetzungen mit der eigenen, problematischen Iden-

tität, die auch bereits in Handkes früheren Werken einen wichtigen Platz einnimmt,

spielen auch nach dem Wendepunkt weiterhin eine bedeutende Rolle: Hofer beschreibt

eine „Ästhetik der Achtsamkeit“ gegenüber der Natur, mit Aspekten wie „Innehalten,

Gedulden, Langsamkeit“, mit denen ein genaues Beobachten ermöglicht werde.93 Durch

diese ästhetische Konzeptualisierung einer auf das Innere der Protagonisten konzentrierte

Form der Wahrnehmung in Verbindung mit Naturbeobachtungen, schafft Handke in sei-

nen Werken eine „verfremdete Sicht auf das Alltägliche“94 und demonstriert, wie „our

being in the world, if we experience our environment consciously, can change our self-

perception“95. So werden durch die besondere Auffassung der Umwelt eine Neuverhand-

lung der Beziehung zur Natur und gleichzeitig auch des eigenen Platzes in der Gesell-

schaft ermöglicht.96 Es sind also Elemente der Wahrnehmung und Identitätsverhandlung,

die in Handkes Werk ab 1970 mit Umweltbeobachtungen in Verbindung gebracht werden

und als raumöffnend für eine mögliche ökokritische Untersuchung gesehen werden kön-

nen. In dieser Kombination eingehender „Naturbeobachtungen gepaart mit ebensolcher

Introspektion der Protagonisten [und] tiefgehende Auseinandersetzungen mit dem eige-

nen Ort und dem Auf-der-Welt-Sein“97 sieht Hofer eine Ähnlichkeit zu Thoreaus Walden,

90 Vgl. Hofer (2007): S. 232. 91 Vgl. ebd., S. 261 f. 92 Vgl. Schröder (2015): S. 31. 93 Vgl. Hofer (2007): S. 235. 94 Ebd., S. 261. 95 Schröder (2015): S. 35. 96 Vgl. ebd., S. 34 f. 97 Hofer (2007): S. 253.

21

das als eines der wichtigsten Bezugspunkte für die anfänglichen ökokritischen Konzep-

tualisierungen insbesondere im nordamerikanischen Ecocriticism gilt.

Handkes Texte sind dennoch nicht auf die konkrete Abbildung einer dystopischen End-

zeitstimmung und eines ökologischen Dilemmas konzentriert, „sondern auf die Darstel-

lung der nur vermeintlich schon restlos bekannten Welt […] und lädt zu einer anderen,

von Genauigkeit, Langsamkeit und Respekt geprägten Sichtweise ein, die die Besonder-

heit und auch die Schönheit des Alltäglichen herausstellt“98. Daher könnte, wie Hofer

passend anmerkt, das Fehlen von deutlichen Schilderungen und Behandlungen einer öko-

logischen Problematik für eine umweltorientierte Beleuchtung kritisiert werden.99 Bei nä-

herer Betrachtung von Handkes 2017 veröffentlichten Roman Die Obstdiebin oder eine

Fahrt ins Landesinnere stellt sich jedoch heraus, dass Reflexionen über die oder eine

Katastrophe eine wesentliche Rolle spielen. Dieses Werk, welches Handke auf dem

Buchrücken selbst als „Das Letzte Epos“ bezeichnet,100 handelt von Alexia, der Obstdie-

bin, fokalisiert durch einen darüberstehenden Ich-Erzähler, der von seinem Gartenhaus

aus zu einer Reise aufbricht. Im Laufe der Handlung wechselt die Perspektive auf die

Obstdiebin, die sich ebenfalls auf einer Reise zu Fuß durch die französische Picardie be-

findet – und dabei auf „Muttersuche“ und auf der Suche nach sich selbst immer wieder

neuen Menschen und Orten begegnet. Anspielungen auf eine Krise oder Katastrophe wer-

den schon zu Beginn der Geschichte deutlich, als der Erzähler von seiner Umgebung be-

richtet:

Zwar sank das Umland ein wie noch ein jedes Mal in den vielen Jahren hier. Aber der Boden samt

Untergrund blieb diesmal nicht fest und aufgewölbt. Für Augenblicke erlebte ich [der Erzähler]

an der Gegend, statt die vertraute schöne Senke oder Wanne und mein Versinken darin, ein Zu-

sammensinken, nicht bloß mir allein drohendes Zusammenschlagen. (21f)101

Das eigentlich positiv konnotierte „Einsinken in die Landschaft“, welches auch bereits

von dem, in vielen Belangen sehr ähnlichen Erzähler in Handkes 1994 veröffentlichten

„Märchen“ Mein Jahr in der Niemandsbucht bekannt ist,102 wird hier nun mit einem be-

drohlichen Unterton versehen. Denn weiter berichtet der Erzähler, dass wenig später „die

erträumte Stille […] tatsächlich, wenn auch bloß für die eine Sekunde, über mich [den

98 Hofer (2007): S. 251. 99 Vgl. ebd., S. 250. 100 Handke, Peter: Die Obstdiebin – oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Berlin: Suhrkamp, 2. Auflage

2019 [2017]. 101 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich im Folgenden auf Handke, Peter: Die Obstdiebin – oder

Einfache Fahrt ins Landesinnere. Berlin: Suhrkamp, 2. Auflage 2019 [2017]. 102 Vgl. Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Siehe dazu

auch Hofer (2007): S. 249.

22

Erzähler] her als die Druckwelle einer weltweiten Katastrophe“ (22) fiel. Zwei Schmet-

terlinge, die er kurz zuvor noch in ihrem Tanz beobachtet, drohen nun abzustürzen und

„[h]inter der Ligusterhecke, im Nachbargarten, ein Aufschreien, das bei mir [dem Erzäh-

ler] einschlug als ein Todesschrei“ (22f). Es sind Andeutungen einer Katastrophe, die

mehr ein Gefühl als ein wirkliches Zusammenbrechen beschreiben und die hier nur für

einen kurzen Augenblick bestehen bleiben. Gleichzeitig markiert diese Vorahnung auch

eine Form von „Grundton“ für die Geschichte der Obstdiebin. Denn an vielen weiteren

Stellen wird diese nahende Gefahr betont, die nicht von außen, sondern aus dem Inneren

der Menschen stammt und „die ganze Familie, die ganze Sippe“ (414) betrifft. Auch die

Darstellungen der anderen Figuren sind im Laufe der Handlung immer wieder von Schil-

derungen einer angedeuteten Gefahr geprägt. Valter, ein Begleiter der Obstdiebin für ein

Stück ihrer Reise, verspürt scheinbar aus dem Nichts eine „Katastrophenangst“, die aus

der „kleinwinzige[n] Möglichkeit, vielleicht doch sich wie den oder die Anderen retten

zu können“ (400) entsteht. Die Leser:innen erfahren in der gleichen Szene, dass diese

Katastrophe jedoch nicht mehr abzuwenden sei. Valters Angst wird ihm dann „[m]it ei-

nem Ruck, welchen er sich nicht eigens zu geben hatte“ (402) durch eine Naturerfahrung,

ein „freundliches Donnern“ (ebd.) eines sich ankündigenden Gewitters genommen.

Die Figur der Obstdiebin ist ebenfalls mit Gefahr verknüpft, sie wird beispielsweise mit

der parabolischen Jonas-Gestalt aus dem Alten Testament, dem Unheilspropheten, der

von Gott aufgetragen bekommen hat, seiner Stadt den Weltuntergang zu verkünden, ver-

knüpft (z.B. 292, 465). So wird auch die Obstdiebin Alexia zu einer symbolischen Figur,

die vor einer weltweiten Katastrophe warnen soll. Obwohl sich der Erzähler gegen diese

„Bibelbilder, besonders die aus dem Alten Testament, jene, die den Bezug auf irgendwel-

che Aktualitäten, siehe Unheilsprophet, siehe Weltuntergang, zulassen“ (466) stellt, so

tauchen sie dennoch immer wieder auf – möglicherweise anzusehen, als eine Form der

Kapitulation vor der, einige Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der Phantasien der

Wiederholung, zu offensichtlich gewordenen Krise. In Die Obstdiebin ist die „Katastro-

phenstimmung“ zwar als ein Grundgefühl, welches über der gesamten Handlung schwebt,

zu bemerken, jedoch fokussiert Handke wie in seinen Werken zuvor nicht die Darstellung

einer konkreten Krise. Die Leser:innen erfahren nicht, um welche Gefahr es sich genau

handelt und wie diese das Leben der Menschen beeinflussen wird. Handkes Antwort auf

die Frage nach der Art und Form der Krise, ist lediglich diese: „Die Katastrophe. Er, sie

beide hätten sie verhindern können. Aber inzwischen war es zu spät“ (399). Dennoch

23

deutet Handke an einigen Stellen an, dass es sich um eine ökologische Krise handeln

könnte, beispielsweise wenn der Erzähler in Nebensätzen von der Weizenernte zur Zeit

der Handlung als „die schlechteste Ernte seit einem Jahrhundert“ (127) oder von der Ein-

stellung der (Stadt-)Menschen zu Regentagen berichtet, die im Sommer als „unerwünsch-

ter Gegenwind“ (99) empfunden werden. Darüber hinaus kann Handke in Die Obstdiebin

nicht der fehlende Bezug auf aktuelle Themen vorgeworfen werden, da er an vielen Stel-

len den gegenwärtigen Zeitgeist skizziert – auch mit drastischen Worten, etwa bei der

Bedrohung durch Terrorattacken (vgl. z.B. 117).

Trotz der in vorherigen Werken festgestellten, fehlenden Darstellung einer Katastrophe,

haben literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu Handkes Werken herausgestellt,

dass diese – neben den geschilderten Naturbeobachtungen – weitere ‚traditionelle‘ Merk-

male von umweltorientierter Literatur aufweisen würden, die als „charakteristisch für

Handkes Gesamtwerk“103 gesehen werden können. Darunter fallen unter anderem die

Verwendung von realen Orten in der Fiktion; die Darstellung der Natur mit einer eigenen

Stimme und Naturwahrnehmungen; die Veranschaulichung und Thematisierung von

Minderheiten und die „Hervorhebung von Randbereichen, Schwellenräumen und Ni-

schen“104; und schließlich eine Hinterfragung der Dialektik zwischen Geist und Natur.105

Diese Aspekte lassen sich auch im Roman Die Obstdiebin finden. Alexia (die Obstdiebin)

ist auf der Suche nach ihrer Mutter durch die Picardie, einer ländlichen Umgebung um

Paris, zu Fuß unterwegs auf Umwegen und Wildpfaden (z.B. 363). Die Reise führt ent-

lang außerfiktionaler, französischer Orte und Städte wie Paris, Chars oder Cergy; die Le-

ser:innen können die Reise der Obstdiebin genau auf einer Karte verfolgen – ein

Kennzeichen von ökologisch orientierter Literatur.

Des Weiteren stellt Handke im Laufe der Handlung auch in diesem Werk eine besondere

Form der Wahrnehmung und Beobachtung dar. Dies wird beispielsweise verdeutlicht

durch das Obstdiebestum der Protagonistin, die auf ihren Reisen am Wegesrand auf dem

„freien Land“, aber auch in größeren Städten und Dörfern immer wieder Gemüse und

Obst von verwilderten Sträuchern „stibitzt“:

Dafür rankte sich etwas Grünrotes aus den Bruchsteinen, die den Gleisboden bildeten, und weiter

hinauf an die grob betonierten Gleisbegrenzungen, fast bis zu ihren Füßen oben am Rand des Quais: eine Grünpflanze, die sie an einen Tomatenstrauch erinnerte, und dann tatsächlich einer

103 Hofer (2007): S. 250. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. ebd.

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war: als sie sich nach ihm bückte gaben sich ihr Trauben von kleinen kugelrunden tiefroten reifen

Tomaten buchstäblich in die Hand, stahlen sich zwischen die Finger […]. Sie hatte in ihrem Leben

immer wieder Früchte, und prächtige, an den verrücktesten Orten wachsen sehen. (162)

In diesem Zitat wird zum einen deutlich, dass die Umgebung, ob kultivierte Gebiete oder

unbebaute, „naturbelassene“ Flächen, für die Obstdiebin keine Rolle spielt. Die Sträucher

und Büsche können auch „gewachsen mitten in der Stadt, einer ohne Wiesen“ (208f) sein,

dort sei ihre Ausbeute in vielen Fällen sogar noch besser. Das Obstdiebestum fungiert

somit als vermittelnde Instanz, die Natur und Kultur miteinander verknüpft und die dia-

lektische Konzeption dieser beiden Konzepte im Roman aufhebt – ebenfalls ein Zeichen

umweltorientierter Literatur. Auch an vielen weiteren Stellen wird dieses Zusammenspiel

zwischen Natur und Kultur betont, etwa bei der folgenden Beobachtung: „Das abendliche

Verstummen der Lerchentriller. Das Verklingen oben im Luftraum des Pfeifens der Mi-

lane, dafür das Pfeifen des letzten Zugs zurück nach Paris“ (390). In der Geschichte der

Obstdiebin kann die Beobachtung eines durch die Abendstimmung fliegenden Goldfa-

sans genauso schön und wertvoll sein, wie die Wahrnehmung der „Autobleche aus der

Fahrbahnferne“ (298) und das Rauschen des Wassers unter der Erde führt in gleichem

Maße zu einer Rückgewinnung der Kräfte wie Geräusche von unterirdischen Erdgasroh-

ren (464). Der Erzähler in Die Obstdiebin bewertet nicht, er stellt weder die Natur als

etwas „Erhabenes“ noch die menschliche Zivilisation als „fortschrittlicher“ dar. Beide

Aspekte sind miteinander verwoben, bedingen sich gegenseitig und werden so zu etwas

Ganzem.

Aber vor allem wird in dem oben aufgeführten Zitat die besondere und genaue Beobach-

tungsweise der Obstdiebin deutlich. Die Tomatenpflanze, die in den Gleisen des „Welt-

stadtbahnhofs“ Paris wächst, zwischen einer Betonmauer und heranfahrenden Zügen,

wurde noch von niemandem der zahlreichen Reisenden entdeckt. Alexia sieht die Pflanze,

weil sie die „Augen dann eher für die Gleise zu ihren Füßen“ (162) auf den Boden ge-

richtet hat und die Tomaten geben sich ihr dann, auf fast schon mystische Weise in die

Hand, ohne dass sie dafür Kraft aufwenden muss. Diese besondere, wertschätzende

Wahrnehmungsform wird auch an anderen Stellen im Roman deutlich, beispielsweise

durch Ausdrücke wie, dass „[d]ie Gegend, das Land, wo sie [die Obstdiebin] hinsollte,

wartete auf sie“ (184) oder die Beobachtung wenig später als die Obstdiebin in den Him-

mel schaut und bemerkt, „die Sterne, sie blickten herab, sie blickten, momentlang, herab

auf sie“ (235). Die Natur wird in Die Obstdiebin nicht als personifiziert oder mit einer

konkreten, sprechenden Stimme dargestellt. Es ist so nicht die Umwelt, die „aktiv“ wird,

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sondern die Charaktere in der Handlung, die der Umgebung mit einer anderen Form der

Beachtung und Wahrnehmung begegnen. Wenn fliegende Vögel im Himmel dabei als

„Erbauer“ von Häusern und Stockwerken beschrieben werden (360f) oder das Entfernen

einer Haselnussschale mit einer menschlichen Geburt verglichen wird (322ff), dann wird

hier eine sehr bedachte, wertschätzende Art der Wahrnehmung der Umwelt dargestellt.

Nicht die Natur muss sich ändern, um sich gegen die menschlichen Einflüsse „wehren“

zu können, sondern die menschliche Sicht auf die Umwelt muss umgestaltet werden, da-

mit wir einen Weg zu einer ethischeren Beziehung finden können. Mit dieser im Roman

vertretenen Auffassung „spricht“ die Natur bereits zu uns – wir müssen nur noch lernen,

sie zu verstehen. Und dies wird in Handkes Die Obstdiebin durch eine genaue, wertschät-

zende Beobachtung der Umwelt veranschaulicht, durch die eine Wahrnehmung des All-

täglichen als etwas Besonderes und der unwiderruflichen Verbundenheit zwischen Kultur

und Natur. Beide Aspekte führen auch in die Obstdiebin zu einer Konzeptualisierung ei-

ner Naturästhetik, die eine respektierende und ausgeglichene Beziehung von Mensch und

Umwelt beinhaltet.

Als ein weiteres Merkmal ökologisch orientierter Literatur, lässt sich eine Kritik an öko-

nomisch-politischen Entwicklungen herauslesen, die als Auswirkungen der globalen Ver-

netztheit gesehen werden können. Die Obstdiebin beispielsweise, die in einem ihrer

Herbergszimmer eine Schale mit „sichtlich woanders gewachsenen, gekauften“ (235)

Früchten entdeckt, würde sie „nicht anrühren, geschweige denn eine essen“ (ebd.), da

diese importiert wurden, obwohl es Alexia zufolge doch so viele heimische Früchte- und

Gemüsearten gäbe. Des Weiteren erfahren die Lesenden, dass die Pflanzen, welche sie

„wild“ findet, auch auf Märkten und in Lebensmittelläden angeboten werden – dort aller-

dings „gezüchtet“ (208). Beide Textstellen deuten eine leise Kritik an der gegenwärtigen

Lebensmittelindustrie an und der Tendenz, Früchte- und Gemüsesorten von weither zu

importieren, wenn es doch so viele „wilde“ Pflanzen in der direkten Nahumgebung gibt,

die nicht genutzt werden. Die Figur der Obstdiebin suggeriert durch ihr Obstdiebestum

eine Präferenz von lokalen und regionalen Lebensmitteln. Denn was die Obstdiebin tat

„war, was sie betraf, etwas Natürliches, etwas Rechtmäßiges, etwas Gutes und Schönes,

etwas Notwendiges und Erquickendes, und das nicht bezogen auf sie allein“ (176). Diese

umweltorientierte Kritik der Betonung der Wichtigkeit lokaler Landwirtschaft und Regi-

onalität, die Handke in Die Obstdiebin formuliert, entspricht dem ersten Anschein nach

26

nicht einer ökokosmopolitischen Weltanschauung.106 Denn es wirkt zunächst so, als

würde eine traditionelle Auffassung und der Wunsch eines Zurück zum Lokalen und Ur-

sprünglichen verfolgt.

*

Auf der anderen Seite gibt es jedoch viele Aspekte, die für eine Betrachtung aus einem

ökokosmopolitischen Blickwinkel sprechen. Denn vorrangig ist dieser Handke-Roman

eine Geschichte der stetigen Bewegung. Dies stellt sich so deutlich gegen das traditionelle

Bild einer festen Ortszugehörigkeit und gegen die Betonung einer engen und wichtigen

Verbindung mit dem „eigenen Land“ oder der Heimat. Zunächst verfolgen die Leser:in-

nen den Erzähler, der aus seinem Gartenhaus in der Niemandsbucht ins Landesinnere

aufbricht. Doch langsam verwandelt sich die Erzählung in eine Schilderung aus der Per-

spektive der Obstdiebin:

Zur Zeit, da ihre Geschichte spielt, war die Obstdiebin gerade von einer monatelangen Reise zurückgekehrt.

Kaum mehr als einen Tag und eine Nacht hatte sie in ihrem Pariser Wohnviertel […] verbracht, und schon

war sie wieder auf dem Weg, aus dem Haus getrieben nicht allein zur Suche nach der […] verschwundenen

Mutter, sondern auch von einer im Traum ganz bestimmten, nach dem Erwachen mehr oder weniger unbe-

stimmten, dabei so womöglich noch größeren Angst um sich selber. (137)

Die Lesenden erfahren durch den Erzähler, dass Alexia, als „eine vom Wandertrieb Be-

fallene“ (140), seit ihrer frühen Jugend regelmäßig zu weiten Reisen aufbricht und nie

„eine Seßhafte“ (141) wurde, „[m]indestens alle paar Monate verschwand sie, jedesmal

tagelang, und wurde dann wieder aufgegriffen irgendwo zwischen Stadt und Land […]

und öfter dann auch jenseits der Landesgrenzen“ (140). Der Obstdiebin ist es demnach

schon immer unmöglich für eine längere Zeit an nur einem Ort zu verweilen. Dazu passt

auch die Vorstellung des Erzählers von der Obstdiebin: „ohne Gesicht, überhaupt ohne

Bild, nichts als eine Bewegung“ (57). Diese Beschreibung der Obstdiebin erinnert stark

an Handkes Darstellung des Erzählers in dem bereits 1986 herausgegebenen Roman Die

Wiederholung, der ebenfalls einen Drang verspürt, „unseßhaft, ohne Bleibe“107 zu sein.

Das starke innere Reisebedürfnis der Obstdiebin kann auf die außerfiktionale Gegenwart

unserer globalen und mobilen Welt hindeuten und auf die Tatsache, dass die menschli-

chen Bewegungserscheinungen in Zeiten der Migration immer wichtiger werden. Die Il-

lustrierung der Obstdiebin, einer durch die verschiedenen Länder der Welt Reisende,

kann aufgrund der Unmöglichkeit für längere Zeit an einem Ort zu bleiben, ferner das

106 Für die Bedeutung einer lokalen Landwirtschaft siehe auch Handke (2019): S. 410. 107 Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Auflage 2012 [1986], S. 68.

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beschriebene Gefühl von „displacement“ symbolisieren, dem konstanten Gefühl einer

Verrückung und Deplatzierung des eigenen Selbst.108 Diese stete Bewegung, besonders

durch das Wandern der Protagonist:innen, spiegelt sich nicht nur in Die Obstdiebin wie-

der, sondern auch in vielen von Handkes vorherigen Werken und wurde bereits von

Schröder passend mit einer ökokosmopolitischen transkulturellen Weltauffassung in Ver-

bindung gesetzt, mitunter aufgrund der positiven Darstellung der Bewegung, die zu Ver-

änderungen des Subjekts in Bezug zu sich selbst, zur Umwelt und zu seiner Heimat

führt.109 Ein Zusammenhang, der im Zuge der Beleuchtung von Handkes Heimatkon-

struktionen in Kapitel 4 noch näher betrachtet wird.

Eine der wichtigsten Annahmen kosmopolitischer Ansätze, die Ablehnung des Staats als

oberste, „natürliche“ identitätsstiftende Instanz, lässt sich auch in Die Obstdiebin finden:

Sie [die Obstdiebin] dagegen wollte keinem Staat angehören; wollte mit all den Staaten der Welt

nichts zu schaffen haben; versprach sich nichts von gleichwelchem Staat, und genauso nichts, und

noch einmal nichts von gleichwelchem, und sei es gegenwärtig in den Himmel gelobten Land. Es

drängte sie allein, mitzutun mit den Anderen jetzt in der Welt. (499f)

Die Obstdiebin möchte staatenlos sein, für sie zählt nur die Erde als Ganzes. Für Alexia

bedeutet Welt, „die Dreiecksgeschichte zwischen einem selber, der Natur und den Ande-

ren“ (500) und mit dieser Einstellung fühlt sie sich wohl, „sie erachtete sich, sie, die be-

währte Obstdiebin, sie wußte sich, nun schon gar lange, und über ihr Diebstum, ihre

Reisen […] hinaus als Expertin der Welt, eine von den Experten, welche der Welt den

Ton angaben, allerdings verschiedene“ (ebd.). Ihre Vision einer globalen Gesellschaft ist

in Entsprechung zu Konzepten des Ökokosmopolitismus, durch die Anerkennung der vie-

len „Töne“ der Welt geprägt, sprich durch die Kenntnisnahme der unterschiedlichen Tra-

ditionen, Kulturen und Auffassungen, wobei dennoch der große, globale Zusammenhang

im Fokus steht. Und auch der Erzähler lehnt die Superiorität der Nation deutlich ab: „Ein

Staat: wo ihr wollt, und wie es euch gefällt, aber nicht hier, nicht jetzt, nicht heute“ (387).

Eine ähnliche Beschreibung findet sich auch wiederum in Handkes Die Wiederholung,

als der Erzähler in Slowenien ankommt: „Endlich war ich staatenlos, endlich konnte ich,

statt dauerpräsent sein zu müssen, sorgenlos abwesend sein, endlich fühlte ich mich, ob-

wohl niemand sich blicken ließ, unter meinesgleichen“110. In dieser Erzählung ist so Slo-

wenien eine utopische Darstellung und, wie Goodbody es ausdrückt: „the projection of a

108 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 35. 109 Vgl. z.B.: Schröder (2015): S. 39. 110 Handke (2015): S. 121f.

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longing for a better world“111. Auch die Obstdiebin hat eine Sehnsucht nach einer besse-

ren Welt, die sich jedoch während der Handlung – anders als in Die Wiederholung – nie

erfüllt.

Zusammen mit einer Zurückweisung eines Nationalismus werden in Die Obstdiebin auf

der anderen Seite Aspekte der Transkulturalität und Globalität positiv hervorgehoben.

Der Erzähler betont bei einer Beschreibung der Kleidung von Arbeitern: „Ah, das inter-

nationale Blau der Arbeitshosen, das interkontinentale. Solche Internationalitäten: mehr

davon“ (531). Auch die Landschaftserfassungen der Obstdiebin sind deutlich mit dem

Gedanken einer global vernetzten Welt verknüpft: „Sie [die Obstdiebin] war am Straßen-

rand stehengeblieben und bildete sich ein, über alle Grenzen Europas hinwegzusehen,

und hatte dann auch wirklich den Ural und hinter dessen Bergen ganz Sibirien im Blick“

(481). Anstelle der Kreation eines für Handke typischen „truly European panorama“112

wird im Roman ein Bild der ganzen Welt gezeichnet. Dies geschieht durch die Beobach-

tungen der Obstdiebin von der Umwelt, ausgehend von ihrem lokalen Standort, die sich

dann in Bilder des Globalen verändern: „Der erste Eindruck von der Landschaft, einer

waldlosen, scheinbar ebenen […]: sich in einem Teil der ganzen Erde zu befinden, wobei

der Teil zugleich für das Ganze stand; dessen Zentrum war“ (464f). Es ist somit die auf-

merksame und umsichtige Form einer Wahrnehmung der räumlichen, natürlichen Umge-

bung die zu einem „sense of planet“, zu einer Imagination des Globalen führt. Auch die

Wahrnehmungsweise des Erzählers suggeriert eine ähnliche Auffassung einer „natürli-

chen“ Zugehörigkeit anstelle einer Staatsangehörigkeit: „Und woher auf einmal solch ein

Aufgenommenwerden in das Land? Solch ein Übergehen und ein Einsinken ins Land?

Solch ein spezielles Repatriiertwerden“ (124).

Dieser „sense of planet“ wird aber nicht nur durch Landschaften ausgelöst, sondern auch

durch Gegenstände wie etwa Terrorschutzinstallationen, welche die Obstdiebin bei ihrer

Ankunft in Chaumont entdeckt: „Das Bildernetzwerk im Lack der Kugeln […] zeigte auf

der ganzen Welt, bei aller Verschiedenheit von Kugel zu Kugel, die gleichen Rhythmen

und Folgen“ (517). Und weiter beschreibt der Erzähler, dass der Ort „Chaumont, das sonst

[…] nicht nur hinter dem Erd-, sondern hinter dem Mars- und Neptunmond lag, weiter

weg jedenfalls von Paris als Wladiwostok und Ushuaia“ (517f), durch die globalisierte

Wahrnehmung der Kugeln von der Obstdiebin, „mit dem Weltganzen, dem Erdball“

111 Goodbody (2011): S. 63. 112 Schröder (2015): S. 34.

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(518) verbunden wird. So bedeutungslos Chaumont vielleicht wirkt, durch die Wahrneh-

mung des Globalen in diesem Ort wird ihm eine große Bedeutung zugeschrieben. Handke

verbindet so einen ökokosmopolitischen, globalen Blickwinkel mit lokalen Aspekten. Al-

lerdings lässt sich bereits hier die im zweiten Teil dieser Arbeit zu analysierende Wich-

tigkeit lokaler Orte bei der Konstituierung einer globalen Perspektive erahnen. Ferner

findet Alexia durch ihren Wunsch einer Staatenlosigkeit – anders als der Erzähler in Die

Wiederholung – keinen Zugang zur Welt, ihr Wissen und Fähigkeiten werden nicht gese-

hen, Alexia wird nicht gebraucht und oft wird sie für ihre Umwelt unsichtbar (z.B. 200ff,

500). Dies beschreibt die Seelennot, vor der sie steht. Sie reist aus diesem Grund durch

das „freie Land“, weil dort die Einflüsse des Staates am wenigsten zu spüren sind: „[D]er

sonst so allgegenwärtige Staat, der französische, oder überhaupt etwas wie ‚der Staat‘“

(387) scheint in den kleinen Dörfern und Städten auf dem Land ausgegrenzt, „zurückhal-

tend, fast verschämt“ (308). Autoritäten wie Polizisten werden in dieser spärlich besie-

delten Umgebung zu einem „Phantombild, eine Obrigkeit kam hier nicht in Frage“ (391).

Aber dieses Gefühl der Abwesenheit des Staates auf dem Land stellt sich als Illusion

heraus. Dies wird am Beispiel der Briefträgerin deutlich, die „fast ausschließlich […]

Behördenformulare, Forderungen, Drohungen, Warnungen“ (477) statt Urlaubsgrüßen in

die Briefkästen steckt und der Erzähler bemerkt: „auch da allgegenwärtig der Staat, so

wohltuend abwesend auf dem Land hier dennoch nur zum Schein“ (ebd.). Der omniprä-

senten Macht und Dominanz des Staates können Individuen somit nicht entfliehen, die

Prämisse für eine Existenz auf der Welt: eine Nationszugehörigkeit.

Darüber hinaus skizziert Handke in Die Obstdiebin ein weiteres, sehr deutliches Bild, das

für eine ökokosmopolitische Vernetzung der Welt und gleichzeitig für die Suche nach

„staatenlosen“ Räumen steht:

All die ihr [der Obstdiebin] bekannten Flüsse der Erde, insbesondere die größeren, wenn diese

ein eher nur schütter besiedeltes Gebiet durchströmten, glichen, so kam es ihr vor, einer dem

andern. Solche Orte gaben ihr wie keine sonst die Vorstellung, von einem einzigen, die verschie-

denen Erdteile zusammenhaltenden Planeten. (163f)

So wird das Gefühl eines gesamtplanetarischen Weltzusammenhangs für die Obstdiebin

am stärksten, wenn sie sich an oder auf Flüssen befindet. Flüsse gibt es überall auf der

Welt und auch wenn sich Landschaften verändern, so bleiben Wasserläufe und -ströme

doch überall gleich und halten so für die Obstdiebin den Planeten zusammen. Daher ver-

läuft auch ihre ganze Reise durch die Picardie entlang von Flüssen, welche als konstante

und stabile Wegmarkierung „das Gemüt, oder, warum nicht, die ‚Seele‘ erhellte – sie

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aufhellte“ (381): Seine und Oise, die Viosne und der als Erinnerungsbild immer wieder

auftauchende sibirische Jenissej. So wünscht sie sich auch während ihres zweiten Zusam-

menbruchs „auf eine Fähre, die über den Jenissej in Sibirien“ (501), denn dort wäre sie

„lebenslang in Sicherheit, […] vor sich selbst gerettet“ (501f).

In einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung wird beschrieben, dass Flüsse

traditionell seit dem 19. Jahrhundert in literarischen, aber auch gesellschaftlichen Reprä-

sentationen für Abgrenzung und als ein Symbol für „natürliche“ Grenzen stünden,

wodurch sich bis heute viele Landes- und Regionsgrenzen entlang von Wasserläufen er-

strecken.113 Eine geographische Begebenheit der Umwelt wurde demnach für die Legiti-

mierung von Staatsgrenzen genutzt, um so den „Natürlichkeitsfaktor“ der Nation zu

stärken und sich von anderen Ländern abzugrenzen. Insbesondere in der Literatur sind

Flüsse aber von Beginn an mit vielen unterschiedlichen Emotionen und Begriffen ge-

kennzeichnet worden, als „Grenzen, Wasserwege, Wirtschaftssachen, Kulturräume,

Sehnsuchtsorte“114. Daher stehen Flüsse zum einen für Abgrenzung und Exklusion, aber

sie stellen auch, durch ihre Funktion als Erinnerungsorte ein Hilfsmittel zur Grenzüber-

windung und ein „Gegengift für die Renationalisierung“ dar.115 Flüsse symbolisieren aus

dem Grund auch Erinnerungsorte, weil sie sich besonders dafür eignen „individuelle wie

kollektive menschliche Grunderfahrungen wie Leben und Tod oder Abgrenzung und So-

ziabilität beziehungsweise Grenzbildung und Grenzüberwindung räumlich und symbo-

lisch abzubilden“116. Auch für die Obstdiebin kommt es am Fluss zu einer Erinnerung,

durch die sie nach Sibirien entrückt wird, wodurch für Alexia der Fluss einerseits zu ei-

nem Erinnerungsträger wird. Vorrangig ist dieser jedoch im Roman als eine Art „Schutz-

raum“ und Grenzgebiet konzeptualisiert, in dem der Einfluss des Staates (wenn

überhaupt) nur wenig zu spüren ist. Es scheint so, dass die freiwillig staatenlose Obstdie-

bin sich überhaupt nur in den Grenzgebieten der Flüsse bewegen kann, da sie selbst auch

als eine Grenzgängerin dargestellt wird. Nur dort fühlt sie sich sicher und kann ihre glo-

balisierte Vorstellung einer nationslosen Welt realisieren, wenn auch nur temporär. Auf

diese Weise fungieren Flüsse für die Obstdiebin als eine kurzzeitige Heimat. Andererseits

113 Einleitung in Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier – Geschichte im Fluss. Flüsse als europä-

ische Erinnerungsorte. Bonn, erstellt am 05.10.2020, S. 2. 114 Rada, Uwe: „Die besten Botschafter Europas“. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier –

Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte. Bonn, erstellt am 05.10.2020, S. 9. 115 Einleitung in Bundeszentrale für politische Bildung (2020): S. 2. 116 Hausmann, Guido: „Flüsse als europäische Erinnerungsorte“. In: Bundeszentrale für politische Bildung:

Dossier – Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte. Bonn, erstellt am 05.10.2020,

S. 16.

31

widerspricht Handke mit seiner Konzeptualisierung der Flüsse als grenzüberschreitendes

und weltumspannendes Bild der Auffassung des 19. Jahrhunderts und nähert sich tenden-

ziell den Auffassungen vor der Industrialisierung und des „Eisenbahnzeitalters“, als Was-

serläufe als etwas Verbindendes und den Handel antreibend angesehen wurden.117 Die

These des Dossiers, dass Flüsse im (oder seit dem) 19. Jahrhundert als „natürliche“ Gren-

zen angesehen wurde, gilt es dennoch auch kritisch zu hinterfragen und sollte immer im

Zusammenhang mit dem zeitgleichen, Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzenden Ausbau

größerer Flüsse zu „Wasserautobahnen“ betrachtet werden – eine Entwicklung, die eher

einen zusammenführenden anstatt abgrenzenden Charakter hat.118

Darin zeigt sich darüber hinaus die Schwierigkeit bei einer ökokosmopolitischen Betrach-

tungsweise: Trotz der zentralen Vorstellung eines globalen Zusammenhaltes, sucht die

Obstdiebin einen Platz in der Gesellschaft – eine Heimat. So verdeutlicht der Fluss oben-

drein den engen Zusammenhang zwischen ökokritischen Ansätzen zu Ort und Zugehö-

rigkeit mit Konzepten der kulturellen Gedächtnisstudien wie Erinnerungen und Heimat.

Nachdem in diesem zweiten Kapitel zunächst ein Blick auf aktuelle Entwicklungen und

Tendenzen im Ecocriticism aufgrund der sozialen und ökologischen Herausforderungen

unserer Zeit geworfen wurden – insbesondere auf Ursula Heises Konzept des Ökokosmo-

politismus – und diese anschließend an Handkes Roman Die Obstdiebin verdeutlicht wur-

den, scheint es nun notwendig, im folgenden Kapitel die Verbindungsstellen zwischen

diesen beiden akademischen Disziplinen, dem Ecocriticism und den Cultural Memory

Studies, zu beleuchten.

117 Vgl. Rada (2020): S. 10. Oder auch Hausmann (2020): S. 18. 118 Vgl. Rada (2020): S. 11.

32

3. Knotenpunkte zwischen Ecocriticism und den Cultural Me-

mory Studies

Auch wenn die Annahme geläufig ist, dass sich Ansätze der Cultural Memory Studies,

anders als die von Beginn an mit räumlichen Konstruktionen und der Beziehung zur Um-

welt verbundene umweltorientierte Literaturwissenschaft, eher auf zeitliche Repräsenta-

tionen und geschichtliche Aspekte konzentrieren würden, so spielen Orte und eine

affektive, lokale Bindung zu diesen auch in Studien zum kulturellen Gedächtnis eine nicht

zu verachtende Rolle.119 Und das nicht nur als kollektive Erinnerungsorte nach Pierre

Nora, sprich Orte, an denen Erinnerungen einer Gemeinschaft gesammelt und konkreti-

siert werden und „eine soziale Gruppe sich und ihre identitätsrelevante Geschichte“ wie-

derfindet,120 sondern auch als eine wesentliche Komponente für die Entwicklung und

Stabilisierung der eigenen sowie der kollektiven Identität.121

Erst seit den 1980er Jahren „setzten sich […] zahlreiche Forschungsansätze mit dem viel-

schichtigen Zusammenhang von Erinnerung und Identität auseinander“122. Diese Ansätze

teilen zum einen die Annahme, dass Identitäten „dynamische, wandelbare und soziokul-

turell fundierte Konstrukte“123 sind und zum anderen, dass diese Identitäten durch Erin-

nerung konstruiert und geformt werden als eine „aktive Aktualisierung und Aneignung

der eigenen Vergangenheit“124:

Wir sind, was wir sind, weil wir uns erinnern und weil wir auf der Grundlage dieser Erinnerungen

gegenwärtige Selbstbilder imaginieren und stabilisieren. Erinnerung stellt damit eine zentrale

Weise des persönlichen ‚life making‘, der Identitätserzeugung also, dar.125

Die Konzeptualisierung von Orten spielt für die kulturellen Gedächtnisstudien hinsicht-

lich der Identitätsbildung nun insofern eine wichtige Rolle, da einige wissenschaftliche

gedächtnisorientierte Ansätze davon ausgehen, dass Orte keine immanente Bedeutung

mit sich tragen, sondern diese erst durch den menschlichen Einfluss, durch Erinnerungen

und den daraus entstehenden Narrativen, die über Orte erzählen und sie interpretieren,

119 Vgl. Schliephake (2016): S. 570. 120 Vgl. Neumann (2005): S. 194. 121 Vgl. ebd., S. 197. 122 Ebd., S. 1. 123 Ebd., S. 19 f. 124 Ebd., S. 20. 125 Ebd.

33

konstruiert werde.126 Das heißt, Orte werden durch unseren Einfluss mit Gedanken und

Vorstellungen aufgeladen, wodurch sich eine affektive Verbindung zu dem Ort entwi-

ckelt. Diese daraus resultierende Beziehung zwischen Ort und Subjekt beschreibe so nach

der Literaturwissenschaftlerin Birgit Neumann einen bedeutenden Faktor für die Identi-

tätsentwicklung.127 Diese emotionale Bindung muss jedoch nicht auf geographische Orte

in der näheren Umgebung beschränkt sein, sie kann sich auch zu weit entfernten oder gar

fiktiven Orten entwickeln.128 Als prägnantes Beispiel lässt sich die emotional-nostalgi-

sche Verbindung nennen, die unzählige junge wie ältere Leser:innen auf der ganzen Welt

bei der Vorstellung des fiktiven Ortes Hogwarts, der Zaubererschule aus J.K. Rowlings

Harry Potter Universum, verspüren. Gerade im Medium der Literatur kann dieser Zusam-

menhang zwischen Erinnerungen, Orten und Identität ästhetisch verdichtet dargestellt

werden, unter anderem durch die Wahl einer Ich-Erzählinstanz, die in den meisten Fällen

mit der Darstellung von bewussten oder unbewussten Erinnerungsprozessen verknüpft

wird, oder durch einen Wechsel des Handlungsortes, welches oftmals mit einer „Neuver-

handlung“ der eigenen Identität zusammenhängt.129 Demzufolge müssen Untersuchun-

gen innerhalb der kulturellen Gedächtnisstudien, die sich mit Orten und der menschlichen

Verbindung zu diesen befassen, nicht vorrangig an geographischen Orten interessiert

sein, sondern vielmehr an der Konstruktion von Orten als „symbolische Instanzen“, kon-

zipiert und imaginiert durch Erinnerungen und Erzählungen einzelner Individuen oder

Gruppen.130 So verfolgen diese Ansätze auch nicht zwangsläufig das im Ecocriticism um-

strittene Konzept einer „ethic of proximity“. Im Gegenteil sehen diese Untersuchungen

Orte vielmehr als instabil und durch sich verändernde Erinnerungen, Narrative, Traditio-

nen und Vorstellungen im ständigen Umbau.131

Dieses gemeinsame Interesse der kulturellen Gedächtnisstudien und des Ecocriticism an

Orten und der emotionalen Bindung zu diesen wurde bereits in einigen wissenschaftli-

chen Studien als eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten der zwei genannten Disziplinen

herausgearbeitet.132 Ansätze der kulturellen Gedächtnisstudien, die ein Interesse an Orten

zeigen, könnten auf diese Weise Erkenntnisse über die kulturelle Konstruktion von Orten

126 Vgl. Schliephake (2016): S. 574 ff. 127 Vgl. Neumann (2005): S. 197. 128 Vgl. Goodbody (2011): S. 57. 129 Vgl. Neumann (2005): S. 196. 130 Vgl. Goodbody (2011): S. 57. 131 Vgl. ebd. 132 Vgl. Schliephake (2016): S. 572. Und auch Goodbody (2011): S. 55.

34

zur Verfügung stellen, von denen Untersuchungen der umweltorientierten Literaturwis-

senschaft profitierten.133 Darüber hinaus wurden von den vorhandenen wissenschaftli-

chen Untersuchungen weitere Ähnlichkeiten herausgestellt: Zum einen seien Schliephake

zufolge beide akademischen Felder ursprünglich aus einem politischen Impuls heraus

entstanden und werden daher als „counter-discoursive undertakings, focusing on aspects

that were either marginalized in hegemonic discourse or that could not be adequately dealt

with by politics alone“134 angesehen. Daraus schließt sich zusätzlich eine ähnliche Auf-

fassung der Rolle und Funktion von fiktiver Literatur. In Ansätzen beider Disziplinen

besteht somit die Auffassung von Literatur als Interdiskurs: „Literarische Werke nehmen

auf die außerliterarische Wirklichkeit und ihre Diskurse Bezug, reorganisieren sie im Me-

dium der Fiktion und machen sie auf diese Weise beobachtbar“135. Es ist einerseits eine

Thematisierung und Wiederholung der außerfiktionalen Realität anhand von vorherr-

schenden, kulturell und politisch manifestierten Annahmen zusammen mit einer Einbin-

dung imaginärer Elemente andererseits, die in der Fiktion konkretisiert und zu etwas

Fassbarem und Deutlichen geformt werden.136 So können traditionelle, nicht fiktionale

Auffassungen aus ihrem gesellschaftlichen Bezugsrahmen gelöst werden.137 Dieser Pro-

zess der Fiktionalisierung kann so dann zu „Neudefinitionen der Realität“ beitragen.138

Somit sieht der Ecocriticism wie auch die Cultural Memory Studies in fiktiver Literatur

ein zentrales Medium, um soziale und politische Problematiken und kulturelle „blind

spots“ aufzudecken, kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig eine Möglichkeit „margina-

lized, forgotten, or entirely new aspects into our common systems of knowledge“139 zu

integrieren. Das Potential von Literatur, zu einem kulturellen Wandel beitragen zu kön-

nen, betonen sowohl Ansätze in der umweltorientierten Literaturwissenschaft wie auch

in den kulturellen Gedächtnisstudien.140

Ein weiterer wichtiger Faktor, den beide Disziplinen gemeinsam haben, der aber bisher

kaum in wissenschaftlichen Untersuchungen Beachtung gefunden hat, ist das

133 Vgl. Goodbody (2011): S. 55. 134 Schliephake (2016): S. 571. 135 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen – Eine Einführung. Stuttgart: Metzler

2017, S. 68. 136 Vgl. Neumann (2005): S. 132 f. 137 Vgl. ebd. 138 Vgl. ebd., S. 133. 139 Schliephake (2016): S. 571. 140 Siehe dazu besonders Buell, Lawrence: The Future of Environmental Criticism. Malden: Blackwell

2005. Oder auch Neumann, Birgit: „The Literary Representation of Memory“. In: Erll, Astrid & Nün-

ning, Ansgar (Hrsg.): Cultural Memory Studies – An International and Interdisciplinary Handbook. Ber-

lin/New York: de Gruyter 2008, S. 333 – 343. Vergleiche auch Neumann (2005): S. 130.

35

zunehmende Interesse der Gedächtnisstudien an Aspekten der Zukunft. Diese sind durch

globale Problematiken und Diskurse wie die ökologische Krise in den letzten Jahren im-

mer weiter in den Fokus gerückt, was Wissenschaftler:innen dazu anregte „im Sinne einer

‚Zukunft der Erinnerung‘ aktiv über Formen des Erinnerns nachzudenken, die nachhal-

tige Effekte für die Welt der Zukunft haben“141. Diese Ansätze sind der Ansicht, dass „the

study and practice of memory are ultimately about and for the present and future“142 und

fordern so einen Perspektivwechsel in den Cultural Memory Studies bei der Betrachtung

und Konzeptualisierung von Erinnerungsprozessen zu einer verstärkten Hinwendung zu

Aspekten der Zukunft.143 Dass Zeit kein linearer Prozess ist, gilt als eine der fundamen-

talsten Einsichten der kulturellen Gedächtnisstudien: Zahlreiche Untersuchungen stellten

heraus, dass Augenblicke der Vergangenheit durch Erinnerungsprozesse nicht unverän-

dert in die Gegenwart der Erinnernden übertragen werden, sondern dass diese durch den

aktuellen, gegenwärtigen Standpunkt und dessen Einflüsse aktualisiert und selektiert wer-

den.144 Erinnerungen sind demnach kein Abbild oder Spiegel vergangener Geschehnisse,

sie sind im Gegenteil immer subjektiv, fragmentiert und verweisen auf die „Bedürfnisse

und Belange der Erinnernden in der Gegenwart“145. Der nichtlineare Verlauf der Zeit sei

jedoch den Herausgebern des Sammelbands Memory and the Future Yifat Gutman, Adam

Brown und Amy Sodaro zufolge bisher nicht ausreichend bezüglich der Rolle und Funk-

tion der Zukunft betrachtet worden, da die Art und Weise, wie wir die Zukunft imaginie-

ren und vorstellen, ebenfalls einen Einfluss darauf habe, wie wir und was wir erinnern.146

Diese Entwicklungen in den Cultural Memory Studies können zu einer fruchtbaren Ver-

bindung mit ökokritischen Ansätzen führen, da auch die umweltorientierte Literaturwis-

senschaft in vielen Fällen auf die menschlichen Wünsche und Vorstellungen einer

besseren (oder dystopischen) Zukunft konzentriert ist.

Die vorliegende Arbeit bezieht sich gleichwohl auf das vom Ecocriticism und den Studien

zum kulturellen Gedächtnis geteilte Interesse an Orten und einer emotionalen Bindung zu

diesen, da auch diese Verbindung bisher nicht hinreichend untersucht wurde.147 Um die

141 Erll (2017): S. 121. 142 Gutman, Yifat et al.: „Introduction: Memory and the Future: Why a Change of Focus is Necessary“. In:

Gutman, Yifat, Brown, Adam D. & Sodaro, Amy: Memory and the Future – Transnational Politics,

Ethics and Society. London: Palgrave 2010, S. 1. 143 Vgl. Gutman et al. (2010): S. 1. 144 Vgl. ebd., S. 2. 145 Erll (2017): S. 7. 146 Vgl. z.B. Gutman et al. (2010): S. 2. 147 Vgl. Goodbody (2011): S. 57.

36

enge Wechselbeziehung zwischen den Aspekten Erinnerungen, Identität und räumlichen

Konstellationen zu präzisieren, wird diese Arbeit Ansätze zu Heimatkonzeptionen heran-

ziehen. Im nächsten Abschnitt wird daher die Entwicklung des Heimatbegriffs im

deutschsprachigen Raum dargestellt. Anschließend wird aufgezeigt, wie eine affektive,

für die Bildung der Identität wichtige Ortszugehörigkeit trotz globaler Vernetzung und

Migrationserscheinungen, die zu einer immer größer werdenden Trivialität einer festen

Ortsbindung führen, in wissenschaftlichen Ansätzen sowie in fiktionaler Literatur ver-

handelt wird, ohne auf der anderen Seite notgedrungen eine „ethic of proximity“ anzu-

streben.

37

4. „Challenging Heimat“148: Orte in (der) Bewegung

4.1 Entwicklung von Heimatkonzepten

Der Ursprung von Heimatkonzepten im deutschsprachigen Raum wird gemeinhin auf

Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt, durch den Beginn europäischer Modernisierungspro-

zesse und der Erfahrung eines epochalen Umbruchs, der bei den Menschen zu Unrast-

und Entfremdungsgefühlen führte.149 Deutschland erlebte während dieser Zeit ein starkes

wirtschaftliches Wachstum und eine Entwicklung von einem Agrar- zu einem Industrie-

staat, was unter anderem zu einer Neukultivierung von Flächen und der Veränderung von

traditionellen Landschaftsbildern führte.150 Als ein Nebenprodukt der Moderne und als

„Antwort auf Landflucht, Verstädterung, kulturelle Nivellierung und Verlust regionaler

Vielfalt, industrielle Verschmutzung und Landschaftsverbrauch“151 entstanden Ende des

19. Jahrhunderts Heimat(schutz)bewegungen und Heimatvereine als stabile Marker ge-

gen die rapiden Veränderungen der Moderne, die sich für die Pflege und den Schutz der

Traditionen, Werte und Besonderheiten des Heimatortes einsetzten.152 Der Begriff Hei-

mat wurde dabei aufgefasst als eine „ursprüngliche[n], Geborgenheit gewährende[n]

Nahwelt, die der (metaphorisch gesprochen) in die Moderne aufbrechende Mensch unwi-

derruflich hinter sich gelassen zu haben glaubt“153 und als ein „idealisierender Sammel-

begriff“ für das Streben zurück zu einem vergangenen Zustand ursprünglicher Einheit.154

Heimat wurde so zu einer Art Wunschbild, „in dem die Spannungen der Wirklichkeit

scheinbar ausgeglichen waren“155, ausgedrückt in Heimatfilmen und -romanen durch die

harmonisierte Darstellung des Ursprünglichen. Dort wurde häufig eine dörfliche, traditi-

onelle Umgebung priorisiert und andererseits größere Städte und urbane Gebiete als Hei-

mat abgelehnt.156 Schon in ihren Anfängen kann die Heimatbewegung demnach als eher

rückwärtsgewandte und konservative Reaktion auf die Prozesse der Moderne bezeichnet

148 Der Begriff wurde bereits verwendet in: Eigler, Friederike & Kugele, Jens: Heimat – At the Intersection

of Memory and Space. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, siehe „Section IV“. 149 Vgl. Schneider, Helmut J.: „Erzählte Heimat und Heimatlichkeit des Erzählens: Zwei poetologische

Modelle des 19. Jahrhunderts: bürgerlicher Epos (Goethe) und humoristischer Roman (Raabe)“. In: Eig-

ler, Friederike & Kugele, Jens: Heimat – At the Intersection of Memory and Space. Berlin/Boston: De

Gruyter 2012: S. 17. 150 Vgl. Goodbody (2013): S. 184 f. 151 Ebd., S. 185. 152 Vgl. ebd. 153 Schneider (2012): S. 16. 154 Vgl. ebd., S. 21. 155 Goodbody (2013): S. 185. 156 Vgl. ebd., S. 186.

38

werden, durch zum einen die Fokussierung auf ein harmonisiertes Bild vergangener Ge-

sellschaftsstrukturen und Landschaftsbilder und zum anderen durch die Behandlung von

Aspekten wie Integration und Exklusion, da einige Heimatvereine eine Fokussierung auf

die „biologische Zugehörigkeit des Einzelnen“ zum Heimatort, aber auch zur Nation an-

strebten.157 Gleichwohl zeigt Goodbodys literaturwissenschaftliche Untersuchung sehr

gut auf, dass bereits in fiktiven Werken um 1900 Anzeichen eines modernen, dynami-

schen Heimatverständnisses zu finden seien.158 Dies bestätigt einerseits die Tatsache, dass

„literarische Werke als Archiv alternativer Vorstellungen zu den leitenden Heimatauffas-

sungen der Zeit dienen können“159 und stellt andererseits die Komplexität des Heimatbe-

griffs dar. Spätestens mit dem zweiten Weltkrieg jedoch und der missbrauchenden

Verwendung von Heimat- und Naturkonzepten durch die „Blut-und-Boden“-Ideologie

der Nationalsozialist:innen, geriet die emotionale Bindung zu Heimat, Nation und Natur

im deutschsprachigen Raum in eine Schieflage und nun ist „the discussion of place, par-

ticularly as a constituent of belonging and identity, […] especially complex in the context

of German culture“160.

Seit den 1970er Jahren lässt sich hingegen eine Rehabilitierung dieser Begriffe erkennen

und eine wachsende Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen innerhalb der Cultural

Memory Studies sind der Ansicht, dass Konzepte zu Heimat und einer Ortszugehörigkeit

nicht nur auf die Nutzung von rechten und konservativen Gruppen zu beschränken sei.161

Durch diese Erkenntnis entstand in den letzten Jahrzehnten ein neuer Heimatbegriff, der

versucht über die „uncritical or reductive uses of the term Heimat“ hinauszugehen und

durch eine Ablehnung konservativer und regressiver Auslegungen einer Ortszugehörig-

keit gekennzeichnet ist.162 In vielen wissenschaftlichen Ansätzen ab den 1970er Jahren

lässt sich so eine Öffnung für „das Andere, das Fremde und Widersprüchliche“ erken-

nen.163 Es ist keine emotionale oder biologisch begründete Bindung zur Nation in der Art

und Weise wie es die Nationalsozialist:innen oder konservative Heimatvereine anstreb-

ten, welche in neueren Konzepten verfolgt wird, sondern eine Bindung zu lokalen Orten

157 Vgl. Goodbody (2013): S. 185. 158 Vgl. ebd., S. 189 ff. 159 Ebd., S. 202. 160 Clarke, David: „Introduction“. In: Clarke, David & Renate, Rechtien (Hrsg.): The Politics of place in

Post-War Germany. Edwin Mellen Press 2009, S. 20. Zitat auch in Schröder (2015): S. 27. 161 Vgl. Schröder (2015): S. 27. 162 Vgl. Eigler (2012): S. 29. 163 Vgl. Bonner, Withold: „‘Mein Problem ist das Kontinuum‘: Heimat als dynamischer Gedächtnisraum

im Werk Franz Fühmanns“. In: Eigler, Friederike & Kugele, Jens: Heimat – At the Intersection of

Memory and Space. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, S. 141.

39

oder Regionen, die nun auch in gleichem Maße urbane Gebiete und Großstädte als Be-

zugsorte für ein Heimatbewusstsein mit einschließt.164 Der neue Heimatbegriff versteht

sich nach Goodbody ferner als „sozial inklusiv und ethnisch divers“, das Gefühl einer

emotionalen Ortszugehörigkeit ist daher nicht mehr nur auf den Geburtsort begrenzt –

migrierte Personen können auf die gleiche Weise ein Heimatbewusstsein zu einem Ort

entwickeln, wie dort geborene.165

Des Weiteren lässt sich ab den 1970er Jahren der Versuch einer „Entemotionalisierung“

von Heimatkonzeptionen erkennen, wie etwa in diesem Definitionsversuch des Heimat-

und Gedächtnisforschers Withold Bonner:

es handle sich um einen Raum oder auch um mehrere, wo eine Person eine bestimmte, von ihr für

wichtig erachtete Zeit verbracht hat. Diese Räume werden von der betreffenden Person aus einem

zeitlichen Abstand heraus im Gedächtnis (re)konstruiert, um damit einen Beitrag zur Bestimmung

der eigenen Identität zu leisten.166

In diesem Zitat wird zum einen deutlich, dass ein Heimatbewusstsein nun verstärkt mit

der eigenen Identität und Selbstwahrnehmung verknüpft ist durch die anfangs geschil-

derte wichtige Wechselbeziehung zwischen Erinnerungen, Ort und Identität.167 Dies er-

klärt auf der anderen Seite auch, warum eine Beschäftigung mit Heimatkonzeptionen

trotz schwieriger Konnotation dennoch sehr wichtig ist und von vielen Wissenschaft-

ler:innen weiterhin verfolgt wird. Des Weiteren verdeutlicht Bonners Definition die wich-

tige Loslösung von einer biologischen Zugehörigkeit und der Öffnung des Begriffs zu

einem dynamischen und flexiblen Konzept mit der Möglichkeit eines Bezugs zu mehre-

ren „Heimaten“. Nichtsdestotrotz ist Bonners Definitionsvorschlag sehr weit gefasst und

damit wenig aussagekräftig. Gerade in unserer heutigen globalisierten, transkulturellen

Zeit, die durch eine immer größer werdende Bewegung der Menschen gekennzeichnet

ist, können durch die Ablehnung einer emotionalen Bindung bei Heimatkonzepten auf

diese Weise unzählige Orte zu Heimat(en) werden. Trotz ansteigender Mobilität weltweit

scheint es aber nicht so, dass alle Orte an denen Individuen eine für sie als „wichtig er-

achtete Zeit“ verbracht haben, im Nachhinein auch als Heimat imaginiert werden. Wei-

terhin wird im beschriebenen Zitat zwar die Möglichkeit eines mehrfachen Heimatbezugs

aufgegriffen, jedoch nicht die bereits von Wissenschaftler:innen herausgestellte Einsicht

eines „aktiven Heimatverständnisses“, welches eine Ortszugehörigkeit nicht als einen

164 Vgl. Goodbody (2013): S. 201. 165 Vgl. ebd., S. 201. 166 Bonner (2012): S. 141. 167 Vgl. Goodbody (2013): S. 187 f.

40

bleibenden, festen und vorgegebenen Besitz ansieht, der für das ganze Leben auf gleiche

Weise mit einem Individuum verbunden ist, sondern als etwas selbst zu Erschaffendes,

das sich mit der Zeit verändern und so dem Subjekt auch fremd werden kann.168 Dies liegt

in Erkenntnissen zu Raumkonzeptionen begründet, die herausgestellt haben, dass zum

einen Orte selbst durch soziale und geographische Veränderungen fluktuieren und zum

anderen sich auch die Einstellungen, Gedanken und Gefühle des Subjekts gegenüber ei-

nem Ort verändern können.169

Darüber hinaus werden in der oben aufgeführten Definition wichtige soziale Aspekte von

Heimat nicht thematisiert. Eine Hinwendung zu einer Konzipierung von Heimat als ein

vorrangig sozialer Raum, wie es in einigen wissenschaftlichen Untersuchungen ange-

strebt wird, anstatt der früheren Fokussierung auf den geographischen Raum, scheint in-

dessen gerade in heutigen Zeiten der Globalisierung und Mobilität sinnvoll.170 Dies kann

die Etablierung einer emotionalen Bindung zu weit entfernten und fiktiven Orten erleich-

tern und somit eine „Heimat der Zukunft“ darstellen, wenn eine feste Bindung an nur

einen geographischen Ort für die meisten Menschen bereits heute kaum mehr der Realität

entspricht, ein Heimatbewusstsein aber nichtsdestotrotz für die Bildung der eigenen Iden-

tität sehr wichtig ist. Der Heimatbegriff lässt sich so eher mit Goodbodys Definitionsvor-

schlag verstehen als „die menschliche wie räumliche Umwelt, an die wir uns rational wie

emotional gebunden fühlen und die individuelle wie kollektive Identität ermögliche“ 171.

Die neue Auffassung von Heimat ab den 1970er Jahren wurde außerdem als eine wichtige

Motivation für die Auseinandersetzung mit und ein Engagement für die Umwelt angese-

hen, wodurch das neue Heimatbewusstsein der 1970er und 1980er Jahre mit der in dieser

Zeit entstandenen Umweltbewegung in Verbindung gebracht wurde.172 Diese Ansicht

von Heimat hängt sehr stark mit der bereits beleuchteten ökokritischen Vorstellung einer

„ethic of proximity“ zusammen: Ein Ortsbewusstsein könne erst durch den engen Kontakt

168 Zu einem „aktiven“ Heimatverständnis siehe beispielsweise Bausinger, Hermann: „Auf dem Weg zu

einem neuen, aktiven Heimatverständnis“. In: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Heimat heute. Stuttgart:

Kohlhammer 1984, S. 11 – 27. Oder Costadura, Edoardo; Ries, Klaus & Wiesenfeldt, Christiane (Hrsg.):

Heimat global – Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion. Bielefeld: transcript 2019. Ver-

gleiche auch Goodbody (2013): S. 201. 169 Vgl. Basseler, Michael & Birke, Dorothee: „Mimesis des Erinnerns“. In: Erll, Astrid & Nünning, Ansgar

(Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, Theoretische Grundlegung und Anwendungs-

perspektiven. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 131 f. 170 Vgl. Goodbody (2013): S. 188. 171 Ebd. 172 Vgl. ebd.

41

mit der Natur und ein genaues Wissen über diese entstehen.173 Hier zeigt sich erneut die

enge Beziehung zwischen Heimatkonzeptualisierungen und dem Ecocriticism. Wie aber

anhand von Heises Ökokosmopolitismus illustriert, wird dieser Aspekt des neuen Hei-

matverständnisses aufgrund der derzeitigen, gesellschaftlichen Veränderungen durch die

Globalisierungs- und Migrationsprozesse in ökokritischen Ansätzen seit den 1990er Jah-

ren stark hinterfragt und gilt als veraltet.

Die Entwicklungen unserer Zeit führten nun zu einer „dritten Phase“ der Heimatkonzep-

tionen, bei der „die Notwendigkeit, den Einzelnen in einer zunehmend mobilen bzw. glo-

balisierten Gesellschaft zu verorten“174 im Fokus steht. Analog zu anderen geistes- und

sozialwissenschaftlichen Disziplinen galt vor dem transcultural turn auch in den kultu-

rellen Gedächtnisstudien die Nation und die emotionale Bindung der Individuen zu dieser

als wichtige Instanz für die Herausbildung individueller wie kollektiver Identität.175 Der

Fokus von Erinnerungs- und Identitätsprozessen lag somit innerhalb der Grenzen eines

Landes und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit galt als ein überwiegend na-

tionales Bestreben.176 Seit Ende des 20. Jahrhunderts jedoch begannen auch Studien zum

kulturellen Gedächtnis traditionelle Konzepte zu hinterfragen und „all levels of memory

production“ wurden neu gedacht und in einem globalen Referenzrahmen betrachtet.177 In

den letzten Jahren gehen erinnerungsorientierte Forscher:innen vermehrt von Traditio-

nen, Werteauffassungen und „memory without borders“ aus, die durch Migrant:innen und

Reisende über Ländergrenzen hinweg getragen werden, was zu neuen sozialen Konstruk-

tionen und politischen Kontexten in den Gesellschaften führe.178 Im Zuge dessen ist der

Begriff „transkulturelle Erinnerungen“ entstanden und beschreibt die „Zirkulation und

Vermischung von Inhalten, Formen, Medien und Praktiken des Gedächtnisses“179 und die

Tatsache, dass sich durch globale Vernetzungen nun eine länderübergreifende „transkul-

turelle Dynamik des Erinnerns“180 entwickelt hat. Diese Vermischung einzelner Länder

resultiere der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und dem Historiker

Sebastian Conrad zufolge zu der Annahme, dass „nations no longer construct their past

173 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 18. 174 Goodbody (2013): S. 188. 175 Vgl. z.B. Levy (2010): S. 17. 176 Vgl. Einleitung in: Assmann, Aleida & Conrad, Sebastian (Hrsg.): Memory in a Global Age – Dis-

courses, Practices and Trajectories. Hampshire/ New York: Palgrave 2010, S. 2. 177 Vgl. ebd. 178 Vgl. ebd., S. 5. 179 Erll (2017): S. 123. 180 Ebd.

42

in a totally self-contained fashion“181. So wird in Untersuchungen zum kulturellen Ge-

dächtnis und zur Identitätsbildung einerseits die Art und Weise infrage gestellt, wie Na-

tionen ihre Vergangenheit rekonstruieren und kollektive Identitäten bilden, zum anderen

wird aber auch das Konzept von Nationen grundsätzlich (aufgrund der Erscheinungen

unserer Zeit) als identitäts- und erinnerungsstiftende Instanz in Frage gestellt. Ansätze

der kulturellen Gedächtnisforschung, die sich seit Ende des 20. Jahrhundert verstärkt der

Transnationalisierung von Erinnerungen und einer Konzeptualisierung länderübergrei-

fender Erinnerungsräume widmen, stehen derzeit noch am Anfang bei der Beantwortung

der Frage, „welche Auswirkungen das Zeitalter der ökonomischen und kulturellen Glo-

balisierung auf das Gedächtnis hat“182. Dennoch lässt sich bereits jetzt im Heimatdiskurs

eine Veränderung zu kosmopolitischen und transkulturellen Auffassungen bemerken –

eine Tatsache die Goodbody zufolge noch nicht ausreichend betrachtet wurde.183 Die sich

andeutende dritte Phase von Konzeptionen eines Heimatbewusstseins ist analog zu neu-

eren Identitätskonstruktionen geprägt von Deterritorialisierungsentwürfen einer flexiblen

Wahrnehmung von Orten.184 Eine mögliche Konzeptualisierung dieser nächsten Entwick-

lungsstufe der Heimatkonzeption wird nun im literarischen Beispiel Die Obstdiebin illus-

triert. Handke entwirft in vielen seiner Werke moderne, auffallende Vorstellungen von

Heimat und einer Ortszugehörigkeit und leistet so einen eigenen, wichtigen Beitrag zu

den Entwicklungen der Heimatdiskurse.

4.2 Erinnerungen und Identität in Peter Handkes Die Obstdiebin

Die von Peter Handke in seinen Werken entworfenen Ich-Erzählerfiguren legen eine Aus-

einandersetzung mit Erinnerungs- und Identitätsthematiken nahe, wie es auch bereits in

vielen wissenschaftlichen Ansätzen beleuchtet wurde.185 Auch in dem hier zu betrachten-

den Roman Die Obstdiebin spielen Erinnerungen und Gedächtnisprozesse eine große

Rolle, da es selten zu Dialogen und wörtlicher Rede kommt und somit die innere Per-

spektive der Figuren im Fokus stehen. Darüber hinaus wird die Konzeption von

181 Assmann & Conrad (2010): S. 4. 182 Erll (2017): S. 123. 183 Vgl. Goodbody (2013): S. 183 f. 184 Vgl. ebd., S. 188. 185 Vgl. z.B. Eigler, Friederike (2012), oder Schröder (2015).

43

Erinnerungen im Allgemeinen thematisiert. Der Erzähler berichtet von „weltumspannen-

den, angeblich kleinen Geschehnisse[n]“ (48), die im Gedächtnis bleiben und „nach Wei-

tererzählen und Weitergeben förmlich rufen und schreien, über gleichwelche Völker-,

Landes- wie Kontinentalgrenzen hinausgehen“ (47). Handke zeichnet in seinem Roman

so ein Bild von transkulturellen Erinnerungen: Die einst auf ein Land oder eine Region

beschränkten Traditionen, Geschehnisse und Erinnerungen werden durch Globalisie-

rungs- und Migrationsprozesse und durch die Öffnung von Grenzen in der ganzen Welt

verstreut und so auch transformiert. Geschichten, an die sich der Erzähler beispielsweise

aus seiner Kindheit erinnert, trägt er nun als Erwachsener selbst weiter, „jenseits der eu-

ropäischen Grenzen verwandelt in eine Bluesballade“ (48). Die Entwicklungen zu einem

transkulturellen, länderübergreifenden Gedächtnis betreffen in Die Obstdiebin nicht nur

Europa, sondern Erzählungen und Erinnerungen sind „überall auf Erden ganz andere und

zugleich – in aller Herren Länder? nein, in den Ländern ohne welche Herren – dieselben“

(47). Im Roman wird demnach nicht nur eine globalisierte und vernetzte Vorstellung der

Welt durch die in Kapitel 2 beleuchtete Wahrnehmung der Natur und Umgebung verkör-

pert, sondern auch durch die Darstellung einer globalen Erinnerungskultur, die zwar Un-

terschiede der Erinnerungen, Traditionen und Strukturen der unterschiedlichen Länder

erkennt, jedoch – analog zu Annahmen des Ökokosmopolitismus – globale Aspekte, den

fluiden Übergang und die Vermischung von Narrativen und Erinnerungen durch die Ent-

wicklungen der heutigen Zeit in den Fokus rückt.

Handke beschreibt in Die Obstdiebin indes auch negative Auswirkungen der Verände-

rungen von Erinnerungskulturen, beispielsweise anhand der Perspektive einer alten

Schulfreundin, der Alexia zufällig auf ihrer Reise begegnet:

Wie sie [die Schulfreundin] erst mit diesem Reden entdeckt hatte, was und wie sie erlebt hatte,

und wer und wie sie überhaupt war. In der einen Stunde war sie eine andere geworden. Nein, die,

die sie war. Und gleich danach, wieder allein: vorbei. Wie nie gewesen. War das sozusagen das

Neue, das ‚Unerhörte‘ in der Menschheitsgeschichte: noch und noch Erlebnisse, Ereignisse, Ent-

deckungen, Tag um Tag, wenn nicht stündlich, Augenblick um Augenblick – und eine Stunde

danach, einen Augenblick danach: wie nie gewesen? Hauptmerkmal der jetzigen Zeit, der Gegen-

wart: schwache und immer schwächere Nachwirkungen und zuletzt: überhaupt keine? (350)

Handkes Kritik an den sich verändernden kulturellen Gedächtniskonzepten „der jetzigen

Zeit“ basiert somit auf der Bewältigung einer immer größer werdenden Anzahl von Ein-

drücken und Erlebnissen. Durch die Masse an Geschehnissen würden wir diese schon

„einen Augenblick danach“ wieder vergessen. Folglich können diese im Nachhinein nicht

erinnert und verinnerlicht werden und führen daher auch nicht zu „Nachwirkungen“, zu

44

Gedanken und Emotionen, die durch erinnerte Vergangenheit ausgelöst werden und für

die Formung des eigenen Selbstbildes bedeutend sind. An der Gegenwart kritisiert

Handke in Die Obstdiebin, dass es keine „Zwischenzeiten“ einer Ereignislosigkeit mehr

gibt, keine Pause zwischen zwei Geschehnissen, in der Zeit für Reflexionen bleibt. Alle

Zeit ist „Ereigniszeit“, was als eine mögliche Gefahr der Transkulturalität und Globali-

sierung gesehen werden kann, wobei die Schwierigkeit nicht von der im Roman positiv

dargestellten globalen Vernetzung ausgeht, sondern von dem daraus resultierenden Über-

fluss an Erzählungen, Erlebnissen, Informationen, Möglichkeiten und Erinnerungen.

Diese Kritik stellt Handke auch auf einer höheren Ebene dar, indem viele seiner Werke,

so auch Die Obstdiebin, vor allem eine Ereignislosigkeit in den Vordergrund stellen.186

Der Vater der Obstdiebin gibt zum Beispiel Anregungen und Hinweise für ihre Reise, die

charakteristisch für Handkes literarisches Schaffen der späteren Jahre gesehen werden

können: „In den Zwischenzeiten, auf den Zwischenstrekken, da geschieht’s, da ereignet

es sich, da wird’s, da ist’s“ (153). Als Gegenentwurf zu dem „Hauptmerkmal der jetzigen

Zeit“ der ausbleibenden Nachwirkungen, skizziert Handke demnach Charaktere wie die

Obstdiebin, die durch ihre Fokussierung auf „Zwischenzeiten“ der Reflexion und des

Nachdenkens und durch ihre besondere Art der Wahrnehmung viele und kraftvolle

„Nachbilder“ erleben. Immer wieder tauchen daher für die Protagonisten in Die Obstdie-

bin „Bildschnuppenschwärme“ vergangener Momente auf, die „von keinem Gedächtnis

und keiner vorsätzlichen Erinnerung herbeirufbar“ (35) sind. Diese Nachwirkungen von

Erinnerungen führen bei der Obstdiebin zu „Entrückungen“, bei denen sich erinnerte Au-

genblicke aus ihrer Vergangenheit in der Gegenwart materialisieren und sich wie eine

Schablone auf die Wirklichkeit legen, bis diese Erinnerungen selbst zur Wirklichkeit wer-

den (vgl. auch z.B. 261).187 Infolgedessen empfindet die Obstdiebin während solcher Ent-

rückungen „eine gar noch verstärkte Anwesenheit all dessen, was sie im Augenblick

umgab; entrückt, verstärkte und verdeutlichte sich ihr das, was zugleich da war, samt ihr,

sie sozusagen inbegriffen, die mit da war“ (165). Diese Momente haben demzufolge eine

bedeutsame Wirkungskraft im Roman: Sie führen für die Obstdiebin nicht nur zu stärke-

ren Wahrnehmungen ihrer Umgebung, sondern auch zu einer Bewusstwerdung ihres

186 Zu Handkes Ereignislosigkeit vergleiche auch Hofer (2007): S. 232. 187 Dies gilt gemeinhin als Kennzeichen für literarische Werke, die sich mit Erinnerungsprozessen ausei-

nandersetzen, vergleiche auch Neumann (2005): S. 198.

45

eigenen Selbstbildes. Erinnerungen sind so auch in Die Obstdiebin eng mit der Formung

und Stabilisierung der eigenen Identität verbunden.

Darüber hinaus helfen diese Nachbilder Alexia dabei, sich aus ihren innerlichen Zusam-

menbrüchen zu befreien:

Förmlich angeschwärmt sah sie sich, ohne zu wissen, wie ihr jetzt geschah, und auch ohne sich

zu fragen nach einem Warum, von Bildern, Momenten, Momentbildern, die ihr Orte zurückbrach-

ten, an denen sie im Laufe des Lebens gewesen war […]. So blitzten sie auf, die einen und andern

Orte ihrer Vergangenheit, gleichwelche, wehen und schwärmen an, ein zweites Gewahrwerden,

ein Wiederkommen, aber nicht von irgendwo außen, sondern aus ihr selbst. (278)

Es handelt sich hier nicht um Reminiszenzen besonderer Augenblicke oder wichtiger Per-

sonen, stattdessen sind es „aufspring- und aufschnellbereite Ortsbilderdelphine“ (279),

die der Obstdiebin aus ihrer ganzkörperlichen Starre helfen und sie wieder in der Realität

„verorten“. Dennoch wird keine Fokussierung auf Orte im Sinne der bereits behandelten

„ethic of proximity“, sprich der Betonung einer Heimat als einen festen Bezugsort und

als Quelle der Kraft und Identitätsbildung, angestrebt. Es sind stattdessen „gleichwelche“

Orte ohne erzählenswerte Ereignisse, an denen die Obstdiebin auf ihren Reisen eine ge-

wisse Zeit verbracht hat und durch diese später kraftvolle Nachwirkungen entstehen:

„Und solche Bilder, Nachbilder aus den Jahren und Jahrzehnten, würden ihr […] jedesmal

bedeuten: ‚Weiterspielen. Das Spiel ist noch nicht aus […]‘“ (474). Es ist demnach das

für Handke typische „ereignislose[n] Unterwegssein“ (472), wodurch eine emotionale

Bindung an Orte entsteht, die für die Stabilisierung und Formung des eigenen Selbstbildes

wichtig sind. So stellt sich Handke gegen traditionelle Bilder einer Auffassung von Erin-

nerungen, Orten und einer „ethic of proximity“. Wie es auch bereits in einzelnen litera-

turwissenschaftlichen Untersuchungen herausgestellt wurde, präsentiert Handke so in

vielen seiner Werke durch seine „deterritorialized, poetic notion of Heimat“ 188 einen mo-

dernen Gegenentwurf zu klassischen Vorstellungen einer Ortszugehörigkeit.

188 Eigler (2012): S. 45.

46

4.3 Handkes Entwurf einer deterritorialisierten Heimat

Ein beständiges Unterwegssein der Protagonisten durch Wandern oder Gehen zu Fuß

spielt auch in Handkes früheren Werken eine wichtige Rolle und wird daher von For-

scher:innen als eines der wichtigsten Merkmale für die Konzeption seiner deterritoriali-

sierten Heimatauffassung gesehen.189 Das Motiv des Wanderers wird in der

Literaturwissenschaft gemeinhin mit der Suche nach Identität und dem eigenen Platz in

der Gesellschaft verbunden – anstatt eines erfreulichen oder auch weniger glückhaften

Endes dieser Suche, laufen Handkes Erzähler jedoch einfach immer weiter als ein narra-

tives Mittel, um einen Bewusstseinszustand zu präsentieren, in dem Bewegung und Ver-

änderung wichtiger als das Wohnen an einem festen Platz scheint.190 Anhand von

Handkes Werken wie Langsame Heimkehr (1979) oder Mein Jahr in der Niemandsbucht

kamen sowohl Schröder als auch die Germanistin Friederike Eigler zu der signifikanten

Erkenntnis, dass die Protagonisten durch ihre ständige Bewegung eine mystische, epipha-

nische Einheit von Ort und Zeit erleben würden, welche dann „fleeting moments of me-

aningful existence and ‚feeling at home‘ for the protagonist“191 auslösen würden. Für

Handkes Figuren scheint es so unmöglich, ein Heimatbewusstsein für einen festen Ort

oder eine traditionelle, konstante Lebensweise zu entwickeln, stattdessen wird ein „fee-

ling at home“ durch die Bewegung als flüchtige und temporäre Momente realisiert.192

Ähnlich wird es zum Beispiel auch in Die Wiederholung konzipiert: „So wurde meine

[die des Erzählers] Heimstatt damals das Fahren, das Warten an Haltestellen und Bahn-

höfen, überhaupt das Unterwegssein“193. Heimat hängt in Handkes Werken nicht mit ei-

nem geographischen Ort zusammen, sondern entsteht durch die Bewegung und

Imaginationskraft der Protagonisten, indem er „uplifts Heimat from any one place and

situates it in the realm of an individual’s imagination and aesthetic practice“194. Daher

stellt sich Handke mit seiner Konzeptualisierung von Heimat deutlich gegen „the national

paradigm, by turning towards European landscapes instead“195. Diese Konzeptualisierung

einer Ortszugehörigkeit geht somit auch mit dem bereits geschilderten aktiven

189 Vgl. Eigler (2012): S. 44 f. 190 Vgl. Schröder (2015): S. 29 ff. 191 Eigler (2012): S. 44. 192 Vgl. Schröder (2015): S. 33 f. 193 Handke (2012): S. 63 194 Eigler (2012): S. 45. 195 Schröder (2015): S. 27.

47

Verständnis einer selbst zu schaffenden und veränderbaren Ortszugehörigkeit einher.

Darüber hinaus wurde diese Loslösung des Heimatbewusstseins von ihrem lokalen und

nationalen Kontext und einer daraus resultierenden Darstellung einer „transnationalen

Ästhetik“ als Gegenentwurf zu traditionellen Auffassungen, auch wie bereits erwähnt von

Schröder mit Heises ökokosmopolitischer Weltanschauung und der Frage nach einer Zu-

gehörigkeit im globalisierten Zeitalter in Verbindung gebracht.196 Handke stellt sich so

den Herausforderungen unserer mobilen und globalen Zeit, in der sich Individuen auch

außerhalb der Fiktion in einer ständigen Bewegung befinden und eine dauerhafte Bindung

zu nur einem Ort nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht.

Die Heimatkonstruktion in Die Obstdiebin weist Ähnlichkeiten, andererseits auch Ab-

weichungen mit Handkes Entwürfen in vorherigen Werken auf. Zunächst ist aufzuführen,

dass ein traditionelles Heimatbewusstsein schon allein durch die Familiengeschichte der

Obstdiebin erschwert ist: „Ihr [Alexias] Vater hatte sie einst traktiert mit seiner Kinder-

geschichte, wonach seine Eltern, als Flüchtlinge in einem fremden Land, lange Jahre als

‚Staatenlose‘ eingestuft waren“ (499). Die Obstdiebin hingegen versteht sich wie bereits

beleuchtet selbst eher als eine das Konzept von Nationen verweigernde Weltenbürgerin.

Dieses seit ihrer Kindheit komplizierte Verhältnis zur Heimat zeigt sich auch in der Dar-

stellung von Alexia als einer Grenzgängerin. Oftmals steht sie auf der Schwelle zwischen

zwei Alternativen und kann sich, aus Angst etwas zu verpassen, nicht für die eine oder

die andere Seite entscheiden: „Und so war sie zu sehen, wie sie auf der Schwelle der

Kammer stand, erstarrt, bis auf die beiden Hände, welche sie rang und rang, ein Hände-

ringen, wie es allein an ihr, an ihr allein zu sehen war, als wolle sie mit der einen Hand

die andere erwürgen, und sich selbst dazu“ (249). Des Weiteren ist ihre Reise durch die

Picardie als eine Durchquerung eines „Grenzlandes“ (357) – nicht durch nationale, son-

dern „landesinnere“ Grenzen – konzipiert. Bei dieser Durchwanderung wählt sie Strecken

und Pfade „hinter den Gärten“ (154), ein Ausdruck den Handke bereits in seinem Werk

Die Wiederholung verwendet und dort wie folgt erläutert: „Übertragen bedeutet dieser

Ausdruck […] das Gebiet, das zwar bewohnt war, aber nicht mehr so recht zum Dorf

gezählt wurde: wo die einzelnen, die Alleinstehenden hausten“197. Auch die Obstdiebin

ist eine Figur, die zu keiner Gemeinschaft dazugehört, wie auch bereits in Kapitel 2 dar-

gestellt. Dennoch ist dieses „Dazwischensein“ im Roman grundsätzlich nicht negativ

196 Vgl. Schröder (2015): S. 34. 197 Handke (2012): S. 49.

48

dargestellt. So wie durch die Nähe zu Flüssen, zieht Alexia auch Stärke aus Grenzgebie-

ten und Schwellenräumen und spürt oft „[b]ei all dem inwendigen Weder-aus-noch-ein-

Wissen zugleich eine Kraft in sich“ (250). Des Weiteren wird im Roman eine Ablehnung

des traditionellen Heimatbegriffes durch eine Umdeutung von Begriffen wie „unsereiner“

deutlich:

Im Blick auf diese Fremden […] stellte sich zu dieser Ansammlung ein Wort ein, welches früher

einmal, im eigenen Land und besonders in der Jugend dort, etwas mich [dem Erzähler] eher Ab-

stoßendes, mich Abfertigendes bezeichnet hatte, und dieses Wort war ‚unsereiner‘ gewesen. In

diesem Fall dagegen bedeutete mir ‚unsereiner‘ im Gegenteil einen so freien wie lockeren Zu-

sammenhalt. (76)

Ausdrücke wie „unsereiner“ oder „meinesgleichen“ haben im Allgemeinen eine exkludi-

erende Bedeutung und werden noch immer an vielen Stellen mit einer biologischen Zu-

gehörigkeit zur Nation oder einer Region verbunden. In Die Obstdiebin hingegen

bezeichnen sie eher das Gegenteil: eine zufällige Gruppe Menschen in einem Café, die

ursprünglich alle aus verschiedenen Ländern stammen und für diesen Moment einen

kurzzeitigen, „lockeren Zusammenhalt“ bilden. Für den Erzähler hängt eine Ortszugehö-

rigkeit somit nicht mit einem ursprünglichen Geburtsort zusammen, sondern ist frei wähl-

bar, wie es auch den Konzeptionen des neuen Heimatbegriffs entspricht.

Neben der Destruktion eines traditionellen Heimatbildes zeichnet Handke ähnlich wie in

früheren Werken auf der anderen Seite ein neues, deterritorialisiertes Bild einer Ortszu-

gehörigkeit. Wie bereits geschildert ist auch das Leben der Protagonistin in Die Obstdie-

bin durch eine stete Bewegung und häufige Ortswechsel gekennzeichnet. Alexia hat zwar

einen festen Bezugspunkt mit ihrer Wohnung in Paris, aber dort verbringt sie selten Zeit

und wenn nur ein paar Tage (137). Die Unmöglichkeit für längere Zeit an einem Ort zu

bleiben, trägt in diesem Roman ähnlich wie in anderen Werken zu der Deterritorialisie-

rung der Heimatauffassung bei. Allerdings kommt es bei Alexia anders als bei Handkes

früheren Protagonisten nicht zu epiphanischen Augenblicken eines kurzzeitigen „feeling

at home“ durch die Bewegung. In Die Obstdiebin führt etwas Anderes zu einem affekti-

ven Orts- und Heimatbewusstsein, welches dann zu den bereits geschilderten und für die

Identitätsbildung wichtigen „Nachwirkungen“ führt:

Im Lauf des inzwischen Vierteljahrhunderts ihres Lebens hatte sie oft und oft die Orte gewechselt,

war aber an ihnen, wenigstens für den einen und dann vielleicht auch noch einen Tag – länger

fühlte sie sich nirgends in Sicherheit –, jedesmal heimisch geworden dank ihres Obstdiebestums.

(172)

49

Es nicht der eine geographische Ort wie bei dem Erzähler in Die Wiederholung durch die

Darstellung von Slowenien, der bei Alexia zu einem Heimatbewusstsein führt, sondern

ihr Verhältnis zur Umwelt durch das Pflücken von verwildertem Obst und Gemüse,

wodurch sich eine Verbindung von Heimatkonzeptionen und der Beziehung zur Natur

ergibt. Für die Obstdiebin spielen Straßennamen, Sehenswürdigkeiten oder markante

Bauten keine Rolle, „[s]ie maß einen jeden Ort an den Punkten, Stellen und Winkeln, wo

eine Frucht wuchs, die sie mitgehen lassen konnte. Es genügte ihr ein Tag und eine Nacht,

und in ihrem Innern war abrufbar so etwas wie eine Kartographie der für sie den Ort als

Umgebung überhaupt erst ausmachenden Fruchtparameter“ (172f). Handke konzeptuali-

siert in Die Obstdiebin ein, den modernen Auffassungen von Ortszugehörigkeit entspre-

chendes, aktives Verständnis, da sich ein Heimatgefühl durch sich ständig verändernde

Orte und wechselnde „Fruchtparameter“ immer wieder neu finden muss. Des Weiteren

werden für die Obstdiebin Umgebungen erst durch das Pflücken von Obst- und Gemüse-

arten überhaupt zu Orten mit Bedeutung. Und ein solches „Ortswerden an der Hand ihres

Obstdiebinnentums war nicht bedingt davon, daß sie das freie Land um sich hatte, die

Dörfer, die kleinen Städte. Sie erfuhr es ebenso in den Megapolen, und es war dort oft

noch ‚fruchtbarer‘“ (173). Auch hier lässt sich ein Aspekt des neuen Heimatverständnis-

ses erkennen, der ländliche genauso wie urbane Gebiete umfasst. Das Obstdiebestum hat

somit nicht nur die bereits beleuchtete Funktion einer vermittelnden Instanz zwischen

menschlicher Zivilisation und natürlicher Umwelt, sondern trägt auch zu einem Heimat-

gefühl und der Entwicklung einer Ortszugehörigkeit bei. Dies liegt zum einen begründet

darin, dass die gepflückten Pflanzen von der Obstdiebin wie „Souvenirs“ – sprich Erin-

nerungsstücke – oftmals einige Tage in ihrer „Diebestasche“ transportiert werden, was

sie im Nachhinein an die besuchten Orte erinnern lässt (vgl. z.B. 161). Auch hier ist eine

Ähnlichkeit mit Handkes Erzähler in Die Wiederholung zu erkennen, der „sonst die Wald-

früchte weit lieber sammelte als aß“198. Andererseits kann das Obstdiebestum wiederum

als ein weiterer Hinweis auf eine zusammenhängende, globalisierte Vorstellung der Welt

gedeutet werden: Auch wenn sich Landschaften und Gebiete verändern und Städte oder

Dörfer sich überall auf der Welt durch ihren geographischen Aufbau oder durch gesell-

schaftliche Strukturen voneinander unterscheiden, so liegt doch eine Gemeinsamkeit da-

rin, dass es der Obstdiebin zufolge, überall verwilderte Obst- und Gemüsepflanzen als

Bezugspunkte zu finden gibt. Das Gehen im Ort sowie das Sammeln, hier am Beispiel

198 Handke (2012): S. 94.

50

von Obst und Gemüse, erinnert ferner an Michel de Certeaus Beschreibungen von 1980

zur Bewegung, dem „Flanieren“ der Menschen in der Stadt.199 Das Verhalten der Fuß-

gänger durch den „Vorgang des Gehens, des Herumirrens, oder des ‚Schaufensterbum-

mels‘, anders gesagt, die Aktivität von Passanten“200 (so auch durch das Sammeln und

Pflücken), führt zu einer Formung, Veränderung und Aneignung von Räumen. De Cer-

teau unterstrich somit bereits vor mehr als 40 Jahren, was nach wie vor in unserer gegen-

wärtigen Zeit gültig ist und vielleicht sogar an Wichtigkeit gewonnen hat: „Die Spiele der

Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten […]. Sie

können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum.“201 Schon in diesem

Konzept lässt sich so der Anklang eines modernen Raum- und somit auch Heimatkon-

zeptes finden, denn „[d]as Gehen, das sich Schritt für Schritt fortsetzt oder fortgesetzt

wird“, so de Certeau, „macht aus der Umgebung etwas Organisches, Bewegliches“202.

Durch diese Fähigkeit der emotionalen Ortsbindung und der umsichtigen Wahrnehmung

„verbunden mit einem Aufmerken für womöglich alle auf dem Weg, an ihm und um ihn

herum auftretende Einzelheiten“ (389), mithilfe dieser Alexia beispielsweise die ver-

misste Katze eines Mannes wiederfindet, der zuvor enttäuscht darüber war, „daß nie-

mand, gar niemand die Augen aufhielt für das von ihm und den Seinen so schmerzlich

Vermißte“ (296), zählt sie trotz ihrer Unbeständigkeit nicht zu den beschriebenen „Heer-

scharen der Unerreichbaren“ (82). Diese seien laut dem Erzähler überall auf der Welt zu

finden und hätten „Ohren und Augenmerk für rein gar nichts auf Erden – für rein gar

nichts, was einmal ‚Mutter Erde‘, ob Natur oder Menschenwelt, hieß“ (78). Dieses Des-

interesse der Unerreichbaren würde daher rühren, dass „ihnen die Orte ihres Tuns und

Treibens, deren Umgebungen und Umfeld, nichts bedeuten“ (ebd.). Die geschilderte Un-

erreichbarkeit der Menschen lässt sich als eine negative Auswirkung gegenwärtiger Ent-

wicklungen verstehen, bei der Orte stetig gewechselt werden und dadurch von den

„Unerreichbaren“ keine emotionale Bindung zu diesen aufgebaut wird. Der Erzähler stellt

ferner kritisierend fest, dass die meisten der in der Niemandsbucht Arbeitenden, woanders

leben würden und daher niemand „im Ort und um ihn herum müßigging, geschweige

denn, dies und jenes da […] eines Blickes würdigte, oder aber, schön wär’s gewesen, die

199 Vgl. Kapitel VII „Gehen in der Stadt“, S. 179 – 208, in: Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin:

Merve 1988 [1980]. 200 Ebd., S. 188. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 191.

51

Gegend unsicher machte“ (79). Entsprechend de Certeaus Konzeptualisierung entstehen

auch für den Erzähler in Handkes Die Obstdiebin bedeutungsvolle Räume und Orte erst

durch das Gehen, durch die „Schritte“ der Menschen, die dort wohnen.203 Diese Bewe-

gung der Individuen kann nicht auf Stadtkarten oder -plänen abgebildet werden, denn der

eigene „Akt des Vorübergehens“, der eigentliche Prozess des Gehens, ist nach de Certeau

wichtig.204 Die Menschen in der Niemandsbucht bleiben so für immer Ortsfremde, stehen

lediglich in „ihrer Rolle“ als Arbeitende für den Ort zur Verfügung. Die Unerreichbaren

symbolisieren somit auf der anderen Seite die fehlende immanente Bedeutung von Orten

und zudem die Wichtigkeit von menschlichen Handlungen, Erinnerungen und Erfahrun-

gen für ein „Aufladen“ dieser Orte.

Nichtsdestotrotz fehlt der Obstdiebin, „der Unzugehörigen, der Grenzverletzerin, der, wo

sie auch hinkam, Illegalen“ (496) wie bereits angedeutet der Zugang zu einer sozialen

Gemeinschaft: „wie tat es ihr not, wie bedürftig war sie, wie sehnte sie sich danach, sich

endlich wo erwünscht zu finden“ (498). Und sie fragt sich immer wieder im Laufe der

Handlung warum „ihr und ihresgleichen der Zugang zu der Welt jetzt wie auf Dauer, und

unwiderruflich versperrt war“ (499). In die Welt und ihre jetzigen Strukturen, findet die

Obstdiebin mit ihren Anschauungen, ihrem Wunsch Weltenbürgerin zu sein und ihrem

daraus resultierenden Zustand als Grenzgängerin und sich im Dazwischen Befindende,

keinen Eingang. Die Darstellung von aus der Gesellschaft sich ausgeschlossen fühlenden

Protagonist:innen ist in Handkes Werken nicht neu. In Die Wiederholung empfindet der

Erzähler ähnlich: „Aber auch zum Städter wurde ich nicht in diesen Jahren. Obwohl ich,

im Dorf unheimisch geworden, oft nach der Schule erst den letzten Zug nahm, blieb ich

in der Stadt überall draußen“205. Alexia in Die Obstdiebin versucht an mehreren Stellen

eine Verbindung zu einer Gemeinschaft aufzubauen, zum Beispiel in der Natur, in der die

verschiedenen Tierarten zumindest am Tage eine soziale Gruppe formen zu scheinen,

doch schnell bemerkt die Obstdiebin, trotz ihrer Vorsichtigkeit und Umsicht bei dem Ge-

hen durch die Landschaft: „[a]llein sie störte jetzt diese Gemeinschaft, wurde der Ein-

dringling, war die Fremde, der Feind“ (495) und die Tiere flohen allesamt vor ihr. Zum

anderen versucht sie im Glauben eine soziale Zugehörigkeit zu finden und besucht eine

Messe, während dieser sie auch ein zeitweiliges Zusammengehörigkeitsgefühl und eine

Verbindung zu den anderen Besucher:innen verspürt. Doch auch hier kommt sie zu der

203 Vgl. Certeau (1988): S. 188. 204 Vgl. ebd., S. 188 f. 205 Handke (2012): S. 58.

52

Einsicht: „Solche Gemeinschaft kann die Freude sein, Freude pur. Aber sie genügt mir

nicht“ (493). Überdies kann gleichermaßen das Obstdiebestum gegen die Einsicht einer

fehlenden sozialen Gemeinschaft nichts ausrichten. Alexia probiert es mit Sauerkirschen,

Kresse, Wacholder und sogar Fallobst, aber ihre Hoffnung, „all das Saure, in diesen

Früchten, konzentriert, werde ihr weiterhelfen“ (509), zerfällt durch eine „große allum-

spannende Geschmacklosigkeit innen wie außen“ (509). Es ist eine Unlösbarkeit, welche

die Obstdiebin in dem Roman dann in eine zweite Krise stürzt, die ihren Höhepunkt in

einem – ob imaginären oder wirklichen - „Kampf zwischen ihr und der Doppelgängerin“

(514) findet. Ihre Gegnerin ist dabei die Schuld, die „seit Menschengedenken die Familie

und Sippe bestimmte, als deren Grundgefühl“ (272). Und obwohl Alexia „schwor, […]

‚Schuld‘ wie Schuld, Wort wie Grundgefühl in ihrem eigenen Innern, nie wieder zuzu-

lassen“ (272f), taucht sie dennoch immer wieder als Ursache für ihrer inneren Zusam-

menbrüche auf. Es sind keine Schuldgefühle aufgrund einer Staatenlosigkeit wie bei

ihrem Vater, sie werden stattdessen dadurch ausgelöst, dass sie „immer noch keinen Platz

in der Gesellschaft […], keinen beständigen jedenfalls, gefunden hatte“ (273). Ihr Schuld-

bewusstsein begründet sich demnach darauf, dass sie in plötzlich aufblitzenden Situatio-

nen sich selbst, ihre eigene deterritorialisierte, grenzgängerische Identität und ihre

Lebensauffassungen hinterfragt.

Die Konflikte der Obstdiebin, die unbestimmte „Angst um sich selber“ (137), beschreiben

zugleich die Problematiken und Herausforderungen mit den Entwicklungen unserer Zeit:

Die Frage, wie sich das zunehmend etablierende Konzept von ortsflexiblen Heimaten mit

dem menschlichen Wunsch nach einer sozialen Gemeinschaft vereinen lässt. Und ent-

sprechend einer ökokosmopolitischen Perspektive wünscht sich die Obstdiebin eine glo-

bale Gemeinschaft und eine Abwendung einer verpflichtenden Staatsangehörigkeit. Dies

ist „der große Krieg, der eigentliche: der mit dir selber“ (520) beschreibt es eine Figur,

die der Obstdiebin zum Ende des Romans begegnet, die problematische Auseinanderset-

zung mit der eigenen Identität in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen. Der Roman

stellt so nicht nur eine geographische Reise in das „Landesinnere“ Frankreichs dar, son-

dern auch eine Reise in das Innere der Obstdiebin. Dennoch zeichnet Handke trotz der

über der Handlung schwebenden Weltuntergangsstimmung, kein rein pessimistisches

Bild. Denn auch in Die Obstdiebin findet sich ähnlich wie in der Darstellung Sloweniens

in Die Wiederholung ein fast schon utopischer Hoffnungsschimmer für eine bessere Zu-

kunft:

53

Sie war nicht allein. Ihresgleichen gab es, und sie waren, gerade heute, die Vielen und diese Vie-

len würden eines Tages, in nicht ferner Zukunft, bald, während sie noch jung wären, jenseits der

aktuellen Zwänge, auch jenseits all der ausgedienten ‚Gesellschaftsverträge‘, sprich Ideologien,

die ganz andere Gesellschaft bilden Dessen war sie gewiß. Das war gewiß. (274)

Es ist der im Roman allgegenwärtige ökokosmopolitische Wunsch nach einer anderen

Gesellschaft beziehungsweise einer anderen Weltordnung, die eine stärkere Fokussierung

auf globale Verbindungen anstrebt, um die Katastrophe abwenden zu können. Dennoch

gelingt es Handke die globalisierte Vorstellung durch seine Konzeptualisierungen von

Heimat und einer intensiven Wahrnehmung der Welt, mit der Wichtigkeit von Orten für

die Identitäts- und Erinnerungsprozesse zu verbinden und skizziert so, wie eine emotio-

nale Ortsbindung in Zeiten der Globalisierung, Transkulturalität und Migration trotzdem

möglich und fruchtbar ist. „Ohne die Gesellschaft von ihresgleichen“, fährt Handke je-

doch fort, „Ende der Welt. Weltuntergang“ (274).

54

5. „Solche Internationalitäten – mehr davon!“206

5.1 Abschließende Bemerkungen

In der Einleitung zum Sammelband Memory and the Future betonen die Herausgeber

Gutman, Brown und Sodaro, dass

in our present transnational context of global flows, commemorative forms and meanings are

already crossing physical and disciplinary boundaries and should thus be looked at from various

sites and perspectives. Much can be learned from the work of scholars and practitioners of

memory around the world who are already conducting research on or engaging with commemo-

ration in manners that cross not only national borders but also disciplinary boundaries.207

Und diese Notwendigkeit eines interdisziplinären Austausches betrifft nicht nur die Cul-

tural Memory Studies, sondern auch die umweltorientierte Literaturwissenschaft, weshalb

die vorliegende Studie eine gemeinsame Betrachtung dieser beiden Disziplinen ange-

strebt hat. Wie es in der theoretischen Diskussion angedeutet und bei der Literaturanalyse

verdeutlicht wurde, ist es unmöglich, die Wichtigkeit von Orten und einer lokalen Orts-

zugehörigkeit vollständig auszublenden. Daher zeigte die vorliegende Untersuchung auf,

wie mithilfe von transkulturellen, an die Erscheinungen der gegenwärtigen Zeit angepass-

ten Konzepten zur Begegnung mit Umweltproblematiken und der Entwicklung eines Hei-

matbewusstseins eine Fokussierung auf Orte möglich sein kann, ohne Aspekte der

globalen Vernetztheit auszublenden oder eine „ethic of proximity“ anzustreben.

Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen seit Ende des 20. Jahrhunderts durch die

Globalisierung und weltweit zunehmende Mobilität und Migrationserscheinungen der

Menschen führen in vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu Neude-

finitionen und Veränderungen traditioneller Konzepte und zu Entwicklungen von neuen

Fachgebieten. Seit einigen Jahren lässt sich, beschrieben durch den transcultural turn,

eine deutlich sichtbare Fokussierung auf transkulturelle, dynamischere Konzepte beson-

ders zur Bildung der eigenen wie kollektiven Identität und der emotionalen wie rationalen

Bindung an eine Nation feststellen. Auch in der umweltorientierten Literaturwissen-

schaft, die in ihren Anfängen vor allem an der lokalen Beziehung zur Umwelt und der

Wiederherstellung eines verlorenen Gleichgewichts zwischen Natur und Kultur interes-

siert war, lassen sich diese Entwicklungen zeitgleich mit einer Abwendung von Konzep-

ten, die eine „ethic of proximity“ verfolgen und moralische Nähe nur in räumlicher Nähe

206 Handke (2019): S. 531. 207 Gutman et al. (2010): S. 5.

55

sehen, erkennen. Dies wurde exemplarisch durch die Darstellung von Heises Konzept des

Ökokosmopolitismus veranschaulicht, der als ein Gegenentwurf zu traditionellen Kon-

zepten zu bewerten ist, daher die Auffassung der Nation als erste und wichtigste identifi-

katorische Kraft ablehnt und einen „sense of planet“ sowie eine „environmental world

citizenship“208 als Identifikationskonzept in gesellschaftlichen sowie akademischen Dis-

kussionen etablieren will. Der Wunsch einer Zurückerlangung der vermeintlich verlore-

nen Balance zwischen Natur und Mensch wird jedoch auch heute noch, wie in der

einleitenden Darstellung des Computerspiels Eco verdeutlicht, an vielen Stellen verfolgt.

Anders als Heise darlegt, zeigt die Analyse in dieser Arbeit – was auch bereits in einzel-

nen ökologisch orientierten Ansätzen betont wurde –, dass eine emotionale Bindung an

lokale Orte nicht zu unterschätzen ist. Auch Konzepte zum kulturellen Gedächtnis und

Heimatkonstruktionen, die sich mit Orten als wichtige Erinnerungsinstanzen für die For-

mung von individueller wie kollektiver Identität auseinandersetzen, haben sich in den

letzten Jahrzehnten stark verändert. Insbesondere der Heimatdiskurs erlebt derzeit eine

„dritte Entwicklungsphase“, in der Heimat als ein deterritorialisierter, sozial inklusiver

und vielschichtiger „sozialer Raum“ aufgefasst wird, anstatt eine Fokussierung auf den

geographischen Ort zu legen. Diese Erscheinungen einer transkulturellen, kosmopoliti-

schen und deterritorialisierten Ortszugehörigkeit lassen sich besonders deutlich in Peter

Handkes Werken veranschaulichen. Zum einen ist es die stete Bewegung der Obstdiebin,

ihre Unbeständigkeit, aber auch – anders als in Handkes vorherigen Werken – ihre be-

sondere Beziehung zu ihrer Umwelt durch ihr Obstdiebestum, die zu dieser besonderen

Form eines Heimatbewusstseins in dem hier untersuchten Handke-Roman Die Obstdiebin

führen. Das Pflücken von Obst und Gemüse führt zu der Wahrnehmung von Umgebungen

als bedeutsame Orte, an denen sich die Obstdiebin heimisch fühlen kann. Handkes Hin-

wendung zu umweltorientierten Themen, ist somit auch in Die Obstdiebin zu spüren –

nicht nur durch das Obstdiebestum, sondern auch durch die Beschäftigung mit für öko-

kritische Literatur charakteristische Thematiken, wie etwa die Andeutung einer weltwei-

ten Katastrophe, die umsichtige Beziehung zur Umwelt oder die Darstellung eines engen

Wechselspiels zwischen Natur und Kultur.

Aus der Literaturanalyse ging weiter hervor, dass Alexias Obst- und Gemüsepflücken als

ein literarisches Mittel für die Symbolisierung einer gesamtplanetarischen Vorstellung

208 Heise (2008): „Introduction“, S. 8.

56

gesehen werden. Handke verbindet so in seinem Roman eine ökokosmopolitische, glo-

bale Vorstellung der Welt (symbolisiert auch durch das permanente Gehen und den

Wunsch der Obstdiebin nach einer Weltenbürgerschaft anstelle einer Nationszugehörig-

keit) mit einer emotionalen Verbindung zu lokalen Orten. Unzählige Orte werden so für

die Obstdiebin zu einer kurzlebigen, temporären Heimat, die aber dennoch Erinnerungen

auslösen, die wiederum als wichtige Marker für die Stabilisierung und Formung der Iden-

tität dargestellt werden. Handke zeigt damit auf, dass die ökokosmopolitische Weltan-

schauung wie es bei Heises Konzeptualisierung anklingt, eine affektive, für die Identität

wichtige Bindung zu lokalen Orten nicht ausschließen muss. Denn auch Handkes tempo-

räres Heimatbewusstsein hängt durch seine Deterritorialisierung und durch das Obstdie-

bestum mit einer globalisierten, kosmopolitischen Vorstellung der Welt zusammen. Ihm

gelingt es demzufolge, die ökokosmopolitische Perspektive um die Wichtigkeit eines

Heimat- und Ortsbewusstseins zu erweitern, ohne jedoch die globalen Aspekte aus den

Augen zu verlieren, welche dessen ungeachtet weiterhin im Vordergrund stehen. Handkes

Roman Die Obstdiebin beschäftigt sich mit den Herausforderungen unserer Zeit, mit der

Globalisierung, Migration und Transkulturalität, indem er traditionelle Blickwinkel kriti-

siert, neue Konzeptionen entwirft, aber auch bestimmte Problematiken, zum Beispiel die

sich verändernde Erinnerungskultur, darlegt. Sein Werk verdeutlicht somit eine frucht-

bare Form der Verbindung von Konzepten des Ecocriticism und Ansätzen der Cultural

Memory Studies.

5.2 Forschungsausblick

Da diese Zusammenführung der beiden Disziplinen gemeinhin nur in einzelnen Studien

und daher nicht ausreichend untersucht wurde, finden sich viele Möglichkeiten für wei-

tere, tiefgreifende Forschung. Besonders der bereits beleuchtete, in den letzten Jahren

entstandene Perspektivwechsel der kulturellen Gedächtnisstudien zu einer Einbeziehung

der Zukunft in Erinnerungsprozesse wurde bisher noch nicht mit ökokritischen Ansätzen,

die ihrerseits häufig mit literarischen Visionen einer Zukunft beschäftigt sind, in Verbin-

dung gebracht. Die Erkenntnis, dass unsere Vorstellungen und Wünsche der Zukunft, ei-

nen Einfluss darauf haben, wie und was wir erinnern, kann in umweltorientierten

Literaturstudien wichtige Einsichten herbeiführen. Des Weiteren kann bei der Betrach-

tung von Heimatkonzepten eine Einbeziehung verwandter Begriffe wie heim(e)lich oder

57

unheimlich, die besonders auch in Die Obstdiebin eine prominente Rolle spielen, oder die

Untersuchung der fehlenden Pluralbildung von Heimat(en) weitere, bedeutsame Erkennt-

nisse zur Folge haben. Außerdem erscheint ein tiefergreifender Vergleich von Handkes

Werken für vertiefende Diskussionen seiner Heimatkonzeptionen sinnvoll, da die Kon-

zeptualisierung der verschiedenen Erzähler starke Gemeinsamkeiten aufweisen.

Die neuen sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit, welche in naher

Zukunft möglicherweise weitere Veränderungen und gesellschaftliche Umformungen mit

sich bringen, symbolisiert in Computerspielen, Literatur, Filmen oder Politik, werden vo-

raussichtlich in den nächsten Jahren weiterhin auch im akademischen Diskurs zu Umfor-

mungen und Wandlungen tradierter Auffassungen, führen – insbesondere in Disziplinen,

die sich mit aktuellen Gesellschaftsentwicklungen beschäftigen wie die umweltorientierte

Literaturwissenschaft und die Cultural Memory Studies. Derzeit spielen Orte und eine

rationale wie emotionale Bindung zu diesen in der Gesellschaft allgemein wie in akade-

mischen Diskussionen weiterhin eine signifikante Rolle. Durch die stetig ansteigende

Mobilität und globale Vernetzung der Menschen, kann sich dies jedoch in Zukunft än-

dern. Eine tiefgreifendere Untersuchung sozialer Aspekte von Heimat scheint dement-

sprechend sinnvoll, da diese möglicherweise anstelle einer geographischen Zugehörigkeit

durch die Weiterentwicklung der Videotelefonie und der Verlegung von gesellschaftli-

chen Treffpunkten in die Digitalität, in Zukunft noch weiter in den Fokus gerückt werden

könnten. Das Heimatbewusstsein und die Zugehörigkeit zu einer geographischen Umge-

bung erleben in den letzten Jahren eine zunehmende Individualisierung und Dynamisie-

rung – und vielleicht gilt auch bald in der außerfiktionalen Gesellschaft, das was für

Handkes Obstdiebin schon jetzt gilt, nämlich „heimisch im Unerklärlichen“ (183) zu sein.

58

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Handke, Peter: Die Obstdiebin – oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Berlin: Suhr-

kamp, 2. Auflage 2019 [2017].

Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Auflage 2012

[1986].

Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht – Ein Märchen aus den neuen Zeiten.

Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.

Sekundärliteratur

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Minnesota Press 2010.

Assmann, Aleida & Conrad, Sebastian (Hrsg.): Memory in a Global Age – Discourses,

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