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06/2018 Schwerpunkt: Digitale Transformation – Methoden für die Zukunftsfähigkeit Die meisten Menschen verbinden mit dem Schlagwort der Digitalisierung eine neue Art von Produkten – „smarte“ Produkte. Smart Home, smarte Mobilität, smar- te Telefone. Haushaltsgeräte lassen sich fernsteuern, Gegenstände kommunizieren mit dem Internet und in naher Zukunft hält der Kühlschrank nicht nur Essen frisch, sondern schreibt auch gleich den Einkaufszettel. Tatsächlich verstecken sich aus der Perspektive der Endkunden hinter der Digitalisierung zwei Aspekte: Bestehende Produkte werden um digi- tale Elemente erweitert. Neue Technologien ermöglichen gänz- lich neuartige Produkte und Geschäfts- modelle. Die Entwicklung dieser digitalen Produk- te zwingt Unternehmen in ein Umfeld, das mit dem Akronym „VUCA“ beschrieben wird – zusammengesetzt aus „Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity“. Volatilität und Unsicherheit entstehen, weil sich die Anforderungen der Kunden schnel- ler als früher ändern. Komplexität und Am- biguität deuten an, dass sich der Lösungs- weg im Laufe der Entwicklung ändern kann. Diese Umwelteinflüsse verhindern, dass man heute schon sagen kann, wie ein Produkt in zwei oder drei Jahren aussehen soll. Der Markt ist dynamischer als der klassische Produktentwicklungszyklus. In der Realität eines Produkt- oder Portfolio- verantwortlichen klingt das natürlich so: „Wir müssen schneller und besser werden“ oder „Der Mitbewerb zieht uns davon“. Um digitale Produkte in der notwendigen Geschwindigkeit auf den Markt bringen zu können, müssen Unternehmen die Pro- duktentstehung und den Prozess der Pro- duktentwicklung neu denken. [Foe16] Unsere Erfahrung zeigt, dass bei erfolg- reichen Digitalisierungsprojekten vier we- sentliche Faktoren berücksichtigt werden: Das Auslagern von Innovation, agiles Denken, der Mut zum ständigen Versuch und das Ausprobieren des Unfertigen durch reale Nutzer. Digitalisierung braucht ein eigenes Haus Digitalisierung bedeutet nicht (nur), die bestehenden Prozesse und Produkte digi- tal abzubilden. Sie zwingt Unternehmen dazu, jene Geschäftsfelder zu bedienen, die der technologische Wandel öffnet. Wenn die Digitalisierung bisherige Pro- dukte oder Dienstleistungen obsolet ma- chen oder verändern wird, gilt es, einen neuen Markt aufzubauen. Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf den Branchen-Primus Google. Das Geschäftsmodell ist recht simpel: Wenn Menschen im Internet etwas suchen, be- kommen sie passende Ergebnisse auf Basis eines ausgefeilten Algorithmus. Will ein Unternehmen dabei bevorzugt berücksichtigt werden, zahlt es eben ein paar Cent für ein Adword. Das funktioniert so gut, dass sich Sergey Brin und Larry Page eigentlich entspannt zurücklehnen könnten. Tun sie aber nicht. Google hat mit Google X ein Tochterun- ternehmen, das sich mit Fragen weit ab- seits der Suchmaschine beschäftigt. Die digitale Brille? Selbstfahrende Autos? Von Ballons geliefertes Internet für die abge- legenen Gebiete dieser Erde? Vieles, mit dem sich Google beschäftigt, hat zwar mit (Meta-)Datenverarbeitung zu tun – am Ende des Tages ist Google aber mehr als die klassische Suchmaschine, mit der alles begonnen hat. Google ist damit kein Einzelfall: Facebook ist nicht nur ein soziales Netzwerk, sondern auch einer der um- satzstärksten Spieleentwickler. Vorwerks Thermomix zeigt Rezepte digital an und wird dadurch vom Kü- chengerät zum Kochbuch. REWE ist nicht nur ein klassisches Handelsunternehmen, sondern bietet über seine Plattform commercetools auch IT-Dienstleistungen an. Das Denken in digitalen Dimensionen funktioniert so gut wie nie, wenn man es als Frischzellenkur in die Mutteror- ganisation injizieren will. Meist braucht es eine klare strukturelle Trennung, um dieses Denken zulassen zu können. Der herausfordernde Schritt ist, den innovati- ven Teil vom eigentlichen Kerngeschäft zu emanzipieren, indem man ihn stark genug abgrenzt und dennoch die Verbindung aufrecht hält. Am besten funktioniert das durch einen geschützten Raum, in dem neue Ideen aufkommen und verfolgt werden dürfen. Dieser geschützte Raum Vier Erfolgsfaktoren für die digitale Transformation Challenge Digitalisierung Was bringt uns die Digitalisierung? Die Antwort ist leider recht einfach: Wir wissen es nicht. Die Krux an der Digitalisierung ist nämlich, dass sich das Ergebnis des Wandels nicht vorhersehen lässt. Die zentrale Frage lautet vielmehr: Wie stellen wir uns auf, um erfolgreich digitale Produkte auf den Markt zu bringen? V - Volatility (Volatilität/Unbeständigkeit) Schnelle Änderung der Märkte und Technologien U - Uncertainty (Unsicherheit) Fehlende Vorhersagbarkeit der Ergebnisse von Entschei- dungen C - Complexity (Komplexität) Unmöglichkeit, alle Informationen zu sammeln, um zu entscheiden – einfache Ursache-Wirkungs-Prinzipien greifen nicht A - Ambiguity (Ambiguität/Mehrdeutigkeit) Unmöglichkeit der eindeutigen Interpretation – subjektive und unterschiedliche Interpretationen Tabelle 1: VUCA Sonderdruck aus OBJEKTspektrum

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06/2018 Schwerpunkt: Digitale Transformation – Methoden für die Zukunftsfähigkeit

Die meisten Menschen verbinden mit dem Schlagwort der Digitalisierung eine neue Art von Produkten – „smarte“ Produkte. Smart Home, smarte Mobilität, smar-te Telefone. Haushaltsgeräte lassen sich fernsteuern, Gegenstände kommunizieren mit dem Internet und in naher Zukunft hält der Kühlschrank nicht nur Essen frisch, sondern schreibt auch gleich den Einkaufszettel. Tatsächlich verstecken sich aus der Perspektive der Endkunden hinter der Digitalisierung zwei Aspekte:

■ Bestehende Produkte werden um digi-tale Elemente erweitert.

■ Neue Technologien ermöglichen gänz-lich neuartige Produkte und Geschäfts-modelle.

Die Entwicklung dieser digitalen Produk-te zwingt Unternehmen in ein Umfeld, das mit dem Akronym „VUCA“ beschrieben wird – zusammengesetzt aus „Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity“.Volatilität und Unsicherheit entstehen, weil sich die Anforderungen der Kunden schnel-ler als früher ändern. Komplexität und Am-biguität deuten an, dass sich der Lösungs-weg im Laufe der Entwicklung ändern kann. Diese Umwelteinflüsse verhindern, dass man heute schon sagen kann, wie ein Produkt in zwei oder drei Jahren aussehen soll. Der Markt ist dynamischer als der klassische Produktentwicklungszyklus. In der Realität eines Produkt- oder Portfolio-verantwortlichen klingt das natürlich so:

„Wir müssen schneller und besser werden“ oder „Der Mitbewerb zieht uns davon“.

Um digitale Produkte in der notwendigen Geschwindigkeit auf den Markt bringen zu können, müssen Unternehmen die Pro-duktentstehung und den Prozess der Pro-duktentwicklung neu denken. [Foe16]Unsere Erfahrung zeigt, dass bei erfolg-reichen Digitalisierungsprojekten vier we-sentliche Faktoren berücksichtigt werden: Das Auslagern von Innovation, agiles Denken, der Mut zum ständigen Versuch und das Ausprobieren des Unfertigen durch reale Nutzer.

Digitalisierung braucht ein eigenes Haus

Digitalisierung bedeutet nicht (nur), die bestehenden Prozesse und Produkte digi-tal abzubilden. Sie zwingt Unternehmen dazu, jene Geschäftsfelder zu bedienen, die der technologische Wandel öffnet. Wenn die Digitalisierung bisherige Pro-dukte oder Dienstleistungen obsolet ma-chen oder verändern wird, gilt es, einen neuen Markt aufzubauen.Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf den Branchen-Primus Google. Das Geschäftsmodell ist recht simpel: Wenn

Menschen im Internet etwas suchen, be-kommen sie passende Ergebnisse auf Basis eines ausgefeilten Algorithmus. Will ein Unternehmen dabei bevorzugt berücksichtigt werden, zahlt es eben ein paar Cent für ein Adword.Das funktioniert so gut, dass sich Sergey Brin und Larry Page eigentlich entspannt zurücklehnen könnten. Tun sie aber nicht. Google hat mit Google X ein Tochterun-ternehmen, das sich mit Fragen weit ab-seits der Suchmaschine beschäftigt. Die digitale Brille? Selbstfahrende Autos? Von Ballons geliefertes Internet für die abge-legenen Gebiete dieser Erde? Vieles, mit dem sich Google beschäftigt, hat zwar mit (Meta-)Datenverarbeitung zu tun – am Ende des Tages ist Google aber mehr als die klassische Suchmaschine, mit der alles begonnen hat.

Google ist damit kein Einzelfall:

■ Facebook ist nicht nur ein soziales Netzwerk, sondern auch einer der um-satzstärksten Spieleentwickler.

■ Vorwerks Thermomix zeigt Rezepte digital an und wird dadurch vom Kü-chengerät zum Kochbuch.

■ REWE ist nicht nur ein klassisches Handelsunternehmen, sondern bietet über seine Plattform commercetools auch IT-Dienstleistungen an.

Das Denken in digitalen Dimensionen funktioniert so gut wie nie, wenn man es als Frischzellenkur in die Mutteror-ganisation injizieren will. Meist braucht es eine klare strukturelle Trennung, um dieses Denken zulassen zu können. Der herausfordernde Schritt ist, den innovati-ven Teil vom eigentlichen Kerngeschäft zu emanzipieren, indem man ihn stark genug abgrenzt und dennoch die Verbindung aufrecht hält. Am besten funktioniert das durch einen geschützten Raum, in dem neue Ideen aufkommen und verfolgt werden dürfen. Dieser geschützte Raum

Vier Erfolgsfaktoren für die digitale TransformationChallenge DigitalisierungWas bringt uns die Digitalisierung? Die Antwort ist leider recht einfach: Wir wissen es nicht. Die Krux an der Digitalisierung ist nämlich, dass sich das Ergebnis des Wandels nicht vorhersehen lässt. Die zentrale Frage lautet vielmehr: Wie stellen wir uns auf, um erfolgreich digitale Produkte auf den Markt zu bringen?

V - Volatility (Volatilität/Unbeständigkeit) Schnelle Änderung der Märkte und Technologien

U - Uncertainty (Unsicherheit) Fehlende Vorhersagbarkeit der Ergebnisse von Entschei-dungen

C - Complexity (Komplexität) Unmöglichkeit, alle Informationen zu sammeln, um zu entscheiden – einfache Ursache-Wirkungs-Prinzipien greifen nicht

A - Ambiguity (Ambiguität/Mehrdeutigkeit) Unmöglichkeit der eindeutigen Interpretation – subjektive und unterschiedliche Interpretationen

Tabelle 1: VUCA

Sonderdruck aus OBJEKTspektrum

www.objektspektrum.de

bietet existenzielle Sicherheit, schützt vor Störungen von außen und erlaubt Krea-tivität – zum Beispiel in Form eines Ven-tures (siehe Kasten 1).Viele Unternehmen haben den Sinn der Abgrenzung zwar erkannt, sind aber in der Umsetzung gescheitert. „Geschütz-ter Raum“ bedeutet nicht, jenen Teil der Mannschaft, der an den digitalen Produk-ten und Geschäftsfeldern baut, in ein ei-genes Gebäude zu setzen, um den anderen Teil vor ihnen zu schützen. Ein geschütz-ter Raum ist auch nicht als architekto-nische Behübschung zu verstehen. Wenn man diese sündhaft teuren Büros mit den kreischbunten, unbenutzten Filzmöbeln betritt, erkennt man oft recht schnell, dass die Hausaufgaben technisch gesehen gemacht wurden, die Kultur aber noch weit hinterherhinkt. Projekte in diesen Unternehmen zeichnen sich nämlich oft dadurch aus, dass keine Post-its an den Glaswänden hängen dürfen und es so lan-ge wie der Büroumbau selbst braucht, um ein 10-Euro-Kabel für die 500-Euro-Tele-fonspinne zu bestellen. Der neue Raum ist da, der Schutz vor der alten Kultur und den alten Prozessen fehlt dennoch.

Digitalisierung braucht Agilität

Das oberflächliche Aufmotzen von Räum-lichkeiten bei gleichbleibender organisati-onaler Trägheit zeigt: Agilität ist in erster Linie eine Haltung und erst in zweiter Li-nie eine Frage neuer Prozesse.Agilität lässt sich dabei mit einem Eisberg vergleichen: Jener Teil, den man auf den ersten Blick sieht, also neue Rollen, neue Artefakte und neue Aktivitäten, sind nur der kleinere Teil. Unter der Wasserober-fläche versteckt und nur auf den zweiten Blick erkennbar, liegt der weitaus gewich-tigere Teil: Die zugrunde liegenden Werte und Prinzipien. [Foe16]Die Strukturen agiler Frameworks lassen sich nämlich nur aufrechterhalten, wenn man sowohl auf der persönlichen Ebene

als auch auf der Ebene der Organisation dazu bereit ist, in kurzen Iterationen zu entwickeln und Lernschleifen einzulegen. Genau die braucht es, um auf einem unbe-kannten und dynamischen Terrain etwas Erfolgreiches erschaffen zu können.Großunternehmen und Konzerne haben eine ganz bestimmte Vorstellung, wenn sie Agilität anstreben: Sie wollen jene Verhaltensweisen institutionalisieren, die sie an Start-ups so bewundern – und ko-pieren doch nur die Strukturen. Es ist das Bild kleiner, schlagkräftiger und multidis-ziplinärer Teams aus von Leidenschaft ge-triebenen Experten, das so verführerisch wirkt. Zweifellos ist genau das eines der Geheimnisse erfolgreicher Start-ups.Diese Start-up-Definition lässt sich je-doch auch falsch interpretieren, und sie wird in der Praxis auch oft genug falsch interpretiert: Kleine, schlagkräftige und multidisziplinäre Teams, die rund um die Uhr an einem Produkt arbeiten sollen und deshalb über Mexiko, Deutschland und Singapur verteilt sind. Das verbes-sert zwar die ständige Erreichbarkeit, hat aber nichts mit Agilität zu tun. Es ver-schlechtert vielmehr die Zusammenarbeit und erstickt irgendwann auch die Lei-denschaft. Man muss kein Kanban- oder Scrum-Dogmatiker sein, um festzustellen, dass regelmäßige Synchronisationspunk-te – Jour Fixes, neudeutsch auch Dailys genannt – für Teams wichtig sind, wenn sie an einem gemeinsamen Produkt oder Service tüfteln. Das ist schlichtweg un-möglich, wenn ein Team erst 13 Stunden Zeitdifferenz überwinden muss, um zu-sammenarbeiten zu können.Tatsächlich sprechen weder das agile Ma-nifest noch der Scrum Guide oder andere agile Urquellen von Collocation. Die Er-fahrung mit agilen Teams zeigt jedoch, dass Kreativität und Zusammenarbeit – also kurz gesagt alles, was man für schnel-le, hypothesengetriebene Entwicklung be-

nötigt – besser funktionieren, wenn sich Teams am selben Ort befinden.Ein weiterer, oft gesehener Fehler ist die Einführung von Agilität über neue Tools und Methoden. Jira und Trello werden zu Vorzeigeobjekten des agilen Arbeitens. Lessons Learned werden zwar immer noch nur einmal am Ende eines Projekts, und da-mit kurz nachdem das Projektteam schon aufgelöst wurde, gemacht, dafür aber um neue Moderationstechniken aufgepeppt. Schön, dass nun alle lernen, was sie anders machen hätten können. Damit nimmt man sich nur die Chance, sich gemeinsam wei-terzuentwickeln, da sich das Team bereits in alle Winde zerstreut hat und jeder im besten Fall einzelne Krümel der Erkenntnis mitnimmt und diese dann Menschen prä-sentiert, die den Ursprung nicht kennen.

Tools und Techniken kommen und gehen. Um nachhaltige Veränderung zu gestal-ten, muss an den Werten, an den Prinzi-pien und der Haltung gearbeitet werden. Agil zu arbeiten bedeutet nicht nur, ein Framework zu verstehen, sondern auch zwischendurch zwischen seinen Zeilen zu lesen. [Foe16]

Digitalisierung braucht viele Versuche

Digitalisierung und Agilität passen so gut zusammen, weil iterative Vorgehensmo-delle die erforderliche Grundhaltung für das Überleben in der VUCA-Welt unter-stützen: Komplexe Fragen lassen sich meistens nicht mit dem ersten Versuch lösen. Nun liegt die Ambiguität der Di-gitalisierung darin, dass sich die Märkte schneller entwickeln als die klassische Produktentwicklung dauert. Dazu müs-sen digitale Produkte in ihrer Konzepti-on, in ihrer Entwicklung und im Betrieb darauf ausgelegt sein, sich laufend an die Bedürfnisse des Marktes anpassen zu können.Sowohl die prototypische Entwicklung neuer digitaler Produkte als auch die

Geschützter Raum für neue Ideen

Auf die Frage, wie das Verhältnis zwi-schen Mutterunternehmen und Venture sein sollte, damit Innovation funktio-niert, antwortete der Apple-Pionier, Autor und Business Angel Guy Kawasaki sinngemäß:

Die optimale Entfernung zwischen Venture und Tochter beträgt etwa 0,5 bis zwei Meilen. Das ist nah genug, damit der CIO auf einen Kaffee vorbeikommen kann und weit genug, damit er es nicht jeden Tag tut. [Kaw04]

Kasten 1

Abb. 1: Eisberg-Modell

Abb. 2: Fester Wertekern, vereinbarte Regeln und flexible Techniken

06/2018 Schwerpunkt: Digitale Transformation – Methoden für die Zukunftsfähigkeit

den nicht nach ihrer Meinung, läuft man Gefahr, auf schönen Produkten sitzen zu bleiben, die so niemand wollte.In einsamer Schönheit zu sterben, mag in anderen Kontexten etwas romantisch Verklärtes haben, betriebswirtschaftlich ist das aber eine Katastrophe. Daher gilt es, mit MVPs (Minimum Viable Pro-ducts), die nicht alle Features beinhalten, schnell auf den Markt zu gehen und Feed-back- beziehungsweise Messschleifen mit zahlenden Nutzern zu etablieren. Wohlge-merkt: Es geht bei einem MVP nicht dar-um, eine Minimalversion zu verschenken, sondern es von jenen Personen ausprobie-ren zu lassen, die ein tiefer gehendes Inter-esse daran haben und bereit sind, dafür zu zahlen. [Rie11] Das eingenommene Geld kann für die Weiterentwicklung genutzt werden und das Feedback dafür, um zu lernen und das Produkt besser zu machen.Das Problem an sich haben viele erkannt: Fragt man in Deutschen Labs nach, sehen 90 Prozent die prototypische Entwicklung und das Testen an realen Kunden als zen-

Weiterentwicklung bestehender Produkte braucht daher einen kontinuierlichen Ent-wicklungs- und Verbesserungsprozess. Die dafür nötige Geschwindigkeit entsteht nicht durch Genies in Elfenbeintürmen, die nach langem Denken irgendwann die perfekte Lösung an die Wand werfen. Den besten Lösungen gehen hitzige Diskussio-nen im Team, hingeschmierte Skizzen und Scribbles auf Whiteboards und Flipcharts voraus. Es wird versucht und verworfen und wieder neu versucht.Vieles zu versuchen, heißt allerdings nicht, lediglich alten Wein in neue Schläuche zu füllen. Es geht auch nicht darum, mit ei-ner Idee so lange hausieren zu gehen, bis sie jemand gut findet. Vielmehr geht es darum, Produkte möglichst schnell umzu-setzen und anhand von Feedback weiter-zuentwickeln oder einzustellen.Einen Service einzustellen, ist dabei nichts, wofür man sich schämen muss. – Es wür-de doch so und so auffallen. Unternehmen wie Google gehen daher offensiv mit dem Thema um. Der GoogleWatchBlog [GWB] zeigt unter dem Schlagwort „Schlies-sung“, welche Services eingestellt wurden. Ben & Jerry’s [Ben] geht sogar noch einen Schritt weiter und widmet seinen ehemali-gen Eissorten einen „Flavor Graveyard“.

Digitalisierung braucht reale Nutzer

Das notwendige Feedback kommt von echten Nutzern, nicht von Kollegen und Vorgesetzten. Will man ein erfolgreiches Produkt entwickeln, sollte man auf jene Menschen hören, die für das Produkt zahlen, und nicht auf jene, die an der Entwicklung mitverdienen. Im Umkehr-schluss bedeutet das Produkte, die nicht ankommen, sollten es dank Prototyping gar nicht bis auf den Markt schaffen. Dazu muss man die Prototypen allerdings den Nutzern zeigen, anstatt sie nur auf Halde zu produzieren und im eigenen Saft zu schmoren.Unternehmen, in denen sich Mitarbeiter nicht trauen, Post-its an die Glasfassade zu hängen oder die bunten Filzmöbel zu benutzen, trauen sich auch nicht, ihren Kunden unfertige Produkte zu zeigen. In diesen Unternehmen herrscht die Mei-nung, dass es riskant sei, die Kunden mit Unfertigem zu belästigen, ein falsches Qualitätsverständnis kommt ihnen in die Quere. Das tatsächliche Risiko steckt al-lerdings woanders: Fragt man seine Kun-

trale Aufgabe. Einzig, den Unternehmen gelingt es bisher nicht, zu reüssieren. Nur sechs Prozent schaffen es, schnell wach-sende Innovationen auf den Markt zu bringen. [Sin17] Noch deutlicher wird Julian Kawohl, Professor an der Hoch-schule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, der die Studie wissenschaftlich be-gleitet hat: „Es fällt auf, dass bisher be-triebswirtschaftlich eigentlich fast nichts erreicht wurde“, und „Kein Unternehmen hat durch sein Lab signifikantes Neuge-schäft aufgebaut.“ [Kre17]Genau an dieser Stelle sollten die Alarm-glocken der CFOs klingeln. Denn je län-ger man an einem Produkt baut, ohne es je auf einen Markt mit zahlungsbereiten Kunden zu bringen, desto mehr Kapital wird in der Entwicklung, also auf Vorrat, gebunden – und das bei einem unsicheren Return on Investment. Das erhöht die Zinskosten und reduziert die Wirtschaft-lichkeit. Ein Argument, das sogar die letz-ten Romantiker dazu zwingt, das bisheri-ge Vorgehen ehrlich zu hinterfragen. ||

Oliver Nößler([email protected])

ist als Senior Executive Consultant

Sparringpartner und Business Coach für

das C-Level. Mit 17 Jahren Erfahrung in

der Unternehmensberatung gibt er seinem

Top-Management-Gegenüber Sicherheit im

Umgang mit neuen Herangehensweisen für

die Digitalisierung.

Die Autoren

Lothar Fischmann([email protected])

begleitet als Senior Consultant Unter-

neh menseinheiten bei ihrer persönlichen

Herausforderung der Digitalisierung. Seine

Arbeit reicht dabei von Fragen wie „Wie

führe ich eine bestimmte Methode ein?“ bis

zu „Wie gestalten wir unsere eigene agile

Transition?“

Literatur & Links[Ben] Ben&Jerry’s, siehe: https://www.benjerry.com/flavors/flavor-graveyard

[Foe16] M. Foegen, C. Kaczmarek, Organisation in einer Digitalen Zeit, wibas GmbH, 2016

[GWB] GoogleWatchBlog, siehe: https://www.googlewatchblog.de/tag/schliessung/

[Kaw04] G. Kawasaki, The Art of the Start, Penguin Group, 2004

[Kre17] N. Kreimeier, Deutschlands beste Digilabs, Capital, 22.6.2017, siehe: https://www.capital.de/wirtschaft-politik/ ranking-digitalisierung-deutschlands-beste-digital-labore-lufthansa-daimler-man-9067

[Rie11] E. Ries, The Lean Startup, Crown Publishing Group, 2011

[Sin17] Th. Sindemann, H. von Buttlar, Konzerne auf den Spuren von Start-ups, Infront, 2017, siehe: http://www.infront-consulting.com/relaunch/wp-content/uploads/2017/06/ 20170622-Infront-Capital-Studie_Digital-Innovation-Units_web.pdf