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Ethik in der Medizin © Springer-Verlag 2003 DOI 10.1007/s00481-002-0206-1 Originalarbeit Vulnerable Spender Eine medizinethische Studie zur Praxis der Lebendorganspende Nikola Biller-Andorno () · Henning Schauenburg PD Dr. med. Dr. phil. N. Biller-Andorno Ethics and Health, World Health Organization, Genf H. Schauenburg Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie, Zentrum Psychosoziale Medizin, Universität Göttingen PD Dr. med. Dr. phil. N. Biller-Andorno Ethics and Health, World Health Organization, 20, Avenue Appia, 1211 Genf 27, Schweiz E-mail: [email protected] Online publiziert: 28. Januar 2003 Zusammenfassung Die Lebendorganspende entwickelt sich zunehmend zu einer wichtigen therapeutischen Option in der Transplantationsmedizin. Trotz der Existenz eines normativ-rechtlichen Rahmens bleiben medizinethische Fragen offen. Zu diesen zählen insbesondere 1) wer als Spender in Betracht gezogen werden kann, 2) wie bezüglich der Möglichkeit der Lebendspende informiert werden sollte und 3) wie sich eine angemessene medizinethisch-psychosoziale Spenderevaluation gestaltet. Der Artikel stellt die Ergebnisse einer mittels Fragebogen durchgeführten Erhebung vor, die die gegenwärtige Praxis in deutschen Transplantationszentren sowie die Ansichten von Klinikern im Hinblick auf die genannten drei Themenbereiche zum Gegenstand hat. Diese empirischen Daten bilden den Kontext für die im Anschluss formulierten medizinethischen Anregungen und Empfehlungen zur Lebendorganspende in Deutschland. Schlüsselwörter Lebendorganspende · Transplantationsmedizin · Medizinethik · Umfrage · Deutschland 1

Vulnerable Spender

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Ethik in der Medizin© Springer-Verlag 2003DOI 10.1007/s00481-002-0206-1

Originalarbeit

Vulnerable SpenderEine medizinethische Studie zur Praxis der Lebendorganspende

Nikola Biller-Andorno (✉) · Henning Schauenburg

PD Dr. med. Dr. phil. N. Biller-AndornoEthics and Health, World Health Organization, Genf

H. SchauenburgAbteilung Psychosomatik und Psychotherapie, Zentrum Psychosoziale Medizin, UniversitätGöttingen

PD Dr. med. Dr. phil. N. Biller-AndornoEthics and Health, World Health Organization, 20, Avenue Appia, 1211 Genf 27, Schweiz✉ E-mail: [email protected]

Online publiziert:   28. Januar  2003

Zusammenfassung

Die Lebendorganspende entwickelt sich zunehmend zu einer wichtigen therapeutischen Option

in der Transplantationsmedizin. Trotz der Existenz eines normativ-rechtlichen Rahmens bleiben

medizinethische Fragen offen. Zu diesen zählen insbesondere 1) wer als Spender in Betracht

gezogen werden kann, 2) wie bezüglich der Möglichkeit der Lebendspende informiert werden

sollte und 3) wie sich eine angemessene medizinethisch-psychosoziale Spenderevaluation gestaltet.

Der Artikel stellt die Ergebnisse einer mittels Fragebogen durchgeführten Erhebung vor, die die

gegenwärtige Praxis in deutschen Transplantationszentren sowie die Ansichten von Klinikern im

Hinblick auf die genannten drei Themenbereiche zum Gegenstand hat. Diese empirischen Daten

bilden den Kontext für die im Anschluss formulierten medizinethischen Anregungen und

Empfehlungen zur Lebendorganspende in Deutschland.

Schlüsselwörter

Lebendorganspende · Transplantationsmedizin · Medizinethik · Umfrage · Deutschland

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Abstract

Living organ donation is developing increasingly into an important therapeutic option in

transplantation medicine. In spite of the existence of a normative-legal frame, medico-ethical

questions remain open. Among these are in particular 1) who should be taken into consideration

as a donor, 2) how information concerning the possibility of living organ donation should be passed

on, and 3) what an adequate medical-psychosocial evaluation of potential donors should look like.

The paper presents the results of a survey based on questionnaires, which addresses the current

practice in German transplantation centers as well as the opinions of clinical practioners regarding

these three topics. The empirical data form the context for the formulation of medico-ethical ideas

and suggestions concerning living organ donation in Germany.

Keywords

Living organ donation · Transplantation medicine · Medical ethics · Survey · Germany

Diese Studie wurde im Rahmen des „Forschungsförderprogramms 2001“ der Medizinischen

Fakultät der Universität Göttingen gefördert.

Ein Erratum zu diesem Beitrag können Sie unter http://dx.doi.org/10.1007/s00481-003-0254-1

finden.

Obwohl aus historischer Perspektive keineswegs selbstverständlich, hat sich das therapeutische

Modell des Organersatzes seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend durchgesetzt [38, 39]. Heute

gilt die Transplantation innerer Organe als übliche Behandlungsmethode bei zahlreichen

schwerwiegenden Erkrankungen von Niere, Leber, Herz, Lunge und Pankreas. Zwar konnte durch

die Entwicklung wirksamer Immunsuppressiva ab den 1960er-Jahren die

Transplantat-Überlebensrate und damit die Prognose der Patienten entscheidend verbessert werden

[8, 18]. Zugleich sind jedoch auch die Wartelisten für eine Transplantation stetig angewachsen—bei

einer seit Jahren stagnierenden Zahl von Postmortalspenden ([44], Abb. 32). Im Jahr 1999 standen

in Deutschland fast 12.000 Patienten auf der Warteliste für eine Nierentransplantation; 2.275

Nierenübertragungen wurden durchgeführt, 322 Patienten mussten wegen ihres schlechten

Allgemeinzustands von der Liste genommen werden und 397 Patienten verstarben auf der Warteliste

[44].

2

Angesichts dieser Situation ist die Lebendorganspende zu einer wichtigen therapeutischen

Alternative geworden. Die Zahl der Nierentransplantationen nach Lebendspende in Deutschland

ist von 83 im Jahre 1995 auf 380 im Jahre 1999 gestiegen, 16,7% aller in diesem Jahr erfolgten

Nierentransplantationen [44]. Die 1- und 5-Jahresfunktionsraten sind dabei signifikant besser als

nach der Transplantation postmortal gespendeter Nieren und betrugen im Beobachtungszeitraum

von 1985–1998 93 bzw. 78% [44]. Lebersegmente werden inzwischen an mindestens 7 deutschen

Zentren transplantiert [44]. Auch die Transplantation von Lungen-, Dünndarm- und

Pankreassegmenten wird zunehmend in Betracht gezogen [6].

Trotz logistischer, medizinischer und ökonomischer Vorteile der Lebendspende im Vergleich

zu Postmortaltransplantat oder Dialyse bleibt diese immer mit dem Dilemma behaftet, dass sie

einen nichttherapeutischen Eingriff an einem Gesunden erfordert, dessen Risiko, wenn auch

kalkulierbar, so doch nicht vernachlässigbar gering ist [29, 30]. Zumeist wird in der Literatur

allerdings auf die relativ niedrige perioperative Mortalitätsrate von 0,03% [29] sowie die in manchen

Studien aufgefundene erhöhte Lebensqualität der Spender im Vergleich zur

Durchschnittsbevölkerung hingewiesen [21, 49].

In den 1960er- und 70er-Jahren, als die Postmortalspende sich als therapeutische Option

etablierte, wurde die Lebendspende teilweise sehr skeptisch betrachtet. Angesichts der bestehenden

Alternative schien ein Eingriff am Lebenden schwer zu rechtfertigen. Darüber hinaus wurden

psychosoziale Argumente ins Feld geführt: In ihrer grundlegenden sozialwissenschaftlichen Kritik

sprechen Fox u. Swazey angesichts der Verpflichtungen und Verbindlichkeiten zwischen Spender

und Empfänger, die ein solches „gift of life“ hervorrufen kann, von der „Tyrannei des Geschenks“

[15]. Heute dagegen ist die Lebendorganspende weit gehend akzeptiert, trotz gelegentlicher

kritischer Presseberichte [34]. Auch die Spende von emotional verwandten Personen, die im ersten

Entwurf des Transplantationsgesetzes eigentlich untersagt werden sollte, stößt heute in der

Öffentlichkeit wie auch beim medizinisch-pflegerischen Personal auf weniger Vorbehalte als die

Postmortalspende [14, 47].

Die zunehmende Ausweitung der Lebendorganspende wurde von der Entwicklung nationaler

und internationaler ethisch-rechtlicher Regelungen begleitet. Der entsprechende normative Rahmen

für die Transplantationsmedizin in Deutschland wird vornehmlich durch folgende Dokumente

gestaltet: das Transplantationsgesetz [16], die Empfehlungen der Bundesärztekammer zur

Lebendorganspende [6], der Entwurf eines Zusatzprotokolls (zum Übereinkommen über

Menschenrechte und Biomedizin des Europarats) über die Transplantation von Organen und

Geweben menschlichen Ursprungs [25], die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation zur

3

Organtransplantation [50] sowie die Erklärung des Weltärztebundes von 1985 zum Handel mit

menschlichen Organen [48].

Die zentralen Inhalte dieser Regelungen umfassen im Hinblick auf die Lebendspende:

Volljährigkeit, Einwilligungsfähigkeit und medizinische Eignung des Spenders sowie

Verwandtschaft bzw. enge persönliche Beziehung zum Empfänger; außerdem die Freiwilligkeit

des Spendeangebots sowie das Nichtvorliegen von Organhandel, die durch eine im

Transplantationsgesetz verankerte Lebendspende-Kommission auf Länderebene zu prüfen sind.

Interessanterweise betonen sowohl das deutsche Transplantationsgesetz als auch das Protokoll

des Europarats und die WHO-Leitlinien die Priorität der Postmortalspende. Die Lebendorganspende

soll nur eine Ergänzung im Einzelfall darstellen, nicht aber eine gleichberechtigte therapeutische

Option: „Organe sollten in der Regel vom Toten entnommen werden.“ [50]. Angesichts der langen

Wartelisten ist aber eher mit einer weiteren Steigerung des Lebendspendeanteils zu rechnen, so

dass die Ausnahme möglicherweise zur Regel wird.

Im Zuge der Entwicklung der Lebendorganspende zu einer routinemäßig angebotenen

therapeutischen Option hat sich auch der Schwerpunkt der medizinethischen Diskussion auf die

Frage verlagert, nicht ob, sondern unter welchen Voraussetzungen eine Lebendorganspende

vertretbar ist [7, 43]. Doch können die zunehmende Alltäglichkeit einer Praxis, die Existenz eines

entsprechenden ethisch-rechtlichen Regelwerks sowie eines beachtlichen Fundus an

medizinethischer Fachliteratur [19] allzu leicht über offene Fragen hinwegtäuschen. Im Bereich

der Lebendorganspende kommen noch die meist eindrucksvollen therapeutischen Erfolge hinzu

wie auch die Tatsache, dass das Spendeangebot in der Tat in vielen Fällen nicht weiter ethisch

problematisch erscheint, z. B. wenn ein Vater seinem zwölfjährigen Kind, das an Nierenzysten

leidet, eine Niere spenden möchte, um ihm die Dialyse zu ersparen. Da es häufig die Spender sind,

die die Initiative ergriffen oder sogar gedrängt haben, wird leicht vergessen, dass sich in dieser

Gruppe auch Individuen befinden, die sich durch besondere Vulnerabilität—z. B. durch kognitive

Einschränkungen, emotionale oder materielle Abhängigkeiten oder ihr Rollenverständnis—und

damit Schutzbedürftigkeit auszeichnen.

In medizinethischer Hinsicht bedürfen zum derzeitigen Stand der Diskussion folgende Aspekte

besonderer Aufmerksamkeit:

1. Wer soll als Spender in Betracht kommen?

Während die Lebendspende in ihren Anfängen Eltern oder zumindest dem engen Familienkreis

vorbehalten war, hat sich der Kreis möglicher Lebendspender in letzter Zeit erweitert. Das

Transplantationsgesetz von 1997 erlaubt nicht nur die Spende an Familienangehörige, sondern

4

auch an „Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig

nahe stehen“ (§ 8.1). Damit können auch Ehepartner und Freunde spenden. Im Jahr 1999 machten

Ehepartner 30%, nichtverwandte Personen immerhin 3% aller Nierenlebendspender aus [44].

Das Gesetz lässt zudem die Möglichkeit offen, dass sich die Verbundenheit erst aufgrund des

Spendewunsches bzw. des Organbedarfes entwickelt hat [35]. Anonyme Spenden sind hingegen

in Deutschland untersagt, im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA, in denen ähnlich

wie bei der Blutspende eine „non directed donation“ möglich ist [28]. Aus medizinethischer

Perspektive werden altruistische Spenden von Fremden kontrovers beurteilt [5, 13, 26]. Immer

wieder diskutiert wird auch die Frage, ob nicht ein Cross-matching zwischen Paaren zulässig

sein sollte, bei denen jeweils aufgrund einer Blutgruppeninkompatibilität eine Lebendspende

nicht möglich ist [37]. Mit kritischer Zurückhaltung wurden hingegen—zumindest im deutschen

Kontext—Anregungen aufgenommen, das Lebendspendeaufkommen durch eine Vergütung zu

erhöhen oder auch Minderjährige und Nichteinwilligungsfähige als Lebendspender zuzulassen

[10, 11, 17, 33].

2. Wie soll bezüglich der Möglichkeit der Lebendspende informiert werden?

Die Empfehlungen der Bundesärztekammer [6] beinhalten detaillierte Vorschläge zu den Inhalten

der Aufklärung eines potenziellen Spenders. Dennoch sind einige Aspekte bislang noch nicht

ausreichend thematisiert worden. Hierzu zählt die Frage, wie und von wem potenzielle

Lebendspender über diese Möglichkeit in Kenntnis gesetzt werden sollten. Angesichts der

Vorteile der Lebendorganspende gegenüber anderen Therapien ist angeregt worden, jeder

Nephrologe solle noch vor der Dialysepflichtigkeit eines progredient Nierenkranken „abklären“,

ob nicht ein Lebendspender in Frage käme [46]. Damit wird jedoch dem potenziellen Empfänger

die heikle Aufgabe aufgebürdet, nach einem Spender zu suchen bzw. diese Bitte an einen

Verwandten oder Freund heranzutragen. Ansonsten müsste der betreuende Arzt die

Vermittlerrolle übernehmen und möglicherweise geeignete Personen aus dem Verwandtenkreis

des Patienten ansprechen. In der Tat ist in den USA von manchen Stimmen für eine solche

„aktive Ermutigung“ („active encouragement“) von Spendern durch die

transplantationsmedizinischen Zentren selbst geworben worden [45]. Zwar ist es von ärztlicher

Seite der Wunsch verständlich, schwer kranken Patienten eine therapeutische Alternative bieten

zu können. Und in der Tat wissen Patienten und ihre Angehörigen oft nicht, dass eine

Lebendspende für sie in Frage kommt. Jedoch ist die Balance zwischen Information und

moralischem Zugzwang nicht immer leicht zu finden, besonders wenn ärztliche Autorität mit

dem Ratschlag verbunden ist.

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3. Wie gestaltet sich eine angemessene medizinethisch-psychosoziale Spenderevaluation?

Auch Fragen der psychosozialen und medizinethischen Evaluation individueller Spendeangebote

haben in letzter Zeit verstärkt Beachtung gefunden [35, 36, 4]. Eine solche Evaluation soll vor

allem sicherstellen, dass die Voraussetzungen für eine freie und informierte Zustimmung gegeben

sind, psychosoziale Risiken identifizieren und finanziellen Gewinn als Motivation ausschließen.

Zwischen unproblematischen Spendeangeboten und offensichtlich ungeeigneten Spendern

existiert eine breite Grauzone. So können Einwilligungsfähigkeit und Freiwilligkeit nicht nur

durch kognitive Defizite oder ausgeprägte emotionale Abhängigkeit vom potenziellen Empfänger

kompromittiert sein. Auch die Beziehungsdynamik in der Familie bzw. dem Freundeskreis, die

soziale Situation des potenziellen Spenders sowie der kulturell-gesellschaftliche Kontext, der

z. B. einem Rollenträger bestimmte Fürsorgepflichten auferlegt, können die Akzeptabilität eines

Spendeangebots in Frage stellen [4]. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung,

die praktischen Erfahrungen zusammenzuführen, die die jeweiligen Konsiliardienste im Bereich

der Psychosomatik und Medizinethik in ihren teilweise sehr elaborierten Evaluationsprogrammen

sammeln (vgl. z. B. [40]). Dies würde die Identifikation häufig auftretender

Konfliktkonstellationen und die Ausarbeitung angemessener prozeduraler Standards für die

Spenderevaluation erleichtern.

Die nachfolgend beschriebene Erhebung hat die gegenwärtige Praxis in deutschen

Transplantationszentren sowie die Ansichten von Klinikern im Hinblick auf die genannten drei

Themenbereiche zum Gegenstand. Sie möchte auf diese Weise zum empirischen Hintergrund der

darüber hinaus unverzichtbaren normativen medizinethischen Diskussion beitragen. Die im

Anschluss formulierten Beobachtungen und Anregungen können daher unmittelbaren Bezug auf

die Gegebenheiten und Desiderate im transplantationsmedizinischen Alltag nehmen.

MethodikIm März 2001 wurden an alle Transplantationszentren in Deutschland, die gemäß dem Bericht

der Deutschen Stiftung Organtransplantation 1999 Transplantationen von lebend gespendeten

Nieren oder Lebersegmenten durchführten [44], je zwei Fragebögen verschickt.1 Einer war an den

verantwortlichen Oberarzt der Klinik für Transplantationschirurgie, der andere an den jeweiligen

verantwortlichen Oberarzt bzw. Psychologen des Konsiliardienstes für die Transplantationsmedizin

gerichtet. Die Begleitschreiben, in denen zur Teilnahme an der Studie eingeladen wurde, wiesen

1  Eine Kopie der Fragebögen ist auf Wunsch bei den Verfassern erhältlich.

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auf das Forschungsdefizit zur Frage der Spenderevaluation und -auswahl wie auf die ethische

Komplexität mancher Spender-Empfänger-Situationen im Bereich der Lebendorganspende hin.

Als Ziel der Studie wurde die Erhebung von Informationen bezüglich der Praxis der

Spenderevaluation sowie zur Prävalenz konflikthafter Fallkonstellationen genannt, deren Vorliegen

Voraussetzung für eine kontinuierliche Verbesserung der Patientenversorgung ist. Den in diesem

Bereich tätigen Kollegen konnte somit eine zusätzliche Diskussionsgrundlage und möglicherweise

auch Entscheidungshilfe in Aussicht gestellt werden.

Der Rücklauf betrug nach acht Wochen 69% (27 von 39) bei den an die Transplantationschirurgen

versandten Bögen und 34% (13 von 382) bei denen, die an die psychosomatischen, psychologischen

bzw. psychiatrischen Konsiliardienste versandt worden waren. Die Erhebung erfolgte anonymisiert,

so dass ein systematischer Rückschluss auf die Absender nicht möglich war. Manche Kliniken

hoben jedoch von sich aus die Anonymität durch Stempel oder Unterschrift auf.

Die Daten wurden in Microsoft Excel erfasst. Bei der statistischen Auswertung stand der

explorative und deskriptive Charakter der Studie im Vordergrund, der—auch angesichts der relativ

geringen Anzahl an Fragebögen—eine Suche nach Korrelationen verschiedener Faktoren bzw.

Kausalzusammenhängen weder angemessen noch erforderlich erscheinen ließ.

Ergebnisse

Allgemeine Angaben

In den 27 Transplantationszentren, die an der Erhebung teilnahmen, wurden in den zwölf Monaten

vor der Befragung im Mittel zehn Nieren nach Lebendorganspende verpflanzt, wobei die Zahlen

zwischen einer Niere und 35 Nieren schwankten. Nur in drei der Zentren wurden Lebersegmente

transplantiert. Die 13 Konsiliardienste, die auf die Befragung geantwortet haben, stammen

vornehmlich aus der Psychosomatik und der Psychologie, in geringerem Umfang aus der Psychiatrie.

Sie haben im Jahr vor der Befragung ebenfalls durchschnittlich zehn Evaluationen für potenzielle

Nierenlebendspenden durchgeführt; zwei der Konsiliardienste gaben an, auch potenzielle

Lebersegment-Spender evaluiert zu haben.

2  Auf einem der Fragebögen war vermerkt, dass der betreffende Konsiliardienst für zwei

transplantationsmedizinische Kliniken in der gleichen Stadt zuständig ist. Auf diese Weise erklärt

sich die Diskrepanz der Gesamtzahl der Fragebögen.

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Kriterien für Spenderauswahl und Wahrnehmung der

Lebendorganspende

Für 96% aller befragten Transplantationschirurgen kommen Verwandte ersten Grades grundsätzlich

als Lebendorganspender in Betracht; 93% würden grundsätzlich auch Ehepartner akzeptieren,

82% Freunde, 52% entferntere Verwandte und 7% Personen, die den potenziellen Empfänger erst

anlässlich des Spendewunsches bzw. Organbedarfs kennengelernt haben. Eine anonyme Spende

käme für 52% der Befragten aus ethischer (nicht juristischer) Sicht in Frage. Dies steht in

interessantem Gegensatz zu der Tatsache, dass 89% der Transplantationschirurgen die Qualität

der Beziehung des Spenders zum Empfänger und 67% die Beziehungsdauer als wichtiges Kriterium

für ihre Entscheidung nannten, einen Spender zu akzeptieren. An anderen Kriterien wurden genannt:

Motivation zur Spende, Freiwilligkeit, Lebenssituation des Spenders (z. B. keine Mutter kleiner

Kinder), kein finanzielles Interesse an der Spende, Stressbewältigungsfähigkeit, kein

psychologischer Druck vom Empfänger sowie klinischer Zustand und Lebenserwartung des

Empfängers.

Bemerkenswert ist auch, dass die Mehrzahl der Transplantationschirurgen die Lebendorganspende

nicht nur als eine Möglichkeit verstehen, auf die dann zurückgegriffen werden sollte, wenn keine

anderen Optionen (z. B. Postmortalorgan) zur Verfügung stehen, wie dies eigentlich das deutsche

Transplantationsgesetz und internationale Regelungen vorsehen. Vielmehr wird die

Lebendorganspende von den meisten Chirurgen als eine in vielen Fällen therapeutisch überlegene

Option angesehen, die man umsetzen sollte, wenn ein Spendeangebot besteht. Über ein Viertel

der Transplantationschirurgen betrachtet die Lebendorganspende sogar als eine Option, deren

großer Nutzen für den Empfänger auch eine aktive Rekrutierung von Spendern rechtfertigt (Abb. 1).

Abb. 1.  Wie sehen Sie die Lebendorganspende?

Information, „Rekrutierung“ und Ausstiegsoptionen

Die große Mehrzahl der Transplantationschirurgen berichten, dass nur 30–60% ihrer Patienten

oder weniger die Möglichkeit einer Lebendorganspende von sich aus ansprechen. Entsprechend

berichtet ein Viertel der Chirurgen, dass sie mehr als 60% ihrer Patienten empfehlen, nach einem

Lebendorganspender zu suchen. Fast die Hälfte der Chirurgen tut dies bei 30–60% ihrer Patienten.

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Ebenso spricht die Hälfte der Chirurgen in mindestens 30% der Fälle begleitende Verwandte bzw.

andere nahe stehende Personen direkt auf die Möglichkeit einer Spende an; nur 22% der Chirurgen

geben an, dies nie zu tun (Abb. 2).

Abb. 2.  Wie vielen Ihrer Transplantationspatienten empfehlen Sie, nach einem Lebendspender zu suchen?

Auch bezüglich der Frage konkreter Ausstiegsoptionen bestehen unterschiedliche Ansichten.

So bietet ein Drittel der Transplantationschirurgen einem Spender, der unsicher wirkt und

signalisiert, dass er lieber zurücktreten möchte, ein medizinisches „Alibi“ an (z. B. „wegen

Bluthochdrucks nicht geeignet“). Über die Hälfte der Transplantationschirurgen tut dies hingegen

selten oder nie. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch professionsintern medizinethisch relevante

Fragestellungen unterschiedlich beurteilt werden. Eine Diskussion dieser und ähnlicher Fragen,

vorzugsweise unter Einbeziehung von Patientenvertretern und möglicherweise mit dem Ziel der

Festlegung gemeinsamer Standards, wäre angesichts der zunehmenden Expansion der

Lebendorganspende dringend geboten (Abb. 3).

Abb. 3.  Wie häufig bieten Sie einem unsicher wirkenden Spender ein medizinisches „Alibi“ an?

Der Evaluationsprozess

Gemäß den Angaben der Transplantationschirurgen werden nur 70% der potenziellen Spender

durch einen psychosomatischen, psychologischen oder psychiatrischen Konsiliardienst evaluiert;

bei den potenziellen Empfängern beträgt der Anteil sogar nur 52%. Die bei den

Landesärztekammern qua Gesetz eingerichteten Lebendspendekommissionen werden hingegen

von 89% der Transplantationszentren zugezogen. Zwei Zentren gaben an, zum Zeitpunkt der

Erhebung habe in ihrem Bundesland eine entsprechende Institution noch nicht existiert.

Der Zeitraum zwischen Beginn der Evaluation eines potenziellen Spenders und der

Transplantation beträgt im Schnitt einige Monate. Nur ein Drittel der Zentren gab an, der Zeitraum

würde nur einige Wochen betragen. Die psychosoziale Evaluation dauerte im Durchschnitt knappe

zwei Stunden, wobei die Angaben jedoch zwischen 30 und 300 Minuten schwankten. Die Zahl

der Termine variierte zwischen einem und fünf Terminen, mit einem Mittelwert von zwei Terminen.

9

In der Regel wurden Spender und Empfänger sowohl zusammen als auch getrennt evaluiert, nur

je ein Konsiliardienst gab an, nur zusammen bzw. nur getrennt zu evaluieren. Eine

psychosomatische/ psychologische/psychiatrische Nachbetreuung von Spendern und Empfängern

ist gemäß der Angaben der Konsiliardienste jedoch eher selten: ein Drittel gab an, dass eine solche

Nachbetreuung nie erfolge, bei einem weiteren Drittel fand dies in höchstens 10% der Fälle statt,

und nur 15% der Konsiliardienste berichteten von einer Nachbetreuung aller Spender und

Empfänger.

Diese Daten sind insbesondere angesichts des Befundes bemerkenswert, dass die psychosozialen

Konsiliardienste nicht selten auf medizinethisch problematische Konstellationen bei den von ihnen

evaluierten Spendern und Empfängern treffen. Zwar wird das Vorliegen finanzieller Arrangements

zwischen Spender und Empfänger nur selten beschrieben, ebenso wie erhebliche kognitive

Beeinträchtigungen des Spenders. Jedoch gibt ein Drittel der Konsiliardienste an, häufig Fälle von

emotionaler oder materialer Abhängigkeit des Spenders vom Empfänger zu sehen. Spender, die

sich nicht aus altruistischen Motiven, sondern aus Schuldgefühlen heraus zur Spende anbieten

(z. B. angesichts ihres im Vergleich zum potenziellen Empfänger guten Gesundheitszustands)

werden von mehr als der Hälfte der Konsiliardienste mindestens gelegentlich gesehen. Auch Fälle,

in denen die Kommunikationsmöglichkeiten mit dem potenziellen Spender durch sprachliche oder

kulturelle Barrieren deutlich eingeschränkt waren, treten bei mehr als der Hälfte der Konsiliardienste

gelegentlich auf. Ein Drittel der Konsiliardienste gibt an, zumindest gelegentlich mit Spendern

konfrontiert zu sein, denen die Lebendspende von medizinischer Seite nahe gelegt worden war

(Abb. 4).

Abb. 4.  Wie häufig haben Sie folgende Konstellationen bei Ihren Evaluationen angetroffen?

Weitere Konfliktkonstellationen, die von den psychosozialen Konsiliardiensten genannt wurden,

betreffen u. a. folgende Aspekte: ungenügende Auseinandersetzung mit einem möglichen Misserfolg

der Transplantation trotz medizinischer Aufklärung, Druck des familiären Umfelds, Angst vor

dem dominanten Spender und mangelnde Freiwilligkeit des Empfängers. Die vielfältigen denkbaren

medizinethischen Konfliktkonstellationen treten also durchaus in der Praxis auf.

10

DiskussionWas die Möglichkeiten und Grenzen der angewandten Methodik betrifft, so ist bei der Diskussion

der explorative Charakter der Studie zu berücksichtigen. So konnten die Fragebogenergebnisse

eine erste Basis legen, die in einem nächsten Schritt vertieft werden kann, etwa durch ausführliche

Einzelinterviews. Eine weitere Einschränkung betrifft die Repräsentativität: Während sich der

Rücklauf der Fragebögen von den Transplantationschirurgen mit knapp 70% im üblichen Bereich

bewegt, lässt der relativ geringe Rücklauf von 34% bei den Antworten der Konsiliardienste nur

eingeschränkt quantifizierbare Aussagen zu. Mögliche Ursachen für den relativ geringen Rücklauf

bei der zweiten Gruppe sind der höhere zeitliche Aufwand bei der Bearbeitung, insbesondere bei

kleineren Zentren das Fehlen einer einzigen zuständigen Person für diese Aufgabe oder auch eine

fehlerhafte Adressierung. Während die Anschriften der Transplantationszentren leicht zu

recherchieren waren, erforderten die Anschriften der Konsiliardienste zahlreiche Telefongespräche,

wobei die Auskünfte auch z. T. mit Unsicherheiten verbunden waren.

Im Hinblick auf die Inhalte, die aus der Studie resultieren, sollen einige Aspekte herausgegriffen

werden, an die zum Teil auch Empfehlungen geknüpft werden sollen. Interessant ist erstens die

allgemeine Einstellung der befragten Transplantationsmediziner zur Lebendorganspende. In

Übereinstimmung mit der Prognose medizinjuristischer Experten [41] wird trotz der gesetzlich

vorgesehenen Subsidiaritätsklausel, die eine Lebendorganspende nur erlaubt, wenn zum gegebenen

Zeitpunkt kein Postmortalorgan zur Verfügung steht, die Lebendspende von einem erheblichen

Teil der Chirurgen nicht als „ultima ratio“, sondern als eine Möglichkeit betrachtet, die man

umsetzen sollte, wenn ein Angebot besteht oder die sogar eine aktive Rekrutierung rechtfertigt.

Auch in der Medizinethik ist übrigens eine restriktive Handhabung der Lebendorganspende mit

dem Argument der Missbrauchsverhütung umstritten [1].

Ein weiterer Punkt ist die Frage, wer als Spender in Frage kommen soll. In der Studie wurden

am häufigsten als Kriterium für die Akzeptabilität eines Spenders die Qualität der Beziehung zum

Empfänger sowie die Motivation zur Spende genannt. Nichtverwandte Spender (Freunde) scheinen

für fast ebenso viele der Befragten in Betracht zu kommen wie Verwandte ersten Grades oder

Ehepartner. Auf der anderen Seite erscheint der knappen Mehrzahl der Chirurgen auch eine

anonyme Spende aus ethischer Sicht akzeptabel. Das Transplantationsgesetz hingegen schließt

eine anonyme Spende aus. Sicherlich ist das Anliegen, eine Kommerzialisierung der Organspende

zu verhindern, in seiner Intention grundsätzlich unumstritten; zudem ist in pragmatischer Hinsicht

fraglich, wie viele Menschen aus rein altruistischen Motiven einem Unbekannten ein Organ zur

11

Verfügung stellen würden. Dennoch macht die Studie nochmals auf die ambivalente Rolle von

Beziehungen aufmerksam, die zum einen zwar als eine moralische Voraussetzung für die

Lebendspende gesehen werden. Zum anderen können die Forderung nach Verbundenheit und das

Verbot der anonymen Spende aber nicht alle Möglichkeiten des Missbrauchs ausschließen; denn

gerade die Existenz enger Beziehungen kann Momente der Unfreiheit in die Entscheidung für

oder gegen die Spende hineintragen [5].

Was die Frage betrifft, wie bezüglich der Lebendspende informiert werden sollte, so besteht

für die Transplantationschirurgie das grundsätzliche Dilemma: je eher eine Lebendspende

durchgeführt wird, desto besser ist die Prognose für den Patienten,3 aber desto schwerer

ist—angesichts des noch relativ guten Gesundheitszustands des Empfängers—der Eingriff beim

Spender zu rechtfertigen. Die Wahl des angemessenen Zeitpunkts sowie das Ausmaß der

(Nicht)Direktivität des Gesprächs ist daher von besonderer Bedeutung. Nachdem gemäß den

Ergebnissen der Studie ein Großteil der Patienten das Thema der Lebendspende nicht von selbst

anspricht, wird dies nicht selten von den Ärzten übernommen, die entweder den Patienten

empfehlen, sich einen Spender zu suchen oder begleitende Verwandte durchaus auch selbst

ansprechen. Angesichts der ärztlichen Expertise und Autorität können sich Patienten oder potenzielle

Spender in diesem Fall leicht im Zugzwang fühlen. Daher wäre es von Vorteil, umfassend, aber

nichtdirektiv bezüglich der Möglichkeit einer Lebendspende zu informieren. Das Protokoll der

Cleveland Clinic, einer renommierten U.S.-amerikanischen Klinik mit großem

Transplantationsprogramm, formuliert für die Aufklärung bei der Lebersegment-Lebendspende

(„living donor liver transplantation“, LDLT): „Patients and their families have a right to full and

unbiased information regarding all transplant options including LDLT and the transplant team

shall not advocate for LDLT or take a proactive role in the recruitment of a suitable donor for the

patient“ [9].

Nach dem Aufklärungsgespräch sollte man sich in einem weiteren Schritt versichern, dass die

Informationen dem Spender tatsächlich auch bewusst geworden sind, insbesondere die jederzeit

bestehende Rücktrittsmöglichkeit. Des Weiteren kann es für den potenziellen Spender leichter

sein, etwaige Bedenken gegenüber einer Kontaktperson im Transplantationszentrum zu äußern,

die nicht zugleich der Behandler des Empfängers ist. Gerade während eines stationären Aufenthalts

könnte ein „donor advocate“ [47] im Sinne eines Ansprechpartners, an den sich Patienten im Falle

von Zweifeln vertraulich wenden können, eine positive Ergänzung darstellen. In jedem Fall sollte

3  Dies gilt insbesondere für die Lebersegment-Lebendspende.

12

eine realistische Chance zum Rückzug des Spendeangebots ohne „Gesichtsverlust“ gewährleistet

bleiben. Von den Transplantationschirurgen, die den Fragebogen zurückgesandt haben, bieten

30% fast allen der potenziellen Spender ein medizinisches Alibi für einen Rücktritt an. Das bereits

zitierte Protokoll der Cleveland Clinic sieht in diesem Zusammenhang vor: „assuring the donor’s

privacy and confidentiality regarding the reasons associated with disqualification“ [9]. Dies ist

auch von medizinethischer Seite bekräftigt worden: „If it is true that family pressure is one of the

most obvious and real sources of a donor’s decision, then transplant centers ought to be willing

to offer a prospective donor the option of disqualification on medical grounds, even when none

exist, in order to ensure that donors understand that they can choose not to participate without

being stigmatized, ostracized or penalized.“ [7]. Zwar kann die Verwendung eines Alibis als

unehrlich kritisiert werden; auch wäre unter idealen Bedingungen eine offene Konfrontation des

Empfängers mit dem Rückzugswunsch des potenziellen Spenders vermutlich vorzuziehen. Doch

primär muss sichergestellt werden, dass ein potenzieller Spender keinen wie immer gearteten

Schaden durch seinen Rücktritt erfährt.

Die häufige Nennung von Spender-Motivation und Spender-Empfänger-Beziehung als Kriterium

für die Akzeptabilität eines Spendeangebots von transplantationschirurgischer Seite betont die

Bedeutung einer psychosozialen Evaluation potenzieller Spender. Dies entspricht in der Tat der

Praxis, wie sie durch die von den Konsiliardiensten zurückgesandten Fragebögen wiedergegeben

wird. Die Evaluation wird in den meisten Fällen durch Ärzte für Psychosomatik durchgeführt,

gefolgt von Psychologen und Psychiatern. Die Evaluationen vor der Lebendspende sind mit

durchschnittlich knapp zwei Stunden und zwei Terminen relativ ausführlich. Nach Angaben der

Chirurgen liegt zumeist zwischen Evaluationsbeginn und Transplantation ein Zeitraum von einigen

Monaten, der Zeit für ein mehrstufiges Verfahren lässt. Das Angebot mehrerer Termine ist

angesichts des Prozesscharakters der Entscheidungsfindung sicher vorteilhaft, ebenso wie die in

dem meisten Fällen erfolgende getrennte wie auch gemeinsame Evaluation von Spender und

Empfänger. Es darf auch nicht übersehen werden, dass nicht nur der Spender, sondern ebenso

auch der Empfänger Bedenken oder Rücktrittswünsche haben kann. Günstig wäre sicher auch eine

räumliche Trennung von der transplantationsmedizischen Abteilung, da ein anderes Umfeld eher

die Artikulation evtl. bestehender Zweifel oder Bedenken ermöglichen dürfte. Eine postoperative

Nachbetreuung schließlich erfolgt in weniger als einem Drittel der Fälle; dies gilt für Spender wie

Empfänger. Dies wäre jedoch nicht nur unter dem Versorgungsaspekt für die Patienten

wünschenswert, sondern auch, um die Wissensbasis bezüglich der medizinischen und

psychosozialen Implikationen der Lebendorganspende zu erweitern.

13

Als Entscheidungsgrundlage für die Akzeptabilität eines Spendeangebots dienen also

Informationen aus dem medizinischen, dem psychosozialen und dem medizinethischen Bereich.

Im konkreten Fall sind diese Faktoren zu integrieren: Ist der Spender medizinisch geeignet? Passt

die Spende in seine Lebensplanung? Bestehen Bedenken im Hinblick auf Versicherung oder

Arbeitsplatz? Wie ist die Prognose für den Empfänger, welche therapeutischen Alternativen stehen

zur Verfügung? Wie sind der Nutzen für den Empfänger und das Risiko für den Spender im

Verhältnis zu sehen? Verstehen Empfänger und Spender die Tragweite der Entscheidung, oder

gibt es eine Tendenz, Risiken zu negieren und den Eingriff zu trivialisieren? Hatten beide eine

faire Chance, Bedenken zu artikulieren? Und schließlich: Ist der Informed Consent in irgendeiner

Weise eingeschränkt? Wie die Umfrage bei den psychosomatisch-psychologischen Konsiliardiensten

gezeigt hat, kommen manche der beschriebenen problematischen Konstellationen in der Tat nicht

selten vor, besonders die emotionale bzw. materielle Abhängigkeit des Spenders vom Empfänger,

eingeschränkte Kommunikationmöglichkeiten aufgrund sprachlicher oder kultureller Barrieren

und Schuldgefühle als Bestandteil der Spendermotivation.

Diskussionen im interdisziplinären medizinisch-pflegerischen Team können helfen, solche

problematischen Fälle zunächst als solche zu erkennen und dann nach einer Lösung zu suchen.

Jede Evaluation wird, auch bei den besten Intentionen, an bestimmte Grenzen stoßen, z. B. wenn

ein potenzieller Spender bewusst Informationen bezüglich seiner medizinischen Vorgeschichte

zurückhält oder einen falschen Eindruck bezüglich seiner Beziehung zum Empfänger vermittelt

[31]. Doch ist auch hier der Rahmen eines regelmäßigen interdisziplinären Austauschs von

Klinikern, Personen mit Expertise in psychosozialen Fragen und Medizinethikern geeignet, um

die spezifischen Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Evaluationsverfahrens von

Lebendorganspendern zu diskutieren und ggf. Konsequenzen für die künftige Praxis zu ziehen.

Abschließende Überlegungen und AusblickIn Deutschland sind zentrale Aspekte der Lebendorganspende gesetzlich sowie durch Empfehlungen

der Bundesärztekammer geregelt. Dennoch erfordern die täglichen klinischen

Einzelfallentscheidungen zusätzliche medizinethische Reflexionen. Die vorgestellte Studie ist nur

ein erster, explorativer Schritt hin auf eine umfassende Diskussion der gegenwärtigen Praxis in

deutschen Transplantationszentren. Dabei sollte diese Diskussion nicht von der Ethik an die

Medizin herangetragen werden. Konstruktiver und aussichtsreicher wäre vielmehr eine gemeinsame

Anstrengung mit dem Ziel einer kontinuierlichen Verbesserung der Patientenversorgung bzw. der

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bewussten Erhaltung eines hohen Standards. Wünschenswert wäre außerdem eine stärkere

Beteiligung der Pflege bei der Diskussion dieser Themen. Die in der ambulanten und stationären

Versorgung tätigen Schwestern und Pfleger haben oft eine hervorragende Kenntnis sowohl der

individuellen psychosozialen Situation der einzelnen Patienten wie auch einen scharfen Blick für

etwaige Unzulänglichkeiten des Evaluationsprozesses.

Trotz der Existenz empirischer Studien zu psychologischen, soziologischen anthropologischen

und juristischen Implikationen der Lebendorganspende, im nationalen wie auch im internationalen

Kontext [42, 24, 12, 23], besteht weiterhin Forschungsbedarf. Dieser liegt zum einen in der sich

wandelnden Praxis begründet, so wäre z. B. eine Evaluation der Arbeit der neu gegründeten

Lebendspende-Kommissionen auf Länderebene ein interessanter Aspekt, und zum anderen in der

Komplexität der Einzelfallentscheidungen, die sich nicht auf eine rein deduktive Anwendung

allgemeiner Prinzipien reduzieren lässt [2].

Von besonderer Bedeutung ist, sich der Vulnerabilität jedes Individuums bewusst zu bleiben,

die auch den Lebendorganspender und nicht nur den potenziellen Empfänger betrifft, dessen

physisches Leiden einen offensichtlicheren Indikator für Verletzlichkeit und daher

Schutzbedürftigkeit darstellt. Jenseits der individuellen Situation ist bei den Spendern auch auf

gruppenspezifische Vulnerabilitäten zu achten. Ein Beispiel hierfür ist das deutliche Überwiegen

weiblicher Lebendspender, das in einer kanadischen Studie dokumentiert ist [51], sich aber auch

in anderen nationalen und internationalen Datenbanken (z. B. der Deutschen Stiftung

Organtransplantation und Eurotransplant) nachvollziehen lässt [3]. Eine denkbare Erklärung ist,

dass das Rollenverständnis der fürsorgenden Ehefrau oder Mutter Entscheidungen für eine Spende

vorstrukturiert. Selbstverständlich soll niemandem, der einem nahe stehenden Menschen ein Organ

spenden möchte, aus einem unangemessenen Protektionismus heraus ein solcher Wunsch verweigert

werden. Dennoch muss die individuelle Entscheidungsfreiheit durch ein entsprechend sensibles

Evaluationsverfahren gewährleistet bzw. nach Möglichkeit sogar befördert werden. Nur unter

dieser Voraussetzung lässt sich der inhärente medizinethische Konflikt der Lebendorganspende

angemessen lösen: Der Versuch, Wartelisten zu verkürzen und damit der Versorgung nieren- und

leberkranker Patienten besser gerecht zu werden, darf nicht auf Kosten des Schutzes individueller

potenzieller Lebendspender gehen.

Danksagung  Herzlichen Dank an Frau Dipl.-Psych. Birgit Reichardt, die uns als wissenschaftliche

Hilfskraft bei der Durchführung des Projekts unterstützt hat. Frau Anna Jakovljevic, M.A. danken

wir für ihre Hilfe bei der Formatierung des Manuskripts. Ebenso geht unser Dank an die Kollegen

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in der Transplantationsmedizin und im psychosomatischen, psychologischen oder psychiatrischen

Konsiliardienst, die freundlicherweise an unserer Befragung teilgenommen haben.

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