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Frauen aus der DDR berichten Heike Walter ABGEBROCHEN Mit einem Vorwort von Kurt Starke

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Frauen aus der DDr berichten

Heike Walter

Abgebrochen

Mit einem Vorwort von Kurt Starke

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Diese Leseprobe ist urheberrechtlich geschützt.Sie darf ohne vorherige schriftliche Genehmigungweder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert,

vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

ISBN 978-3-355-01780-0

1. Auflage© 2010 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.verlag-neues-leben.de

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VorWort

Die Geschichten, die in diesem Buch erzählt wer-den, sie sind Geschichten aus dem wahren Leben. Sie beinhalten ein reales Geschehnis, etwas, das wirklich passiert ist, was sich dem Trug der Erinnerung ent-zieht, und zwar ein Begebnis, über das man nicht gern spricht: den Abbruch einer Schwangerschaft. Das ist nicht fröhlich, und fröhliche Geschichten sind daher bei aller Lebhaftigkeit des Erzählens nicht zu erwar-ten. 16 Frauen blicken auf ihre Biografie zurück. Die ehrlichen Rückblicke sind voller innerer Bewegung, und diese Bewegtheit teilt sich den Lesern mit. Indem sie zurückblicken, sprechen diese Frauen aber nicht nur über sich selbst. Sie schauen in eine andere Zeit zurück, in frühere Lebenssituationen, in eine ver-gangene Gesellschaft. In der individuellen Erzählung blinkt immer wieder Gesellschaftliches auf. Das gibt dem Buch eine Bedeutung, die weit über das Einzel-schicksal hinausgeht.

Wer aber nun glaubt, hofft oder fürchtet, zu den vie-len schaurigen DDR-Geschichten noch schauderhaf-tere hinzuzubekommen, der irrt. Darum ging es der gebürtigen Naumburgerin Heike Walter, die seit 1991 in einem alten Bundesland lebt, nicht. Mit unendlicher Mühe und größter Sorgfalt hat sie diese Geschichten mit dem einzigen Ziel gesammelt: zu wissen, wie es war. Sie wollte nicht verurteilen, schönen, Negatives

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herauspicken, die eigene Sicht feiern oder fremden Sichten huldigen, sondern hören, wie und was Frauen selbst erzählen. Sie wollte erfahren, in welcher Situa-tion der Abbruch geschah, wie er sich ausgewirkt hat und wie ihn die betroffenen Frauen im wechselnden Zeitgeist reflektieren.

Am 9. März 1972 trat in der DDR das Gesetz in Kraft, das im Sinne der heute sogenannten Fristenlösung straffrei einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichte. Jede schwangere Frau konnte bis zur 12. Schwanger-schaftswoche frei darüber entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen wollte oder nicht.

In eben diesem Jahr bauten wir am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig in eine große empirische Untersuchung unter Studenten die Frage ein, inwie-weit diese gesetzliche Möglichkeit, eine unerwünschte Schwangerschaft abzubrechen, begrüßt wurde. 90 % der Studenten sprachen sich klar dafür aus, 5 % waren »kaum« und 5 % »überhaupt nicht« dafür (so wie auch in der Volkskammer einige Abgeordnete gegen das Gesetz gestimmt hatten). Dieser Befund bestätigte sich in nachfolgenden Untersuchungen. Bald wurde in der DDR das Gesetz von kaum jemand prinzipiell in Frage gestellt. Das geschah erst 20 Jahre später mit der deut-schen Einheit, als die altbundesdeutsche Gesetzgebung mit der der DDR kollidierte. Die eigene Entscheidung über Abbruch oder nicht war als selbstverständliches Recht angenommen worden. Wie unsere Forschungen zeigten, traf das auf alle Schichten der Bevölkerung zu – ähnlich der Akzeptanz oraler Kontrazeption (Pille) –

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auch auf religiös Eingestellte. Die Entscheidungsfrei-heit entsprach einer veränderten gesellschaftlichen Situation, speziell einer veränderten Stellung der Frau in der Gesellschaft und in der Paargruppe, verbunden mit einem gestiegenen Selbstbewusstsein. Nicht zuletzt gingen Gesetz und wahrgenommenes Recht mit einer sexuellen Liberalisierung in jenen Jahren einher.

1972 war den jungen Leuten in der DDR, die so plötzlich mit dem neuen Gesetz konfrontiert wurden, weder klar, was dieses Gesetz für Auswirkungen haben könnte, noch welchen Platz es in der Abtreibungs-geschichte hatte, noch welche ethischen, sozialen, kulturellen, weltanschaulichen Probleme es mit sich führte. Sie machten sich darüber auch kaum Gedan-ken, zumal es keinen öffentlichen Diskurs gab – weder über das Gesetz noch über seinen Gegenstand, den künstlich herbeigeführten Schwangerschaftsabbruch, den Abortus artificialis, die Abruptio graviditatus, die Interruptio. Das Gesetz brach endgültig mit den Straf-androhungen des berüchtigten § 218, der 1871 erstmals im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches auftauchte und seither von liberalen Kräften und insbesondere der emanzipatorischen Frauenbewegung bekämpft worden war. Bereits ab 1950 wurden in der DDR nach und nach die gesetzlichen Bestimmungen liberalisiert und ein Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen und zunehmend auch aus anderen Gründen erlaubt (Indikationslösung). Illegale Abtreibungen gab es aber immer noch, oft unter ungünstigen Bedingungen und bei erheblichen Gefahren für die schwangere Frau.

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Die Abtreibungsgeschichte in Deutschland und in anderen Ländern ist lang und schrecklich. Trotz schärfster Strafandrohungen teilweise bis zur Todes-strafe und zahlreichen Verurteilungen wurde abgetrie-ben, und keineswegs immer wurden die Frauen und die geborenen Kinder glücklich, wenn die gewollte Abtreibung misslang oder nicht zustande kam. Ins-besondere in unsicheren Zeiten war die Abbruchrate hoch. 1945 zum Beispiel kam auf eine Geburt eine Abtreibung. Immer waren in erster Linie die Frauen die Leidtragenden. Sie mussten die Risiken des illega-len Abbruchs auf sich nehmen. Sie vor allem wurden bestraft, wenn es herauskam. Sie trugen die körperli-chen und seelischen Erschütterungen, und sie muss-ten den Makel der Schuld auf sich nehmen.

Damit sollte nun Schluss sein. Nach dem Gesetz von 1972 musste der gewünschte Abbruch stationär in einer gynäkologischen Einrichtung fachgerecht erfolgen. Er war kostenlos und wurde – einschließlich der Nachbehandlung – versicherungsrechtlich einer Erkrankung gleichgesetzt. Auf dem Krankenschein war der Abbruch zu verschlüsseln. Die Frauen muss-ten den Abbruch niemandem offenbaren, wenn sie es nicht wollten, vor allem der Arbeitsstelle nicht. Der Arzt war verpflichtet, die Schwangere über die Risi-ken des Abbruchs aufzuklären. Das geschah freilich in sehr unterschiedlicher Weise, wie auch aus den Berich-ten in diesem Buch hervorgeht. Für die Gynäkologen ihrerseits war der Abbruch durchaus keine Lieblings-tätigkeit, und gerade von ihnen wurde immer wieder

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auf die Komplikationen der Interruptio hingewiesen, nicht zuletzt auf Fachtagungen oder Fortbildungsta-gen (wie die legendären in Rostock), an der Fachkräfte aus der Schwangerenfürsorge und der Ehe- und Sexu-alberatung teilnahmen. Immer wieder wurde mehr Auf klärung in der Bevölkerung gefordert. Viele Ärzte und andere Fachkräfte haben sich daran aktiv beteiligt, und es ist auch zu Forschungen zum Thema gekom-men, nicht nur aus medizinischer und sozialhygieni-scher, sondern auch aus psychologischer und sozio-logischer Sicht. Die Legalität des Abbruchs war dafür die förderliche Grundlage.

Da die Schwangerschaftsabbrüche in medizinischen Einrichtungen stationär vorgenommen wurden und der statistischen Meldepflicht unterlagen, sind genaue Angaben über die Zahl der Abbrüche in der DDR vorhanden. Nach Inkrafttreten des Gesetzes von 1972 stieg zunächst – das ist ein bekannter Effekt solcher Liberalisierungen – die Inanspruchnahme, um sich dann auf ein bestimmtes Niveau einzupegeln. Dieses Niveau lag bei 25 %, d. h. auf 100 Schwangerschaften kamen 25 Abbrüche, also auf vier Schwangerschaften ein Abbruch. Für das Jahr 1988 sah das in absoluten Zahlen bei 319 536 Schwangerschaften so aus: 81 241 Interruptiones (25,4 %) – 21 485 sonstige (spontane) Aborte (6,7 %) – 1 086 Totgeborene (0,3 %) – 215 724 Lebendgeborene (67,5 %). Nimmt man noch die 1 742 gestorbenen Säuglinge hinzu (0,5 %), dann entstan-den in diesem Jahr – demografisch gesehen – 105 554 »Reproduktionsverluste«, wie es in der kalten Fach-

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sprache hieß. Insbesondere jüngere Frauen wurden nach einem Abbruch wieder schwanger und gebaren Kinder, was schließlich eine Verschiebung des Kinder-kriegens im Lebenslauf bedeutete. Manche Frauen wurden – wie es auch im Buch beschrieben wird – bald nach dem Abbruch aus einer Art Schuldgefühl heraus wieder schwanger. Aber selbst wenn man das berück-sichtigt, sind 81 241 Abbrüche in einem Jahr eine gewaltige Zahl. Bezogen auf die Zahl der Lebendge-borenen sind das auf 2,7 Geburten ein Abbruch.

Allein dieses eine Beispiel zeigt, dass Schwanger-schaftsabbrüche in der DDR keine zu vernachlässi-gende Größe waren, nicht statistisch-quantitativ und gleich gar nicht biografisch-qualitativ, nicht gesell-schaftlich – und individuell sowieso nicht.

Ein Vergleich mit dem Abbruchsgeschehen in der alten Bundesrepublik ist schwierig. Infolge der Dun-kelziffer, der ambulanten Abbrüche, der Abbrüche außerhalb des Landes und anderer Faktoren liegen dafür keine so genauen Zahlen wie für die DDR vor. Verschiedene statistische Erhebungen und eigene Untersuchungen in Ost und West zeigen, dass die alte BRD keineswegs niedrigere Abbruchraten als die DDR hatte. Insbesondere bei jungen und ledigen Frauen waren sie im Westen teilweise sogar erheblich höher, wie aus unseren Forschungen hervorgeht. In der DDR wurde der größere Teil der Abbrüche von Frauen vorgenommen, die bereits Kinder hatten. Abbrüche von Erstschwangerschaften waren selten, seltener als in der alten BRD (5 % zu 10 %), und das,

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obwohl das Alter der Frauen, die ihre erste Schwan-gerschaft ausgetragen haben, in der DDR rund vier Jahre niedriger lag als in der alten BRD. Noch größer sind die Unterschiede zu anderen westlichen Ländern, so zu den USA. In der gemeinsamen Untersuchung »frauen leben« wurde gefunden, dass in den USA bei den nichtverheirateten weißen Amerikanerinnen 41 % der Erstschwangerschaften mit einem Abbruch ende-ten (Familienplanung und Lebensläufe von Frauen, BZgA 2000, S. 45). Das ist um ein Vielfaches höher als in der DDR. Ledige Mütter sind in den USA jenseits der Norm, viel stärker noch als im deutschen Westen und ganz im Unterschied zur DDR. In der DDR waren in den achtziger Jahren etwa die Hälfte der Frauen bei der Geburt eines Kindes nicht verheiratet. In der alten BRD waren es um die 15 %, obgleich in der DDR viel früher und auch häufiger geheiratet wurde. Der Anteil nicht ehelich geborener Kinder hat sich in den alten Bundesländern – bei größeren regionalen Unter-schieden und insbesondere zwischen Stadt und Land – inzwischen auf rund 25 % erhöht, in den neuen liegt er über 50 %, obgleich verheiratete Mütter gesetzlich bevorteilt sind.

Dies alles zeigt, dass der Schwangerschaftsabbruch nicht einfach eine persönliche Angelegenheit ist. Er findet nicht nur in einem spezifischen individuellen Umfeld statt, sondern hat einen komplexen gesell-schaftlichen Kontext. Das klingt in diesem Buch immer wieder an, und das ist einer der Vorzüge des Buches. Der Abbruch hängt nicht nur mit den persön-

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lichen Anschauungen zusammen, sondern hat auch etwas mit den herrschenden Normen, Wertmaßstä-ben und Lebensstilen zu tun. Das bezieht sich vor allem auf Geschlechtsverkehr vor der Ehe einerseits und Lebensplanung und Familiengründung anderer-seits. Für den Kontext der DDR gilt, dass nicht erst die Hochzeit Geschlechtsverkehr legitimierte und frühe Familiengründung und Kinderkriegen ein unhinter-fragter Normalismus waren. Über 99 % wünschten sich eigene Kinder, meist zwei – und sie bekamen sie dann auch, sogar Akademikerinnen: Nur 5 % der Frauen mit Hochschulabschluss hatten keine Kinder, meist ungewollt. Im Westen blieben fast 50 % der Aka-demikerinnen ohne Kind, meist gewollt. Oftmals kam in der DDR das erste Kind schon während des Studi-ums. In den siebziger und achtziger Jahren waren 40 % der Studentinnen Mütter. Kinderwagen vor dem Semi-nargebäude – das war in früheren Zeiten undenkbar gewesen. Studieren mit Kind war in den alten Bundes-ländern extrem selten und ist es bis heute, nun auch für den Osten wieder.

Wie sehr Schwangerschaften und ihr Ende mit individuellen Lebenssituationen aufgrund von gesell-schaftlichen Bedingungen zusammenhängen, zeigt sich besonders bei gesellschaftlichen Umbrüchen – nicht laut, nicht auf der Straße, sondern im Stillen, in der gesellschaftlichen Tiefe. In der jüngeren deut-schen Geschichte ist das herausragende Beispiel der Umbruch 1989–91. Weit weniger DDR-Frauen als vor-dem wurden schwanger, und von denen, die schwan-

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ger wurden, ließ ein größerer Teil als vordem die Schwangerschaft abbrechen. Das Verhältnis Geburt zu Abbruch sank von 3:1 auf 2:1. Am Ende stand ein Fall der Geburtenrate, wie er so noch nie beobach-tet worden war und der den der beiden Weltkriege zusammengenommen übertraf. Die Geburtenrate fiel 1991 (bezogen auf 1990) in den neuen Bundesländern um 40 %, und 1992 (bezogen auf 1991) nochmals um 19 %. Das geschah in einer Zeit, in der auch im Osten Schwangerschaftsabbrüche wie nie zuvor öffentlich problematisiert wurden. Der Anlass für diesen lebhaf-ten und zugespitzten Diskurs war die unterschiedliche Gesetzgebung in Ost und West. Alte und neue Geg-ner des § 218 aus den alten Bundesländern versuch-ten erneut, eine ähnliche Regelung wie in der DDR durchzusetzen. Befürworter des § 218 versuchten, ihre Auffassungen auch im Osten zu verbreiten. In der Gesetzgebung kam es schließlich zu dem bis heute gültigen Kompromiss: die Fristenregelung mit Bera-tungspflicht.

Was die Inhalte und Argumente der damaligen Dis-kussion insbesondere in Bezug auf den Schutz des wer-denden Lebens betrifft, so zeigten sie Wirkung, nicht im Abbruchsgeschehen, aber in seiner Bewertung. Fast ausnahmslos greifen die Frauen in diesem Buch in bemerkenswerter Weise fortwirkende Sichtwei-sen aus jener Zeit auf und reflektieren neu über den Abbruch ihrer Schwangerschaft. Die einen relativieren ihre damalige Entscheidung, die anderen bereuen sie, die dritten stehen zu ihr. Doch alle fühlen, dass eine

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Sensibilisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und eine Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Sichtwei-sen und neuen Erkenntnissen gut und richtig ist, dass es aber nichts bringt, die damalige Entscheidung in jet-zige Muster zu pressen und sich demütig heute herr-schenden Auffassungen und Ideologien zu beugen.

Keine Frau, so sehr sie sich emotional auch ange-sprochen fühlt, wird sich anmaßen, über die vorge-stellten Schicksale zu richten und den Stab über diese Frauen zu brechen. Viele Leserinnen werden sich in diesen Geschichten wiederfinden, nicht nur die, die einst vor der Entscheidung Abbruch standen – oder heute stehen. Sie werden mitfühlen, nachfühlen und – nachdenken. Ein solches Nachdenken beim unflüchti-gen Lesen dieser Porträts wird nicht nur Frauen errei-chen, sondern auch Männer ereilen, vielleicht auch jene, die in guter Absicht, aus Verlegenheit oder in zu zeigender Verbundenheit, aber in Verkennung der Gemütslage einst ihrer Frau nach dem Eingriff einen Blumenstrauß ans Klinikbett brachten.

Dieses Buch ist kein wissenschaftliches Buch, und die 16 Porträts können auch nicht repräsentativ für alle DDR-Frauen mit Abbrucherfahrung sein. Aber das Buch erzählt in authentischen Schicksalen mit dokumentarischer Wahrhaftigkeit und literarischer Tiefe, was keine Statistik wiedergeben, keine quantita-tive Forschung und keine generalisierende Geschichts-schreibung erbringen kann, nämlich die Emotionalität und Plastizität, die Ambivalenzen und Verwobenhei-ten von gelebtem Leben.

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Wunschkinder sind ein großes Ideal. Wunschkin-der wurden in der DDR als ideal betrachtet und gel-ten auch heute weitgehend als ideal, ideal für das Kind, das fürs Leben spürt, dass es willkommen war, ideal für die Eltern und ideal für die ganze Familie. Der erfüllte Kinderwunsch macht glücklich, und die Kinder, die gewollt sind, haben eine größere Chance, selbst glücklich zu werden. Das ist empirisch belegbar, wenngleich es nur ein statistischer Zusammenhang ist und Ausnahmen vorhanden sind. Wenn eine unge-wollte Schwangerschaft eintritt, steht das Paar und insbesondere die Frau vor der Frage, was zu tun sei. In sehr vielen Fällen erfolgt ein positiver Paradigmen-wechsel: Aus der ungewollten Schwangerschaft wird ein gewolltes Kind. Das ist die glückliche Variante. In anderen Fällen wird ein Abbruch erwogen. Ist die Entscheidung gegen eine Fortsetzung der Schwan-gerschaft gefällt, dann wird sie nur selten rückgängig gemacht, sie ist beratungsresistent. Das ist die andere Variante. Bei beiden Varianten nimmt die Schwangere ein Recht wahr, das als Menschenrecht gilt, nämlich über die Fortsetzung einer Schwangerschaft selbst- und nicht fremdbestimmt zu entscheiden.

Beide Varianten – und das zeigt dieses Buch über-aus deutlich und ergreifend – haben Auswirkungen, die erste in Gestalt des geborenen Kindes sowieso, ein Ereignis, das das Leben der Frau und des Paares grund-legend und vital verändert. Aber auch die zweite Vari-ante, der Abbruch, der immer nur ein letztes Mittel sein kann, heißt nicht einfach, dass nun alles erledigt

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sei. Selbst wenn der Abbruch technisch gelingt und keine oder keine wesentlichen körperlichen Folgen hat, sind seelische Folgen nicht auszuschließen. Der Abbruch ist ein Eingriff, nicht nur ein physischer, sondern auch ein psychischer. Er hinterlässt – wie eindringlich zu lesen ist – Spuren, bei der einen Frau vielleicht nicht bemerkbare, bei der anderen tiefere bis hin zu lebenslangen unguten Gefühlen oder immer wieder auf kommenden Schuldgefühlen.

Auch wenn die Frauen in diesem Buch berichten, dass es Gründe für den Abbruch gab und der Abbruch als eine vernünftige Entscheidung bewertet wurde, so regt sich beim Lesen unwiderstehlich der Gedanke, wie ein Abbruch vielleicht doch zu vermeiden gewe-sen wäre – und heute zu vermeiden ist. Im Weiterden-ken und im Weitdenken tritt motivational hervor, wie Bedingungen geschaffen werden könnten, die einen Abbruch gar nicht erst nötig erscheinen ließen, indivi-duell und vor allem gesellschaftlich.

Fernab von jeder unsachlichen, hysterischen, psy-chologistischen oder ideologisierten Über- oder Unterbewertung von Interruptiones entlässt uns das Buch im Blick auf das Heute mit einem positiven Emp-finden: Auch wenn ein Kind im Moment nicht geht oder gar nicht in den Lebenslauf passt und in unserer Gesellschaft nicht willkommen erscheint – ein Kind ist Leben, und jedes Kind verändert nicht nur die eigene Biografie, sondern verändert auf seine Weise auch die gesellschaftliche Biografie. Ein Kind ist ein soziales Positivum. Es setzt dem Destruktiven, Verfallenden,

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Depressiven, den Unsicherheiten und Ängsten unserer Zeit ein frisches Ich entgegen. Es ist eine vitale Fort-setzung der eigenen Lebensgeschichte, es ist Glück, es ist Zukunft.

Prof. Kurt Starke

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eInLeItung

»Niemand urteilt schärfer als der Ungebildete. Er kennt weder Gründe noch Gegengründe und glaubt sich immer im Recht.«

Ludwig Feuerbach

So verschieden Menschen durch ihre Weltanschau-ungen und Zeitepochen geprägt sind, so kontrovers diskutieren sie das Thema Schwangerschaftsabbruch. Nicht selten werden dabei am meisten die verletzt, die unmittelbar damit konfrontiert sind oder waren – die Frauen selbst. Doch steht das Recht zu urteilen nicht ausschließlich ihnen zu – denen, die es persönlich erlebten?

Ihre Biografien, ihre Lebensumstände, durch die sie in die Lage einer ungewollten Schwangerschaft kamen, wurden bisher in der Öffentlichkeit kaum the-matisiert.

Ich suchte nach diesen Frauen mittels Inseraten in der Zeitschrift »Das Magazin«. Dabei wollte ich nicht in ihren Privatleben schnüffeln, um reißerische Geschichten auf Boulevardblattniveau zu veröffent-lichen. Ich wollte zuhören, verstehen, die Wahrheit finden.

Von Frühjahr bis Herbst 2009 erzählten mir drei-undzwanzig Frauen die Geschichten ihres Schwanger-schaftsabbruchs. Was sie zu sagen hatten, wurde auf

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Tonträger aufgezeichnet. Beim Transkribieren in die Schriftsprache sollte der Charakter der mündlichen Erzählung erkennbar bleiben. Auf Wunsch wurden die Vornamen der Frauen geändert. Jede Geschichte ist einzigartig. Da sich jedoch einige Lebensläufe ähneln und viele Frauen identische Meinungen äußerten, ent-schied ich mich für sechzehn Berichte.

Aufrichtigen Dank sage ich allen mitwirkenden Frauen – ob sie hier zu Wort kommen oder nicht. Ohne deren Courage, mit uneingeschränkter Offen-heit über den Abbruch ihrer Schwangerschaft zu be-richten und ihre Emotionen und Gefühle preiszuge-ben, wäre dieses Buch nicht entstanden. Deshalb ist es nicht allein mein Buch, es ist ein Buch von Frauen für Frauen, für unsere Kinder und Enkelkinder, für unsere Männer, für die Menschen, die bereit oder gezwungen sind, über das Thema Schwangerschaftsabbruch nach-zudenken.

Heike Walter