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über den Begriff der Geschichte Aus: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd- l/2, Frankfurt/Main: Suhrkamp L974'

Walter Benjamin_Über den Begriff der Geschichte

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aus: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974.

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über den Begriff der Geschichte

Aus: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd- l/2, Frankfurt/Main: Suhrkamp L974'

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I

Bekanntlich soll es einen Automâten gegeben haben, der sokonstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielersmit einem Gegenzvge erwidert habe, der ihm den Gewinn derPartie sicherte. Eine Puppe in türkiscJrer Tradrt, eine rüüasser-

pfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigenTiscl aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde dieIllusion erwed<t, dieser Tisdr sei von allen Seircn durc}sicltig.In Wahrheit saß ein bud<liger Zwerg darin, der ein Meister imSdrac.hspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte.Zv dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstüd< in derPhilosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, dieman 'historisdren Materialismus. nennt. Sie kann es ohneweiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihrenDienst nimmt, die heute belcanntliú klein und häßlidr isr undsich ohnehin nicjrt darf blicken lassen.

II

"Zu den bemerlcensv¡erthesten Eigenthümlidrkeiten des mensdr-lichen Gemüths<, sagt Lotze, "gehört . . . neben so vieler Selbst-sudrt im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegen-T¡art gegen ihre Zuhunft... Diese Reflexion führt darauf, daßdas Bild von Glüds, das wir hegen, durc} und durdr von derZeit tingiert ist, in weldre der Verlauf unseres eigenen Daseinsuns nun einmal verwiesen hat. Glü&, das Neid in uns erwed<enkönnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, rnir Men-sdren, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sidr uns hättengeben können. Es sdrwingt, mit andern lüü'orten, in der Vorstel-lung des Glücks unveräußerlidr die der Erlösung mit. Mit derVorstellung von Vergangenheit, weldre die Gescåidrte zu ihrerSadre madrt, verhält es siclr ebenso. Die Vergangenheit führteinen heimlidren Index mit, durclr den sie auf die Erlösung ver-wiesen wird. Streift denn nidrt uns selber ein Haudr der Luft,die urn die Früheren ge'wesen ist? ist nidrt in Srimmen, denenwir unser Ohr sdrenlcen, ein Edro von nun verstummten? habendie Frauen, die wir -umwerben, nidrt Sdrwestern, die sie nidrt

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mehr gekannt haben'? Ist dem so, dann besteht eine geheimeVerabredung zwisdren den gewesenen Gescålecltern und unse-rem. Dann sind wir auf der Erde erv¡artet worden. Dann istuns wie jedem Gescllecit, das vor uns w'ar, eine schwddte mes-sianische Kraft mitgegeben, an weldre die Vergangenheit An-sprucJr hat. Billig ist dieser Ansprudr niút abzuferrigen. Derhistorische Materialist weiß darum.

III

Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne großeund kleine zu untersdreiden, trägt damit der \0fahrheit Redr-nung, daß nidrts was sidr jemals ereignet hat, für die Geschidrteverloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Mensdrheitihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlöstenMensdrheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momentezitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblid<e wird zueiner citation à l'ordre du jour weldrer T"g eben derjüngste ist.

IV

Tradrtet em ersten nadr Nahrung und Kleidung, so

wird eudr das Reiú Gottes von selbst zufallen.Hegel, ßo7

Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Man< gesdrultist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen undmateriellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellengibt. Trotzdem sind diese letztern im Klassenkarnpf anders zu-gegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Siegerfällu Sie sind als Zuversidrt, als Mut, als Humor, als List, alsIJnentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirhen in dieFerne der Zeit zurüd<. Sie werden immer von neuem jeden Sieg,der den Herrsdrenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen.\ül¡ie Blumen ihr Haupt nadr der Sonne q¡enden, so strebr krafteines Heliotropisrnus geheimer Art, das Gewesene der Sonnesidr zuzuwenden, die am Himmel der Gesdridrte im Aufgehen

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()ber den Begriff der Gesdridrte 6g¡

ist. .A,uf diese unscheinbarsre von allen Veränderungen. muß sidrder historisdre Marcrialist verstehen.

Das wahre Bild der Vergangenhei¡ hnsdtt vorbei. Nur als Bild,das auf Nimmerwiedersehen im Âugenblidr seiner Erkennbar-keit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. oDie\(ahrheit wird uns nicht davonlaufen.. - dieses 'Wort, das vonGottfried Keller stammt, bezeidrner im Gesc}idrtsbild des Hi-storismus B€nau die Stelle, an der es vom historisdren Materia-lismus durdrscllagen wird. Denn es ist ein unwiederbringlidresBild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenw^rt at versùwin-den droht, die sidr nicht als in ihm gemeint erkannte.

vt

Vergangenes historisdr artikulieren heißt nidrt, es erkennen

'wie es denn eigentlich gewesen ist.. Es heißt, siúr einer Erinne-rung bemädrtigen, wie sie im Augenblid< einer Gefahr aufblitzt.Dem historischen Materialisrnus geht es danrm, ein Bild derVergangenheit festzuhalten, wie es sidr im Augenblidr der Ge-fahr dem hisrcrisdren Subjekt unversehens einstellç Die Gefahrdroht sowohl dem Bestand der Tradition q'ie ihren Empfängern.Für beide ist sie ein und dieselbe: sidr zum 'I?erkzeug der herr-sdrenden Klasse herzugeben. In jeder Epodre muß versudttwerden, die Ûberlieferung von neuem dem Konformismus abzu-gewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messiaskommt ja nidrt nur als der Erlöser; er kommt als der Ûberwin-der des Antichrist. Nur dem Gesdridrtssdrreiber wohnt die Gabebei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufadren, derdavon durchdrungen ist: audr die Toten werden vor dem Feind,urenn er siegt, nidrt sidrer sein. Und dieser Feind hat zu siegennidrt aufgehört.

v

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696 Uber den Begrifi der Gesdridrte

VII

. Bedenkt das Dunkel und rlie große KälteIn diesem Tale, das von Jammer sdr¿llt.

Br edt t, D íe D re i gr o s dt eno P er

Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eineEpodre nadrerleben, so solle er alles, was er vom spätern Ver-lauf der Gesdridrte wisse, siúr aus dem Kopf sdrlagen. Besser istdas Verfahren nidrt zu kennzeidrnen, mit dem der historisdreMaterialismus gebrodren hat. Es ist ein Verfahren der Einfüh-lung. Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia,weldre daran venLagt, des edrten historisdren Bildes sidr zrrbemädrtigen, das flticltig aufblirzt. Sie galt bei den Theologendes Mittelalters als der Urgrund der Traurigkeit. Flaubert, derBekanntsdraft mit ihr gemadrt hatte, sdrreibt: "Peu de gens

devineront combien il e. fallu être . triste pour ressusciterCarthage... Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlidrer, wennman die Frage aufwirft, in wen sidr denn der Gesdridrtssdrrei-ber des Historismus eigentlidr einfühl¡. Die Antwort lautetunweigerlidr in den Sieger. Die jeweils Herrsdrenden sind aberdie Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in denSieger kommt demnadr den jeweils Herrsdrenden allemal zugut.Damit ist dem historisdren Materialisten genug gesagt. 'Wer

immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marsdriertmit ín denr Triumphzug, der die heute Herrsdrenden über diedahinfúhrt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie.dasimmer so üblidr u'ar, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeidr-net sie als die Kulturgiiter. Sie werden im historisdren Materia-listen mit einem distanzierten Betradrter zu redrnen haben. Dennwas er an Kulrurgütern überblidrt, das ist ihm samt und son-den von einer Abkunft, die er nidrt ohne Grauen bedenkenkann. Es dankt sein Dasein nidrt nur der Mühe der großenGenien, die es gesdraffen haben, sondern audr der namentosenFron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kul-tur, ohne zugleidr ein soldres der Barbarei zu sein. Und wie es

selbst nidrt frei ist von Barbarei, so ist es audr der Prozeß der()berliefen¡ng nidrt, in der es von dern einen an den anderngefallen ist. Der historisdre Maærialist rü&,t daher nadr Maß-

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Ûber den Begriff der Gesdridrte 6gl

gabe des MöglicJren von ihr ab. Er betradrtet æ als seine Auf-gabe, die Gesdrichæ gegen den Sridr zu bürsten.

VIII

Die Tradition der Unterdrüdtten belehrt uns darüber, daß der

'Ausnahmezustand,, in dem wir leben, die Regel ist. rüfir müs-sen zu einem Begriff der Gesclichte kommen, der dem ent-spricJrt. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeifühnrngdes wirklidren Ausnahmezustands vor Augen stehen; und da-durch wird unsere Position im Kampf gegen den Fasdrismus sich

verbessern. Dessen Chance besteht nidrt zvletzt darin, daß dieGegner ihm irn Narnen des Fortschritw als einer historisdrenNorm begegnen.. - Das Staunen darüber, daß die Dinge, diewir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert 'nodr< möglidr sind,ist þein philosophisches. Es steht nicht em Anfang einer Er-lcenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Gesdrichte,aus der es stammt, nidrt zu halten ist.

IX

Mein Flügel ist zum Sdrwung bereitidt leebrte gern zrrü&denn blieb'idr audr lebendige Zeitidr hätte wenig Glü&.

Gethard Sdtolem, Gn$ oom

Angelrs

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engelist darauf dargestellt, der aussiehq als wäre er im Begriff, sidrvon etwas zu entfernen, worâuf er starrt. Seine Augen sind auËgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausge-spannt. Der Engel der Gesdrichte muß so aussehen. Er hat das

Antlitz der Vergangenheit zugewendet. 'Wo eine Kewe von Be-gebenheiten vor uns ersûteint, da sieht er eine einzige Katastro-phe, die unablässig Trtimmer auf Trtimmer häuft und sie ihmvor die Füße sdrlzudert. Er mödrte wohl verweilen, die Totenwe&en und das Zersdrlagene zusammenfiigen. Aber ein Sn¡rm

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698 über den Begriff der Gesdridrte

weht vom Paradiese her, der sicl in seinen Flügeln verfangenhat und so stark ist, daß der Engel sie nidrt mehr sdrließenkann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, derer den Rü&en kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihmzum Himmel wädrst. Das, was wir den Fortsdrritt nennen, istdieser Srurm.

x

Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Medita-tion anwies, hatten die Aufgabe, sie der \üflelt und ihrem Trei-ben abhold zu madren. Der Gedankengang, den wir hier ver-folgen, ist aus einer ähnliúen Bestimmung hervorgegangen. Erbeabsidrtigt in einem Augenblidr, da die Politiker, auf die dieGegner des Fasdrismus gehofft hanen, am Boden liegen und ihreNiederlage rnit dem Verrat an der eigenen Sadre bekräftigen,das politiscle Tl¡eltkind aus den Netzen zu lösen, mit denen siees umgarnt hatten. Die Betradltung geht davon aus, daß dersrure Fortsdrrittsglaube dieser Politiker, ihr Vertrauen in ihrerMassenbasis. und sdrließlidr ihre servile Einordnung in einenunkonuollierbaren Apparat drei Seiten derselben Sache gewesensind. Sie sudrt einen Begriff davon zu geben, wie teaer unsergewohntes Denken eine Vorstellung von Geschidrte zu stehenkornmtr, die jede Komplizisit mit der vermeidet, an der diesePolitiker weiter festhalten.

XI

Der Konformismus, der von Anfeng en in der Sozialdemokratieheimisdr gewesen ist, haftet nidrt nur an ihrer politisdren Talc-tik, sondern audr an ihren ökonomisdren Vorstellungen. Er isteine Ursadre des späteren Zusammenbn¡drs. Es gibr nidrts, wasdie deutsdre Arbeitersdraft in dem Grade kornrrnpiert hat wiedie Meinrtrg, s¡e sdrwimme mit dem Strom. Die tedrnisdre Ent-widdung galt ihr als das Gefa[e des Srromes, mir dem sie zusdlwimmen rneinte. Von da war es nur ein Sdrritt zu der I[u-sion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des redrnisdren Forrsdrri¡ts

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über den Begriff der Gesdridrte 6sg

gelegen sei, stelle eine politisdre Leistung dar. Die alte prote-stantisdre 'SØerkmoral feierte in säkularisierter Gestalt bei dendeutsdren Arbeitern ihre Auferstehung. Das Gothaer Programmträgt bereits Spuren dieser Verwirrung an sicl. Es definiert dieArbeit als "die Quelle alles Reichtums und aller Kultur... Böses

ahnend, entgegnete Marx darauf, daß der Mensdr, der keinanderes Eigentum besitze als seine ,{,rbeitskraft, oder Sklaveder andern Mensdren sein muß, die sidr zu Eigentämerl1 . . . ge-madrt habeno. Unbescladet dessen greift die Konfusion weiterum sidr, und bald darauf verkündet Josef Dietzgenl "Arbeitheißt der Heiland der neueren Zeit. . . fn der . . . Verbesserung. . . der Arbeit . . . besteht der Reicihtum, der jerzr vollbringenkann, was bisher kein Erlöser vollbraclf, hat,<< Dieser vulgär-marxistisúre Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sidr beider Frage nidrt lange auf, wie ihr Produkt den Arbeitern selberansdrlägt, solange sie nidrt darüber verfügen können. Er willnur die Fortschritte der Naturbeherrsdrung, nidrt die Rü&-scåritte der Gesellsúraft wahr haben. Er weist sc}on die tedrno-lcratisdren Züge auf, die später im Fasdrismus begegnen werden.Zu diesen gehön ein Begriff der Natur, der sidr auf unheilver-kündende Art von dem in den sozialistisdren Utopien des Vor-mà'rz abhebt Die Arbeit, wie sie nunrnehr verstanden wird,Iauft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, r'i'eldre man mitnaiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariaß gegeni,iberstellt. Mit dieser positivistisdren Konzeption vergliclen erweisendie Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung einesFourier gegeben haben, ihren überrasdrend gesunden Sinn. NadrFourier sollte die wohlbesdraffene gesellsdraftlidre Arbeit 'zurFolge haben, daß vier Monde die irdisdre Nadrt erleudrteten,daß das Eis sidr von den Polen zurüdrziehen, daß das Meer-wasser nidrt mehr salzig sdrmedre und die Raubtiere in denDienst des Mensdren träten. Das alles illusrriert eine Arbeit, die,weit endernt die Natur auszubeuten, von den Sdröpfungen siezu entbinden imstande ist, die als möglidre in ihrem Sdroßesdrlummern, Zv dem kornrrnpierten Begriff von Arbeit gehörtals sein Komplement die Natur, weldre, wie Dietzgen sidrausgedni&t hat, "grads da ist".

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XII

\Pir braudren Historie, aber wir braudren sie anders,

als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des

llissens braudrt.Nietzsdte,Vom Nuzen nnd Nachteil der Historie

lür das Leben

Das Subjekt historisc.her Erkenntnis ist die kämpfende, unter-drüdrte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknedr-tete, als die rädrende Klasse auf, die das \ül¡erk der Befreiung imNamen von Generadonen Gesdrlagener zu Ende führt. Dieses

Bewußtsein, das für kurze Zeft im 'Spartacus. noch einmalzur Geltung gekommen ist, war der Sozialdemokrade von jeher

anstößig. Im Lauf von drei Jahrzehnten gelang es ihr, den Na-men eines Blanqui fast auszulösdren, dessen Erzklang das vorige

Jahrhundert ersdrüttert hat. Sie gefiel sidr darin, der Arbeiter-klasse die Rolle einer Erlöserin künfliger Generationen zuztr-spielen. Sie durdrscånitt ihr damit die Sehne der besten Kraft.Die Klasse verlernte in dieser Sc}ule gleiú sehr den Haß wieden Opfen'illen. Denn beide nähren sich an dem Bild dergeknedrteten Vorfahren, nicÏt am Ideal der befreiten Enkel.

XIII

\l¡ird dodr unsere Sadre alle Tage klarer und das Volkalle Tage klüger.

I o se f D ie tz gen, S o z i ald e mo hr ¿ti s dt e P b iio so phie

Die sozialdemokratische Theorie, und nodr mehr die Praxis,wurde von einem Fortsdrrittsbegriff bestimmt, der sich nidrt andie Tflirklidrkeit hielt, sondern einen dogmatisclen Anspruchhatte. Der Fortsdrritt, wie er siù in den Köpfen der Sozial-demokraten malte, war, einrnal, ein Fortsdrritt der Mensc]rheitselbst (nidrt nur ihrer Fertiglreiten und Kenntriisse). Er war,zweitens, ein unabsdrließbarer (einer unendlidren Perfektibili-tät der Mensdrheit entspredrender). Er galt, drittens, als einwesentlidr unaufhalmamer (als ein selbsttätig eine grade oderspiralförmige Bahn durdrlaufender). Jedes dieser Prädikate istkontrovers, und an jedan könnte die Kritik ansetzen. Sie muß

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aber, wenn es hart auf hart kommt, hínter all diese Prädikatezurüd<gehen und sidr auf erwas ridrten, was ihnen gemeinsamist. Die Vorstellung eines Fortsdrritts des Mensdrengesdrledrtsin der Gesdridrte ist von der Vorstellung ihres eine homogeneund leer e Zeft durdrlaufenden Fortgangs nidrt abzulösen. DieKritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlageder Kritik an der Vorstellung des Fortsdrritts überhaupt bil-den.

xrv

Ursprung ist das Ziel.Karl K¡ars,Wor-te inVersen I

Die Gesdridrte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ortniclrt die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit er-füllte bildea So war für Robespierre das andke Rom eine mitJetztzett geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuumder Gesdriclte heraussprengte. Die frenzösisdre Revolutionverstand sidr als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alæRom genau so wie die Mode eine vergangene Tradrt zitiert. DieMode hat die 'Síitterung für des Akruellç, wo immer es sidrim Didridrt des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Ver-gangene. Nur findet er in einer Arena statq in der die herrsdren-de Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freienHimmel der Gesdridrte ist der dialektisdre als den Marx dieRevolution begriffen hat.

xv

Das Bewußtsein, das Kontinuum der Gesdridrte aufzusprengen,ist den revolutionären Klassen im Augenblid< ihrer Aktioneigentümliår. Die Große Revolution fühne einen neuen Kalen-der ein. Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als einhistorisdrer Zeívàffer. Und es ist im Grunde genommen derselbeT^8, der in Gestalt der Feienage, die Tage des Eingedenkenssind, immer wiederkehrt. Die Kale¡rder zählen die Zeit also

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nidrt wie Uhren. Sie sind Monumente eines Gesclidrtsbewußt-seins, von dem es in Europa seit hunden Jahren nidrt mehr dieleisesten Spuren zu geben sdreint. Nodr in der Juli-Revolutionhane sidr ein Zwisdrenfall zugetragen, in dem dieses Bewußt-sein zu seinem Redrt gelangte. AIs der Abend des ersten Kampf-tages gekommen war, ergab es sidr, daß an mehreren Stellen vonParis unabhängig von einander und gleidrzeitig nadr den Turm-uhren gescåossen wurde. Ein Augenzeuge, der seine Divinationvielleidrt dern Reim zu verdanlcen hat, scårieb damals:

Qui le croirait! on dit qu'irrités contre l'heure,De nouveaux Josués, au pied de draque tour,Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.

xvr

Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicåt übergang ist son-dern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist,kann der historisdre Materialist nicht verzidrten. Denn dieserBegriff definien eben die GegenÌrert, in der er für seine PersonGesdridrte sdrreibt. Der Historismus stellt das ,ewige, Bildder Vergangenheit, der historiscle Materialist eine Erfahrungmit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt es andern, bei der Flure,Es war einmal. im Bordell des Historismus sidr auszugeben.Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum derGescliclte au fz uspren gen.

xvlr

Der Historismus gipfelt von rechtswegen in der Universalge-sclidrte. Von ihr hebt die materialistische Gesdrichtsschreibungsidr methodisdr vielleidrt deutlidrer als von jeder andern ab. Dieerstere hat keine theoretisdre Armatur. Ihr Verfahren ist addi-tiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene undleere Zefu auszufiillen. Der materialistisdren Gesdridrtssdrrei-bung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrund e. ZumDenken gehört nidrt nur die Bewegung der Gedanken sondernebenso ihre Sdllstellung. Tlo das Denken in einer von Spannun-

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Uber den Begriff der Gesdriúrte 7o1'

gen gesättigten Konstellation plötzlidr einhält, da eneilt es

derselben einen Chodr, durdr den es sicl als Monade kristalli-siert. Der historisdre Materialist geht an einen gesdricltlidrenGegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monadeentgegentric. In dieser Strukrur erkennt er das Zeidren einermessianisdren Stillstellung des Gesdrehens, anders gesagt, einerrevolutionären Chance im Kampfe für die unterdrüdrte Ver-gangenheit. Er nimmt sie wahrr urr eine bestimmte Epodre ausdem homogenen Verlauf der Gesdric}te 'herauszusprengen; so

sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epodre, so ein bestimm.tes \üüerk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrensbesteht darin, deß im Werk das Lebenswerk, in Lebenswerh dieEpodre und in der Epodre der gesamte Gesdridrtsverlauf aufbe-wahru ist und aufgehoben. Die nahrhafte FrucIt des historisdrBegriffenen hat dte Zei¡ als den kostbaren, aber des Geschmad<sentraEenden Samen in ihrem Innern.

XVIIT

¿Ðie lrümmerlidren fünf Jahrzehntausende des homo sapiens..,sagt ein neuerer Biologe, "stellen im Verhältnis zur Gesdridrtedes organisdren Lebens auf der Erde etve'as wie zwei Sekundenam Sdrluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar, DieGesdriúte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in die-sen Maßstab eingetragen, ein Fünftel der leøten Sekunde derletzten Stunde füllen... Die Jetztzeit, die als Modell der messia-nisdren in einer ungeheueren Abbreviatur die Gesdridrte derg nzen Mensdrheit zusammenfaßt, fällt haarsdrarf mit derFigur zusammen, die die Gesdridrte der Mensúrheit im Univer-sum madrt.

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704 Ûber den Begriff der Gesdridrte

(ANrreNc)

Der Historismus begnügt sidr damit, eiñen Kausalnexus vonversdriedenen Momenten der Gesdridrte zû etablieren- Aberkein Taúestand ist als Ursadre eben darum bereits ein histori-sdrer. Er ward das, posthum, durdr Begebenheiten, die durdr

Jahrtausende von ihm getrennt sein mögen. Der Historiker, derdavon ausgeht, hört auf, sidr die Abfolge von Begebenheitendurdr die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz. Ererfaßt die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einerg nz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einenBegrifi der Gegenwart als der 'Jetztzeit., in weldrer Splitterder messianisclen eingesprengt sind.

Sidrer wurde die Zeit von den l7ahrsagern, die ihr abfragten,was sie in ihrem Sdroße birgt, weder als homogen nodr als leererfahren.

.Wer sidr das vor Augen hält, kommt vielleidrt zu

einem Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene Zet¡ist erfahren worden: nämlidr ebenso. Bekanntlidr war es den

Juden untersagt, der Zukunft nadrzuforsdren. Die Thora unddas Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses ent-zauberte ihnen die Zulçunft, der die verfallen sind, die sidr beiden ïü¡ahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunftaber darum ãodr nidrt zur homogenen und leeren Zeit, Denn inihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durdr die der Messiastreten konnte.

A

B