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Leseprobe Barbara Bleisch Warum wir unseren Eltern nichts schulden Bestellen Sie mit einem Klick für 11,00 € Seiten: 208 Erscheinungstermin: 10. Juni 2019 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

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Page 1: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Leseprobe

Barbara Bleisch

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1100 euro

Seiten 208

Erscheinungstermin 10 Juni 2019

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

wwwpenguinrandomhousede

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Die Philosophin und Moderatorin Barbara Bleisch zeigt wie

Philosophie helfen kann das Verhaumlltnis zwischen Kindern und

Eltern zu klaumlren

Wie oft muss ein erwachsener Sohn seine Mutter besuchen Darf eine

Tochter von den Eltern weg in eine weit entfernte Stadt ziehen Haben

sich Geschwister an der Pflege ihres alten Vaters zu beteiligen Sind

Kinder ihren Eltern uumlberhaupt etwas schuldig

Die Bindung an die Eltern ist die einzige Beziehung die wir uns nicht

aussuchen koumlnnen Klug und zugaumlnglich schildert die Philosophin Barbara

Bleisch diese existentielle und zugleich komplizierte

Verwandtschaftsbeziehung und geht den Fragen auf den Grund die jeden

beschaumlftigen Dieses Buch zeigt wie Philosophie helfen kann das

Verhaumlltnis zwischen Eltern und Kindern zu klaumlren Denn nirgendwo liegen

Erwartung Enttaumluschung und Gluumlck so nahe beieinander wie in der

Familie

Autor

Barbara Bleisch Barbara Bleisch geboren 1973 lebt mit ihrer Familie

in Zuumlrich Sie war bis 2016 uumlber zehn Jahre am

Ethik-Zentrums der Universitaumlt Zuumlrich taumltig und

leitete unter anderem die Advanced Studies in

Applied Ethics in denen sie heute noch als Dozentin

taumltig ist Derzeit ist sie Akademischer Gast am

Collegium Helveticum der Universitaumlt Zuumlrich und der

ETH Zuumlrich Seit 2010 moderiert sie die Sendung

Die Bindung an die Eltern ist die einzige Beziehung die wir uns nicht aussuchen koumlnnen Klug und zugaumlnglich schildert die Philosophin Barbara Bleisch diese existentielle und zugleich

komplizierte Verwandtschaftsbeziehung und geht den Fragen auf den Grund die jeden beschaumlftigen und macht deutlich was

Kinder im Guten wie im Schlechten an ihre Eltern bindet Dabei plaumldiert sie fuumlr eine Aumlnderung der Blickrichtung Wenn wir uns

fragen wozu wir unseren Eltern verpflichtet sind sollten wir nicht zuruumlck in die Kindheit blicken sondern in die Zukunft Denn immerhin wird uns die Bindung zu den eigenen Eltern

unser gesamtes Leben lang begleiten Barbara Bleisch zeigt dass aus diesem Umstand keinerlei Pflichten erwachsen ndash dass es

aber gute Gruumlnde gibt sich um die Beziehung zu unseren Eltern zu bemuumlhen

Barbara Bleisch geboren 1973 lebt mit ihrer Familie in Zuumlrich Sie war bis 2016 uumlber zehn Jahre am Ethik-Zentrum der Universitaumlt Zuumlrich taumltig und leitete unter anderem die Advanced Studies in Applied Ethics in denen sie heute noch als Dozentin

taumltig ist Derzeit ist sie Akademischer Gast am Collegium Helveticum der Universitaumlt Zuumlrich und der ETH Zuumlrich Seit 2010 moderiert sie die Sendung raquoSternstunde Philosophielaquo beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF seit 2013 ist sie

Kolumnistin des raquoPhilosophie Magazinslaquo

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Barbara Bleisch

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

162_71809_Bleisch_002-004indd 3 28032019 080145

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2019

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Copyright copy Carl Hanser Verlag Muumlnchen 2018Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der

Carl Hanser Verlag GmbH amp Co KG MuumlnchenUmschlaggestaltung semper smile Muumlnchen

nach einem Entwurf von Birgit Schweitzer MuumlnchenUmschlagmotiv copy photoeverywhereFotolia

Druck und Einband GGP Media GmbH PoumlszligneckJT middot Herstellung sc

Printed in GermanyISBN 978-3-442-71809-2

wwwbtb-verlagdewwwfacebookcombtbverlag

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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raquoDas houmlchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben es besteht im GeborenwerdenlaquoGILBERT KEITH CHESTERTON

raquoEmanzipieren von lateinisch emancipare eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der vaumlterlichen Gewalt in die Selbststaumlndigkeit entlassenlaquoDER DUDEN 2017

raquoNo man is an islandlaquoJOHN DONNE

Bleisch Warum wir (Bel)indd 5 030118 1048

INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Mehr zum Autor

Zum Buch Die Philosophin und Moderatorin Barbara Bleisch zeigt wie

Philosophie helfen kann das Verhaumlltnis zwischen Kindern und

Eltern zu klaumlren

Wie oft muss ein erwachsener Sohn seine Mutter besuchen Darf eine

Tochter von den Eltern weg in eine weit entfernte Stadt ziehen Haben

sich Geschwister an der Pflege ihres alten Vaters zu beteiligen Sind

Kinder ihren Eltern uumlberhaupt etwas schuldig

Die Bindung an die Eltern ist die einzige Beziehung die wir uns nicht

aussuchen koumlnnen Klug und zugaumlnglich schildert die Philosophin Barbara

Bleisch diese existentielle und zugleich komplizierte

Verwandtschaftsbeziehung und geht den Fragen auf den Grund die jeden

beschaumlftigen Dieses Buch zeigt wie Philosophie helfen kann das

Verhaumlltnis zwischen Eltern und Kindern zu klaumlren Denn nirgendwo liegen

Erwartung Enttaumluschung und Gluumlck so nahe beieinander wie in der

Familie

Autor

Barbara Bleisch Barbara Bleisch geboren 1973 lebt mit ihrer Familie

in Zuumlrich Sie war bis 2016 uumlber zehn Jahre am

Ethik-Zentrums der Universitaumlt Zuumlrich taumltig und

leitete unter anderem die Advanced Studies in

Applied Ethics in denen sie heute noch als Dozentin

taumltig ist Derzeit ist sie Akademischer Gast am

Collegium Helveticum der Universitaumlt Zuumlrich und der

ETH Zuumlrich Seit 2010 moderiert sie die Sendung

Die Bindung an die Eltern ist die einzige Beziehung die wir uns nicht aussuchen koumlnnen Klug und zugaumlnglich schildert die Philosophin Barbara Bleisch diese existentielle und zugleich

komplizierte Verwandtschaftsbeziehung und geht den Fragen auf den Grund die jeden beschaumlftigen und macht deutlich was

Kinder im Guten wie im Schlechten an ihre Eltern bindet Dabei plaumldiert sie fuumlr eine Aumlnderung der Blickrichtung Wenn wir uns

fragen wozu wir unseren Eltern verpflichtet sind sollten wir nicht zuruumlck in die Kindheit blicken sondern in die Zukunft Denn immerhin wird uns die Bindung zu den eigenen Eltern

unser gesamtes Leben lang begleiten Barbara Bleisch zeigt dass aus diesem Umstand keinerlei Pflichten erwachsen ndash dass es

aber gute Gruumlnde gibt sich um die Beziehung zu unseren Eltern zu bemuumlhen

Barbara Bleisch geboren 1973 lebt mit ihrer Familie in Zuumlrich Sie war bis 2016 uumlber zehn Jahre am Ethik-Zentrum der Universitaumlt Zuumlrich taumltig und leitete unter anderem die Advanced Studies in Applied Ethics in denen sie heute noch als Dozentin

taumltig ist Derzeit ist sie Akademischer Gast am Collegium Helveticum der Universitaumlt Zuumlrich und der ETH Zuumlrich Seit 2010 moderiert sie die Sendung raquoSternstunde Philosophielaquo beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF seit 2013 ist sie

Kolumnistin des raquoPhilosophie Magazinslaquo

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Barbara Bleisch

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

162_71809_Bleisch_002-004indd 3 28032019 080145

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2019

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Copyright copy Carl Hanser Verlag Muumlnchen 2018Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der

Carl Hanser Verlag GmbH amp Co KG MuumlnchenUmschlaggestaltung semper smile Muumlnchen

nach einem Entwurf von Birgit Schweitzer MuumlnchenUmschlagmotiv copy photoeverywhereFotolia

Druck und Einband GGP Media GmbH PoumlszligneckJT middot Herstellung sc

Printed in GermanyISBN 978-3-442-71809-2

wwwbtb-verlagdewwwfacebookcombtbverlag

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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raquoDas houmlchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben es besteht im GeborenwerdenlaquoGILBERT KEITH CHESTERTON

raquoEmanzipieren von lateinisch emancipare eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der vaumlterlichen Gewalt in die Selbststaumlndigkeit entlassenlaquoDER DUDEN 2017

raquoNo man is an islandlaquoJOHN DONNE

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INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Page 3: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Die Bindung an die Eltern ist die einzige Beziehung die wir uns nicht aussuchen koumlnnen Klug und zugaumlnglich schildert die Philosophin Barbara Bleisch diese existentielle und zugleich

komplizierte Verwandtschaftsbeziehung und geht den Fragen auf den Grund die jeden beschaumlftigen und macht deutlich was

Kinder im Guten wie im Schlechten an ihre Eltern bindet Dabei plaumldiert sie fuumlr eine Aumlnderung der Blickrichtung Wenn wir uns

fragen wozu wir unseren Eltern verpflichtet sind sollten wir nicht zuruumlck in die Kindheit blicken sondern in die Zukunft Denn immerhin wird uns die Bindung zu den eigenen Eltern

unser gesamtes Leben lang begleiten Barbara Bleisch zeigt dass aus diesem Umstand keinerlei Pflichten erwachsen ndash dass es

aber gute Gruumlnde gibt sich um die Beziehung zu unseren Eltern zu bemuumlhen

Barbara Bleisch geboren 1973 lebt mit ihrer Familie in Zuumlrich Sie war bis 2016 uumlber zehn Jahre am Ethik-Zentrum der Universitaumlt Zuumlrich taumltig und leitete unter anderem die Advanced Studies in Applied Ethics in denen sie heute noch als Dozentin

taumltig ist Derzeit ist sie Akademischer Gast am Collegium Helveticum der Universitaumlt Zuumlrich und der ETH Zuumlrich Seit 2010 moderiert sie die Sendung raquoSternstunde Philosophielaquo beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF seit 2013 ist sie

Kolumnistin des raquoPhilosophie Magazinslaquo

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Barbara Bleisch

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

162_71809_Bleisch_002-004indd 3 28032019 080145

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2019

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Copyright copy Carl Hanser Verlag Muumlnchen 2018Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der

Carl Hanser Verlag GmbH amp Co KG MuumlnchenUmschlaggestaltung semper smile Muumlnchen

nach einem Entwurf von Birgit Schweitzer MuumlnchenUmschlagmotiv copy photoeverywhereFotolia

Druck und Einband GGP Media GmbH PoumlszligneckJT middot Herstellung sc

Printed in GermanyISBN 978-3-442-71809-2

wwwbtb-verlagdewwwfacebookcombtbverlag

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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raquoDas houmlchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben es besteht im GeborenwerdenlaquoGILBERT KEITH CHESTERTON

raquoEmanzipieren von lateinisch emancipare eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der vaumlterlichen Gewalt in die Selbststaumlndigkeit entlassenlaquoDER DUDEN 2017

raquoNo man is an islandlaquoJOHN DONNE

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INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Page 4: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Barbara Bleisch

Warum wir unseren Eltern nichts schulden

162_71809_Bleisch_002-004indd 3 28032019 080145

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2019

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Copyright copy Carl Hanser Verlag Muumlnchen 2018Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der

Carl Hanser Verlag GmbH amp Co KG MuumlnchenUmschlaggestaltung semper smile Muumlnchen

nach einem Entwurf von Birgit Schweitzer MuumlnchenUmschlagmotiv copy photoeverywhereFotolia

Druck und Einband GGP Media GmbH PoumlszligneckJT middot Herstellung sc

Printed in GermanyISBN 978-3-442-71809-2

wwwbtb-verlagdewwwfacebookcombtbverlag

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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raquoDas houmlchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben es besteht im GeborenwerdenlaquoGILBERT KEITH CHESTERTON

raquoEmanzipieren von lateinisch emancipare eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der vaumlterlichen Gewalt in die Selbststaumlndigkeit entlassenlaquoDER DUDEN 2017

raquoNo man is an islandlaquoJOHN DONNE

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INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

Bleisch Warum wir (Bel)indd 7 030118 1048

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Page 5: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2019

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Copyright copy Carl Hanser Verlag Muumlnchen 2018Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der

Carl Hanser Verlag GmbH amp Co KG MuumlnchenUmschlaggestaltung semper smile Muumlnchen

nach einem Entwurf von Birgit Schweitzer MuumlnchenUmschlagmotiv copy photoeverywhereFotolia

Druck und Einband GGP Media GmbH PoumlszligneckJT middot Herstellung sc

Printed in GermanyISBN 978-3-442-71809-2

wwwbtb-verlagdewwwfacebookcombtbverlag

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthaltenso uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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raquoDas houmlchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben es besteht im GeborenwerdenlaquoGILBERT KEITH CHESTERTON

raquoEmanzipieren von lateinisch emancipare eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der vaumlterlichen Gewalt in die Selbststaumlndigkeit entlassenlaquoDER DUDEN 2017

raquoNo man is an islandlaquoJOHN DONNE

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INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Page 6: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

raquoDas houmlchste Abenteuer besteht nicht im Sich-Verlieben es besteht im GeborenwerdenlaquoGILBERT KEITH CHESTERTON

raquoEmanzipieren von lateinisch emancipare eigentlich einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der vaumlterlichen Gewalt in die Selbststaumlndigkeit entlassenlaquoDER DUDEN 2017

raquoNo man is an islandlaquoJOHN DONNE

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INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Page 7: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

INHALT

1 Einleitung 7

2 Schuld 21

3 Dankbarkeit 43

4 Freundschaft 73

5 Verwandtschaft 105

6 Verletzlichkeit 135

7 Das gute Kind 169

Dank 195

Anmerkungen 197

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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1 EINLEITUNG

raquoDie Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heiszligen aber sie kann uns viele Moumlglichkeiten zu bedenken geben die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreienlaquoBERTRAND RUSSELL 1

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Alle haben Familie Und die Beziehung zur eigenen Fami- lie ist gewiss nicht immer leicht Kuumlrzlich erst hat mir

ein Freund erzaumlhlt wie schwierig sein Verhaumlltnis zu seinen Eltern ist Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein von dem ich so etwas houmlre Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor seinem Kind keinen geregelten All-tag zu bieten Vor allem behaupten sie der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter die viel zu oft abwesend sei Die Mutter meines Freundes kann auszligerdem nicht verste-hen warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben muumlssten

Mein Freund ist die staumlndigen Sticheleien leid Er hat schon uumlberlegt einfach laumlnger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten und natuumlrlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr ertraumlgt und die Reiserei in die Stadt seiner El-tern sowieso viel Aufwand ist hat er sich jetzt entschieden nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren Sei-ne Eltern sind tief gekraumlnkt und seine Schwester macht ihm bittere Vorwuumlrfe Immerhin seien das doch seine Eltern und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen Natuumlrlich hat seine Schwester recht Eltern sind etwas Besonderes und er weiszlig ja auch wie wichtig es ihnen ist dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen ndash auch weil sein Vater an einer begin-

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Page 10: Warum wir unseren Eltern nichts schulden

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nenden Demenz leidet und seine Mutter sich fuumlr den groszligen Abend Unterstuumltzung von ihren Kindern erhofft hatte

Das Ganze ist schlicht zermuumlrbend Dabei sollte es doch schoumln sein eine Familie zu haben Mein Freund fragt sich Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwuumlrfe Ist er hart-herzig wenn er erst einmal vor allem an sich denkt Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kuumlmmern

Ich kenne seine Familie gut Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie fuumlr hilfsbereite freundliche Men-schen Sie moumlgen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben was Erziehung und Gleichstellung anbelangt ndash aber boumlsartig erschienen sie mir nie Dennoch finde ich falsch von ihnen dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebens-weise machen Aber andererseits Ist es nicht trotzdem res-pektlos von meinem Freund wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein laumlsst

Solche und aumlhnliche Geschichten gibt es uumlberall Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt manche ar-beiten im Ausland haben zeitintensive Hobbys oder einen groszligen Freundeskreis Die meisten gruumlnden sind sie erst mal erwachsen eigene Familien mit Partnerinnen Partnern und Kindern die von da an ebenfalls ihre Anspruumlche geltend ma-chen Allein schon aus zeitlichen Gruumlnden verlaumluft der Kon-takt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos ndash wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist wie dieses Buch zeigen wird

Und alle fragen sich Was schulde ich meinen Eltern Sollte ich meine Eltern oumlfter besuchen oder wenigstens regelmaumlszligiger anrufen Ist es etwa falsche Ruumlcksichtnahme von mir meinem

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Vater zu verschweigen dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde Oder im Gegenteil das gebotene Maszlig an Houmlflichkeit Muumlssen laumlngst erwachsen ge-wordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren dass sie keine Pflegehilfe moumlchte und sich damit abfinden dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint Muumlssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhoumlren auch wenn sie sie abscheulich finden Duumlrfen sie den Eltern sagen dass sie die Einladung in die Ferien groszligartig finden aber lieber allein in Urlaub fahren moumlchten Duumlrfen Kinder schlieszliglich ein paar Jahre spaumlter die antike Kommode die ih-nen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben auf Ebay versteigern Was schuldet jeder von uns seinen Eltern ndash als deren Tochter als deren Sohn Ist allein schon der Umstand dass wir alle jemandes Kinder sind auch ein Anlass fuumlr eine Verpflichtung diesen Menschen gegenuumlber

Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund Es unter-sucht ob Kinder sich wenn sie erst einmal erwachsen sind speziell um ihre Eltern kuumlmmern muumlssen und zwar allein deshalb weil sie ihre Kinder sind Diese Frage ist zugegebe-nermaszligen unbequem Sie auch nur aufzuwerfen klingt un-dankbar ndash als wuumlrde man sich daruumlber unterhalten ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet und damit be-reits signalisieren dass man mit seinen Diensten nicht zu-frieden war Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die rsaquoDienstelsaquo an ihren Kindern investiert ndash ja ohne ihr Zutun gaumlbe es die Kinder nicht einmal Doch die Frage zu stellen ob wir unseren Eltern uumlberhaupt zu etwas verpflichtet sind muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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Dabei stimmt natuumlrlich dass wir in persoumlnlichen Bezie-hungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen wenn Sand im Getriebe knirscht Frisch Verliebte fragen eher nicht was sie sich schuldig sind sondern lesen sich die Wuumlnsche gegenseitig von den Lippen ab Und auch enge Freundin-nen und Freunde werden sich selten fragen was sie einan-der schulden ndash und tun sie es doch wiederholt ist das meist ein Anzeichen dafuumlr dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind Der deutsche Philosoph Ruumldiger Bitt-ner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehun-gen als raquoStoumlrungsbegriffelaquo bezeichnet Wir nehmen erst Be-zug auf die Sprache der Moral wenn es in Beziehungen nicht rund laumluft ndash beispielsweise wenn wir uns im Stich gelassen fuumlhlen oder uns das Verhalten des Gegenuumlbers irritiert Moumlg-lich dass bereits die Frage was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden auf eine solche Stoumlrung hinweist Doch Be-ziehungen und gerade Familienbeziehungen sind eben nicht ausschlieszliglich Schoumlnwetterveranstaltungen Der Familien-streit gehoumlrt zur Familie ebenso dazu wie das Familiengluumlck Und weil wir alle fruumlher oder spaumlter auch mit den schwieri-gen Seiten von Familien konfrontiert werden koumlnnen lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage wozu Familie moralisch verpflichtet auf jeden Fall

Natuumlrlich ist es auch moumlglich dass man das Verhaumlltnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet ndash sich aber dennoch etwa die Frage stellt ob man sich mehr um sie kuumlmmern sollte ob man sie zu oft fuumlr die Betreuung der En-kel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen muumlsste Die Klaumlrung der Frage ob Familienmitglieder einander etwas schulden muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen Ebenso gut kann sie Ausdruck des red-

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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lichen Bemuumlhens sein fuumlr sich selbst Klarheit daruumlber zu be-kommen was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anstaumlndig leben Und fuumlr sich selbst Gewissheit haben dass sie ihrer Verantwortung nachkom-men und niemanden zu Unrecht uumlbergehen

Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffu-sen Erwartungshaltungen konfrontiert ndash von den Eltern von sich selbst von Dritten Wir denken wir duumlrften uns gewis-se Freiheiten nicht nehmen und sind gleichzeitig verstimmt weil wir die Anspruumlche des Gegenuumlbers als uumlbertrieben emp-finden In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Ge-wissen gern ablegen und Vorwuumlrfe gelassen kontern koumlnnen Sind wir wirklich der liederliche Sohn die unnuumltze Tochter fuumlr die uns andere vielleicht halten Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht wenn wir uns Freiheiten herausneh-men die Mutter und Vater missfallen Die Empoumlrung mit der andere auf unser Verhalten reagieren kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten aumlndern sollten Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine aumlhnliche Funktion Als eine Art raquointernalisierte Empoumlrunglaquo2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen indem es uns signalisiert dass wir eine Grenze zum Unrecht uumlberschritten haben Doch ist ein schlechtes Gewis-sen ndash und ebenso sein Ausbleiben ndash nicht immer die verlaumlss-lichste Partnerin wenn es darum geht abschlieszligend zu be-urteilen ob und wie wir gut und richtig handeln Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt heiszligt das noch nicht dass wir auch tatsaumlchlich etwas falsch machen sondern es bedeutet erst einmal nur dass wir nachfragen und daruumlber nachdenken muumlssen ob die Empoumlrung auch begruumlndet ist

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