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H orcynus Orca von Stefano D’Arrigo ist ein Roman des Meeres, von einer langen und beschwerlichen Heim- kehr auch, und als solcher steht er als gleichwertige Fortschreibung aus der Moderne neben den Klassikern der Meeresliteratur, etwa des Moby Dick; or, e Whale von Herman Melville, aber auch in der Reihe der bedeutenden Ro- manwerke des 20. Jahrhunderts, dem Ulysses und Finnegan’s Wake von James Joyce, der Recherche du temps perdu von Marcel Proust, mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaſten, Hermann Brochs Tod des Vergil u. a. Auf der deutschsprachigen literari- schen Landkarte der großen epischen Werke des 20. Jahrhunderts ist ein neu- er Name hinzuzufügen, eine neue To- pographie auch, beide haben bislang darauf gefehlt. Der Name des Autors: Stefano D’Arrigo. Die Topographie sei- nes Werkes: Kalabrien und Sizilien, die gegeneinander stehenden Meere in der Straße von Messina, das Tyrrhenische und das Ionische Meer, zwischen Skylla und Charybdis. Der Autor Stefano D’Arrigo hat mit seinem Roman Horcynus Orca der Le- serschaſt ein Meisterwerk geschenkt, das wir Ihnen, verehrte Leserin, geehrter Le- ser, mit diesem Bollettino zu Leben und Werk des Autors und zu seinem Roman vorstellen. Was für ein Werk! Was für ein Roman! – Ein Jahrhundertbuch! STEFANO D’ARRIGO und sein HORCYNUS ORCA Horcynus Orca – Bollettino für StefanoD’Arrigo – No. 1 – S.Fischer

Was für ein Werk! Was für ein Roman! – Ein Jahrhundertbuch ... · STEFANO D’ARRIGO und sein HORCYNUS ORCA Horcynus Orca – Bollettino für StefanoD’Arrigo – No. 1 – S.Fischer

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Horcynus Orca von Stefano D’Arrigo ist ein Roman des Meeres, von

einer langen und beschwerlichen Heim-kehr auch, und als solcher steht er als gleichwertige Fortschreibung aus der Moderne neben den Klassikern der Meeresliteratur, etwa des Moby Dick; or, The Whale von Herman Melville, aber auch in der Reihe der bedeutenden Ro-manwerke des 20. Jahrhunderts, dem Ulysses und Finnegan’s Wake von James Joyce, der Recherche du temps perdu von Marcel Proust, mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Hermann Brochs Tod des Vergil u. a.

Auf der deutschsprachigen literari-schen Landkarte der großen epischen

Werke des 20. Jahrhunderts ist ein neu-er Name hinzuzufügen, eine neue To-pographie auch, beide haben bislang darauf gefehlt. Der Name des Autors: Stefano D’Arrigo. Die Topographie sei-nes Werkes: Kalabrien und Sizilien, die gegeneinander stehenden Meere in der Straße von Messina, das Tyrrhenische und das Ionische Meer, zwischen Skylla und Charybdis.

Der Autor Stefano D’Arrigo hat mit seinem Roman Horcynus Orca der Le-serschaft ein Meisterwerk geschenkt, das wir Ihnen, verehrte Leserin, geehrter Le-ser, mit diesem Bollettino zu Leben und Werk des Autors und zu seinem Roman vorstellen.

Was für ein Werk!Was für ein Roman! – Ein Jahrhundertbuch!

STEFANO D’ARRIGO und sein

HORCYNUS ORCA

Horcynus Orca – Bollettino für Stefano D’Arrigo – No. 1 – S.Fischer

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Dass die deutsche Übersetzung die erste ist, in der dieser Roman außerhalb Italiens in einer Übersetzung erscheint, verdankt sich der glücklichen Tatsache, dass der Übersetzer ein leidenschaftli-cher Kenner der italienischen Literatur ist und sich seit über dreißig Jahren mit ebendiesem Werk und seiner an-spruchsvollen Lexik und Sprachartistik befasst hat: Moshe Kahn.

Wir stellen Ihnen im Rahmen dreierBollettinos, bis kurz vor dem Erscheinen des Romans selbst, den Autor vor, das Werk, dessen Genese und Rezeptionsge-

schichte und laden Sie zudem ein, durch kurze Leseproben den Gout des Werks, die Atmosphäre, die Landschaften zwi-schen Skylla und Charybdis und deren Menschen, die Feminotinnen, Strand-vagabunden, Pellisquadre und Kriegs-heimkehrer kennenzulernen.

Die Publikation des Romans im Feb-ruar 2015, vierzig Jahre nach seinem Er-scheinen in Italien, ist ein Buch aus dem S. Fischer Verlag, das ich Ihrer beson-deren Aufmerksamkeit mit Nachdruck empfehle.

Der Herausgeber, Egon Ammann

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Fortunato Stefano D’Arrigo wurde am 15. Oktober 1919 im heutigen

Alì Terme (damals Alì Marina), einer kleinen Küstenstadt in der Provinz Mes-sina, geboren. In Milazzo besuchte er die Grundschule und das altsprachli-che Gymnasium. 1938 begann er seine Studien an der Universität von Messi-na und schloss diese mit einer Arbeit über Friedrich Hölderlin ab. Während der Studienjahre wurde er zum Militär-dienst eingezogen und leistete während des Zweiten Weltkriegs bis zur Landung der Alliierten auf Sizilien als Leutnant seinen Dienst in Palermo. 1946 über-siedelte er nach Rom und arbeitete als Kunstkritiker für verschiedene Zeitun-gen und Zeitschriften. 1948 heiratete er Jutta Bruto, wie er von der Ausbildung her Literaturwissenschaftlerin, die ihm bis zu seinem Tod 1992 zur Seite stand und seine aufmerksame und kritische Gesprächspartnerin gewesen ist. Nicht umsonst widmete er sein unvergleichli-ches Epos seiner Ehefrau, mit den Wor-ten: »Für Jutta, die es verdienen würde, auf der Titelseite zu stehen, mit ihrem Stefano«.

Das Jahr 1950 ist ein Jahr von beson-derer Bedeutung. Mit Freunden unter-nimmt er eine Reise an die Meerenge von Messina, und von dort kündigt er seiner Frau Jutta in einem Brief an, er wolle sich mit einem literarischen Werk von gro-

ßem epischem Atem beschäftigen. Im gleichen Jahr betreut er die Herausgabe eines Ausstellungskatalogs für seinen Malerfreund Giovanni Omiccioli. In der Einleitung zu diesem Katalog findet sich nicht nur eine detailgenaue Darstellung des harten Lebens der Fischer von Scilla, dem antiken Skylla – echten ›Odyssi-den‹ (denn sie sind möglicherweise die Nachkommen der Gefährten des home-rischen Helden, die sich ins Wasser ge-worfen haben, um dem Gesang der Sire-nen zu folgen) –, die dem Schwertfisch unermüdlich nachsetzen und den Hun-ger stillen wie eine »furchterregende Reise der Erkenntnis«, eine Darstellung, die, aus der Nähe betrachtet, die künf-tigen ›Pellisquadre‹ (benannt nach ihrer von Salz und Sonne gehärteten Haut) von Cariddi, dem antiken Charybdis, abbildet, sondern auch den berühmten Pentameter in nuce enthält, mit dem der Horcynus Orca fünfundzwanzig Jahre später abschließt: »begrenztes, doch ver-zweifeltes, weit ausgreifendes tägliches Abenteuer dieser Fischer, die gebeugt und gedankenverloren in einer strengen, nie sich ändernden Bewegung, in einem immer wiederholten Versuch, das Boot hinein, tiefer hinein zu rudern, wo das Meer Meer ist.«

Etwa ab der Mitte der fünfziger Jahre widmet sich D’Arrigo ausschließlich sei-nem literarischen Schaffen. Er veröffent-

Wer warSTEFANO D’ARRIGO ?

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licht einen Lyrik-Band, Codice siciliano [Sizilianischer Kodex], der 1957 im Ver-lag Scheiwiller in Mailand veröffentlicht wird (1978 wird dieser Band um eine Vielzahl von Gedichten erweitert, in der Lyrik-Reihe ›Lo Specchio‹ des Verlags Mondadori, Mailand, neu aufgelegt). Im darauffolgenden Jahr 1958 erhält er für seine Gedichte den Literaturpreis von Crotone. In der Jury sitzen u.a. Giuseppe Ungaretti und Carlo Emilio Gadda. Ne-ben den Gedichten entsteht das schon vor langem konzipierte Werk ›von gro-ßem epischem Atem‹, dem D’Arrigo den Titel »La testa del delfino« [Der Kopf des Delphins] gibt. Er schreibt die 600 Seiten in einem Wurf zwischen 1956 und 1957. Dieses Werk ist die Urfassung des Romans, der später, nach zahllosen Überarbeitungen und Ergänzungen, die sich an die zwanzig Jahre hinziehen, als Horcynus Orca erscheinen wird.

Im Verlauf des Jahres 1958 unterzieht D’Arrigo den Text von La testa del delfino einer ersten Überarbeitung und schickt zwei Episoden von insgesamt 100 Seiten an die Jury des Literaturpreises Cino del Duca. Der Preis wird ihm zugesprochen, und dieses Ereignis verändert D’Arrigos Leben, denn unter den Juroren ist Elio Vittorini, der von diesem work in pro-gress begeistert ist und D’Arrigo bittet, diese Seiten in seiner Literaturzeitschrift Menabò veröffentlichen zu dürfen, die er gemeinsam mit Italo Calvino heraus-gibt; der Verleger Arnoldo Mondadori bietet ihm einen Vertrag für die Veröf-fentlichung des gesamten Manuskripts an und setzt D’Arrigo gleichzeitig ein festes Monatsgehalt für die Dauer der Fertigstellung der Fassung aus. D’Arrigo nimmt beide Angebote an und beginnt

mit der Überarbeitung des bisher Ge-schriebenen. Im folgenden Jahr erschei-nen zwei Kapitel in der dritten Nummer der Zeitschrift Menabò unter dem Titel »I giorni della fera« [Tage der Fere].

Dennoch war D’Arrigo über die Veröffentlichung nicht glücklich: Vit-torini und Calvino wollten dem Text ein Glossar anfügen, das dem mit dem Sizilianischen nicht vertrauten Leser die Bedeutung einer Vielzahl dialek-taler Ausdrücke verdeutlichen sollte. D’Arrigo dagegen war der Meinung, die von ihm in einer ganz bestimmten Wei-se bearbeiteten und eingesetzten Aus-drücke würden sich aus sich selbst und aus dem Zusammenhang erklären, und lehnte es ab, dieses Glossar zu erstellen, denn er wollte nicht als ein Schriftstel-ler angesehen werden, der den Dialekt beliebig und oberflächlich verwendet. Die Episoden sind dann doch mit einem Glossar erschienen. D’Arrigo hat immer vermutet, dass sein Freund, der aus Sizi-lien stammende Maler Renato Guttuso, dieses Glossar für Vittorini und Calvino erarbeitet hat.

Nach dieser Veröffentlichung im Me-nabò erreichen D’Arrigo Angebote der Verlage Einaudi, Garzanti und Feltrinel-li, was für einen nahezu unbekannten Schriftsteller, der seine erste erzähleri-sche Arbeit vorgelegt hatte, ein unglaub-licher Vorgang war. Er überarbeitet das Manuskript noch einmal, das er dem Verlag Mondadori laut Vertrag inner-halb kurzer Zeit in der endgültigen Fas-sung vorlegen soll. Der vorläufige Titel lautet jetzt »I fatti della fera« [Geschich-ten um die Fere], und das ›endgültige‹ Manuskript von 1305 Seiten geht im September 1961 endlich an den Verleger.

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Für Stefano D’Arrigo – in der Gewissheit – es Meisterwerk zu nennen – in Zuneigung – Arnoldo Mondadori – 6. Oktober 1971(Aufgenommen in D’Arrigos Wohnung in Rom, Via dell’Assietta 4)

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Und aus den versprochenen vier-zehn Tagen für die Korrektur der Fah-nen werden annähernd vierzehn Jahre. Die Arbeit ist mühselig und kostet ihn die Gesundheit, die körperliche ganz sicher, aber auch irgendwie die geistige. In einem Brief an seinen Freund Zipel-li gegen Ende des Jahres 1966 schreibt D’Arrigo: »… mein Verstand … viel-leicht wird er nie mehr wieder Verstand sein … ich möchte nur, dass er noch durchhält … gerade so lange, um Ord-nung in die letzten Seiten meines Bu-ches zu bringen und es abzuschließen, abzuschließen …« Noch 1972 schreibt

Alles scheint schnell voranzugehen, denn bald darauf schickt der Verlag D’Arrigo die Fahnen zu, die er, entspre-chend den vertraglichen Vereinbarun-gen, innerhalb eines Monats korrigiert zurücksenden soll. D’Arrigo ist absolut sicher, dass er es schafft, und lehnt die Mithilfe der Verlagslektoren ab. Er ver-spricht, die Fahnen in spätestens zwei Wochen korrigiert zurückzuschicken.

Unterdessen erscheint D’Arrigo in personam 1961 in Pier Paolo Pasolinis Film-Erstling Accatone als Schauspieler in einer kleinen Nebenrolle, derjenigen des Staatsanwalts.

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Italo Calvino am 15. Juni in einem Brief an Anna Scriboni über den »mythi-schen Stefano D’Arrigo, der seit Jahren einen Roman zu Ende bringt, über den man wie von einem italienischen Joyce spricht, und doch kennt man von ihm nur die Seiten, die in Menabò 3 veröf-fentlicht wurden, und seitdem ist er der ›Fall‹, der die italienische Literatur den Atem anhalten lässt.«

Als der Roman endlich 1975 er-scheint, ist die Kritik durchwegs enthu-siastisch. Das Werk steht ganze elf Jahre auf der Liste der fünfzig meistverkauf-ten belletristischen Bücher der Turiner Tageszeitung La Stampa. Gleichwohl fährt D’Arrigo bis zu seinem Tod 1992 mit dem Feinschliff an diesem Werk fort und bringt weitere, wenn auch nur geringfügige Änderungen an. Die kriti-sche Ausgabe von 2003, die Vorlage für die hier vorgelegte Übersetzung, darf als die ›Fassung letzter Hand‹ betrachtet werden.

1985 veröffentlicht D’Arrigo, wieder im Verlag Mondadori, seinen zweiten und letzten Roman, Cima delle nobil-donne [Die höchste der edlen Frauen], ein Werk, das völlig anders ist als sein Vorgänger, nicht nur wegen der leichter zugänglichen Sprache, auch wenn sie ›hoch‹ und mitunter ›fachsprachlich‹ ist, was mit dem Thema zu tun hat, sondern auch wegen seines reduzierten Umfangs von knapp 200 Seiten. Sein Ausgangs-punkt ist die ikonographische Verknüp-fung der Pharaonin Hatschepsut (deren Name ebendas bedeutet: Die höchste der edlen Frauen) mit der Placenta.

D’Arrigo stellt sich Folgendes vor: Eine Gruppe von Medizinern macht bei der Einrichtung eines Museums für die Pla-centa die Entdeckung, dass die geneti-sche Struktur des Menschen Mörderele-mente enthält, zum Beweis dafür, dass der Tod aufs engste mit dem Leben bis in seine letzten und frühesten Veräste-lungen hinein verbunden ist. In diesem Sinn verhält Cima delle nobildonne sich thematisch spiegelbildlich zum Horcy-nus Orca, denn während der große Ro-man Keime des Lebens im Triumph des Todes findet, ist es jetzt der Keim des Todes, den man in der lebenspendenden Placenta findet.

Für die Festspiele im griechisch-römischen Theater von Taormina stellt D’Arrigo 1989 eine Bühnenfassung des Horcynus Orca her, die in der Inszenie-rung von Roberto Guicciardini mit gro-ßem Erfolg vorgestellt wird.

Und noch einmal denkt er, trotz seines bedenklichen Gesundheitszu-standes, an ein neues, großangelegtes literarisches Werk. In dem Brief vom 30. September 1991 an seinen Freund Zipelli schreibt er, er beschäftige sich mit dem Gedanken an »ein Werk, das dem Horcynus Orca gleichkommt und doch verschieden« sei, auch wenn ihm bewusst sei, nicht noch einmal zwanzig Jahre vor sich zu haben, wie er sie für den ersten Roman brauchte, noch auch »jene Vitalität, jene Gesundheit«, die dieser Roman gefordert und für immer in sich aufgenommen habe.Am 2. Mai 1992 stirbt Stefano D’Arrigo im Schlaf in seiner Wohnung in Rom.

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1942 in Deutschland geboren; Emigra-tion mit den Eltern in die Schweiz.

Studium der Altorientalistik, Philo-sophie und Rabbinischen Theologie in Deutschland, Italien und Israel; Promo-tion in Altorientalistik.

Regieassistent an der Deutschen Oper am Rhein, Düsseldorf; Übersiedlung nach Rom; Regieassistent für Oper und Schauspiel, u. a. bei Luchino Visconti, Giuseppe Patroni Griffi, Mauro Bologni-ni, Dimitris Rondiris.

Universitätslektor in Rom und Cata-nia für Hebräisch und Deutsch; Ende der sechziger Jahre Beginn der über-setzerischen Tätigkeit: ausgewählte Ge-dichte von Paul Celan ins Italienische (1976, A. Mondadori, Mailand).

Gründung einer eigenen Dokumen-tar-Filmproduktion in New York und Rom, mit Victor von Hagen – Doku-mentarfilme über literarische, archäo-logische und historische Themen der antiken Welt.

Seit 1987 überwiegend als Übersetzer

MOSHE KAHN

der Übersetzer

von Romanen, Essays, Lyrik und Hör-spielen aus dem Italienischen, Engli-schen/Amerikanischen, Französischen tätig. Autoren: Andrea Camilleri, Luigi Malerba, Primo Levi, P. P. Pasolini, Ro-berto Calasso, Beppe Fenoglio, Dacia Maraini, Marcy Kahan, Israel Horovitz, Paul Steinberg, Martin Page u. a.

Gilt als einer der bedeutendsten Über-setzer, ein Ruf, den er sich als ›Bezwin-ger‹ unübersetzbarer Werke, namentlich aus dem Italienischen, erworben hat. Lebt heute in Berlin.

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Zum Roman

Die Geschichte spielt an fünf Tagen, vom 4. bis zum 8. Oktober 1943.

Die Alliierten sind kurz zuvor auf Sizi-lien gelandet, unaufhaltsam setzen sie sich auf der Insel fest, während letz-te Einheiten der Wehrmacht sich aufs Festland zurückziehen. Die Hauptfigur des Romans ist der Oberbootsmann ’Ndrja (die sizilianische Form für den italienischen Männernamen ›Andrea‹) Cambrìa, der seine Einheit im Hafen von Neapel verlässt, da die italienischen Kriegsschiffe, die dort noch vertäut sind, weder Treibstoff noch Munition oder Kampfaufträge haben, die italienische Kriegsmarine hat aufgehört zu exis-tieren. So macht sich der Seemann ohne Schiff als Deserteur zu Fuß auf den Weg nach Hause, stets südwärts durch das gesamte Kalabrien, um sein Dorf Cariddi (Charybdis) auf der sizi-lianischen Seite der Straße von Messina zu erreichen.

Als er nach vielen abenteuerlichen Begegnungen mit sonderbarsten Men-schen, mit den selbstbewusst starken Feminotinnen aus dem südlichsten Kalabrien, mit Strandvagabunden und heimstrebenden anderen Deserteuren, und überwundenen Prüfungen – es gibt keine italienischen Schiffe mehr, auch die Fischer haben ihre Boote verloren, die auf der Straße von Messina ver-kehren, nur noch alliierte Kriegsschiffe

befahren die See – endlich doch dort ankommt, muss er erkennen, dass der Krieg alle Menschen tiefgreifend verän-dert hat, die er bei seiner Einberufung zurückgelassen hatte, auch seinen Vater und seine engsten Freunde. Es herrscht Resignation, Misstrauen und Trauer, über allem aber kreist die ungewis-se Frage, wie es weitergehen soll, ohne Boote, die für die Fischer lebenswichtig sind, die Arbeit und Brot versprechen.

Urplötzlich erscheint an der Küste von Cariddi eine durch eine schwere Verletzung lädierte Orca, ein urweltli-ches Meeresmonstrum von gigantischen Ausmaßen, das von den Küstenbewoh-nern als morte marina bezeichnet wird. Diese Orca ist für sie gleichbedeutend mit dem Tod, denn wo sie auftaucht und durchkommt, bleibt nichts zurück als Verwüstung. Ein langes Sterben dieses Urtiers beginnt an ihrer Küste, während die Fischer auf dessen Tod warten, um sein Fleisch, das sie vorher nie ihrer Be-achtung wert gefunden haben, verkau-fen zu können. Mit dem Sterben und dem Tod des Tiers wird deutlich, wie sehr die einst stolzen Fischer durch die Kriegswirren verkommen sind.

Die Briten sind selbst in diesen schwierigen Zeiten sportbeseelt, und so wird von ihnen ein Ruderwettkampf auf offenem Meer ausgelobt, bei dem ’Ndrja im Fall eines Sieges eine Geldsumme

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gewinnen und mit der er den Bau eines neuen Fischerboots in Auftrag geben könnte, um damit seine Existenz und die seiner engsten Freunde zu sichern. Er nimmt die Herausforderung an, be-reitet sich auf den Wettbewerb vor, und während einer Übungsfahrt tötet ihn eine verirrte Kugel aus einem Gewehr, das von einem britischen Kreuzer abge-feuert worden ist.

Die Geschichte von ’Ndrjas Rückkehr spielt sich als moderne Gestaltung einer Vielzahl antiker Mythen ab, deren Folie für den mit diesen Mythen Vertrauten im Hintergrund immer wieder durch-scheint.

Namengebend für den Roman ist die

zoologische Bezeichnung des Mör-derwals, der hier als Metapher für den Tod erscheint. Der Roman behandelt in fünfzig zusammenhängenden episoden-haften Erzählungen das uralte homeri-sche Thema der Heimkehr, weshalb man den Horcynus Orca neben dem Ulys-ses von James Joyce auch als eine mo-derne ›Odyssee‹ bezeichnet hat. Doch im Gegensatz zu Homer, der nach der Heimkehr seines Helden die Ordnung wiederhergestellt sieht, ist im Horcynus Orca mit dem Tod des Protagonisten das Ende offen, eine Wiederherstellung der alten Ordnung, was in der Antike mög-lich war, ist in der Moderne nicht mehr erreichbar.

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1. Beginn (Seite 11 und 12)

Die Sonne ging auf seiner Reise vier-mal unter, und am Ende des vierten

Tags, welcher der vierte Oktober neun-zehnhundertdreiundvierzig war, er-reichte der Matrose ’Ndrja Cambrìa, einfacher Oberbootsmann der ehemali-ge Königlichen Marine, den Landstrich der Feminoten an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis.

Es dämmerte zusehends, und ein leichter Wind hauchte vom Meer, dessenGegenströmung eingesetzt hatte, auf dasniedrige Vorgebirge. Den ganzen Tag über hatte das Meer sich zur großen gleichmäßigen Stille weiter geglättet, unter einem Schirokko, der ohne die ge-ringste Veränderung seit dem Aufbruch von Neapel angedauert hatte: aus Ost, aus West und Ost, gestern, heute und morgen, dazu das mattmatte Wogen der grauen, der silbernen oder der ehernenWelle, die sich wiederholte, soweit das Auge reichte.

Erst seit ein paar Stunden hatte die Hitze, wiewohl der Schirokko unverän-dert geblieben war und sogar die Was-serfläche erwärmt hatte, unmerklich begonnen, ihr löwenmähniges Haupt zu schütteln. Das war eben, als die Ge-genströmung wieder eingesetzt hat-te, verschlungen und giftend bei den

ersten sich quälenden Schlangen aus Abwässern und Abfällen, riesigen Mu-ränen ähnlich, die er, mit seinem Ken-nerblick, an der unterschiedlichen Fär-bung ausmachte, wie von bemoostem Stein, eiskalt und schauerlich. Das war mithin, nachdem die Inseln vor seinem Blick hinter dem Kap von Milazzo ver-schwunden waren und Stromboli, Vul-cano und Lipari, die er nun zum ersten Mal aus der Ferne und vom Land aus sah, nachdem er sie immer nur von der Palamitara aus gesehen hatte, wenn er den Golfo dell’Aria hinaufgerudert war, in der Sonne zu dampfen schienen wie Gerippe von Walen, die bei windstiller See erlegt worden waren.

Während er nun zur äußersten Spit-ze des feminotischen Vorgebirgs ging, wechselte der Himmel vor ihm über der Meerenge von purpurner Glut zu teer-durchsprenkeltem Nebeldunst. Als er vor dem Meer stand und man wegen einiger perlmuttener Lichtzuckungen in der Luft noch deutlich sehen konnte, brach die mondlose Nacht unvermit-telt herein, mit jenem jähen und wind-schnellen Wechsel von Licht zu Dunkel, mit dem die Neumondnächte auch im hellsten Sommer herabfallen. Rauchige Wolkenschwaden hatten, als wälzten sie sich von den Höhen des Aspromonte und des Antinnamare herunter, die of-fene Durchfahrt zwischen den beiden

Textbeispiele aus dem Buch

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um zu wenden. Die Piloten aus England. Diese Schwuljungs. Sie nutzten diesen-Augenblick aus. Ihre Bomben versenk-ten sie in den Schornsteinen. Mit eige-ner Hand. Und rauchten eine Zigarette. Sanfte, friedvolle Kaiks. Als Panzerschif-fe betrachtet. Focu, focu. Die schönen Fährboote verdampften in Meeren aus Gischt. Mit Warenzügen und Reisezü-gen. Umgestürzt auf den Gleisen. Mit so viel schöner Ware auf Wagen und in den Waggons. Mit so viel Reichtum in Koffern, an Hälsen. Mit Kleidern, Juwe-len und Geld. Mit kleinen und mit gro-ßen Leuten. Festlandsmenschen. Schutz suchten sie und schlitterten rein. Einige retteten sich, einige nicht. Das Fährboot, nie rettete es sich. Nicht eines nicht ei-nes nicht eines rettete sich. Uns in den Arsch gingen sie, diese Engländer, diese Amerikaner. Sie seiften uns den Arsch ein. Aber wollen wir ihnen die Schuld geben, jetzt? Mussten sie uns erst ins Gesicht schauen? Die schauten nach Ka-nonen aus und nach Maschinengeweh-ren. Kanonen und Maschinengewehre standen sichtbar auf den Fährbooten. Das da kann niemals ein Fährboot sein, mussten sie sich justament sagen. Das ist ein umgebautes Schlachtschiff. Nieder-trächtig, ruchlos jene, die es umrüste-ten zur Schlacht. Pirdeu, pirdeu, mit Kanonen und Maschinengewehren. Die Fähren im Krieg. Allesamt eingesalzen mit unserem Salz. Mit der Aspromon-te. Oh, ihr gewaltig Gehörnten. Mit der Aspromonte, dachten sie, könnten sie Malta erobern. Focu, focu, sie bauten Feuerwehrleitern ein. So klettern sie auf die Felsen von Malta. Was brauchte es schon, Malta einzunehmen? Die As-promonte und Feuerwehrleitern. Jener

Meeresufern in ein einziges schwarzes Gebrodel getaucht und eingeebnet.

Etwas auf Sizilien drüben, das wegen seiner violetten, vom Wasser widerge-spiegelten Färbung wie ein großer Bou-gainvilleastrauch über der Grenzlinie der beiden Meere zu hängen schien, glänzte für den Bruchteil einer Sekun-de mitten aus den Nebelschwaden auf, dann erlosch es, und ihm folgte, ganz kurz nur, ein steinweißer Glanz, und genau in dem Augenblick, als es wieder im Dunst verschwand, erkannte er den korallenen Sporn, der von ihrem Mee-resufer herüberbugte, ziemlich genau in der Mitte, wie um sie aufzuteilen in Tyr-rhenisches Meer hüben und Jonisches Meer drüben.

2. Fast eine Totenklage, über die gesunkenen Fährschiffe (Seite 55 ff.)

»… kostbar, sie …«

Eine Stimme hatte noch nicht aufge-hört, zu sprechen, schon setzte eine

andere ein, das Ohr hatte weder Zeit, sie auseinanderzuhören, noch, die Pausen-pünktchen zwischen der einen und der anderen zu setzen. Eigentlich hätte diese Wehklage eine einzige im Namen und im Sinne aller wie ihre eigene hinaus-rufen können, und dem Wahrnehmen nach wirkte es auch nur wie eine einzige, die sie hinausrief, alleinstimmig:

»Oh, Freundinnen, wie ins Meer sie glitten. Vor diesen unseren Augen. Im-mer, wenns zum Hafen hinausging. Hinternhecks. Sich bugwärts wendend. Pickerkaiks, nicht Schiffe. Mattmußig, geschäftig. Spille und Wille brauchte es,

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lich. Ganz Gewohnheit und Freiheit un-serer Feminotinnen. Auf dem Schwar-zen Meer verlor sich das Konto meiner Regeln. Jawohl, auf diesem Fährschiff, auf der Aspromonte, in einer Ecke der Latrine im Innersten hielt ich ein Krei-destück und markierte meine Fällig-keiten. Ich bewahrte das Konto meiner Tage auf der Fähre Skylla auf: ja, wirk-lich, in der Latrine der Heizer. Ich mar-kierte meine Regeln, bis sie zu Ende gin-gen, stets auf der Reggio. Altes Fährboot und alte Feminotin. Ich dagegen ver-traute mich meines ganz eignen Kalküls wegen lieber dem Fährboot Charybdis an, diesem hocheleganten, diesem verlo-ckenden. Und auch ich, zusammen mit Rosa, verkehrte in der Latrine der ersten und zweiten auf der Charybdello, Risiko oder nicht, entweder versorgte ich mich da oder nirgends. Auch ich, zusammen mit Rosa und Paola, fand mein Gere-geltes und mein Gepflegtes auf dieser blankglänzenden Kleinen. Auf ihr folgte ich meinen Tagen und auf ihr toilettier-te ich mich. Heh, wer erlitt denn keine Qualen um ihr Siluettchen? Waren wir

Küchenkaik, auf dem wirs uns bequem machten. Mit Salz, Orangen, Korneln und Liparoten. Jener schlichte Riesen-kaik löste all ihre Probleme. Mit Feu-erwehrleitern und Feuerwehrleuten. Sie hatten die Lösung gefunden. Sie er-oberten Malta. Sie gewannen den Krieg. Diese Abartigen. Diese Bombenwerfer. Diese Geifernden. Sie verloren Panzer-schiffe, Kreuzer, Zerstörer. So dachten sie uns die Fähren zu nehmen. Sie nah-men unsere Aspromonte aufs Korn. Sie schickten sie dann nicht mehr nach Mal-ta. Viel zu leicht war Malta für sie. Für sie, das mächtige Panzerschiff. Hierher, einen Schritt weit entfernt, schickten sie die gepanzerte Aspromonte? Ach, woher denn, Malta, ach Malta. Schwarzes Meer, Schwarzes Meer. Dort konnte sie wun-derbar sinken. Und dort versank sie. Ein schwarzer Sarg war für die Aspromon-te das Schwarze Meer. Was sollte sie im Schwarzen Meer denn schon laden? Die Hörner etwa, die im Lauf des Krieges verloren gegangen? Focu focu focu. Wo unser Riesengigant hinfuhr, um auf den Grund zu sinken. Dienstbar. Bequem-

Heutige Fähre auf der Straße von Messina, betrieben von der Schifffahrtsgesellschaft ›Caronte‹ (Charon) Ferryboats

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ser Fährfrachter uns übers Meer, übers Meer setzte. Ihn uns aus dem Leben zu reißen. So jugendjung. So schön. Er nahm unsere Monate mit sich. Unsere Fälligkeitsberechnungen. Und wie ver-stand ers, sich zu schmücken auch noch im Sterben. Wie war er geistreich auch noch im Lebewohl. Wie beduftete er sich mit dem letzten Gedanken. Er be-schloss, sich zu reinigen. Vom Rauch der Schornsteine. Vom Schwarzrauch der Züge. Vom Ammoniak der Latrinen. Er löste sich auf in einem großen Geist der Orangen von Paternò und von Lentini. Er hatte nur diesen Güterzug, der drin-nen zusammengefaltet war. Er setzte keine Küstenzugwaggons über, an dem Tag. Die Reisenden nach Rom setzten im Zug nach Villa über. Dort stand der Schnellzug, der war von Reggio gekom-men. Der Charybdello war ein einziger Orangenhain. Dichtdicht verstaut. Diese Güterzüge aus drei Waggons. Aus vier Waggons. Aus fünf Waggons. Aus sechs Waggons. Aus Waggons und Aberwag-gons. Voll mit Tonnen und Abertonnen von Portoghallern, Orangen. Blutoran-gen, Portoghalloni sanguigni, eine um die andere handverlesen. Ähnlich aus-sehende Orangen, nie vorher haben un-sere Augen solche gesehen. Und werden sie nachher nie wieder sehen. Orangen, Portoghaller, bestimmt für Menschen im Norden. So reich, dass sie sich den Luxus eines Baums in Sizilien und der Frucht auf dem Tisch im Norden leis-ten können. Und diese Orangen hat er, der Fährfrachter Charybdello … Als die Bomben ihn zerfetzten und er in die Tiefe sank, was tat er da? Er spielte mit dem Aufsprudeln. Er befleißigte sich am Heck und am Bug. Er sank und stieg

denn nicht alle hier wie Verlobte? Und doch wars eine verdammt unbequeme Minjone. Eine Brücke auf einer Mist-barke. Man saß eng an eng, Ellbogen an Ellbogen auf ihr. Und der Schiffsbauch? Da passte mit aller Knappheit just ein Triebwagen rein. Zwei Stücke Schienen. Just für das kleine Luxuszüglein. Keine Waggons oder Wagen für uns. Keine Trittbretter und keine Aborte, um uns einzuschließen und heimlich an Bord zu gelangen. Wir mussten in Sichtweite derer von der Quästur und von der Fi-nanz sein. Man riskierte den Tagesver-dienst. Man riskierte die Freiheit. Völlig anders als diese Riesen von Aspromonte und Mongibello, ums nur mal zu sa-gen. Vor allem die mächtigen Höhlen, alle wunderbar durchtunnelt. Angefüllt mit dunklen Bauschungen, Verstecken. Doch der Charybdello, der brachte un-ser Blut in Wallung. Seine Fehler, über die gingen wir hinweg. So sind wir ge-macht, wir feminotischen Frauen. Wir vergucken uns in einen Verschwender ohne Sinn und Verstand. In einen mit dem Pfeifen im Mund. Der Nelke hin-term Ohr. Und der schiefsitzenden Schiebermütze. Einen, der Spiegel ver-braucht, um sich das Lippenbärtchen glattzustreichen. Einen Schwerarbeiter im Bett. Macht er aber von der Figur her auch eine gute Figur? Sitzt der Schwung oberhalb der Hüften? Schwingts da? Der ists, den wir suchen. Focu focu. Was sind wir für niedliche Äser. Einer bringt unser Blut in Wallung? Geben wir doch unser Blut für ihn hin. Und das Fährboot Charybdello brachte unser Blut in Wal-lung. Wir nahmen ihn zur Überfahrt. Er verzauberte uns wie Schulmädchen. Es herrschte Freude allgemein, wenn die-

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wieder hoch. Er leerte die Waggons, und die Portoghaller schwammen oben. Was für ein Anblick war das! Oh, Cha-rybdello, wenns eine Gerechtigkeit gäbe, hättest du Augen haben müssen, ums zu sehen. In all der Zerstörung des Krie-ges. Du hast unsere Augen erfreut mit dem Anblick eines orangenen Meeres. Unter so viel Gestank von Tieren und Christenmenschen, der uns den Magen umstülpte. Du hast die Luft über der ge-samten Straße von Sizilien mit Düften erfüllt. Atmete man sie, kräuselte sich die Nase. Sie gab uns Erquickung. Über Tage und Nächte blieb das Meer verpor-toghallt. Ein grünliches Meer unten, ein in Gold getauchtes oben. Ein Meer von Orangenhainen. Und die Orangen wur-den von der Strömung hier und auch da zerfleddert. Sie überschwemmten jonische Strände und Küsten, und auch tyrrhenische. Die niederen Leute taten sich gütlich, statt der oberen. Das hung-rige Kleinvolk im Elend. Nicht wissend, woher sie kamen. Sie nahmen sie in die Hand. Sie betrachteten sie. Sie glaubten nicht an ihre Echtheit. Und als sie dann in die Schale bissen. Und diese bitter schmeckte nach Salz. Da sagten sie: Gott sandte uns dieses bittere Manna. Einen

Gott nannten sie den Charybdello. Und war er denn keiner? Verdiente ers nicht? Er verdiente es, französischer Gott ge-nannt zu werden. Denn wie ein franzö-sischer Gott wurde er schwanzwütig im äußersten Fall. Wider sein Unglück. Wi-der das unsere. Unser Unglück. Unglück der Feminotinnen. Wer war auf dieser letzten Fahrt des Charybdello? Wer hat-te dieses unvergleichliche Glück? Ich war da. Ich hatte das unvergleichliche Glück. Und ich. Und ich. Und ich. Die Leute stiegen schon in die Boote, und wir immer noch da. Einige standen, einige gingen herum. Stumm, stumm. Eingesalzen. Mit der Hand am Mund gingen wir dahin und sahen uns um. Brücke, Treppen, Schiffsbauch, Salonre-staurant, Bar, Küchenequipage, Maschi-nenraum, gar noch die Steuerradkabine. Unsere Blicke kommentarierten. Passt auf, es sinkt auf den Grund. Passt auf, wir verlieren uns. Wie muss unser Herz sein, wenn wirs verlassen? Dann rief je-ner Zweite Offizier aus Paradiso zu uns herüber. Was macht ihr da, ihr wacke-ren Frauen? Wollt ihr mit dem Fähr-boot versinken anstelle des Kapitäns? Er kannte uns von alters her, der Paradisot. Er kannte uns im Innersten nahezu alle.

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… Dann triffst du auf den Horcynus Orca, und alles ist anders, alles löst sich in Wohl-gefallen auf: Es ist ein überschäumendes, ein kraftstrotzendes Buch, grausam, ins Mark treffend, bombastisch; es breitet eine Geste, eine Bewegung über zehn Seiten aus, oft muss es wie etwas Archaisches genau betrachtet und entschlüsselt werden, und doch mag ich es, ich werde nicht müde, es wieder und wieder zu lesen, und jedes Mal ist es neu …

aus: La ricerca delle radici. 1981

Primo Levi zum Horcynus Orca

Stefano D’ArrigoHorcynus Orca

RomanAus dem Italienischen von Moshe Kahn

ca. 1.472 Seiten, LeinenISBN 978-3-10-015337-1

ca. € (D) 58,00 · € (A) 59,70Auch als E-Book erhältlich

Lieferbar ab 19. Februar 2015

S. Fischer VerlagHedderichstraße 114

D-60596 Frankfurt a. M.www.fischerverlage.de