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WAS HEISST HIER EIGENTLICH „AGIL“? KENNZEICHEN AGILER ORGANISATIONEN als Pflichtritual abhandelt, sondern sie ernst nimmt. Allerdings ist eine so generi- sche Sichtweise auch wieder wenig hilf- reich. Zudem sehen wir, unabhängig von den eingesetzten Praktiken, immer wieder Organisationen, die zwar alle Scrum- Praktiken gewissenhaft einhalten, von Selbstorganisation und hoch-performanten Teams aber beliebig weit entfernt sind. Ken Schwaber hat dafür den Begriff ScrumBut geprägt (vgl. [Sch]). Drittens sind die Praktiken auch noch stark abhängig vom Kontext, über den wir sprechen. Für das Entwicklungsteam eines Softwareprodukts kann es eine ziemlich gute Idee sein, geschützte Zeitintervalle ein- zuführen, in denen keine Änderungen von außen kommen. Für ein Wartungsteam, das nebenbei auch noch die Produktion sicher- stellen muss, wäre das eine ausgesprochen dumme Idee. „Warten Sie bitte bis zur nächsten Sprint-Planung“, ist sicher nicht die Aussage, die das Betriebspersonal bei einem Produktionsstillstand hören möchte, wenn pro Tag zweistellige Millionenbeträ- ge verloren gehen. Und wie beantworten wir die Frage, wie denn das Personal- management einer agilen Firma funktio- niert oder das Portfolio-Management? „Scrum“ oder „Kanban“ sind hier sicher unzureichende Antworten. Schließlich stellt sich auch immer wieder die Frage, ob wirklich ein kompletter Großkonzern – vom Pförtner bis zur Küchenhilfe – agilisiert sein muss, damit dieser Agilität erfolgreich nutzen kann. Wir wissen zwar, dass reine agile Entwicklungs- inseln nur einen Bruchteil ihres Potenzials betriebswirtschaftlich realisieren können, aber wo sind die Grenzen? Die An- oder Abwesenheit gewisser Praktiken ist also vielleicht ein Indikator Wann ist eine Organisation eigentlich agil? Zur Beantwortung dieser Frage wurden diverse Tests, Zertifizierungsprogramme und Reifegradmodelle auf den Markt geworfen, deren wirt- schaftlicher Erfolg nicht immer mit ihrer Einschätzung durch Experten korrespondiert. In die- sem Artikel stelle ich ein alternatives Modell vor, das im Rahmen der Arbeitsgruppe „Agile Enterprise Adoption“ der Agile Alliance erarbeitet wurde. Es identifiziert Charakteristika existie- render agiler Organisationen in sechs Bereichen, anstatt Idealforderungen aufzustellen 1 ). mehr zum thema: agilealliance.org 14 15 die einen Continuous Flow anstreben, des- halb weniger agil? Ist nicht die Selbst- organisation des Teams in Scrum wichtiger als die Sprintlänge? Allein mit Diskus- sionen zu diesen Fragen ließen sich Bücher füllen. Die Definition über Praktiken funktio- niert aus mehreren Gründen nicht. Zum einen stellen Praktiken nur eine Moment- aufnahme der derzeitigen Möglichkeiten dar. Waren zur Gründerzeit der agilen Verfahren zwei- bis vierwöchige Iterationen noch die technische Spitze, stellen Firmen wie Flickr oder ebay heute mit Continuous Deployment dutzende neuer Versionen pro Tag in Produktion. Hier Grenzen zu ziehen, ist immer willkürlich und oft veraltet, bevor man sich auf die Grenze geeinigt hat. Zweitens werden dadurch Teile des Prozesses festgelegt. Das erscheint zumin- dest merkwürdig für eine Bewegung, die als ersten Leitsatz hat: „Uns sind Individuen und Interaktionen wichtiger als Prozesse und Werkzeuge“. Zwar investieren agile Teams hohen Aufwand darin, ihren Prozess im Rahmen von Retrospektiven zu pflegen und zu optimieren, aber gerade das bedeu- tet ja auch ständige Änderungen des Pro- zesses: Es ist schwer, ständig zu verbessern, ohne ständig zu verändern. Eine „Reife- prüfung“, die sich an der Einhaltung bestimmter Praktiken orientiert, ist in die- sem Kontext ein Widerspruch in sich und behindert eher den Fortschritt, als ihn zu befördern. Man könnte dieses Dilemma nun auflö- sen, wie Alistair Cockburn das vor einiger Zeit getan hat: „Wenn du regelmäßig aus- lieferst und regelmäßig Retrospektiven machst, bist du agil“, stellte er einmal fest. Dem ist schwer zu widersprechen, zumin- dest wenn man Retrospektiven nicht nur Wer sich mit der Umstellung auf Agilität innerhalb einer Organisation beschäftigt – sei es als Teammitglied, als verantwortliche Führungskraft oder als Coach – steht unweigerlich irgendwann vor der Frage, was eigentlich eine agile Organisation aus- macht. Bekannte Versuche, diese Frage zu beantworten, sind zum Beispiel Jeff Sutherlands „Nokia-Test“ (vgl. [Sut09]), der versucht, den Grad einer Scrum- Einführung anhand von zehn Fragen zu bestimmen, oder verschiedene Versuche, angelehnt an das „Capability Maturity Model“ des Software Engineering Insti- tutes, ein „Agility Maturity Model“ zu eta- blieren. Alle diese Versuche scheiterten aber letztlich, weil sie das falsche Problem zu lösen versuchten. Das falsche Problem Die genannten Ansätze konzentrieren sich auf die An- oder Abwesenheit bestimmter Praktiken. So fragt beispielsweise der Nokia-Test in seiner neuesten Fassung nach der Iterationslänge. Die höchste Punktzahl erhalten Teams, die mit festen Iterationen von vier oder weniger Wochen arbeiten, null Punkte jene Teams, die keine Itera- tionen haben. Nun sind Iterationen bezie- hungsweise Sprints fester Länge ein zentra- les Element von Scrum, aber vier Wochen werden von vielen Teams bereits als extrem lang angesehen – der Stand der Kunst liegt mittlerweile eher bei ein bis zwei Wochen. Sind Teams, die mit Kanban arbeiten und schwerpunkt Jens Coldewey ([email protected]) ist Münchner Geschäftsführer der it-agile GmbH und beschäftigt sich seit 1998 mit agilen Verfahren. Er arbeitet an dem Agile Enterprise Adoption Program der Agile Alliance mit, in deren Vorstand er 2003 vertreten war. der autor 1 ) Das hier beschriebene Modell ist im Rahmen des Workshops „Catalyzing Change in Complex Systems through Agile Adoption“ entstanden, der Teil des „Agile Enterprise Adoption Programs“ der Agile Alliance ist. Das Modell habe ich gemeinsam mit Ray Arell, Isreal Gat und Jørgen Hesselberg entwickelt. Das Programm steht unter der Leitung von Diana Larson, Esther Derby und Michael Hammam.

WAS HEISST HIER EIGENTLICH „AGIL“? …...Wir wissen zwar, dass reine agile Entwick lungs - inseln nur einen Bruchteil ihres Potenzials betriebswirtschaftlich realisieren können,

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WAS HEISST HIER

EIGENTLICH „AGIL“?

KENNZEICHEN AGILER

ORGANISATIONEN

als Pflichtritual abhandelt, sondern sieernst nimmt. Allerdings ist eine so generi-sche Sichtweise auch wieder wenig hilf-reich. Zudem sehen wir, unabhängig vonden eingesetzten Praktiken, immer wiederOrganisationen, die zwar alle Scrum-Praktiken gewissenhaft einhalten, vonSelbstorganisation und hoch-performantenTeams aber beliebig weit entfernt sind. KenSchwaber hat dafür den Begriff ScrumButgeprägt (vgl. [Sch]).

Drittens sind die Praktiken auch nochstark abhängig vom Kontext, über den wirsprechen. Für das Entwicklungsteam einesSoftwareprodukts kann es eine ziemlichgute Idee sein, geschützte Zeitintervalle ein-zuführen, in denen keine Änderungen vonaußen kommen. Für ein Wartungsteam, dasnebenbei auch noch die Produktion sicher-stellen muss, wäre das eine ausgesprochendumme Idee. „Warten Sie bitte bis zurnächsten Sprint-Planung“, ist sicher nichtdie Aussage, die das Betriebspersonal beieinem Produktionsstillstand hören möchte,wenn pro Tag zweistellige Millionenbe trä -ge verloren gehen. Und wie beantwortenwir die Frage, wie denn das Personal -management einer agilen Firma funktio-niert oder das Portfolio-Management?„Scrum“ oder „Kanban“ sind hier sicherunzureichende Antworten.

Schließlich stellt sich auch immer wiederdie Frage, ob wirklich ein kompletterGroßkonzern – vom Pförtner bis zurKüchenhilfe – agilisiert sein muss, damitdieser Agilität erfolgreich nutzen kann. Wirwissen zwar, dass reine agile Entwick lungs -inseln nur einen Bruchteil ihres Potenzialsbetriebswirtschaftlich realisieren können,aber wo sind die Grenzen?

Die An- oder Abwesenheit gewisserPraktiken ist also vielleicht ein Indikator

Wann ist eine Organisation eigentlich agil? Zur Beantwortung dieser Frage wurden diverseTests, Zertifizierungsprogramme und Reifegradmodelle auf den Markt geworfen, deren wirt-schaftlicher Erfolg nicht immer mit ihrer Einschätzung durch Experten korrespondiert. In die-sem Artikel stelle ich ein alternatives Modell vor, das im Rahmen der Arbeitsgruppe „AgileEnterprise Adoption“ der Agile Alliance erarbeitet wurde. Es identifiziert Charakteristika existie-render agiler Organisationen in sechs Bereichen, anstatt Idealforderungen aufzustellen1).

m e h r z u m t h e m a :agilealliance.org

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die einen Continuous Flow anstreben, des-halb weniger agil? Ist nicht die Selbst -organi sation des Teams in Scrum wichtigerals die Sprintlänge? Allein mit Diskus -sionen zu diesen Fragen ließen sich Bücherfüllen.

Die Definition über Praktiken funktio-niert aus mehreren Gründen nicht. Zumeinen stellen Praktiken nur eine Moment -aufnahme der derzeitigen Möglichkeitendar. Waren zur Gründerzeit der agilenVerfahren zwei- bis vierwöchige Iterationennoch die technische Spitze, stellen Firmenwie Flickr oder ebay heute mit ContinuousDeployment dutzende neuer Versionen proTag in Produktion. Hier Grenzen zu ziehen,ist immer willkürlich und oft veraltet,bevor man sich auf die Grenze geeinigt hat.Zweitens werden dadurch Teile desProzesses festgelegt. Das erscheint zumin-dest merkwürdig für eine Bewegung, die alsersten Leitsatz hat: „Uns sind Individuenund Interaktionen wichtiger als Prozesseund Werkzeuge“. Zwar investieren agileTeams hohen Aufwand darin, ihren Prozessim Rahmen von Retrospektiven zu pflegenund zu optimieren, aber gerade das bedeu-tet ja auch ständige Änderungen des Pro -zesses: Es ist schwer, ständig zu verbessern,ohne ständig zu verändern. Eine „Reife -prüfung“, die sich an der Einhaltungbestimmter Praktiken orientiert, ist in die-sem Kontext ein Widerspruch in sich undbehindert eher den Fortschritt, als ihn zubefördern.

Man könnte dieses Dilemma nun auflö-sen, wie Alistair Cockburn das vor einigerZeit getan hat: „Wenn du regelmäßig aus-lieferst und regelmäßig Retrospektivenmachst, bist du agil“, stellte er einmal fest.Dem ist schwer zu widersprechen, zumin-dest wenn man Retrospektiven nicht nur

Wer sich mit der Umstellung auf Agilitätinnerhalb einer Organisation beschäftigt –sei es als Teammitglied, als verantwortlicheFührungskraft oder als Coach – stehtunweigerlich irgendwann vor der Frage,was eigentlich eine agile Organisation aus-macht. Bekannte Versuche, diese Frage zubeantworten, sind zum Beispiel JeffSutherlands „Nokia-Test“ (vgl. [Sut09]),der versucht, den Grad einer Scrum-Einführung anhand von zehn Fragen zubestimmen, oder verschiedene Versuche,angelehnt an das „Capability MaturityModel“ des Software Engineering Insti -tutes, ein „Agility Maturity Model“ zu eta-blieren. Alle diese Versuche scheiterten aberletztlich, weil sie das falsche Problem zulösen versuchten.

Das falsche ProblemDie genannten Ansätze konzentrieren sichauf die An- oder Abwesenheit bestimmterPraktiken. So fragt beispielsweise derNokia-Test in seiner neuesten Fassung nachder Iterationslänge. Die höchste Punktzahlerhalten Teams, die mit festen Iterationenvon vier oder weniger Wochen arbeiten,null Punkte jene Teams, die keine Itera -tionen haben. Nun sind Iterationen bezie-hungsweise Sprints fester Länge ein zentra-les Element von Scrum, aber vier Wochenwerden von vielen Teams bereits als extremlang angesehen – der Stand der Kunst liegtmittlerweile eher bei ein bis zwei Wochen.Sind Teams, die mit Kanban arbeiten und

schwerpunk t

Jens Coldewey

([email protected])

ist Münchner Geschäftsführer der it-agile GmbH

und beschäftigt sich seit 1998 mit agilen

Verfahren. Er arbeitet an dem Agile Enterprise

Adoption Program der Agile Alliance mit, in deren

Vorstand er 2003 vertreten war.

der au tor

1) Das hier beschriebene Modell ist im Rahmen desWorkshops „Catalyzing Change in Complex Systemsthrough Agile Adoption“ entstanden, der Teil des„Agile Enterprise Adoption Programs“ der AgileAlliance ist. Das Modell habe ich gemeinsam mit RayArell, Isreal Gat und Jørgen Hesselberg entwickelt.Das Programm steht unter der Leitung von DianaLarson, Esther Derby und Michael Hammam.

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dafür, ob man eine bestimmte agileMethode wie Scrum oder Kanban einhält,aber kein brauchbares Kriterium, um fest-zustellen, was eigentlich eine agile Organi -sation ist.

Ein ganz anderer AnsatzDieser Problematik waren wir uns bewusst,als wir uns im Dezember letzten Jahres aufEinladung von Diana Larsen, Esther Derbyund Michael Hammam in Dallas zu einemWorkshop über „Agile Enterprise Adop -tion“, also über die Agilisierung ganzerUnternehmen, trafen. „Wir“, das war eineGruppe von 15 Managerinnen und Bera -tern, die von der Agile Alliance im Rahmendes „Supporting Enterprise Adoption“Programms mit dem Ziel eingeladen wor-den waren, neue Erkenntnisse zu agilenOrganisationen zu generieren (vgl. [Agi]).

Um die Probleme zu vermeiden, versuch-ten wir einen ganz anderen Ansatz, der eheraus der Pattern-Literatur bekannt ist – frei-lich ohne den Anspruch zu haben, darausPatterns zu isolieren: Wir trugen Infor -mationen über alle möglichen Organisatio -nen und Organisationsein heiten zusam-men, die unserer Ansicht nach „irgendwieagil“ waren, und versuchten, Gemeinsam -keiten zwischen diesen Orga nisationen zufinden. Nachdem die Organi satoren einensehr breiten Mix von Managern undBeratern eingeladen hatten, bekamen wirinnerhalb kürzester Zeit mehrere DutzendBeispiele zusammen, über die zumindest

einer im Kreis auch über interneInformationen verfügte. Das reichte vonglobalen Großorganisationen, wie Nokia,Intel, Telekom, Allianz oder SAP, über eineVielzahl mittelgroßer Unternehmen in denUSA und Europa, bis hin zu völlig innova-tiv aufgestellten kleinen Unternehmen, wiedem Netzwerk Cutter, einer kalifornischenWindenergie-Beratung, oder der Firma it-agile in Deutschland.

So unterschiedlich die Unternehmen inGröße, Kultur, Branche und „Agilisierungs -grad“ waren, so konnten wir doch schonbald einige klare Muster erkennen, die wirschließlich in einer kleineren Gruppe zueinem Modell der „Charakteristika agilerOrganisationen“ verdichteten (siehe Abbil -dung 1). Dieses Modell identifiziert sechsManagementbereiche, die in uns bekanntenagilen Organisationen anders funktionie-ren als in traditionellen Organisationen –fünf Säulen und ein Fundament:

■ Offene Kommunikation: Damit agileAnsätze und Selbstorganisation funk-tionieren, muss eine angemessene Kom -munikationsstruktur etabliert sein, dieneben Informationen über das operati-ve Geschäft auch unerwartete und gele-gentlich mal schmerzliche Infor matio -nen transportieren kann. Bei größerenOrganisationen hat das auch etwas mitTechnik zu tun, in viel größerem Aus -maß ist das aber eine Frage derKommunikationskultur.

■ Lernen durch Experimente: Agile Or -ganisationen lernen nicht durch großangelegte Veränderungsinitiativen, diemit langen Analyse- und Planungs -phasen einhergehen, sondern indem sieeine Umgebung schaffen, in der inbegrenzten Experimenten Erfahrungengemacht, ausgewertet und dann ver-breitet werden. Das umfasst eineAbkehr vom Ideal einheitlicher Pro -zesse und benötigt auch eine positiveEinstellung zum Scheitern – ein radika-ler Wandel für viele Firmenkulturen.

■ Handwerkliches Können: Auf allenEbenen einer agilen Organisation sindsich die Beteiligten über den Wert hand-werklichen Könnens im Klaren. Dasbetrifft die eigenen Fähigkeiten, aberauch den gegenseitigen Respekt vor denFähigkeiten von Personen mit anderenAufgabenfeldern. Dies bedingt zumeinen eine klare Abkehr von tayloristi-schen Ansätzen, bei denen „oben ge -dacht und unten gemacht“ wird (soNiels Pfläging in seinem Vortrag aufdem „Future Leadership Camp“ 2012).Zudem führt es zu einer Kultur deslebenslangen Lernens und hoherWertschätzung für Aus- und Fortbil -dung.

■ Katalytische Führung: In agilen Orga -nisationen besteht Führung nicht mehraus Arbeitsanweisungen und Ausfüh -rungskontrolle, da dies normalerweise inSelbstorganisation geschieht. Statt dessenkonzentriert sich das Führungs personaldarauf, die Bedingungen für zielführen-de Selbstorganisation sicherzustellenund die Organisation als Ganzes voran-zubringen. Dies unterscheidet sich fun-damental vom klassischen Bild desManagers als „Master of BusinessAdministration“, geht aber weiter als die„dienende Führung“, die zum Beispielvon Scrum propagiert wird.

■ Langfristiges, ergebnisorientiertes Con -trolling: Um eine agile Organisationbetriebswirtschaftlich zu führen, eignensich budgetorientierte Controlling-Ansätze wenig, die primär den Ist-Zustand gegen zuvor verabschiedetePläne verfolgen und kurzfristige Kenn -zahlen im Fokus haben. Hier werdenergebnisorientierte Ansätze benötigt,die auf langfristige Gewinne ausgelegtsind und auch kurz- wie mittelfristigeDurststrecken aushalten können –wenn sie denn kontrolliert eingegangenwerden.

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Abb. 1: Agile Organisationen ruhen auf einem Fundament aus systemischem Denkenund fünf Säulen.

muster dieses Weltbildes. In ihm gibt es kla-re Ursache-Wirkungs-Folgen. Aufgabe desManagements in diesem Weltbild ist dieSteuerung des Unternehmens durch dieVeränderung von Vorgaben und dieKontrolle ihrer Einhaltung.

Diesem Weltbild wird spätestens seit denfrühen 90er Jahren ein Bild von derOrganisation als komplexem adaptivenSystem im Sinne der Komplexitäts -forschung entgegengesetzt. Dabei geht mandavon aus, dass sich das Verhalten derOrganisation aus vielfältigen und zykli-schen Ursache-Wirkungs-Ketten ergibt unddamit die Wirkung einzelner Maßnahmennicht mehr vorhersehbar ist. Man sprichtvon „selbstorganisierten Systemen“.

Man kann auch selbstorganisierte Sys -teme durch entsprechend enge Vorgabenund Kontrollen in ein vorhersehbaresKorsett pressen, wie es zum Beispiel bei derFließband-Produktion geschah. Das führtzu wiederholbaren Prozessen, doch sindsolche Organisationen schwerfällig gegenÄnderungen und anfällig gegen Störungen.Insbesondere sind sie ganz schlecht fürinnovatives Arbeiten in unbekannten Kon -texten geeignet, wie sie die Entwicklungvon Softwaresystemen praktisch immerdarstellt.

Das systemische Management konzen-triert sich nicht auf Vorgaben und Kon -trollen, sondern schafft und sichert den

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digen Markt produkt, inklusive der dazunotwendigen Unterstüt zungsorganisation.Selbst wenn sie nur eine kleine Nische imGe samtportfolio füllten, konnten sich sol-che Organisationseinheiten langfristig agiletablieren. Im Gegensatz dazu scheitertenselbst exzellente Teams, wenn es ihnennicht gelang, diese Wert schöpfungskettekomplett umzustellen (vgl. [Col11]).Chryslers CCC-Projekt (vgl. [Wik]), dieKeimzelle von XP (eXtreme Programming),ist nur ein Beispiel dafür.

Eine agile Organisation in unserem Sinnemuss also breit genug aufgestellt sein, umeine komplette Wertschöpfungskette abzu-bilden. Wenn dann die Schnittstellen in dieRestorganisation hinreichend funktionsfä-hig sind, kann sie durchaus erfolgreich agilam Markt agieren.

Systemisches DenkenSpätestens seit in der industriellen Revo -lution das „wissenschaftliche Manage -ment“ ersonnen wurde, herrscht in vielenOrganisationen ein mechanistisches Welt -bild vor: „Wenn ich die 20 % schlechtestenMitarbeiter loswerde, erhöht sich diedurch schnittliche Performance meinerMannschaft erheblich“ oder „Wenn ich dasSystem in Indien zu einem 70 % niedrigerenTagessatz entwickeln lassen kann, spare ich60 % der Kosten“, sind typische Denk -

Diese tragenden Säulen ruhen auf demgemeinsamen Fundament systemischenDenkens im Sinne der Komplexitäts -theorie. Agile Organisationen werden nichtwie lineare Maschinen geführt, bei denensich durch Drehen an einer Kennzahl eineandere vorhersehbar optimieren lässt. Siewerden als komplexe, adaptive Systemebegriffen, die ein Eigenleben führen. Manversteht, dass nicht-triviale Organisationenzwar beeinflussbar sind, nicht aber vorher-sehbar gesteuert werden können.

Es ist übrigens nicht notwendig, alle die-se Säulen in voller Schönheit umzusetzen.Gerade in großen Organisationen sind anvielen Punkten Kompromisse notwendig.Und auch kleine, selbstbestimmte Unter -nehmen, die diese Ideen konsequent verfol-gen, finden sich bald in nicht immer unge-fährlichem betriebswirtschaftlichem undorganisatorischem Neuland. Agilität ist indiesem Modell kein Ziel, das man imRahmen eines Zwei-Jahres-Projekts ab -hakt, um sich dann der nächsten Heraus -forderung zuzuwenden, sondern ein Weg(im Englischen haben wir den Begriff Questverwendet), auf den man sich begibt, ohnejemals anzukommen. Wichtig für eine agileOrganisation ist es unseres Erachtens nicht,wie weit man auf diesem Weg vorange-kommen ist, sondern dass ihn alle Betei -ligten verstanden haben und ihn verfolgen.

Was heißt hier„Organisation“?Bevor ich auf die einzelnen Säulen genauereingehe, muss ich das Konzept der „Or -ganisation“ noch erläutern, von dem wirausgegangen sind. Im Fall eines weltweit ander Börse gehandelten Groß konzernsmacht es offensichtlich wenig Sinn, einedurchgehende Veränderung von Führungs-und Controlling-Praxis zu fordern. Um -gekehrt wäre es aber auch zu kurz gesprun-gen, solchen Unternehmen die grundsätzli-che Fähigkeit zu agilem Arbei tenab zu sprechen.

Erfolgreiche agile Initiativen in den vonuns betrachteten Unternehmen haben sichoft auch nicht die Umstellung der gesamtenFirma zum Ziel gesetzt, sind aber dochdeutlich über die Scrum-Einführung in einoder zwei Entwick lungsteams hinausgekommen. Damit sie betriebswirtschaft-lich erfolgreich agieren konnten, musstensie zumindest eine vollständige Wertschöp -fungskette agilisiert haben, also die Kettevon Marktbe dürf nissen bis hin zum leben-

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Abb. 2: Systemisches Denken: Abwandlung des Landscape-Diagramms aus demHuman Systems Dynamics zum Verständnis von Problemklassen und adäquatenOrganisationsformen. Das Diagramm ähnelt dem vor allem in der Scrum-Communitybekannten Stacey-Diagramm.

Spielraum und die Interaktionsmög -lichkeiten, die für schnelle Reaktionen undinnovatives Arbeiten notwendig sind. StattVorgaben werden Feedback-Schleifen ein-gebaut, die umso besser funktionieren, jeschneller und klarer das Feedback kommt.Veränderungen werden in kleinen Schrittenvorgenommen, ihre Auswirkungen werdenjeweils von allen Beteiligten überprüft.

Die Kernidee agiler Verfahren ist derAuf bau solcher komplexer adaptiverOrganisationen für die Softwareentwick -lung. Um komplexe adaptive Systeme orga-nisationsweit einzusetzen, muss dasManagement über agile Entwicklungsver -fahren hinaus systemisches Denken ver-standen haben und einsetzen können.Mittlerweile haben sich einige Modelle undManagement-Frameworks rund um dieseIdee entwickelt, wie zum Beispiel PeterSenges „Lernende Organisationen“ (vgl.[Sen90]), David Snowdens „CynefinFrame work” (vgl. [Sno07]) oder GlendaEoyangs „Human Systems Dynamics“ (sie-he Abbildung 2 und [Eoy09]). In den vonuns betrachteten Organisationen kam meistmindestens einer dieser Werkzeugsätze zumEinsatz.

Offene KommunikationAgile Organisationen, also Organisationen,die sich mit unbekannten und unerwarte-ten Aufgaben beschäftigen, brauchenKommunikationskanäle, auf denen sichunerwartete Informationen verbreiten kön-nen. Dabei spielt es keine Rolle, ob derSender oder der Empfänger der Infor -mation sie nicht erwartet hat – oder viel-leicht auch beide. In kleinen Organisa -tionen bieten Kaffeeküchen, Kicker- undLounge-Bereiche Gelegenheit für solchenAustausch. Bei größeren oder verteilt arbei-tenden Organisationen haben sich Systemewie Wikis und internes Microblogging eta-bliert (siehe Abbildung 3). Aber auchPraktiken wie physische Taskboards undBurnup-Charts, regelmäßige Open Spaces,„Scrum Cafés“ oder Retrospektiven sindBeispiele für eine offene Kommunikation:Man erfährt Neuigkeiten dort auch dann,wenn Sendern oder Empfängern gar nichtklar ist, dass der andere über dieseInformation gerade verfügt oder diesebenötigen könnte.

Zur offenen Kommunikation zählt abernicht nur das Medium, sondern noch mehreine entsprechende Kommunikations -kultur. Man muss offen über Fehler undProbleme reden können (sogar über die

eigenen!), sonst wird Kommunikation poli-tisch gefiltert und führt letztlich zu einemnicht sinnvollem Verhalten der Organi -sation.

In einem DAX-Konzern begann zumBeispiel die „Agilisierung“ vor knapp zehnJahren mit dem Blog eines oberenManagers: Hier berichtet er nicht nur offenund durchaus kritisch über seine Sicht aufVorgänge im Unternehmen, sondern – einNovum – er erlaubt auch Kommentareohne Kontrolle durch einen Moderator undermöglicht sogar anonyme Kommentare.Als auch noch klar wird, dass kritischeKommentare dort ernst genommen werdenund nicht dazu führen, Schuldige zusuchen, entwickelt sich der Blog schnell zueinem zentralen Austauschmedium – undeiner der Keimzellen, aus denen einigeJahre später die Einführung agiler Prak -tiken entsteht.

Solche offenen Kommunikations platt -formen sind wenig effizient. Es kostet Zeit,sich auszutauschen, das Ziel ist in der Regelnicht klar und oft genug werden sie „ledig-lich“ für sozialen Austausch genutzt.Lineares Denken würde daher zu demSchluss führen, man könne die Organisa -tion effizienter machen, indem man auf sol-che Kanäle verzichtet. Systemisch denkendeManager und Coachs verstehen, dass dieBereitstellung, die Pflege und das Designsolcher Austauschplattformen zentraleInstrumente sind, um Selbstorganisation inder Organisation zu etablieren und zuerhalten.

Lernen durch ExperimenteDurch eine offene Kommunikation entste-hen viele Ideen zur Verbesserung derOrgani sation. Nicht jede dieser Ideen stelltwirklich eine Verbesserung dar. Mancheentpuppen sich eher als Verschlechterung,andere sind schlichtweg nicht durchsetzbar.In traditionellen Organisationen wird häu-fig versucht, die Ideen durch umfangreicheAnalysen zu überprüfen, sodass nur solcheVeränderungen umgesetzt werden, diewirklich eine Verbesserung darstellen. Wasin der Theorie sehr vernünftig klingt, stelltsich in der Praxis allerdings häufig alsunüberwindliche Hürde dar: Der hoheAufwand rechtfertigt sich nur für wahrhaftgroße Veränderungen, deren Erfolg abertrotz umfangreicher Analysen eben nichtsichergestellt werden kann – schließlichsind Organisationen komplexe Systeme,die sich nicht zuverlässig vorhersagen las-sen.

Die von uns betrachteten Organisationenhaben daraus den Schluss gezogen, Verän -derungen anders anzugehen: Bei ihnen lau-fen keine großen „Change-Programme“mehr, sondern eine Vielzahl kleinerExperimente: Statt teurer Analysen wird„einfach“ ausprobiert und verglichen.Experimente können auf allen Ebenenangestoßen werden (siehe Abbildung 4).

Experimente bedeuten zum einen denbewussten Verzicht auf allgemeingültigeProzesse. Unterschiede werden gezieltgefördert, um aus den verschiedenen An -sätzen lernen zu können. Die Adaptions-und Weiterentwicklungsfähigkeit geht hiervor Effizienz. Zum anderen bedeutet dasauch die Option, zu scheitern: Ein Experi -ment muss ergebnisoffen sein, damit es sei-nen Namen verdient. Die von uns betrach-teten Organisationen pflegen einen

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Abb. 3: Offene Kommunikation:Microblogging bei it-agile.

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kons truktiven Umgang mit dem Scheitern,vorausgesetzt, die Beteiligten lernen ausdem Scheitern. Über Experimente wirdoffen kommuniziert, über die erfolgreichenwie über die gescheiterten.

Das Lernen in kleinen Experimentenführt auch zu einer Abkehr von langfristi-gen Zielvorgaben. Es ist nicht sinnvoll, ineiner sich schnell verändernden UmgebungZielvereinbarungen über zwölf Monateabzuschließen. Stattdessen spielen Umsichtund die professionelle Durchführung derExperimente eine wichtigere Rolle in derindividuellen Beurteilung.

Auf umfangreiche Vorab-Analysen zuverzichten, erhöht die Reaktionsfähigkeitder Organisation zwar enorm und gibt ihrauch die Möglichkeit, sehr viel mehr ver-schiedene Ansätze auszuprobieren, dochhat auch das seinen Preis. Man muss sicher-stellen, dass die Vielzahl der Experimentenicht den Bestand der Organisation gefähr-det. Zu viele hoch-riskante Experimenteauf einmal können die Fähigkeiten derOrganisation, ihr Tages geschäft abzuwik-keln, so stark beeinträchtigen, dass derRest des Unternehmens ein eventuellesScheitern nicht mehr abfangen kann. Dievon uns betrachteten Orga nisationen nut-zen daher Mechanismen zur Koordinationder Experimente, wie zum Beispiel Transi -tionsteams oder Koordina tions runden.

Handwerkliches KönnenDer starke Fokus auf Feedback und Selbst -organisation führt in den betrachtetenOrganisationen zu einer Betonung derEigenverantwortung. Um dieser Verant -wortung gerecht zu werden, fördern dieOrganisationen handwerkliches Könnenund damit auch lebenslange Weiter -entwicklung. Man findet dort naheliegen-

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derweise Initiativen zum SoftwareCraftsmenship, aber auch Fachverant -wortliche oder Management sind sich deutlich häufiger als in traditionellenOrgani sationen ihrer persönlichen Weiter -ent wick lungspotenziale bewusst und inves -tieren systematisch in ihr eigenes hand-werkliches Können. Eine Kultur desständigen Feedbacks wird also ergänztdurch eine Kultur des ständigen Lernens.

Um einem verbreiteten Missverständnisvorzubeugen: Die Wertschätzung für hand-werkliches Können steht nicht imGegensatz zu der Bedeutung einer solidenakademischen Ausbildung oder diszipli-nierter ingenieursmäßiger Arbeit. Vielmehrsind beides Grundlagen für die persönlicheWeiterentwicklung.

Katalytische FührungIn seinem Buch „Leadership Agility“ – dastrotz des Titels unabhängig von dem Begriffder Agilität in der Softwareentwicklungentstand – stellt Bill Joiner ein fünfstufigesEntwicklungsmodell für Führungspersön -lich keiten auf (siehe Abbildung 5 und[Joi07]). Während er aufgrund seiner Be o -bach tungen über 80 % der Manager allerHierarchieebenen auf den beiden „heroi-schen“ Leveln „Experte“ und „Macher“verortet, zeigen die Führungspersön lich -keiten in den von uns betrachtetenOrganisationen in der deutlichen Mehrheit„post-heroische“ Führungsstile – dabeihandelt es sich in der Regel um den sogenannten „katalytischen“ Führungsstil,der sich dadurch auszeichnet, dass Führungnicht mehr ausschließlich der formalenHierarchie folgt, sondern sich auch infor-meller Führungsrollen bedient. Zudemkonzentrieren sich katalytische Führungs -persönlichkeiten vor allem darauf, einerOrganisation die notwendigen Grundlagenzu geben, damit sie die Probleme selbstlösen kann. Dieses Konzept ist verwandtmit der aus Scrum bekannten „dienendenFührung“, geht aber deutlich weiter, weilsie nicht nur festlegt, was das Managementnicht zu tun hat, sondern die Verant -wortung des Manage ments auf eine neueEbene hebt. In diesen Organisationen ist eseben nicht mehr Aufgabe des Manage -ments, Vorgaben zu machen und derenEinhaltung zu überprüfen, sondern als

Abb. 4: Lernen durch Experimente: die Lab-Funktionen bei Google Mail. Google hatlange Zeit die Produktfindung über eine Vielzahl von Experimenten vorangetrieben –für den E-Mail-Dienst ist diese Strategie noch immer gut erkennbar.

Abb. 5: Die fünf Level der „Leadership Agility“ nach [Joi07]. Die Prozentzahl gibt dieAnzahl der Manager an, die auf dem jeweiligen Level agieren können.

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„Katalysator“ für die Selbst organi sation zudienen. Dies umfasst coachingähnlicheAufgaben, aber auch Aufbau und Pflegeeiner formalen Organi sation, die Selbst -organisation auch über die Team ebene hin-aus ermöglicht. Syste misches Denken undAnsätze wie „Human Systems Dynamics“(vgl. [Hum10]) helfen, die dafür notwendi-gen Management werkzeuge bereit zu stellen.

Joiner hebt die starke Rolle der Selbst -reflexion hervor, die zu post-heroischenFührungsstilen gehört. In den von unsbetrachteten Organisationen fand sich die-se Fähigkeit zur Selbstreflexion zum einemin der Feedback-Kultur, die Kritik an denformal Vorgesetzten ausdrücklich fördert,und zum anderen auch in institutionalisier-ten Reflexionsrunden, wie Retrospektivenüber Teamgrenzen hinaus.

Langfristiges, ergebnis-orientiertes ControllingGouvernance und Controlling zählen zuden zentralen Funktionen eines Unterneh -mens. Sie stellen sicher, dass die Firma trotzunterschiedlicher Einzelinteressen sowohlwirtschaftlich als auch kulturell nicht aus-einanderfällt. In diesem Bereich stellten wirdie größte Varianz zwischen den betrachte-ten Organisationen fest: Von traditionellenindividuellen Key Performance Indikatoren(KPI) in Großkonzernen bis hin zu verteil-ten partizipativen Ansätzen waren alleVarianten vertreten.

Ob eine gegebene Gouvernance aber alshilfreich oder eher als störend empfundenwird, konnten wir recht deutlich an zweiKriterien festmachen: Langfristigkeit undErgebnisorientierung.

Agile Entwicklung bemüht sich, eineBalance zwischen kurzfristigen Zielen undlangfristig nachhaltiger Wertschöpfung zufinden. Controlling-Strukturen, die dasjeweils nächste Quartal im Auge haben,üben in der Regel einen starken Druck hinzu kurzfristigen Zielen aus, die dann mittechnischen Schulden, hoher Arbeitsbelas -tung und anderen wenig nachhaltigenAnsätzen umgesetzt werden. In solchenStrukturen konnten wir deutlich wenigerSelbstorganisation beobachten als inStrukturen, die langfristige Wertschöpfungin den Vordergrund stellten und zumBeispiel Funktionalität, erworbene Erfah -rung oder technische Schulden als wirt-schaftliche Dimensionen betrachteten, dielangfristig optimiert bzw. minimiert werden.

Mindestens ebenso wichtig für den Erfolgagiler Verfahren ist das Controlling gegen

verwertbare Ergebnisse und nicht gegenzuvor aufgestellte Pläne. Wenn derProjektfortschritt gegen Meilenstein-Plänegeprüft wird und die Einhaltung vonBudgets das zentrale Steuerungsinstrumentist, erzeugen Änderungen unverhältnismäßighohe Aufwände und werden daher vermie-den. Wesentlich günstiger sind stattdessengrobe Ergebnisvorgaben, wie zum Beispiel„bis Jahresende Break-Even erreichen“ oder„innerhalb der nächsten zwei Jahre einbestimmtes Markt segment besetzen“.

Agile Organisationen decken sich damitin einem erstaunlichen Maß mit den Über-legungen der Beyond-Budgeting- bzw.Beta-Kodex-Bewegung, die aus dem Um -feld des Konzern-Controlling stammt (vgl.[Pfl03]), obwohl es bis vor kurzer Zeitwohl keine Berührungspunkte zwischendieser und der agilen Com munity gab.

FazitDas in diesem Artikel vorgestellte Modellgibt Orientierung, woran man agileOrganisationen erkennen kann und welcheBereiche man angehen muss, um eineOrganisation nachhaltig zu agilisieren. ImGegensatz zu bisherigen Ansätzen stützt sichdas Modell nicht auf Praktiken aus einembestimmten Verfahren, sondern legt denFokus auf die Unternehmens- und Manage -mentkultur in Kernbereichen. Dadurcherlaubt es, agile Ideen auch außerhalb derSoftwareentwicklung einzusetzen. DieseVorteile werden durch den Nachteil einergroßen Generalität erkauft. Dennoch stim-

men erste Einsatzversuche beim Coachingagiler Transitionen sehr optimistisch.

Organisationen, die entsprechend diesemModell auf- bzw. umgebaut wurden, zeigenimmer wieder eine gestiegene Kunden- undhöhere Mitarbeiterzufriedenheit. Durch dieschnellere und bessere Zusammenarbeitmit den Kunden wird die Organisation alsflexibler und näher am Markt empfunden.Diese Vorteile erkauft man sich durch einegeringere Effizienz, die aber durch die weithöhere Effektivität wirtschaftlich mehr alsausgeglichen wird – zumindest soweit essich nicht um repetitive Routinetätigkeitenhandelt.

Das Modell ist (noch?) nicht wissen-schaftlich validiert – wie die meistenModelle zu Organisationen. Die an derErstellung beteiligten Berater und Managerhatten allerdings Einblick in eine großeAnzahl von Organisationen inklusive vielerGroßkonzerne aus Europa und den USA.Es stellt also kondensiertes Beratungs-Know-how mit breiter Basis dar. Eine wis-senschaftliche Formulierung und Eva -luierung würden wir gerne unterstützen.

Ich möchte an dieser Stelle noch RayArell, Jørgen Hasselberg und Israel Gat fürdie exzellente Zusammenarbeit bei dergemeinsamen Entwicklung des Modellsdanken. Außerdem geht mein Dank anDiana Larsen und an die Agile Alliancedafür, dass sie diese Arbeit möglichgemacht haben. Und schließlich danke ichden Reviewern für ihre hilfreiche Unter -stützung. ■

schwerpunk t

Literatur & Links

[Agi] Agile Alliance, Supporting Agile Adoption: It's About Change, siehe:

agilealliance.org/programs/supporting-agile-adoption-it-is-about-change

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