70
Was ist soziale Gerechtigkeit? Deutsche Fragen – Ein Symposium des Bundesverbandes deutscher Banken und der Universität Erfurt

Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

  • Upload
    others

  • View
    5

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Was ist soziale Gerechtigkeit?

Deutsche Fragen –

Ein Symposium des Bundesverbandes deutscher Bankenund der Universität Erfurt

Page 2: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Dr. Manfred Weber

Eine schwierige Balance:

Bedar fs- versus Leistungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Prof. Dr. Peter Glotz

Einführung beim Symposium des Bundesverbandes deutscher

Banken und der Universität Er fur t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Dr. Joachim Wanke

Soziale Gerechtigkeit im Spannungsfeld von Freiheit und

Gleichheit – Erwägungen eines Theologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Dr. Bernhard Vogel

Einigkeit und Recht und Freiheit –

Deutschland am Vorabend des 2I. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 32

Prof. Dr. Hans Werner Sinn

Wo bleibt die Arbeit? – Eine wir tschaftspolitische

Bilanz nach acht Jahren deutscher Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Zusammenfassung der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Kurzbiographien der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Teilnehmer des Symposiums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

I n h a l t

Page 3: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Vorwort

Was ist sozial gerecht? Diese anspruchsvolle und gleichfalls aktuelle Frage

stand im Mittelpunkt des Symposiums, das der Bundesverband deutscher

Banken am 31. August 1998 zusammen mit der Universität Erfurt veranstaltete.

Ort und Thema waren mit Bedacht gewählt. Kein anderer als Martin Luther

hat hier – im Augustinerkloster zu Erfurt – vor nicht ganz 500 Jahren über

die Grundlagen einer gerechten Gesellschaft nachgedacht und mit seinen

Gedanken das geistige Leben damals und, mehr noch, bis in unsere heutige

Zeit hinein geprägt. An der Schwelle zum nächsten Jahrhundert stellt sich

für das vereinte Deutschland die alte Frage nach der sozialen Gerechtigkeit

neu.Die Kluft zwischen sozial Wünschenswertem und ökonomisch Machbarem

droht größer zu werden. Unter dem Druck von Globalisierung und inter-

nationalem Wettbewerb ist ein neuer gesellschaftlicher Konsens zur sozialen

Gerechtigkeit notwendig. Hierfür bedarf es nicht zuletzt einer stärkeren

Rückbesinnung auf die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. In Erfurt

gaben namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und

Gesellschaft einen spannenden Einblick in die verschiedenen Facetten des

Themas – von der politisch-historischen Einordnung über die wirtschafts-

politische Analyse bis hin zu den moralischen Grundlagen.

Das Symposium bildet den Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe,

die unter dem Titel „Deutsche Fragen“ zweimal im Jahr an wechselnden Orten

gesellschaftspolitische Streitfragen aufgreifen wird. Auf diese Weise wollen

die privaten Banken in Deutschland einen Anstoß zur Diskussion solcher

Themen geben, die das Land im Übergang zum 21. Jahrhundert herausfordern.

7D e u t s c h e F ra g e n

Dr. Manfred WeberHauptgeschäftsführer und Mitglied des Vorstandesdes Bundesverbandes deutscher Banken

Page 4: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zum Symposium des Bundesverbandes deutscher Banken

und der Universität Erfurt begrüße ich Sie sehr herzlich.

Ich freue mich, daß viele Gäste aus Politik, Kirche,Wissen-

schaft und Wirtschaft heute nachmittag zu uns gekommen

sind. Das Gespräch mit Ihnen ist uns wichtig, und so freue

ich mich auf eine anregende und spannende Diskussion

über die Frage „Was ist soziale Gerechtigkeit?“

Insbesondere freue ich mich, den Minister-

präsidenten des Freistaates Thüringen, Herrn Dr. Vogel,

begrüßen zu können. Ich bin Ihnen außerordentlich dank-

bar, daß Sie trotz dichter Terminlage in der Schlußphase

des Bundestagswahlkampfes bereit sind, unsere Veranstaltung mit einem

Vortrag zu bereichern. Mein weiterer Gruß gilt dem Bischof von Erfurt.

Ihnen, sehr geehrter Herr Bischof Dr.Wanke, danke ich ebenso herzlich für

Ihre Bereitschaft,mit Ihrem Referat „Soziale Gerechtigkeit im Spannungsfeld

von Gleichheit und Freiheit – Erwägungen eines Theologen“ die Grundlage

für die anschließende Diskussion zu legen.Last,but not least heiße ich Herrn

Professor Sinn willkommen. Ich bin mir sicher, daß Sie eine wirtschaftspo-

litische Bilanz nach acht Jahren deutscher Einheit ziehen werden, die zur

Diskussion einladen wird. Auch Ihnen, Herr Professor Sinn, schon jetzt ein

herzliches Dankeschön.

Mit dem Augustinerkloster zu Erfurt haben wir für unser Sympo-

sium einen Ort ausgesucht,der für das Thema „Was ist soziale Gerechtigkeit?“

einen gewissen Symbolcharakter hat. Schließlich trat – vor nicht ganz 500

Jahren – Martin Luther in dieses Augustinerkloster ein,um Mönch zu werden.

D r. M a n f r e d We b e r

Eine schwierige Balance:Bedarfs- versus Leistungsgerechtigkeit

9D e u t s c h e F ra g e n

Dr. Manfred WeberHauptgeschäftsführer und Mitglieddes Vorstandes des Bundesverbandesdeutscher Banken

Page 5: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Die Grundsätze,die Luther in diesen Räumen erdacht,diskutiert und gepredigt

hat, zielten auf eine moralisch bessere, eine gerechtere Gesellschaft. Sie

sollten – von diesem Ort ausgehend – die Welt verändern. Um Luthers

Aufenthalt im Augustinerkloster ranken sich allerhand

widersprüchliche Legenden.So hieß es,er sei ein schlechter

Mönch gewesen, voller Widerspenstigkeit und sittlicher

Mängel.Ihm eher wohlgesonnene Zeitgenossen berichten

hingegen, er sei hier im Kloster schikaniert worden, man

habe ihn gar am Lesen der Bibel gehindert. All dies hat

Luther offensichtlich aber nicht davon abgehalten, sich

auch in seiner Erfurter Zeit mit wichtigen Grundfragen

der Theologie und dem, was wir heute als Gesellschafts-

politik bezeichnen würden, zu beschäftigen – nicht zuletzt mit der Frage,die

heute im Mittelpunkt unseres Symposiums steht.

Was ist Gerechtigkeit? Diese Frage beschäftigt die Gelehrten

nicht erst seit Martin Luther. Bereits Aristoteles hat sich in der „Nikomachi-

schen Ethik“ systematisch mit dieser, wie er sie nannte, „Vornehmsten der

Tugenden“ auseinandergesetzt.Demnach unterscheidet Aristoteles die iustitia

legalis, die Regelgerechtigkeit, von der iustitia distributiva, der verteilenden

Gerechtigkeit,und der iustitia commutativa,der ausgleichenden Gerechtigkeit.

Im aristotelischen Weltbild ist die Zuordnung der jeweiligen Verteilungs-

kriterien einfach:Regelgerechtigkeit verlangt,daß das Handeln den Gesetzen

entspricht; deren Gerechtigkeit selbst wird nicht hinterfragt. Heute nennen

wir das positives Recht.Die verteilende Gerechtigkeit betrifft „die Zuteilung

von Ehre, Geld und den anderen Dingen, die unter die Mitglieder der Gesell-

schaft aufgeteilt werden können“. Hier bezieht sich Aristoteles ausdrücklich

D r. M a n f r e d We b e r Eine schwier ige Ba lance:

Bedar fs - versus Le istungsgerecht igke i t

10D e u t s c h e F ra g e n

Vor nicht ganz 500 Jahren

trat Martin Luther in dieses

Augustinerkloster ein, um

Mönch zu werden. Die Grund-

sätze, die Luther in diesen

Räumen erdacht, diskutiert

und gepredigt hat, zielten

auf eine moralisch bessere,

eine gerechtere Gesellschaft.

Page 6: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

11D e u t s c h e F ra g e n

„D i e B a l a n c e z w i s c h e n B e d a r f s - u n dL e i s t u n g s g e r e c h t i g k e i t f i n d e n“

Page 7: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

auf eine proportionale Verteilung – wir würden heute sagen:nach Leistungen

und Fähigkeiten –, nicht auf die Gleichverteilung. Die ausgleichende

Gerechtigkeit ordnet bei Aristoteles die übrigen gesellschaftlichen Beziehun-

gen. Zu denen zählt er bemerkenswerterweise ökonomische Handlungen

(Kauf- und Darlehensverträge) ebenso wie die Straftatbestände Diebstahl,

Ehebruch oder Mord: „Das Gesetz betrachtet nur den Unterschied des

angerichteten Schadens und behandelt die Personen als gleiche,und es fragt

nur, ob der eine Unrecht tat, der andere Unrecht litt, der eine schädigte, der

andere geschädigt wurde.“ Die ausgleichende Gerechtigkeit ist somit eher

ein Rechtsgrundsatz als ein Verteilungsprinzip.

Die aristotelischen Überlegungen bilden – in die heutige Diskus-

sion eingeordnet – lediglich die Enden eines Spannungsbogens, der bei

einem Diskurs über soziale Gerechtigkeit geschlagen wird. Sie bestimmen

die Extrema der „Leistungsgerechtigkeit“ und einer am Prinzip der Gleich-

heit ausgerichteten „Bedarfsgerechtigkeit“, wie sie sich

auch in Karl Marx’ Kritik des Gothaer Programms aus dem

Jahre 1875 wiederfindet („Jeder nach seinen Fähigkeiten,

jedem nach seinen Bedürfnissen!“). Zwischen diesen

beiden Gerechtigkeitsvorstellungen muß jede Gesellschaft ihr Optimum

finden. Dieses kann nicht nach objektiven Kriterien bestimmt werden,

sondern fußt immer auf subjektiven Einschätzungen, die von unterschied-

lichen Standpunkten in der Gesellschaft geprägt sind und sich im Zeitablauf

wandeln können. Die Vorstellungen über das richtige Maß an Sozialpolitik

haben sich in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft weiter

auseinanderentwickelt. Das Dilemma wurzelt gewissermaßen in Artikel 20

des Grundgesetzes: Hier wird zwar der Begriff des Sozialstaates eingeführt,

D r. M a n f r e d We b e r Eine schwier ige Ba lance:

Bedar fs - versus Le istungsgerecht igke i t

12D e u t s c h e F ra g e n

Auch wenn wir uns das

manchmal wünschten: So-

ziale Gerechtigkeit läßt sich

nicht per Dekret herstellen.

Page 8: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

aber weder hier noch an einer anderen Stelle wird er kon-

sensual oder gar abschließend definiert. Juristisch gesehen

gibt unsere Verfassung nur darüber Auskunft, daß es – im

Sinne einer nur umverteilenden Gerechtigkeit – keine sozialen Grundrechte

als Ansprüche an den Staat gibt oder geben kann. Auch wenn wir uns das

manchmal wünschten: Soziale Gerechtigkeit läßt sich nicht per Dekret

herstellen. Entsprechende Versuche waren in der Vergangenheit stets zum

Scheitern verurteilt. Diese Einsicht ist nicht unwichtig, denn die Klagen, wir

entwickelten uns zunehmend zu einer Anspruchsgesellschaft, werden

immer lauter.

So stellte vor kurzem der SPIEGEL fest, daß der Sozialstaat die

Bürger unfrei mache und sie zum Anspruchsdenken erziehe. „Der Sozialstaat

deutscher Prägung“ sei „kein Modell mehr“, er sei „zum Monstrum geworden,

das an seiner eigenen Größe zu ersticken“ drohe. Vor allem aber sei er

„zutiefst ungerecht, weil er seine Leistungen oft willkürlich und nicht selten

an den wirklich Bedürftigen vorbei“ verteile. In Großbritannien scheint die

Debatte um die Zukunft des Sozialstaates bereits einen Schritt weiter zu

sein. Die Labour-Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Anspruchs- und

„Abhängigkeitskultur“, die sich durch das Bemühen um soziale Gerechtig-

keit eingeschlichen habe, aufzubrechen.Sozialleistungen müßten,so hören

wir von dort, wieder als Notgroschen begriffen werden und nicht als selbst-

verständliche Grundversorgung auf Lebenszeit.Bemerkenswert,daß gerade

unter einer Labour-Regierung die Debatte offensichtlich in Bewegung

geraten ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Vorbereitung

dieses Symposiums habe ich mir die subjektiven Einschätzungen des deutschen

13D e u t s c h e F ra g e n

Sozial le is tungen müßten

wieder als Notgroschen be-

griffen werden und nicht als

selbstverständliche Grundver-

sorgung auf Lebenszeit.

Page 9: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Sozialstaates in der Bevölkerung einmal näher angesehen.Einer vom Bundes-

verband deutscher Banken in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage

zum Thema „Soziale Gerechtigkeit“ ist zu entnehmen, daß drei Viertel der

deutschen Bevölkerung in einer Gesellschaft leben wollen, in der sich die

Höhe des Einkommens nach der Leistung bemißt. Dies ist meines Erachtens

eine hohe Zustimmung zu einem der tragenden Prinzipien der sozialen

Marktwirtschaft. 85 Prozent der Deutschen bewerten soziale Unterschiede

als gerechtfertigt, wenn die Aufstiegschancen gleich sind. Menschen akzep-

tieren offenbar eine ungleiche Verteilung, wenn – nach Aristoteles – Regel-

gerechtigkeit gegeben ist. Die Umfragezahlen belegen somit einen breiten

gesellschaftlichen Konsens darüber, daß unsere Wirtschaftsordnung Wett-

bewerb braucht,um auf Dauer wirtschaftlich leistungsfähig

und damit sozial bleiben zu können. Hierbei geht es nicht

um egoistisches Gegeneinander, sondern um Leistungs-

gerechtigkeit. Allerdings: Immerhin ein Fünftel der Deut-

schen vertritt die Auffassung, man müsse Wert auf ähnlich

hohe Einkommen in der Gesellschaft legen. Dies wiederum zeigt, wieviel

Überzeugungsarbeit auf diesem Feld noch zu leisten ist.

Im deutschen Parteienwettstreit der Nachkriegszeit wurde der

Begriff der sozialen Gerechtigkeit zum fast absoluten Wert;und wenn bei uns

von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist,wird meist nur an einen Aspekt gedacht,

nämlich an die Verteilungsgerechtigkeit.Verteilung in der üblichen Verwen-

dung des Begriffes aber heißt,mit staatlicher Hoheit einigen etwas zu nehmen,

um es anderen zu geben. So verstanden, heißt Verteilung regelmäßig auch,

Konflikte zu schaffen, für deren Lösung es keinen objektiven Maßstab gibt.

Hier drängt sich die Frage auf, ob die Debatte und die Bemühungen um soziale

D r. M a n f r e d We b e r Eine schwier ige Ba lance:

Bedar fs - versus Le istungsgerecht igke i t

14D e u t s c h e F ra g e n

Drei Viertel der deutschen

Bevölkerung wollen in einer

Gesellschaft leben, in der sich

die Höhe des Einkommens

nach der Leistung bemißt.

Page 10: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Gerechtigkeit nicht wieder stärker auf die – im Grunde alte – Frage der Schaf-

fung gerechter Ausgangsbedingungen für alle Mitglieder der Gesellschaft

konzentriert werden müßten. Das Stichwort hier ist „Chancengleichheit“.

Wir haben uns in der Vergangenheit daran gewöhnt, daß es in der

Sozialpolitik nur eine Richtung gab: mehr Ansprüche an den Staat und mehr

Umverteilung. Dem Einhalt zu gebieten oder gar Korrekturen in die ent-

gegengesetzte Richtung zu akzeptieren fällt uns schwer, selbst wenn sie aus

wirtschaftlicher und politischer Sicht gut begründet, ja

notwendig sind. Dabei würde uns mehr Zurückhaltung

des Staates in der Verteilungspolitik vielleicht sogar mehr

Gerechtigkeit bringen: Der amerikanische Philosoph John

Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die

versucht, demokratische Grundsätze und wirtschaftliche

Verteilungskriterien miteinander in Einklang zu bringen. Im Ergebnis formuliert

er ein einziges Prinzip: „Alle sozialen Werte – Freiheit,Chancen,Einkommen,

Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig

zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil

gereicht.“ Dieser kluge Grundsatz enthält auch eine Antwort auf eines der

drängendsten Probleme unserer Zeit: die seit langem viel zu hohe Arbeits-

losigkeit. Wenn sogar zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern

Konsens darüber herrscht, daß hohe Lohnzusatzkosten eine Ursache für die

Massenarbeitslosigkeit in Deutschland sind, müßte dann nicht – gleichsam

in Umkehrung des Rawlsschen Prinzips – ein Nachteil für einige, sprich: eine

Verringerung der sozialen Leistungen, akzeptiert werden, um im Interesse

der Gemeinschaft mehr Arbeitsplätze zu schaffen? Damit neue Lebenschancen

für viele entstehen, müssen andere auf einen Teil ihrer sozialen Besitzstände

15D e u t s c h e F ra g e n

Zwischen den beiden Gerechtig-

keitsvorstellungen, der „Leistungs-

gerechtigkeit“ und der am Prin-

zip der Gleichheit ausgerichteten

„Bedarfsgerechtigkeit“, muß jede

Gesellschaft ihr Optimum finden.

Page 11: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

verzichten. Das ist im Effekt sozial gerechter als die Wahrung von Besitz-

ständen und das Festschreiben einer mehr als unbefriedigenden Arbeits-

marktlage über viele Jahre hinweg. „Nur der Sozialstaat“, so noch einmal der

SPIEGEL, „der sich zurücknimmt und sich Selbstbeschränkung auferlegt, ist

auf Dauer sozial.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben heute die

Möglichkeit, mit hervorragenden Experten und Persönlichkeiten zu disku-

tieren, wie wir in Deutschland künftig zu mehr sozialer

Gerechtigkeit kommen können. Dieses Symposium soll

aber keine einzelne Veranstaltung bleiben. Es bildet den

Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe des Bundesverbandes

deutscher Banken,die wir unter den Titel „Deutsche Fragen“

gestellt haben. Als Spitzenverband der privaten Banken in Deutschland

wollen wir unter diesem Signum zweimal jährlich an wechselnden Orten

Themen diskutieren, die man vielleicht nicht spontan und unmittelbar mit

Banken in Verbindung bringt. Unser Verständnis der Aufgaben eines

wirtschaftspolitischen Spitzenverbandes in einer mehr und mehr zusammen-

wachsenden, einer immer stärker vernetzten Welt ist es gleichwohl, der

gesellschaftspolitischen Verantwortung, die wir als Vertreter der privaten

Banken in Deutschland haben, auch auf diese Weise nachzukommen. Wir

haben dieser Veranstaltungsreihe den Titel „Deutsche Fragen“ gegeben, weil

mit der Beantwortung der deutschen Frage nach der Wiedervereinigung jetzt

eine Reihe von Fragen auftaucht, die für die Zukunft unserer Gesellschaft in

einer wirtschaftlich und politisch mehr und mehr zusammenwachsenden

Welt von entscheidender Bedeutung ist. Natürlich wollen wir nicht nur

Fragen stellen; wir hoffen, mit unserer Initiative auch einen kleinen Beitrag

D r. M a n f r e d We b e r Eine schwier ige Ba lance:

Bedar fs - versus Le istungsgerecht igke i t

16D e u t s c h e F ra g e n

Wir haben uns in der Vergangen-

heit daran gewöhnt, daß es in der

Sozialpolitik nur eine Richtung

gab: mehr Ansprüche an den

Staat und mehr Umverteilung.

Page 12: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

zur Beantwortung der gestellten Fragen leisten zu können, indem wir ein

geeignetes Forum hierfür bieten. Für die heutige Veranstaltung haben wir in

der jungen Universität Erfurt einen hervorragenden Kooperationspartner

gefunden.So gebührt ihrem Rektor,Herrn Professor Glotz,

mein herzlicher Dank für die so gute Zusammenarbeit.Bei

dieser vorerst wohl letzten Neugründung einer staatlichen

Hochschule – die ja eigentlich eine „Wieder-Gründung“

ist – hat man es verstanden, die historischen Wurzeln der

einst ruhmreichen Universität mit modernen Inhalten zu

verknüpfen sowie eine Brücke zwischen dem Konzept der

staatlichen und dem der privaten Hochschule zu schlagen.Meines Erachtens,

Herr Professor Glotz, könnte die Universität Erfurt durchaus zu einem

Modell der „Universität der Zukunft“ werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche uns allen

eine interessante Veranstaltung und freue mich, nun das Wort an unseren

heutigen Moderator, Herrn Professor Peter Glotz, übergeben zu können.

17D e u t s c h e F ra g e n

Alle sozialen Werte – Freiheit,

Chancen, Einkommen, Vermögen

und die sozialen Grundlagen

der Selbstachtung – sind gleich-

mäßig zu verteilen, soweit nicht

eine ungleiche Verteilung jeder-

mann zum Vorteil gereicht.

Page 13: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

18D e u t s c h e F ra g e n

P r o f . D r. Pe t e r G l o t z

Einführung beim Symposium des Bundesverbandes deutscher Banken und der Universität Erfurt

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

auch ich begrüße Sie namens der mitveranstaltenden

Universität Erfurt sehr herzlich. Ich bedanke mich für die

freundlichen Worte,die Herr Dr.Weber für die im Entstehen

begriffene Universität Erfurt gefunden hat.

In der Tat wollen wir versuchen, einiges von

dem,was in der Debatte um die notwendige Form der Hoch-

schulen heute angemahnt wird, in Erfurt zu verwirklichen.

Dazu gehört mit Sicherheit die Erkenntnis,daß Universitäten

an den vitalen Problemen der Gesellschaft, in der sie

existieren, nicht vorbeileben dürfen. Deswegen setzen wir

in Erfurt auf Public Private Partnership.Wir sind eine staatliche Universität,

aber wir bemühen uns systematisch um Sponsoren aus der Wirtschaft,die

im Fall eines Engagements auch bestimmte Mitbestimmungsrechte haben

werden. Dabei geht es uns nicht nur um Geld, obwohl ich nicht bestreite,

daß wir ein schmales öffentliches Budget aufstocken müssen. Vor allem

spielt die Erkenntnis eine Rolle, daß wir Probleme der gesellschaftlichen

Praxis besser identifizieren können, wenn wir mit den Akteuren in der

Gesellschaft zusammenarbeiten.So planen wir gemeinsam mit dem Bundes-

verband für Groß- und Außenhandel an der Universität Erfurt ein Ludwig-

Erhard-Institut für Entrepreneurship in Handel und Dienstleistung. Das

soll z. B. den neuartigen Problemen des Electronic Commerce auf die Spur

kommen. Da ist uns der Verband mit seinen Mitglieder, die sich täglich mit

dieser tiefgehenden Veränderung unserer Handelsstruktur auseinander-

setzen, ein wichtiger Gesprächspartner.

Prof. Dr. Peter GlotzRektor der Universität Erfurt

Page 14: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Auch zum Thema des heutigen Nachmittags gibt es an der Universität Erfurt

viele Bezüge. Ich will nur einen nennen: das Konzept unserer neuartigen

Staatswissenschaftlichen Fakultät, in der wir Recht, Ökonomie und Sozial-

wissenschaft wieder verkoppeln wollen.Soziale Gerechtig-

keit ist ja kein Spezialthema für Sozialpolitiker. Es ist ein

klassisches Thema, das man interdisziplinär angehen muß.

An den Debatten in Erfurt soll eine künftige Katholisch-

Theologische Fakultät,deren Integration leider noch nicht

endgültig feststeht, mit ihren Kenntnissen zur christlichen Soziallehre so

mitwirken wie die praktische Ethik aus der Philosophischen Fakultät oder

eben die Finanzwissenschaft aus der Staatswissenschaftlichen.Sozioökonomie

war einmal ein großer Begriff in Deutschland. Der „Verein für Socialpolitik“

wurde hier in der Gegend 1872 von Brentano und Wagner begründet. Seine

politischen Vorstellungen mögen heute überholt sein.Nicht überholt aber ist

der Begriff der Sozioökonomie,den wir hier in Erfurt zurückgewinnen wollen.

Denn allein mit der neoklassischen Ökonomie, die an den meisten volks-

wirtschaftlichen Lehrstühlen deutscher Universitäten betrieben wird, wird

man dem Problem der sozialen Gerechtigkeit, das wir heute

diskutieren wollen, nicht gerecht werden können. Aber

dazu mag Herr Kollege Sinn in seinem Vortrag heute etwas

sagen.

Kurz und gut: Ich wollte nur darauf hinweisen,

der Bankenverband hat sich nicht verirrt, er ist mit seiner

Diskussion heute in Erfurt an der richtigen Stelle. Die Di-

skussion beginnt mit Thesen des katholischen Ortsbischofs Dr. Joachim

Wanke,der theologische Erwägungen zu unserem Gespräch beisteuern wird.

19D e u t s c h e F ra g e n

Soziale Gerechtigkeit ist ja

kein Spezialthema nur für

Sozialpol i t iker. Es i s t e in

klassisches Thema, das man

interdisziplinär angehen muß.

Allein mit der neoklassischen

Ökonomie, die an den meisten

volkswirtschaftlichen Lehrstühlen

deutscher Universitäten betrie-

ben wird, wird man dem Problem

der sozialen Gerechtigkeit nicht

gerecht werden können.

Page 15: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Ich weiß,manche halten die Theologie inzwischen für überflüssig. Ich wider-

spreche ihnen. Die spirituellen Bedürfnisse der Menschen sind nicht kleiner

geworden,wenn sie sich auch gewandelt haben mögen.Das Wort hat Bischof

Dr.Wanke zum Thema: „Soziale Gerechtigkeit im Spannungsfeld von Gleich-

heit und Freiheit“.

P r o f . D r. Pe t e r G l o t z Ein führung be im Sympos ium

des Bundesverbandes deutscher Banken und der Un ivers i tät Er fu r t

20D e u t s c h e F ra g e n

Page 16: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Dr. Joachim Wanke

Soziale Gerechtigkeit im Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit –Erwägungen eines Theologen

Es gibt eine merkwürdige Gleichniserzählung Jesu, die bis

heute beim Hörer Widerspruch erregt: Ist das gerecht? Da

arbeiten Leute einen ganzen Tag im Weinberg,zwölf Stunden

lang. Andere arbeiten weniger,einige sogar nur eine einzige

Stunde – und doch erhalten auch diese den vollen Tages-

lohn, einen Denar. „Da begannen sie (die ersten, die den

ganzen Tag gearbeitet hatten), über den Gutsherrn zu mur-

ren und sagten: Diese Letzten haben nur eine einzige Stun-

de gearbeitet und du hast sie uns gleichgestellt;wir aber ha-

ben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze

ertragen.“ (Mt 20,11 f.) Ist das nicht eine berechtigte Klage?

Und doch wird die Klage abgewiesen. Der Weinbergbesitzer ant-

wortet bekanntlich: „Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht

einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will aber dem

Letzten ebensoviel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht

tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin?“

(Mt 20,13-15) Das Gleichnis Jesu lebt von der Spannung zwischen Freiheit

und Gleichheit, näherhin zwischen der Freiheit, mit der einer aus seinem

Besitz etwas verschenkt, und der Erwartung, daß für ungleiche Arbeit auch

ungleicher Lohn gezahlt wird. Sicher, der Weinbergbesitzer handelt gerecht,

insofern als die Vollzeitarbeiter den vereinbarten Lohn wirklich erhalten.Die

Gewerkschaften hätten bei einer Klage gegen sein Verhalten vor einem

Arbeitsgericht keine Chance gehabt! Gott gibt mehr als einen Lohn für Lei-

stungen („Werke“), so will wohl Jesus sagen: Er „belohnt“ – aus Gnade, weil

er weiß: Der Mensch lebt von mehr als von Lohn für Leistung. Er lebt von

persönlicher Annahme, von Erbarmen, von Liebe.

21D e u t s c h e F ra g e n

Dr. Joachim WankeBischof von Erfurt

Page 17: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Aber haben diese Begriffe etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun? Ja und

nein. Nein, weil es bei der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit nicht um

eine Gesinnung des Herzens geht, um Tugendgerechtigkeit, sondern um ein

Ordnungsprinzip. Es geht um die gerechte Weise des

Zusammenlebens der Menschen, speziell in einer wirt-

schaftlichen, einer sozialen Ordnung. Konkret: Würden

alle Weinbergbesitzer auch für Kurzarbeit den vollen Lohn

zahlen, wären sie bald pleite. Und das Prinzip „Gleicher Lohn für ungleiche

Arbeit“ würde vermutlich auf Dauer den sozialen Frieden einer Gesell-

schaft zerstören.

Und doch hat die Botschaft dieses Gleichnisses etwas mit dem

Stichwort Gerechtigkeit im Spannungsfeld von Gleichheit und Freiheit zu

tun. Das Gleichnis zeigt uns, daß Gerechtigkeit, die nur wenige und nicht alle

im Blick hat,nicht ausreicht.Pointiert gesagt:Der Markt regelt nicht alles! Ich

bin dankbar, einmal am Ende meines Lebens in die Hände eines nicht nur

gerechten Gottes zu fallen! Und ich kann nur hoffen, daß in einer Gesell-

schaft die „Zuspätkommenden“,d. h. jene,die weniger oder überhaupt nichts

leisten können, im Blick bleiben und nicht fallengelassen werden.

Damit wären wir beim Thema: Was ist soziale Gerechtigkeit,

näherhin angesichts der unaufhebbaren Spannung von menschlicher

Freiheit und dem Verlangen nach Gleichheit aller? Ich gliedere meine Über-

legungen in vier Abschnitte, denen ich jeweils eine Grundaussage voranstelle.

I. Was sozial gerecht ist, bestimmt sich vom Menschenbild einer

Gesellschaft her.

Das gemeinsame Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Ge-

D r. Jo a c h i m Wa n ke Soz ia le Gerecht igke i t

im Spannungsfe ld von Fre ihe i t und G le ichhe i t – Er wägungen e ines Theo logen

22D e u t s c h e F ra g e n

Der Mensch lebt von mehr als

von Lohn für Leistung. Er lebt

von persönlicher Annahme,

von Erbarmen, von Liebe.

Page 18: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

23D e u t s c h e F ra g e n

„D i e s c h ü t z e n d e n H ä n d e d e s S t a a t e s h a b e n i h r e n P r e i s“

Page 19: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

rechtigkeit“ formuliert lapidar: „[Der Begriff] „Soziale Gerechtigkeit“ besagt:

Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen ist es ein Gebot

der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von Ungleich-

heiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen und

gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen.“ (Nr. 111)

Wichtig ist das Stichwort: „allen Gliedern der Gesellschaft“! Eine

Gesellschaft, die kaltblütig hinnimmt, daß in ihrer Mitte ein bestimmter

Prozentsatz von Menschen ausgegrenzt wird, braucht nicht mehr über soziale

Gerechtigkeit zu diskutieren. Es ist z.B. wichtig, daß bei Tarifverhandlungen

auch die Arbeitslosen und beim Weltwirtschaftsgipfel die Länder der so-

genannten dritten Welt mit am Tisch sitzen!

Ferner redet unser Text von „gleichwertigen Lebensbedingungen“.

Es bedarf in einem Gemeinwesen eines vorgegebenen Verständnisrahmens

für das, was ein Leben menschenwürdig und eine Gesellschaft human

macht:die Achtung der persönlichen Würde jedes einzelnen,die Möglichkeit

zur freien Selbstbestimmung für alle, nicht nur für wenige, die Chance

eines jeden zur Teilhabe am Arbeitsleben und den gesellschaftlichen Gütern,

die Beseitigung von bestehenden Ungerechtigkeiten u. a. mehr.

Es ist elementar wichtig,daß in einer Gesellschaft ein Grundkonsens

darüber existiert, was zu einem menschenwürdigen Leben gehört und daß

allen ein solches Leben ermöglicht werden muß.Wir dürfen

uns nicht vom Markt und seinen Gesetzen diktieren lassen,

was soziale Gerechtigkeit ist. Da hätte beispielsweise ein

Behinderter, eben ein „Zukurzgekommener“, keine Chance. Diesen darf

nicht „das Leben bestrafen“, wie das geflügelte Wort sagt, und das gilt

nicht nur für Personen, sondern vergleichsweise auch für Teilbereiche einer

D r. Jo a c h i m Wa n ke Soz ia le Gerecht igke i t

im Spannungsfe ld von Fre ihe i t und G le ichhe i t – Er wägungen e ines Theo logen

24D e u t s c h e F ra g e n

Was sozial gerecht ist, steht nicht

ein für allemal fest. Es muß

ständig neu definiert werden.

Page 20: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Gesellschaft, etwa für die neuen Bundesländer im Osten

mit ihren speziellen Problemen oder auch für die osteuro-

päischen Länder, die mit ihren vielfältigen Erblasten nach

einem Neuanfang suchen. Meine Sorge ist, daß in unserer Gesellschaft der

noch vorhandene Grundkonsens hinsichtlich zweier wichtiger Voraussetzun-

gen von sozialer Gerechtigkeit verlorengehen könnte:

I) Der Wille, alle am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben zu lassen, nicht

nur die Marktteilnehmer, und

2) ein Menschenbild, das nicht an der gesellschaftlichen Nützlichkeit, nicht

an Gruppenegoismen, nicht an der Breite der Konsummöglichkeiten, nicht

an Rassen- oder Klassenideologien sein Maß nimmt, sondern an einem

Humanum,das ethisch abgesichert ist.Vor der Sicherung der Freiheit und der

Forderung nach Gleichheit steht die Verständigung über diese beiden Punkte.

2. Soziale Gerechtigkeit setzt eine durch „Rahmenordnungen“

gebändigte Marktwir tschaft voraus.

Wir sind uns sicher darin einig: Soziale Gerechtigkeit kann nicht durch mora-

lische Appelle herbeigepredigt werden. Die moderne Gesellschaft besteht

aus relativ autonomen Subsystemen:Politik,Wirtschaft,Kultur, in denen unter

Wettbewerbsbedingungen und unter Konkurrenzdruck gehandelt wird, was

nachweislich am effektivsten die Entwicklung stimuliert und Lebensräume

erweitert. Diese Systeme, also z.B. die Wirtschaft, brauchen freilich eine

„Rahmenordnung“ mit gültigen, von allen anerkannten Regeln. Die These,

der Markt reguliere sich von selbst, ist m.E. falsch bzw. nur begrenzt richtig.

Natürlich bestraft der Markt Faulheit und Leistungsverweigerung. Aber er

kann auch korrumpieren und zur Manipulation verführen. Darum müssen

25D e u t s c h e F ra g e n

Wir dür fen uns nicht vom

Markt und seinen Gesetzen

diktieren lassen, was soziale

Gerechtigkeit ist.

Page 21: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

beispielsweise Kartell-Absprachen und andere Verdrängungsstrategien, die

den Markt nicht mehr offen halten, verhindert werden, und zwar von außen.

Der Markt bedarf also einer „Rahmenordnung“, in der das freie

Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte so gesteuert wird, daß das Eigenin-

teresse nicht nur sich selbst bedient, sondern immer auch den anderen,auch

jene,die aus gerechten Gründen nicht am Markt teilnehmen

können. Man könnte sagen: Soziale Gerechtigkeit wird

durch gemeinnütziges Verhalten bewirkt, das auch mir

selbst zugute kommt.Der Ausfall von Gemeinnützigkeit darf sich nicht lohnen!

3. Was soz ia l gerecht is t , s teht n icht e in fü r a l lemal fest .

Es muß ständ ig neu def in ie r t werden.

Zur Zeit Jesu war es ein Denar – der Tageslohn, mit dem ein Tagelöhner sich

und seine Familie ernähren konnte.Wir sagten schon:Was sozial gerecht ist,

kann sich nicht von der Tugendgerechtigkeit her definieren lassen.Eine Mutter

wird immer ihr eigenes Kind zuerst bedenken und meinen, dabei gerecht zu

handeln. Es geht aber – bildlich gesprochen – um „alle Kinder“. In über-

schaubaren Gemeinschaften mag man vielleicht nach dem Prinzip verfahren

können „jeder nach seinen Bedürfnissen“ – etwa in einer Familie, in einem

Kloster oder Kibbuz, aber nicht in einer hochkomplexen und arbeitsteiligen

Gesellschaft. Das hat das gescheiterte Sozialismusexperiment wohl gründ-

lich genug nachgewiesen.

Was aber an sozial gerechten Ansprüchen und Pflichten geboten

ist, ist immer neu zu bestimmen. Unsere Ansprüche sind ohne Zweifel heute

gestiegen. Aber halten sie immer mit unseren Möglichkeiten Schritt? Frühere

Zeiten hatten noch nicht die ökologischen Probleme im Blick, auch nicht

D r. Jo a c h i m Wa n ke Soz ia le Gerecht igke i t

im Spannungsfe ld von Fre ihe i t und G le ichhe i t – Er wägungen e ines Theo logen

26D e u t s c h e F ra g e n

Soziale Gerechtigkeit kann

nicht durch moralische Appelle

herbeigepredigt werden.

Page 22: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

die Fragen, die mit der globalen Vernetzung der Weltwirtschaft zusammen-

hingen. Früher reichte eine einzige Ausbildung, die in einem stabilen Beruf

für die ganze Lebenszeit Arbeit und Brot absicherte. Heute braucht es den

bleibenden Zugang zu beruflichen Weiterbildungs- bzw. Umschulungsmög-

lichkeiten, um dem flexibel gewordenen Arbeitsmarkt entsprechen zu

können. Sozial hinreichend gerecht war in der Ständegesellschaft vergangener

Jahrhunderte ein Versorgungsanspruch,abgesichert durch

einen Patron oder die Großfamilie.Heute bedarf es gestufter

Versicherungs- und Rentensysteme, die auch nach dem

Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit ein menschenwürdiges

Leben ermöglichen. Sachverstand und demokratisch abgesicherter Konsens

müssen abklären, was für uns heute jeweils angemessen, „sozial gerecht“

(und bezahlbar!) ist.

4. F re ihe i t und G le ichhe i t s ind im Bl ick auf e ine gerechte

Soz ia lo rdnung ke ine abso luten A l ternat iven, sondern „ regu -

lat ive Ideen“, d ie wohl zue inander in Spannung stehen, aber

s ich gegense i t ig e rgänzen.

Die Vorgabe meines Themas durch den Veranstalter suggeriert den häufig

bemühten Gegensatz: freiheitlicher Liberalismus hier, sozialistische Gleich-

macherei da. Selbst in Wahlkampfzeiten ist wohl den meisten klar, daß eine

solche Alternative zu einfach ist. Ohne Zweifel gibt es einen – besonders in

britischen Denktraditionen verwurzelten – Utilitarismus, der meint, in der

größten Maximierung des individuellen Nutzens komme auch die Gesell-

schaft insgesamt zu ihrem Recht. Man müsse nur dem einzelnen genügend

Freiraum geben,dann würde auch das Wohl aller am besten gefördert.Gegen

27D e u t s c h e F ra g e n

Ohne Zweifel ist es eine Illusion

zu meinen, es gäbe so etwas wie

eine absolute Gleichheit in den

Lebensbedingungen der Menschen.

Page 23: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

diese und ähnliche Modelle von Gerechtigkeit muß festgehalten werden:Die

Freiheit für Einzel- und Gruppeninteressen muß zusammengehen mit der

Absicherung,daß Ungleichheiten (die unaufhebbar und wohl auch notwendig

sind) nicht den Zugang zu Grundfreiheiten und zu Grundgütern für alle ver-

stellen. Ich möchte das kurz erläutern. Ohne Zweifel ist es eine Illusion zu

meinen, es gäbe so etwas wie eine absolute Gleichheit in den Lebensbe-

dingungen der Menschen.Es gibt eine moralische Gleichheit aller Menschen,

begründet in ihrer Personalität und ihrer Gottesbeziehung. Es muß Gleich-

heit vor dem Gesetz geben, was uns gottlob heute selbstverständlich ist. Es

sollte Chancengleichheit geben, aber schon das ist nur bedingt zu verwirk-

lichen. Ein Beinamputierter bleibt benachteiligt – auch beim besten Willen

seiner Umwelt, ihm in jeder Hinsicht beizustehen. Die Forderung nach strikter

sozialer Gleichverteilung aller Güter schließlich ist unsinnig, ja kontrapro-

duktiv. Gerechtigkeit kann nicht darin bestehen, daß es allen gleich schlecht

geht. Erzwungene Egalisierung kann selbst wieder ungerecht sein. Sie wird

nicht der notwendigen Rollenverteilung von Aufgaben und Ämtern in einer

Gesellschaft gerecht.Und sie übersieht zudem die Schwäche und Sündhaftig-

keit der menschlichen Natur, die wohl nicht nur Theologen konstatieren.

Aber gerade deshalb ist gegen einen hemmungslosen Neolibera-

lismus zu sagen: Die soziale Gerechtigkeit verlangt,

I) daß jede Person denselben, für alle gleichen, unverbrüchlichen Anspruch

auf einen angemessenen Bestand von Grundfreiheiten und Grundgütern und

den Erwerb von Grundfähigkeiten hat und daß

2) die (aus objektiven Gründen) am wenigsten begünstigten Mitglieder der

Gesellschaft die besseren Chancen für den Erwerb und Erhalt dieser Frei-

heiten, Güter und Kompetenzen bekommen.

D r. Jo a c h i m Wa n ke Soz ia le Gerecht igke i t

im Spannungsfe ld von Fre ihe i t und G le ichhe i t – Er wägungen e ines Theo logen

28D e u t s c h e F ra g e n

Page 24: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

29D e u t s c h e F ra g e n

„A b s o l u t e G l e i c h h e i ti s t e i n e I l l u s i o n“

Page 25: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Natürlich ist ein Markt etwas Unpersönliches, auf den Verteilungsgerechtig-

keit nicht anzuwenden ist, wie uns liberale Ökonomen belehren. Aber dieser

Markt findet eben unter Rahmenbedingungen statt, die sehr wohl von

Menschen beeinflußbar sind, etwa daß nicht am Ende (!), sondern von

Beginn an Eigentum (auch an Produktionsmitteln) breit gestreut wird oder

der Zugang aller zu Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten gesichert

bleibt oder das Existenzminimum garantiert oder die politische Dominanz

der Kapitaleigentümer verhindert wird, um nur einige konkrete Forde-

rungen zu nennen.

Meine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit ist nicht die Devise,

die seinerzeit in Preußen auf dem Orden vom „Schwarzen Adler“ zu lesen

war:„Suum cuique!“ – „Jedem das Seine!“ So unbezweifelbar Gerechtigkeit das

Recht des einzelnen im Blick haben muß, so notwendig darf sie nicht die

soziale Verfaßtheit des Menschen aus dem Blick verlieren. Eine bessere

Devise für Gerechtigkeit wäre das lateinische Wort „Inter-

esse“,die Haltung des solidarischen Miteinanders, mit der

jeder mit dem Seinen für den anderen, für die Gemein-

schaft eintritt – als frei handelnde Person, mit seinen (ab-

gestuften, begrenzten) Möglichkeiten, aber in einer Solidarität, die auch

letztlich ihm selbst zugute kommt. Damit habe ich schon die Grundprin-

zipien einer christlich inspirierten Sozialethik angesprochen: Personalität,

Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Heute müßte man wohl noch

hinzufügen: das Prinzip der Nachhaltigkeit (wir müssen bei unserem Han-

deln stets das Wohl der kommenden Generationen mit im Auge haben).

Sozial gerecht ist, was auch den anderen leben läßt – und die Generationen,

die nach uns kommen.

D r. Jo a c h i m Wa n ke Soz ia le Gerecht igke i t

im Spannungsfe ld von Fre ihe i t und G le ichhe i t – Er wägungen e ines Theo logen

30D e u t s c h e F ra g e n

Sozial gerecht ist , was auch

den anderen leben läßt –

und die Generationen, die

nach uns kommen.

Page 26: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Ich deute zum Schluß nur an, daß das Spannungsgefüge zwischen Freiheit

und Gleichheit, besser: zwischen meinen Lebensmöglichkeiten und denen

anderer,heute einen über unser Land hinausgehenden,europa- ja weltweiten

Kontext erhalten hat. Es geht heute – um nur Stichworte für die nachfolgende

Diskussion zu nennen – nicht nur um den Finanztransfer Ost oder um den

Länderfinanzausgleich innerhalb der Bundesrepublik, es geht um die wirt-

schaftliche Stabilität Osteuropas,um eine gerechte,weltweite Zollpolitik,um

die Entschuldung der armen Länder des Südens u. a. mehr. Nicht zuletzt da

muß sich erweisen, ob die regulativen Ideen Freiheit und Gleichheit die

Kraft haben, sich gegenseitig in Balance zu halten – zum Nutzen einer

Gerechtigkeit, die das Attribut „sozial“ verdient.

31D e u t s c h e F ra g e n

Page 27: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

32D e u t s c h e F ra g e n

D r. B e r n h a rd Vo g e l

Einigkeit und Recht und Freiheit –Deutschland am Vorabend des 2I. Jahrhunderts

Verehrter Herr Dr.Weber, sehr verehrter Herr Bischof,

Herr Dr. Glotz, Herr Prof. Sinn,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, daß der

Bundesverband deutscher Banken das erste Symposium

dieser neuen Veranstaltungsreihe hier zusammen mit der

Universität Erfurt durchführt. Ich danke dem Banken-

verband dafür.

Sie haben dieses Symposium unter ein sehr

anspruchsvolles Thema gestellt: „Was ist soziale Gerechtig-

keit? Was ist Gerechtigkeit?“ Es überrascht dabei zunächst,

daß sich ein Bankenverband mit dieser Frage beschäftigt,

denn dieses Thema steht nicht sui generis auf der Agenda der Betätigungs-

felder von Banken. Aber in einer offenen,demokratischen Gesellschaft ist die

Frage nach sozialer Gerechtigkeit natürlich und – das ist gerade schon

angedeutet worden – nicht nur ein thematisches Privileg für hauptamtliche

Fachleute. Das Thema geht uns alle an.

Wenn wir eine Antwort auf die Frage „Was ist soziale Gerechtig-

keit?“ geben wollen, bedarf es wohl zunächst einer Positionsbestimmung

kurz vor dem Ende dieses Jahrhunderts.

Eine Antwort ist schwierig.Weil es keine eindeutige Antwort gibt.

So viel aber ist gewiß:Wir stehen vor einer gewaltigen Herausforderung,auch

hinsichtlich unserer sozialen Verpflichtungen. Und wenn Herausforderungen

bevorstehen, ist Anstrengung notwendig und nicht Bequemlichkeit.

Trotz positiver Signale und einer sich abzeichnenden Veränderung

auf dem Arbeitsmarkt – die Zahlen sprechen für sich – sind dringend eine

Dr. Bernhard VogelMinisterpräsident des Landes Thüringen

Page 28: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Entlastung des Arbeitsmarktes und eine Entlastung der Kassen für die soziale

Sicherung geboten. Alle Fragen nach mehr Beschäftigung und Zukunft

unserer sozialen Sicherungssysteme werden automatisch verknüpft mit der

Frage der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, und sie

ist im Zusammenhang mit dem Verlauf der globalen ökono-

mischen Prozesse zu sehen.

Es besteht kein Zweifel,daß die Welt sich öffnet,

daß die Welt zusammenrückt. Kapital und Wissen sind in Minutenschnelle

verfügbar. Wir sind mit dem Zeitalter des Wissens, der Informationen

konfrontiert. Und diese Entwicklung ist irreversibel. Man kann nicht fragen,

wollen wir das oder wollen wir das nicht! Sie ist irreversibel. Die Folgen:

Unternehmer wie Politiker sind immer stärker einem internationalen Wett-

bewerb ausgesetzt. Unternehmer konkurrieren um Kunden. Nationen,

Länder,Regionen,Kommunen konkurrieren um Investoren und Kapitalgeber.

Damit wird die soziale Gerechtigkeit auch von den äußeren Umständen und

Faktoren abhängig.Wenn die Frage,wieviel Sozialstaat wir uns leisten können,

allein von der wirtschaftlichen Leistungskraft einer Region abhängig gemacht

würde, dann würden wir uns von jeder gegenseitigen Verantwortlichkeit,

würden wir uns von den Prinzipien des Sozialstaatsgebotes, wie das Grund-

gesetz es uns vorschreibt, verabschieden.

Wo stehen wir heute? Unsere Lage ist von Veränderungen geprägt,

durch Reformen, durch die Notwendigkeit zur Innovation. Zugleich hat

Walter Riester, der stellvertretende IG-Metall-Vorsitzende, in einem Interview

unlängst festgestellt, er erlebe in Deutschland über die Parteien und ge-

sellschaftlichen Gruppen hinweg „einen ungeheuren Konservatismus bei

Strukturfragen“.

33D e u t s c h e F ra g e n

Das Ziel ist eine mensch-

liche Gesellschaft und nicht

eine Gesellschaft, in der das

Recht des Stärker en gi l t .

Page 29: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Ich will das Wort konservativ nicht auf die Waagschale legen. Er meint hier

sicher ein ungeheures Beharrungsvermögen,ob bei der Rentenversicherung

oder der Krankenversicherung, ob beim Tarifrecht oder beim Arbeitsrecht,

bei Steuersubventionen oder der Forschungsförderung, selbst im Bereich

der staatlichen Handlungen bei Deregulierung oder Dienstrechtsreform.

Überall stehen die Reformer wie einsame Rufer in der Wüste einer Phalanx

von Strukturbewahrern und Status-quo-Experten gegenüber, deren einziges

Ziel es ist, die Besitzstände ihrer jeweiligen Klientel bis zum letzten zu verteidi-

gen. Darin sind wir in der Tat Meister. Die FAZ verglich in einer sehr schönen

Metapher einmal die gegenwärtige Stimmungslage mit der „Vertreibung

aus dem Paradies“. Jeder fürchtet, aus dem Paradies vertrieben zu werden.

Ich füge hinzu:Wir hier in den neuen Ländern haben Veränderungs-

bereitschaft und Fähigkeit zur Anpassung unter dem Druck der Verhältnisse

in hohem Maß bewiesen.Und mancher in den alten Ländern könnte von den

Menschen hier diesbezüglich einiges lernen. Ich könnte mir vorstellen, auch

nur die Hälfte unserer Veränderungen hätten im Westen zu Aufständen

geführt. Ich mache allerdings darauf aufmerksam:Auch hier sind die Verände-

rungen ja nicht freiwillig durchgeführt worden, sondern unter dem zwingen-

den Druck unhaltbarer Verhältnisse, die die Veränderungen ausgelöst haben.

Deswegen waren sie möglich.

Angesichts der Dimension des Umbruchs, der wir heute gegen-

überstehen, werden Veränderungsbereitschaft und Flexibilität zu Kardinal-

tugenden. Wir müssen begreifen, daß wir uns inmitten eines großen

Umbruchprozesses, im vielleicht sogar größten Strukturwandel befinden –

und das keineswegs nur in Deutschland, sondern überall auf dieser Welt.Wir

stehen am Übergang von der klassischen Industriegesellschaft zur modernen

D r. B e r n h a rd Vo g e l Ein igke i t und Recht und Fre ihe i t –

Deutsch land am Vorabend des 2I . Jahrhunder ts

34D e u t s c h e F ra g e n

Page 30: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

35D e u t s c h e F ra g e n

„M i t G e m e i n s i n n i n d i e Z u k u n f t“

Page 31: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Dienstleistungs-,Wissens-, Informations- und Kommunika-

tionsgesellschaft.

Manche unserer Nachbarn sind uns voraus,was

die Reformfähigkeit und die Reformbereitschaft betrifft,

etwa in Holland, Dänemark, Österreich, da und dort auch in Großbritannien, in

einigen Bereichen auch in Frankreich. Das hat ein bißchen damit zu tun, daß

wir uns in Deutschland sehr gerne mit zweitrangigen Themen so intensiv

befassen, daß wir für die wirklich erstrangigen keine Zeit mehr haben.

Wir brauchen zunächst einmal mehr Leistungsbereitschaft, denn

ohne Leistung ist kein Erfolg und kein wirtschaftlicher Aufschwung möglich.

Und ohne Leistung ist natürlich auch keine soziale Gerechtigkeit möglich.

Bereitschaft zum Lernen, zum lebenslangen Lernen, Offenheit für Innovationen

ist eine wichtige Voraussetzung, um Veränderungen zu ermöglichen. Dazu

gehört auch, daß Wissenschaft und Wirtschaft mehr als bisher zusammen-

arbeiten, um rascher Entwicklungen zu erkennen und Ergebnisse von

Wissenschaft und Forschung in marktfähige Produkte umzusetzen. Und von

dieser Umsetzung hängt es nicht zuletzt ab,ob neue Arbeitsplätze in unserem

Gemeinwesen geschaffen werden können.

Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, keine Gesellschaft, in

der das Recht des Stärkeren gilt.

Eine menschliche Gesellschaft baut auf soziale Gerechtigkeit,

baut auf ein intaktes Verhältnis zwischen den Generationen,baut auf Solidarität,

baut auf Subsidiarität, hat das Bonum commune mit im Blick und das Ver-

antwortlichsein für den Nächsten. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft

geht von klaren Wertvorstellungen aus. Ludwig Erhard war weniger ein

Wirtschaftspolitiker als ein Wirtschaftsethiker. Die Diskussion aber über

D r. B e r n h a rd Vo g e l Ein igke i t und Recht und Fre ihe i t –

Deutsch land am Vorabend des 2I . Jahrhunder ts

36D e u t s c h e F ra g e n

Wir brauchen eine neue Kultur

gelebter Solidarität. Nicht alle

Probleme lassen sich mit Geld

lösen; staatliche Hilfe kann pri-

vates Engagement nicht ersetzen.

Page 32: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Werte in Deutschland,über die ethische Substanz von Wirtschaft und Gesell-

schaft spielt nach meiner Meinung in der Reformdiskussion unserer Tage

eine zu geringe Rolle.

Eine Gesellschaft, die verstärkt auf Eigenverantwortung setzt,

muß – will sie nicht eine Gesellschaft von Egoisten werden – Werte und

Grundhaltungen wie Mitgefühl, Opferbereitschaft, Verantwortung für die

anderen,Solidarität,Gemeinsinn,Nachbarschaftsgeist hochhalten und fördern.

Eigenverantwortung darf nicht heißen:Wenn jeder an sich selbst denkt, ist

an alle gedacht. Es sind übrigens Werte, die in den USA beispielsweise der

amerikanische Philosoph und Soziologe Etzioni in seinem berühmt gewor-

denen Werk „Die Entdeckung des Gemeinwesens“ aufgreift. Seine Ideen

fanden in den USA viel Zustimmung: Eine freie und auf Effizienz ausge-

richtete Gesellschaft ist fordernd und anstrengend, aber nicht zwangsläufig

unmenschlich und kalt. Ihre Menschlichkeit entscheidet sich an den Wert-

vorstellungen,an der ethischen Substanz und an den moralischen Maßstäben.

Unser Gemeinwesen muß über das gesellschaftliche Klima stärker

nachdenken, als das in der Vergangenheit in Deutschland geschehen ist.

Dazu gehört selbstverständlich auch, daß über die sozialen Sicherungssysteme

nachgedacht werden muß. Die Absicherung der Schwachen bleibt eine

Nagelprobe für die Humanität in der Gesellschaft.Dies müssen wir uns 1600

Jahre nach dem Tod des Martin von Tours vor Augen halten. Nur hat die

Absicherung der Armen eigentlich keine nationalen Grenzen. Ich halte es

nicht für zulässig, daß wir ausschließlich aus deutscher Sicht definieren, was

Armut ist, und die Armut ein paar Kilometer jenseits unserer Grenzen mit

völlig anderen Maßstäben messen. Das macht es so schwer, Sozialpolitik auf

der Ebene der Europäischen Union zu betreiben, weil wir dann anerkennen

37D e u t s c h e F ra g e n

Page 33: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

müßten, daß ein mittleres Maß sozialer Gerechtigkeit innerhalb der EU eine

erhebliche Reduzierung der Hilfe für die Deutschen beinhalten würde. Das

wagt niemand auszusprechen, das wagt niemand zu diskutieren.

Infolge der Liberalisierung des Handels, des Verkehrs, der Geld-

märkte und infolge der offenen Grenzen durchbricht die Wirtschaft immer

stärker den nationalstaatlichen Rahmen. Durch die weltweit verzweigte

Kommunikation – Stichwort Internet – wird der Übergang von einer natio-

nalen zu einer globalen Ökonomie erzwungen und erzeugt eine internationale

soziale Frage.Letztlich brauchen wir darauf auch früher oder später zwingend

eine internationale Antwort.

Ich plädiere dafür, den Begriff Globalisierung nicht nur für die

ökonomischen Prozesse zu gebrauchen. Die Folgen von Globalisierung

erleben wir auch beim Wegfall der Grenzen. Die neue Herausforderung für

Sicherheit, die neuen Herausforderungen für alle anderen Bereiche sind

damit ebenso angesprochen und nicht etwa nur der Bereich der Ökonomie.

Seit 1992 ist die Job-Mobilität innerhalb Europas, die Zahl der

Menschen eines EU-Landes, die in einem anderen Mitgliedsstaat arbeiten,

nicht etwa gestiegen, sondern gesunken.Nach Schätzungen des Statistischen

Amtes der Europäischen Kommission arbeiteten 1995 2,5 Millionen Europäer

in einem anderen EU-Land. 1992, als Europa noch drei Länder weniger zählte

als heute, waren es 2,6 Millionen, also mehr als heute.

Der Binnenmarkt funktioniert für Waren und demnächst wohl

auch mit der gemeinsamen Währung, aber er funktioniert noch nicht für die

Menschen. Fazit aus dieser Bemerkung: Ohne höhere Mobilität und Flexi-

bilität im Denken und Handeln werden wir die überbordenden Sozialkosten

nicht senken und die Arbeitslosigkeit nicht abbauen können.Und deswegen

D r. B e r n h a rd Vo g e l Ein igke i t und Recht und Fre ihe i t –

Deutsch land am Vorabend des 2I . Jahrhunder ts

38D e u t s c h e F ra g e n

Page 34: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

müssen die Rahmenbedingungen der öffentlichen Hand an die neue Lage

angepaßt werden. Wenn etwa ein Drittel des BIP für soziale Zwecke aufge-

wendet wird im weitesten Sinn,dann muß die Frage erlaubt sein,ob das Geld

auch dorthin kommt, wo es hinkommen soll. Mit dieser Frage ist die eigent-

liche Aufgabe des Umbaus des Sozialstaates gemeint. Bei allem, was bei uns

in Deutschland geleistet wurde und geleistet werden muß,gilt:Geld allein löst

die Probleme nicht. Staatliche Förderung kann immer nur einen begrenzten

Teil der Hilfe leisten, die notwendig ist. Sie kann weder unternehmerisches

Engagement noch Innovationsfähigkeit, noch die Frage ersetzen, ob der

Nachbar für den Nachbarn genug tut.

Aufgrund der hohen Kosten für die Sozialversicherung in

Deutschland haben die Tarifpartner darauf aufmerksam gemacht, daß die

Lohnnebenkosten zu hoch sind.

Wir müssen in dieser Schlüsselfrage für die Zukunft des Standorts

Deutschland, sprich Senkung der Unternehmensbesteuerung, Senkung der

Lohnnebenkosten, durch Reduzierung der Kosten zu

Synergieeffekten gelangen. Wir brauchen die Leistungs-

bereitschaft der Menschen, ihren Leistungswillen und die

Bereitschaft, sich selbständig zu machen. Gerade auch um

der sozialen Gerechtigkeit willen.Wir brauchen vor allem

bei der jungen Generation die Bereitschaft zur Selbständig-

keit.Sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür,daß neue

Arbeitsplätze entstehen und daß damit auch die Möglich-

keit wächst, den Schwachen zu helfen.

Die Sozialpartnerschaft zwischen Staat und freien Trägern,wie sie

in Deutschland und in einigen anderen Mitgliedsstaaten der EU besteht, darf

39D e u t s c h e F ra g e n

Im Zeitalter der Globalisie-

rung wird soziale Gerechtig-

keit zunehmend auch von

äußeren Faktoren abhängig.

Ohne Leistung und Lei-

stungsbereitschaft der Men-

schen ist dabei auch die

Verwirklichung sozialer Ge-

rechtigkeit nicht möglich.

Page 35: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

nicht durch europäisches Recht eingeschränkt werden. Soziale Hilfe bedarf

nicht allein der behördlichen Ausprägung, sondern sie muß die unter-

schiedlichsten Initiativen, die in heutigen Formen der Solidarität lebendig

werden können, berücksichtigen. Wir brauchen auch eine neue Kultur

gelebter Solidarität.

Kein Zweifel: Einiges ist bei uns, was das betrifft, nicht im Gleich-

gewicht. Die sozialpolitischen Maßnahmen müssen stärker auf diejenigen

konzentriert werden, die der Hilfe wirklich bedürfen. Es ist vor allem not-

wendig, diese Hilfe zu geben mit dem Ziel, daß sie morgen überflüssig wird,

und nicht, daß sie sich verstetigt und lebenslang beibehalten wird. Es sind

die Elemente der Eigenvorsorge in der sozialen Sicherung zu verstärken. In

diesem Zusammenhang ist es notwendig, den Mißbrauch innerhalb der

sozialen Sicherungssysteme stärker einzudämmen. Der Sozialstaat darf nicht

abgebaut, aber er muß umgebaut und er muß auch im Hinblick auf unsere

Nachbarn weiterentwickelt werden.

Die Chinesen haben für Risiko und für Chance das gleiche Wort.

Ich glaube, das ist ein ermutigender Hinweis darauf, daß die Herausforde-

rungen eben nicht nur Risiken bedeuten, sondern auch außerordentlich

große Chancen, die es zu nutzen gilt.

Wir werden wohl nie voll befriedigende soziale Gerechtigkeit

haben. Soziale Gerechtigkeit ist ein Erfordernis, um das man sich immer neu

bemühen muß. Und wir haben allen Anlaß, aus einer ganzen Reihe von

Gründen, dieses Bemühen zu verstärken. Es ist ein gutes Zeichen, daß die

privaten Banken der Bundesrepublik Deutschland uns dabei unterstützen.

D r. B e r n h a rd Vo g e l Ein igke i t und Recht und Fre ihe i t –

Deutsch land am Vorabend des 2I . Jahrhunder ts

40D e u t s c h e F ra g e n

Page 36: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

41D e u t s c h e F ra g e n

„O h n e L e i s t u n g d e r M e n s c h e nk e i n e s o z i a l e G e r e c h t i g k e i t“

Page 37: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

42D e u t s c h e F ra g e n

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n

Wo bleibt die Arbeit? – Eine wirtschaftspolitische Bilanz nach acht Jahren deutscher Einheit

Magnifizenz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

Herr Bischof Wanke, Herr Dr.Weber und sehr geehrter Herr

Landeszentralbankpräsident, meine Damen und Herren!

Soziale Gerechtigkeit ist das Thema dieser Tagung,

und mir ist die Aufgabe zugedacht, in diesem Zusammen-

hang über die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern

zu reden und auch eine kurze wirtschaftspolitische Bilanz

der Vereinigungspolitik zu ziehen. Ich fühle mich als Ökonom

eigentlich nicht sehr kompetent, was die Definition der

sozialen Gerechtigkeit betrifft, indes kann ich etwas zu den

Zielkonflikten zwischen Gerechtigkeit und Effizienz, zwischen

den verschiedenen Dimensionen der Gerechtigkeit sagen.

Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht der

Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung, denn ich gehe ein-

mal davon aus, daß hier die beiden wichtigsten Ansatzpunkte für die soziale

Gerechtigkeit liegen.Die Bürger der neuen Länder,die die Last des verlorenen

Krieges praktisch alleine getragen haben, haben es verdient, daß ihnen ein

sicherer Arbeitsplatz bei einem hohen, dem Westniveau entsprechenden

Lohn zur Verfügung gestellt wird. Das Problem ist nur, daß es in der Markt-

wirtschaft niemanden gibt, der direkt für Löhne oder Beschäftigung verant-

wortlich ist. Es liegt im Wesen der Marktwirtschaft, daß die Politik für diese

Größen nicht unmittelbar zuständig ist. Sie ist allenfalls mittelbar zuständig,

indem sie den Gesetzesrahmen für privatwirtschaftliche Aktivitäten schaffen

und eine öffentliche Infrastruktur zur Verfügung stellen muß, die es den

privaten Firmen erlaubt, erfolgreich tätig zu werden.Wie hoch der Lohn sein

kann und wie hoch die Beschäftigung ist, das wird durch die Marktkräfte

Prof. Dr. Hans-Werner SinnCenter for Economic Studies,Universität MünchenVorsitzender des Vereins für Socialpolitik

Page 38: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

bestimmt.Wunschdenken hilft hier nicht weiter. Die beiden Größen stehen

in einem ziemlich festen, ja ich würde schon fast sagen naturgesetzlichen

Zusammenhang zueinander, den man als gegeben hinnehmen muß. Die

Marktwirtschaft funktioniert nach ähnlich festen Gesetzen

wie die Physik. Man kann ein Haus nicht gegen die Gesetze

der Statik bauen,und man kann eine Maschine nicht gegen

die Gesetze der Mechanik konstruieren, jedenfalls läuft sie dann nicht. Es

wundert mich immer wieder, wenn ich sehe, wie viele Menschen davon

überzeugt sind, man könne soziale Gerechtigkeit gegen die Gesetze der

Marktwirtschaft durchsetzen. In Wahrheit geht das natürlich überhaupt

nicht. Man muß soziale Gerechtigkeit anstreben, aber man muß es mit und

nicht gegen den Markt tun.

Die Wirtschaftspolitik nach der deutschen Vereinigung hat dieses

nach meiner festen Auffassung nicht wirklich beherzigt. Es wurden zu viele

Entscheidungen getroffen oder auch nur akzeptiert, die mit den Gesetzen

des Marktes nicht vereinbar waren. Das ist das Thema meines Vortrages.

Ich werde erstens eine kurze Bilanz der Wirtschaftsentwicklung

ziehen, zweitens das Lohnproblem diskutieren und drittens auf mögliche

Auswege aus der prekären Lage auf dem Arbeitsmarkt zu sprechen kommen.

Es war ja ein hoffnungsvoller Beginn nach der deutschen Vereinigung.

Blühende Landschaften nach drei, vier, fünf Jahren wurden uns versprochen.

In der Tat: Man sieht die Blüten. Man sieht, daß es eine stürmische Erneue-

rung der Stadtkerne in Ostdeutschland gegeben hat,daß die Infrastruktur auf

Vordermann gebracht wurde und daß ein hohes Konsumniveau realisiert

wird. Es hat sich wirklich vieles zum Besseren gewandelt. Indes wurde und

wird ein zu geringer Teil der sichtbaren Leistungen in den neuen Bundes-

43D e u t s c h e F ra g e n

Man muß soziale Gerechtigkeit

anstreben, aber man muß es mit

und nicht gegen den Markt tun.

Page 39: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

ländern selbst erbracht. Die Arbeit bleibt aus, und das hohe Niveau der

sichtbaren Leistungen wird zum großen Teil durch die laufenden Transfers

aus Westdeutschland sichergestellt.

Ich möchte Ihnen dazu ein Diagramm zeigen, das, so glaube ich,

die Problematik in aller Deutlichkeit zeigt. Sie sehen die Entwicklung des

Bruttoinlandsproduktes der neuen Länder von 1990 bis 1997 in der grünen

Kurve. Das Bruttoinlandsprodukt ist das Maß für die wirtschaftliche Lei-

stung,die in den neuen Ländern selbst erbracht wird.Und oben, in der roten

Kurve, sehen Sie die Entwicklung der Inanspruchnahme von Gütern und Lei-

stungen für private und öffentliche Zwecke in den neuen Bundesländern.

Man nennt diese Größe Absorption. Im letzten Jahr lag die Absorption bei

600 Milliarden DM. Erzeugt wurden hiervon nur 400 Milliarden DM. Das

heißt, der Verbrauch der Haushalte, der Investoren und des Staates lag um

50 % über der eigenen Erzeugung.

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

44D e u t s c h e F ra g e n

}700

600

500

400

300

200

I00

0

Absorption

Überschuß-absorption

2I0

6I3

79

I30

404BIP

Mrd. DM

90 9I 92 93 94 95 96 97Jahr

Abb. 1Die Überschuß-absorption derneuen Länder

Private Kapitalimporte

Öffentliche Transfers

Page 40: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Das ist eine Situation,die so nicht aufrechtzuerhalten ist.Das Ausmaß, in dem

die neuen Länder auf Zuwendungen vom Westen angewiesen sind,übersteigt

das, was man noch als nachhaltig, um dieses Wort von Bischof Wanke zu ver-

wenden, bezeichnen kann.

Das Geld kommt zum Teil aus privaten Quellen: 80 Milliarden des

Überschusses sind private Kapitaltransfers. Aber der Löwenanteil in Höhe

von 130 Milliarden sind Transfers über die öffentlichen Haushalte, die zu

einem Teil für die Schaffung einer neuen Infrastruktur, zum überwiegenden

Teil aber für Subventionen und für soziale Zwecke verwendet werden. Das

Transfervolumen ist pro Kopf gerechnet das Zweieinhalbfache des ver-

fügbaren Einkommens eines Polen.

Ich glaube nicht, daß Westdeutschland ein Transfervolumen in

diesem Umfang dauerhaft wird finanzieren können. Bislang sind die Lasten

im Westen zwar noch nicht zu spüren gewesen,denn wir haben die Transfers,

die sich mittlerweile auf cum grano salis 1.000 Milliarden summieren, durch

Staatsverschuldung finanziert. Die Staatsschulden lagen im Jahre 1989 bei

900 Milliarden DM,und jetzt liegen sie bei 2.200 Milliarden DM.Aber so kann

das nicht weitergehen. Ich glaube nicht, daß wir uns eine ähnliche Ver-

schuldungspolitik wie in der Vergangenheit dauerhaft werden leisten können.

Wir müssen ja auch an zukünftige Generationen denken und können nicht

nur immer die Lasten der Vereinigung in die Zukunft schieben.Es muß etwas

geschehen, damit die neuen Länder nun wirklich auf ihre eigenen Beine

kommen und der vielzitierte, sich selbst tragende Aufschwung einsetzt.

Das Wohlstandsniveau, das mit Hilfe der Transfers erzeugt wurde,

ist hoch. Wenn man die neuen Länder mit allen anderen Ländern des ehe-

maligen Ostblocks vergleicht, so sieht man, daß das Realeinkommen ein

45D e u t s c h e F ra g e n

Page 41: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Vielfaches dessen beträgt, was anderswo realisiert wurde. Aber das Pro-

blem ist der Arbeitsmarkt. Die gesamte Beschäftigung ist auf etwa 60 % des

ursprünglichen Wertes gefallen – und im Bereich des verarbeitenden Gewerbes

sogar auf 20 %.Vier von fünf Arbeitsplätzen im Bereich des verarbeitenden

Gewerbes sind ersatzlos verschwunden.

Manchmal wird behauptet, das sei insofern kein Problem, als der

Beschäftigungsstand aufs Tausend der Bevölkerung gerechnet nicht viel

niedriger als in Westdeutschland sei. Dem kann ich nicht folgen, denn in den

neuen Ländern ist der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung

größer als in Westdeutschland. Das liegt zum einen an dem größeren Anteil

junger Menschen, zum anderen an der höheren Erwerbsneigung der Frauen.

Mit der Devise „Heim an den Herd!“ läßt sich die Proble-

matik nicht beiseite schaffen. Im übrigen sind, großenteils

wegen der Arbeitslosigkeit, seit der Vereinigung brutto

über zwei, netto mehr als 1,2 Millionen Menschen in den

Westen gewandert,und viele sind dadurch aus der Arbeits-

losenstatistik verschwunden, daß sie in staatlichen Arbeitsbeschaffungs-

programmen untergebracht wurden.

Die Arbeitslosigkeit ist kein allgemeines Phänomen. Der Dienst-

leistungssektor hat sich gut entwickelt und hat vielen Menschen Arbeit und

Brot gegeben. In den Jahren nach der Vereinigung hat zunächst die Bau-

industrie stark floriert. Der Boom ist inzwischen zwar zu Ende gegangen,

weil die steuerlichen Fördermaßnahmen zurückgegangen sind, doch ist das

Beschäftigungsniveau in diesem Sektor immer noch hoch.Große Hoffnungen

setzt man neuerdings auf das verarbeitende Gewerbe,wo in letzter Zeit hohe

Zuwachsraten zu verzeichnen sind. Allerdings ist das Niveau, von dem aus

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

46D e u t s c h e F ra g e n

Die Arbeit bleibt aus, und das

hohe Niveau der sichtbaren Lei-

stungen wird zum großen Teil

durch die laufenden Transfers

aus Westdeutschland sichergestellt.

Page 42: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

der Zuwachs gemessen wird, außerordentlich niedrig. Der ostdeutsche

Anteil der Erwerbstätigen im verarbeitenden Gewerbe liegt immer noch

um 13 Prozentpunkte unter dem entsprechenden west-

deutschen Wert. Der Nachholbedarf ist unverändert hoch.

Umfangreiche Beschäftigungsmöglichkeiten

bieten in den neuen Ländern vor allem der öffentliche

Dienst und die Sozialversicherungsträger. Der Beschäfti-

gungsanteil in diesen Sektoren ist im Osten sehr viel höher als im Westen.

Leider ist aber die Beschäftigung beim Staat nicht gerade eine besonders

sinnvolle Lösung des Problems.

Wie kam es zu der Massenarbeitslosigkeit im Bereich der verarbei-

tenden Industrie? Es wird von politischer Seite immer darauf hingewiesen,

daß der Zusammenbruch der Ostmärkte an erster Stelle der Erklärungsfaktoren

zu nennen sei. Ich bin anderer Meinung, und zwar aus zwei Gründen.

Erstens sind ja auch die Westmärkte für ostdeutsche Produkte

zusammengebrochen, wenn man so will. Die DDR hatte fleißig über den

innerdeutschen Handel in den Westen exportiert. Die Exportquote war

höher als die westdeutsche, und die Hälfte ihres Exportes ging nach West-

europa.Wieso wurden die alten Geschäftsbeziehungen nicht fortgesetzt?

Und zweitens paßt der Erfolg mancher osteuropäischer Länder

nicht zur These von den zusammenbrechenden Märkten.Westungarn ist zur

Zeit die am stärksten wachsende Region ganz Europas. Polen hat ein

beständig hohes Wirtschaftswachstum gehabt, welches sich auch auf dem

Arbeitsmarkt niedergeschlagen hat. Die alten Märkte für polnische und

ungarische Firmen sind zwar weggebrochen, aber da man billige Produkte

anbieten konnte, sind schnell wieder neue entstanden. Das Problem der neuen

47D e u t s c h e F ra g e n

Die Staatsschulden lagen im

Jahre 1989 bei 900 Milliar-

den DM, und jetzt liegen sie

bei 2.200 Milliarden DM. So

kann das nicht weitergehen.

Page 43: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Länder ist nicht das Wegbrechen der Märkte,sondern die mangelnde Fähigkeit,

Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen zu erzeugen.Märkte gibt es immer,

wenn man ein für den Käufer attraktives Angebot machen kann.

Polens Weg muß man wirklich bewundern. Die Polen haben ganz

unten angefangen und steigen nun langsam, Jahr für Jahr, nach oben. Die

Menschen sind dort glücklich über den kleinen Zuwachs, den sie erfahren

haben, weil es beständig weiter bergauf geht. Bei uns hat man auf einmal

einen großen Sprung gemacht und ärgert sich jetzt darüber,

daß es nicht entsprechend weitergeht. Der Mensch ist

nicht so geschaffen, daß er mit solch einer Entwicklung

zufrieden wäre. Kleine Zuwächse von unten stiften mehr

Glück als ein einmaliger Sprung auf ein hohes Niveau,dem

dann eine Stagnation folgt.

Einen Sprung hat es insbesondere bei den

Löhnen gegeben. Was hier geschah, ist mit marktwirt-

schaftlichen Verhältnissen nicht mehr vereinbar. Im

verarbeitenden Gewerbe und im Bergbau der neuen

Bundesländer liegt heute die Lohnquote bei mehr als 100 %. Das heißt, daß

von der Wertschöpfung in diesen Sektoren – das ist die Differenz zwischen

den Verkaufserlösen der Produkte und den Kosten für die Vorprodukte –

über 100 % für Löhne verwendet werden. In allen anderen Marktwirtschaften

der Welt einschließlich Westdeutschlands liegt der Prozentsatz nur ungefähr

bei 65 bis 70 %. Es muß nämlich auch noch Gewinne geben, um den Einsatz

des Kapitals, also die Zinskosten zu finanzieren. In vielen Branchen der neuen

Bundesländer kann eine Kapitalverzinsung zur Zeit nicht verdient werden.

Kein Wunder,daß die gewünschten Investitionen und der sich selbst tragende

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

48D e u t s c h e F ra g e n

Wir müssen ja auch an zu-

künftige Generationen denken

und können nicht nur immer

die Lasten der Vereinigung in

die Zukunft schieben. Es muß

etwas geschehen, damit die

neuen Länder nun wirklich auf

ihre eigenen Beine kommen

und der vielzitierte, sich selbst

tragende Aufschwung einsetzt.

Page 44: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

49D e u t s c h e F ra g e n

„W o b l e i b t d i e A r b e i t ?“

Page 45: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

36,8

50,7

6I,5 66,970,2

7I,8 72,2 72,2

Westdeutschland

SchwedenNorwegenJapanÖsterreich

USAItalien

Australien

Irland

GriechenlandTschechienPolen

Ostdeutschland

I99I I993 I995 I997 Jahr

I00

90

80

70

60

50

40

30

20

I0

0

Zusammenbruchdes EWS

Aufschwung ausbleiben. Diese Situation ist nicht tragbar für eine Markt-

wirtschaft. Man hat versucht, ein Haus zu konstruieren, ohne die Gesetze

der Statik zu beachten. Kein Wunder, daß die Sache so nicht funktioniert.

Der Herr Ministerpräsident hat von den offenen Märkten, von der

Globalisierung gesprochen. Wir müssen uns in der Tat mit den anderen

Ländern, mit denen wir im Wettbewerb stehen, vergleichen. Die anderen

Länder versuchen ebenfalls, ihre Produkte zu verkaufen, auch sie haben ein

Kostenproblem, und die wichtigsten Kosten für die Produktion einer Volks-

wirtschaft sind nun einmal die Löhne. Im nachfolgenden Diagramm werden

die Lohnkosten pro Stunde, und zwar Kosten einschließlich der sogenannten

Lohnnebenkosten, international miteinander verglichen. Westdeutschland

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

50D e u t s c h e F ra g e n

Abb. 2OstdeutscheBruttolohnkostender Arbeitnehmerim verarbeitendenGewerbe je Stundein Prozent deswestdeutschen Niveaus – unterBerücksichtigungvon Lohn- undWechselkursver-änderungen

Page 46: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

ist gleich 100 gesetzt, das ist der Maßstab, und die anderen Länder sind mit

ihren Lohnkosten relativ zu den westdeutschen Lohnkosten dargestellt. Der

Vergleich erstreckt sich auf die gesamte Zeit seit der deutschen Vereinigung.

Zum Beispiel sieht man, daß die australischen Stundenlohnkosten relativ zu

den westdeutschen knapp über 50 % liegen oder daß die US-amerikanischen

Stundenlohnkosten etwa 65 % der westdeutschen betragen. Nur wenig über

7 % liegen auch heute noch die Löhne von Tschechien oder Polen.

Wo liegen die ostdeutschen Stundenlohnkosten? Vor der Ver-

einigung, und insbesondere vor der Währungsumstellung, gerechnet zum

damals herrschenden Kurs von 4,3 zu 1, lagen die ostdeutschen Lohnkosten

bei 7 % der westdeutschen. Gemeint sind dabei nicht etwa die Reallöhne in

Konsumgütereinheiten, sondern die Löhne in DM umge-

rechnet. Beide stehen nicht in derselben Relation zu den

entsprechenden westdeutschen Größen, denn man muß

ja berücksichtigen,daß die nicht gehandelten Waren in der

DDR sehr billig waren. Nur die zum jeweils herrschenden Wechselkurs in

DM umgerechneten Löhne sind freilich für die Beurteilung der Wettbewerbs-

fähigkeit der ostdeutschen Industrie relevant.

Dann gab es die 1 : 1-Umstellung. Die Währung, die beim Handel

mit dem Westen mit 4,3 :1 bewertet worden war, wurde plötzlich der DM

gleichgesetzt.Das brachte einen Lohnschub auf knapp 37 % des Westniveaus.

Anschließend gab es Lohnverhandlungen, die den gesamten

Zeitpfad der ostdeutschen Löhne relativ zu den westdeutschen Löhnen fest-

gelegt haben. Zunächst hat man dabei eine Anpassungsperiode von 5 Jahren

vereinbart,dann wurde noch einmal nachverhandelt,und der Pfad wurde um

ein weiteres Jahr gestreckt.Angestrebt wurde eine völlige Gleichheit der

51D e u t s c h e F ra g e n

Kleine Zuwächse von unten stif-

ten mehr Glück als ein einmali-

ger Sprung auf ein hohes Niveau,

dem dann eine Stagnation folgt.

Page 47: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Tariflöhne innerhalb kürzester Frist, und sie ist auch

weitgehend realisiert worden.

In der Abbildung ist statt der Relation der Tarif-

löhne die faktische Lohnrelation dargestellt. Da im Westen

Löhne gezahlt werden, die in weiten Bereichen über, und

im Osten aber Löhne, die häufig unter den Tariflöhnen

liegen, ist man inzwischen erst bei gut 70 % angekommen. Das ist zwar

weniger als eine völlige Lohnangleichung, doch gemessen am Zustand der

ostdeutschen Wirtschaft schon sehr viel. Immerhin liegen die ostdeutschen

Löhne damit in DM gerechnet beim Zehnfachen des Wertes, den sie vor der

Währungsunion im Jahre 1989 gehabt haben,und sie liegen fast beim Niveau

der Löhne von Österreich,Schweden,Norwegen oder Japan.Keine Wirtschaft

dieser Welt, schon gar nicht eine marode kommunistische Wirtschaft, hätte

eine Verzehnfachung der Löhne in so kurzer Zeit überstehen können,und so

dürfen wir uns über den Kahlschlag auf den Arbeitsmärkten nicht wundern.

Zu rechtfertigen wäre die Lohnentwicklung nur dann gewesen,

wenn es entsprechende Produktivitätssprünge gegeben hätte. Die Produk-

tivität hätte sich ebenfalls auf das Zehnfache vergrößern müssen. Das hat sie

aber nicht getan, auch wenn die Statistiken auf den ersten Blick ein relativ

rosiges Bild vermitteln.

Den relevanten Produktivitätszuwachs zu messen ist nicht einfach,

denn die Statistik zeigt immer nur die Produktivität der trotz Lohnerhöhung

übriggebliebenen Arbeitsplätze an. Die minder produktiven Arbeitsplätze

werden durch Lohnerhöhungen vernichtet,und so steigt die durchschnittliche

Produktivität der verbleibenden Arbeitsplätze durch eine Lohnerhöhung

von ganz alleine an, ohne daß es irgendeine technische Innovation gegeben

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

52D e u t s c h e F ra g e n

Keine Wirtschaft dieser Welt,

schon gar nicht eine marode

kommunistische Wirtschaft, hätte

eine Verzehnfachung der Löhne

in so kurzer Zeit überstehen

können, und so dürfen wir uns

über den Kahlschlag auf den

Arbeitsmärkten nicht wundern.

Page 48: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

hätte. Im verarbeitenden Gewerbe der neuen Länder ist dies der maßgebliche

Effekt, denn immerhin haben dort nur 20 % der Arbeitsplätze die Lohn-

erhöhungen überlebt.

Berücksichtigt man diese Verzerrung in der Statistik nicht, so

ergibt sich ein erheblicher Produktivitätszuwachs auf fast das Achtfache.

Das ist zwar weniger als das Zehnfache, aber doch schon sehr viel. Die ost-

deutschen Lohnstückkosten, die als Quotient aus Stundenlöhnen und

Produktivität definiert sind, liegen nach dieser Rechnung nur etwa um 30 %

über den westdeutschen, und es scheint keinen Grund zur Besorgnis zu

geben. Berücksichtigt man diese Verzerrung jedoch, so erkennt man, daß die

Produktivität tatsächlich nur auf das 2,4fache gestiegen ist,was sich mit der

Lohnerhöhung auf das Zehnfache des ehemaligen DM-Wertes überhaupt

nicht verträgt. Die ostdeutschen Lohnstückkosten liegen dann bei sage und

schreibe 400 % des westdeutschen Wertes. Der Anstieg der Lohnstückkosten

auf das Vierfache des westdeutschen Wertes hat die meisten Arbeitsplätze im

Bereich der verarbeitenden Industrie vernichtet, und nur bei den wenigen,

die diesen Anstieg überlebt haben, liegen die Lohnstückkosten bei moderaten

130 % der entsprechenden westdeutschen Werte. Dies ist die korrekte

Darstellung der Produktivitätsproblematik.

Was ist der Grund dafür,daß die Löhne dermaßen stark angestiegen

sind? Zunächst einmal gibt es die offizielle politische Stellungnahme, die Sie

alle kennen. Ohne die hohen Löhne wären die Leute alle in den Westen

gewandert, und deswegen seien sie erforderlich gewesen.

Diese Stellungnahme hat natürlich einen wahren Aspekt. In der

Tat kann man sich auf die Dauer in einem vereinten Deutschland nur eine

Arbeitswelt mit weitgehend angeglichenen Löhnen und einer gleichmäßigen

53D e u t s c h e F ra g e n

Page 49: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Besiedlung beider Landesteile vorstellen.Aber das ist kein Grund für poli-

tischen Aktionismus.Das freie Spiel der Marktkräfte könnte gar nichts anderes

hervorbringen. Die anfangs niedrigen Löhne in den neuen Ländern hätten

massive Kapitalinvestitionen hervorgerufen,was die Nachfrage nach Arbeits-

kräften seitens der ostdeutschen Firmen bis zur Vollbeschäftigung ausgedehnt

und dann sogar Verknappungstendenzen am Arbeitsmarkt induziert hätte.

Wegen der Verknappung der verfügbaren Arbeitskräfte wäre es zu einem

raschen Lohnanstieg gekommen,der erst mit dem Erreichen des Westniveaus

sein Ende erreicht hätte, weil erst dann der Anreiz für weitere Kapitalin-

vestitionen erloschen wäre.

Falsch an der offiziellen Stellungnahme war nur, daß man dem,

was ohnehin gekommen wäre,durch die Lohnpolitik vorauseilen wollte.Das

Vorauseilen hat nicht funktioniert, denn man kann die Unternehmer nicht

zwingen, den Löhnen mit ihrem Kapital nachzulaufen. Die gewünschten

Kapitalinvestitionen kommen in einer Marktwirtschaft nur dann zustande,

wenn die Unternehmer einen Extraprofit erhoffen können. Daß sie diesen

Profit auf die Dauer durch ihre eigene Lohnkonkurrenz um die Arbeitskräfte

wieder zunichte machen, gehört zu den Wundern dieser Wirtschaftsform,

durch die sie auch für die Arbeitnehmer attraktiv wird.Beschneidet man den

Profit oder senkt man ihn gar auf Null, wie es in den neuen Ländern in

weiten Teilen der Fall war, dann bleiben die notwendigen Investitionen aus,

und es entsteht eine Massenarbeitslosigkeit.

Die Politik der vorschnellen Lohnanpassung hat nicht nur

verhindert, daß es zu einem neuen Wirtschaftswunder gekommen ist.

Pikanterweise hat sie noch nicht einmal ihr vielbeschworenes Ziel erreicht,

eine massenhafte Westwanderung der Bevölkerung zu verhindern. Im Gegen-

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

54D e u t s c h e F ra g e n

Page 50: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

teil, dadurch, daß sie zusätzliche Arbeitslosigkeit geschaffen hat, hat sie

wahrscheinlich sehr viel mehr Westwanderung erzeugt, als es bei einer

moderateren Lohnpolitik der Fall gewesen wäre. Ich habe schon erwähnt,

daß etwa zwei Millionen Ex-DDR-Bürger, also nicht weniger als 12 % der

Bevölkerung nach der Wende in den Westen umgezogen sind.

In der Öffentlichkeit ist der Eindruck verbreitet, daß die Politik

der schnellen Lohnangleichung aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit

gewählt wurde und daß die wirtschaftlichen Konsequenzen auf dem

Arbeitsmarkt notgedrungen in Kauf zu nehmen waren. Ich glaube nicht, daß

dieser Eindruck korrekt ist. Jedenfalls hat das Motiv, Gerechtigkeit obwalten

zu lassen, die Lohnverhandlungen nicht wirklich bestimmt. Man muß ja

unterscheiden zwischen den wirklichen Motiven derer, die die Lohnver-

handlungen geführt haben, und der politischen Begleitmusik, die ansonsten

zu diesem Thema erzeugt wurde. Ich glaube nicht,daß die politische Begleit-

musik den Kern der Sache trifft, und ich glaube auch nicht, daß das Los der

neuen Bundesbürger überhaupt irgendeine besondere Rolle bei den Lohn-

verhandlungen gespielt hat.

In Wahrheit erklären sich die Löhne aus der egoistischen Interessen-

lage der westdeutschen Tarifpartner,die auch im Osten die Tarifverhandlungen

geführt haben. Ja, es waren in der Tat die westdeutschen Tarifpartner, denn

im Osten gab es noch gar keine eigenständigen Kräfte,die die Verhandlungen

hätten führen können. Die neuen Ostgewerkschaften waren mit Westpersonal

besetzt und vom Westen gesteuert, und auch die neuen Arbeitgeberverbände

waren nur in einem formalen Sinne ostdeutsche Organisationen. In Wahrheit

waren auch sie mit westdeutschem Personal besetzt und von westdeutscher

Seite gesteuert. Die Verhandlungen, die die Lohnentwicklung über nicht

55D e u t s c h e F ra g e n

Page 51: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

weniger als fünf Jahre festgelegt haben, fanden ja bereits im Jahre 1991 statt,

als die Treuhandanstalt gerade mal erst mit ihren Privatisierungsaktionen

begonnen hatte. Es gab zu diesem Zeitpunkt noch gar keine ostdeutschen

Unternehmer, die sich an den Verhandlungen hätten beteiligen können und

die sich einer Entwertung ihres Betriebsvermögens durch exzessive Lohn-

vereinbarungen hätten widersetzen können. Nur die Treuhand selbst hätte

dies tun können, aber die hielt sich vornehm zurück. Die Westdeutschen, die

auf beiden Seiten des Verhandlungstisches saßen,kamen sehr schnell überein,

daß eine Politik der schnellen Lohnangleichung erstrebenswert sei. Ihre

Devise war: „Wer auf unseren Märkten ohne Sprachbarrieren und ohne

Handelsschranken anbieten möchte,der möge das bitte auch zu den gleichen

Konditionen tun.“ Es war also der Schutz der westdeutschen Industrie und

nicht der Wohlstand der ostdeutschen Arbeitnehmer, der das treibende Motiv

bei den Verhandlungen war.Herr Rappe hat damals sogar gesagt, er würde es

im Bereich der ostdeutschen Chemieindustrie durchaus akzeptieren, wenn

die Lohnangleichung im Osten eine Arbeitslosigkeit von 20 bis 30 % zur

Folge hätte.

Die westdeutschen Tarifverhandlungen funktionieren normaler-

weise gut, weil auf beiden Seiten des Tisches Leute mit unterschiedlichen

Interessen sitzen. Die einen wollen hohe Löhne, die anderen wollen niedrige

Löhne, und dann finden sie einen Kompromiß. In Ostdeutschland saßen an

beiden Seiten des Tisches Verhandlungspartner,die hohe Löhne wollten,und

insofern ist es nicht verwunderlich, daß die Löhne sehr schnell angestiegen

sind.Würde man heute verhandeln, so wäre die Situation ganz anders, denn

heute gibt es ostdeutsche Unternehmer,die ein Interesse an niedrigen Löhnen

haben.Aber man ist ja an die alten Verträge gebunden und kommt aus ihnen

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

56D e u t s c h e F ra g e n

Page 52: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

nicht so leicht heraus.Mehr und mehr Unternehmen finden allerdings Mittel

und Wege, die Tarifvereinbarungen zu unterlaufen.Viele sind gar nicht mehr

im Arbeitgeberverband und vereinbaren mit ihrer Belegschaft Löhne unter-

halb des Tarifniveaus.Glücklicherweise hilft sich der Markt zum Schluß doch

selber.

Hätte es eine Alternative gegeben? Und: Was können wir heute

noch tun? Ich vertrete dazu eine Position, die wahrscheinlich nur von einer

Minderheit meiner Professorenkollegen geteilt wird. Ich vermute in diesem

Punkte aber eine gewisse Geistesverwandtschaft mit dem Herrn Bischof.

Man hat beim Untergang des Kommunismus und bei der Bildung

der Marktwirtschaft versäumt, den Menschen in den neuen Ländern Eigen-

tumsrechte am vorhandenen Staatsvermögen zu geben.Wenn man eine, ich

sage es einmal so, „kapitalistische Marktwirtschaft“ ab ovo

einführt, dann muß man natürlich auch dafür sorgen, daß

es „Kapitalisten“ gibt. Man braucht also Leute, die Ver-

mögensbesitz haben und auf der Basis dieses Besitzes in

der Lage sind, eigene Betriebe zu gründen. Nur wer Ver-

mögen hat, kann Maschinen kaufen, und nur er bekommt von der Bank

Kredite. Wer nichts hat, dem wird nichts gegeben und dem fällt der Start

außerordentlich schwer. Man hätte die Möglichkeit gehabt, den neuen

Bundesbürgern Vermögensbesitz zu geben, und diese Möglichkeit wurde ja

im übrigen auch durch die entsprechenden Gesetze und Verträge vor-

geschrieben. Ich verweise auf das Treuhandgesetz, welches die frei gewählte

Volkskammer am 17. Juni 1990 verabschiedet hat. Ich verweise auf den

Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion, und ich verweise schließ-

lich auch auf den Einigungsvertrag. In allen drei Schriftstücken steht ganz

57D e u t s c h e F ra g e n

„Wer auf unseren Märkten ohne

Sprachbarrieren und ohne Han-

delsschranken anbieten möchte,

der möge das bitte auch zu den

gleichen Konditionen tun.“

Page 53: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

deutlich, daß Möglichkeiten geschaffen werden sollen, den Bürgern der neuen

Länder „verbriefte Anteilsrechte am ehemaligen volkseigenen Vermögen“

zuzuweisen.Man beachte, da steht nicht etwa: „nach Möglichkeit“ sollen An-

teilsrechte zugewiesen werden, sondern: es sollen „Möglichkeiten geschaffen“

werden, verbriefte Anteilsrechte zuzuweisen. Das ist ein klarer Auftrag, dem

man sich nicht mit dem Hinweis auf die schlechten Aussichten für die ost-

deutschen Betriebe hätte entziehen dürfen, zumal diese Aussichten ganz

maßgeblich auf die Lohnpolitik selbst zurückzuführen waren.Bei einer maßvollen

Lohnpolitik, für die man im Falle einer Beteiligung der neuen Bundesbürger

am ehemals volkseigenen Vermögen hätte Verständnis erzeugen können,wären

die Werte der Treuhandfirmen beachtlich gewesen. Hätte

man z. B.den in Abbildung 2 dargestellten Lohnanpassungs-

pfad nach der Währungsunion parallel um fünf Jahre ver-

schoben, also zunächst fünf Jahre lang mit Löhnen in Höhe

eines Drittels der westdeutschen Löhne gearbeitet, so wären

die Gewinne der Treuhandunternehmen allein schon wegen

der eingesparten Löhne um 150 Millionen DM größer ge-

wesen.Hinzugekommen wäre eine weitere Gewinnsteigerung als Folge einer

Expansion der ostdeutschen Unternehmen,die die sichere Konsequenz einer

Lohnzurückhaltung gewesen wäre.Die für eine breite Vermögensübertragung

nötige Verteilungsmasse wäre also vorhanden gewesen, wenn man der ost-

deutschen Bevölkerung statt der exorbitanten Lohnversprechungen privat-

rechtliche Eigentumsansprüche am ehemaligen volkseigenen Vermögen

gegeben hätte.Diese Politik hätte nicht nur zu mehr Verteilungsgerechtigkeit

geführt, sie hätte darüber hinaus auch ein Wirtschaftswunder erzeugt,wie es

die Bundesrepublik nach dem Kriege erlebt hat.

P r o f . D r. H a n s - We r n e r S i n n Wo b le ibt d ie Arbe i t? –

E ine wi r tschaf tspo l i t ische B i lanz nach acht Jahren deutscher E inhe i t

58D e u t s c h e F ra g e n

Man hat beim Untergang des

Kommunismus und bei der

Bildung der Marktwirtschaft

versäumt, den Menschen in

den neuen Ländern Eigentums-

rechte am vorhandenen

Staatsvermögen zu geben.

Page 54: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Nun, das ist Schnee von gestern, das geht jetzt so nicht mehr.Aber man kann

eine Variante der Idee heute immer noch realisieren,wenn man Löhne gegen

Beteiligungsrechte tauscht.Warum gehen die Betriebe nicht her und bieten

ihrer Belegschaft eine Mitbeteiligung im Austausch gegen eine Lohnzurückhal-

tung an? Das ist eine Strategie, wie sie in großem Stil von US-amerikanischen

Firmen vorgenommen wurde. Ich verweise hier auf das Beispiel der Flug-

gesellschaft United Airlines. Sie wissen, das ist die Fluggesellschaft, mit der

die Lufthansa kooperiert. United Airlines stand vor einigen Jahren in großen

Schwierigkeiten und schrieb rote Zahlen. Da kam das Management auf eine

glorreiche Idee, die auch sogleich realisiert wurde. Die Löhne wurden um

8 % gesenkt, und das so verringerte Lohnniveau wurde für fünf Jahre fest-

gehalten. Im Austausch wurden den Belegschaftsmitgliedern Anteile am

Unternehmen zugewiesen, die wertmäßig den Umfang des Barwertes der

Lohnsenkung hatten. Diese Politik führte sofort dazu, daß wieder schwarze

Zahlen geschrieben wurden und daß das Unternehmen wettbewerbsfähig

wurde.Außerdem kam es wegen der Lohnsenkung zu einer Expansion des

Unternehmens, die neue Jobs geschaffen und die Gewinne vergrößert hat,

wovon sowohl die Alt- als auch die Neuaktionäre profitierten. Der United-

Airlines-Deal zeigt, daß es durchaus möglich ist, die Blockade auf dem

Arbeitsmarkt zu überwinden. Er eröffnet darüber eine reale Möglichkeit,

die versäumte Vermögensbildung der neuen Bundesbürger nachzuholen.

Mit diesem Vorschlag möchte ich meinen Vortrag beenden. Er

versöhnt die wirtschaftliche Effizienz mit dem Ziel, den Bürgern der neuen

Länder Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man sollte ihn realisieren, denn

die Alternative einer fortgesetzten Massenarbeitslosigkeit haben unsere

neuen Landsleute wahrlich nicht verdient.

59D e u t s c h e F ra g e n

Page 55: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Was ist soziale Gerechtigkeit?

Dr. Adam wies darauf hin, daß es eine politische Antwort auf die

Frage, was soziale Gerechtigkeit sei, sehr wohl gebe: den Sozialstaat. Dieser

Sozialstaat sei nach dem Prinzip des reziproken Altruismus konstruiert, das

sich beispielsweise in der Hoffnung ausdrücke, im Alter einmal das zurückzu-

bekommen, was man in frühen Jahren in das Solidarsystem eingezahlt habe.

Allein, diese Hoffnung trüge: Schon heute werde die Zusage sicherer Renten

nur noch auf die gegenwärtige Generation bezogen, die Interessen zukünf-

tiger Generationen würden zu mangelhaft berücksichtigt.

Ein Staat, der die gesamte soziale Sicherung an den Besitz eines

Vollzeitarbeitsplatzes knüpfe, treibe jedoch die Nachfrage nach Arbeits-

plätzen an und lasse die Möglichkeit, sich einer Familienarbeit zu widmen,

verkümmern. Dies sei ein Problem des modernen Sozialstaates.

Professor Dr. Geller t wies auf die sozialwissenschaftlichen Er-

kenntnisse aus der Sozialpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte hin. Die

Überzeugung, nach der der Wohlfahrtsstaat die Nachteile des Marktsystems

ausgleichen könne und daß zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise der

modernen Sozialstaaten in Europa lediglich einige Sozialsysteme zurück-

geschraubt werden müßten, stehe auf tönernen Füßen. Untersuchungen aus

Großbritannien hätten ergeben, daß alle wohlfahrtsstaatliche Politik der

letzten 30 Jahre soziale Ungleichheit in keiner Weise beseitigt, sondern

vielmehr in erster Linie der Mittelklasse und den oberen Mittelschichten

genutzt habe.

Dr. Weber bemängelte in diesem Zusammenhang auch die

Schwachstellen der sozialen Umverteilungssysteme in Deutschland. Die Fest-

stellung, daß ein Mehr an Sozialpolitik nicht zwangsläufig zu mehr sozialer

60D e u t s c h e F ra g e n

Zusammenfassung der Diskussion

Page 56: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Gerechtigkeit führe, könne doch gar nicht so sehr verwundern, schließlich

seien die Umverteilungsmechanismen inzwischen so unübersichtlich, daß

niemand wisse, welche Wirkungen die getroffenen Maßnahmen wirklich

erzielen.Häufig laufe die Umverteilung darauf hinaus,den Bürgern das in eine

Tasche zu stecken, was man ihnen zuvor aus der anderen Tasche genommen

habe. Eine Untersuchung der vielfältigen Instrumente der Sozialpolitik sei

dringend geboten, um zunächst einmal ihre Wirkungen richtig einschätzen

zu können.

In bezug auf die Arbeitslosigkeit wies Dr.Weber auf ein Dilemma

unseres Sozialstaates hin: Wenn Massenarbeitslosigkeit letztlich seit zwei

Jahrzehnten existiere und es trotz – von Konjunkturzyklus zu Konjunktur-

zyklus – steigender Arbeitslosenzahlen keine nennenswerten Protestbe-

wegungen gebe, dann liege das nicht zuletzt daran, daß der Sozialstaat den

Arbeitslosen wirksam unter die Arme greife.So richtig dies von der Intention

her auch sei, müsse man doch konstatieren, daß dadurch der Druck von den

Politikern genommen worden sei, die Ursachen der Beschäftigungslosigkeit

tatsächlich zu beseitigen.

Ist Marktwir tschaft gerecht?

Ob Marktwirtschaft gerecht sei – dieser Frage nahm sich Professor Dr. Sinn

in der Diskussion noch einmal explizit an. Das Maß für die Marktwirtschaft

sei Effizienz,nicht Gerechtigkeit.Die Marktwirtschaft belohne letztlich nicht

nach Leistung, sondern nach Knappheit. Deswegen sei es auch unumstritten

notwendig, daß der Staat bei der Verteilung der Einkommen in den Markt

eingreife; eine Marktwirtschaft könne ohne das soziale Korrektiv des Staates

auf Dauer nicht existieren. Dies müsse aber im Einklang mit dem Markt und

61D e u t s c h e F ra g e n

Page 57: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

nicht gegen den Markt geschehen.Professor Dr.Sinn erläuterte diesen Aspekt

am Beispiel der Sozialhilfe: Sozialhilfe sei bestimmt für die Unterstützung

von Menschen, die am unteren Rand der Einkommensskala in unserer Gesell-

schaft leben. Das sei richtig. Falsch sei, daß die Ausgestaltung der Sozialhilfe

einen Anreiz gebe, nicht zu arbeiten. Denn sobald ein Empfänger von Sozial-

hilfe beginne,einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen,verliere er seinen

Anspruch auf Unterstützung in dem Maße, in dem er „hinzuverdiene“.

Professor Dr.Sinn plädierte statt dieser Subventionierung der Nicht-Tätigkeit

für eine Subventionierung der Tätigkeit: Im Einklang mit dem Markt wäre die

Zahlung von Sozialhilfe unter der Voraussetzung, daß der Empfänger einer

Arbeit nachgehe. Eine Reihe von Beispielen aus unseren Nachbarländern

bewiesen, daß man mit solchen Maßnahmen arbeitsmarktpolitisch Erfolge

erzielen könne, ohne deswegen den Sozialstaat zu demontieren. Sozialstaat-

liches Denken sei nicht notwendigerweise mit negativen Anreizwirkungen

verbunden.Hier gelte es anzusetzen und den Sozialstaat gleichzeitig effizienter

und gerechter zu machen.

Bischof Dr. Wanke bestätigte aus seiner Sicht die Notwendigkeit

einer Reform des Sozialstaates und wies darauf hin, daß nur ein Bündel von

Maßnahmen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit weiterführen könne.

Wir müßten weg vom Umverteilungsstaat und hin zu einem Staat, der sich

auf gemeinsame und gemeinnützige Aufgaben konzentriere. Dies erfordere

ein Durchforsten der Regularien des Rechts, eine Stärkung der Eigenverant-

wortlichkeit, eine Sanierung der öffentlichen Haushalte und eine dauerhafte

Sicherung der Finanzierbarkeit unserer sozialen Sicherungssysteme. Bischof

Dr.Wanke warnte aber zugleich davor,das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Nach wie vor gebe es viele Menschen,die trotz objektiv feststellbarem eigenem

Zusammenfassung der D iskuss ion

62D e u t s c h e F ra g e n

Page 58: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Bemühen durch alle sozialen Sicherungen unserer Gesellschaft hindurch-

fielen und zusätzlicher Hilfe zur Selbsthilfe bedürften. Durch die Diskussion

über den Mißbrauch des Sozialstaates laufe man Gefahr, die tatsächliche

Bedürftigkeit vieler Menschen zu übersehen.

Gerechtigkeit in Ost und West?

Professor Dr. Glotz wies auf das Dilemma hin, in dem vor allem die

Lohnpolitik seit der Wiedervereinigung Deutschlands stecke. Auch wenn es

ökonomisch richtig sei, daß die Lohnhöhe von der Arbeitsproduktivität

abhänge und daher in Ostdeutschland die Löhne unter denen in West-

deutschland lägen, sei dies den Menschen doch nur schwer zu vermitteln.

Der Druck auf die Politik, eine schnellere Angleichung der Löhne und

Gehälter in Ost und West zu bewirken, sei groß, führe aber möglicherweise

zu einem weiteren Verlust von Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern.

Ministerpräsident Dr. Vogel bestätigte, daß die Politik in den

vergangenen Jahren tatsächlich unter einem enormen Druck stand, die Löhne

in Ost und West möglichst rasch anzunähern. Schließlich sei die Wiederver-

einigung im Kern das Zusammenwachsen eines Volkes gewesen und nicht

der Versuch, einem anderen Land freundlich unter die Arme zu greifen. Der

Druck auf die Angleichung werde aber noch dadurch erhöht, daß in vielen

Wirtschaftsbereichen kaum mehr Unterschiede in der Arbeitsproduktivität

auszumachen seien, die Löhne und Gehälter aber wegen der schlechten

Finanzlage in den neuen Ländern dennoch unterhalb des westdeutschen

Niveaus lägen. Dies gelte für Hochschullehrer wie für den gesamten öffent-

lichen Dienst. Dr. Weber bestätigte dies auch für den Bereich Banken.

63D e u t s c h e F ra g e n

Page 59: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Professor Dr. Sievert betonte die Fortschritte, die auch auf dem Gebiet

der Angleichung der Produktivitäten gemacht worden seien. Er forderte dazu

auf, den Blick von den zweifellos nach wie vor bestehenden Problemen auf

die Erfolge der Politik der Angleichung in den letzten neun Jahren zu lenken.

Die Veränderungen seien durchaus geeignet, eine optimistischere Sicht der

Lage in den neuen Bundesländern zu begründen.

An der Berechnung der Transferzahlungen, die jährlich von West

nach Ost fließen, äußerte Herr Schwäblein Zweifel. So würden die Inve-

stitionen in die Infrastruktur der neuen Bundesländer als Transferleistungen

verbucht, während gleichzeitig der Neu- und Ausbau der Bundesautobahnen

in den alten Ländern selbstverständlich als Bundesaufgabe angesehen und

nicht als Transferzahlung eingeordnet werde. Hier werde mit zweierlei Maß

gemessen.

Wo bleibt die Arbeit?

Dr. Weber beklagte das vorherrschende, aber falsche Verständnis

über die Situation auf den Arbeitsmärkten. Es fehle nicht an Arbeit. Die

Menge verfügbarer Arbeit gleiche keineswegs einem Topf, der irgendwann

ausgeschöpft sei. Es gebe nicht zu wenig Arbeit, sondern zu wenig Arbeits-

plätze. Als hierfür verantwortliche Faktoren machte er neben der demo-

graphischen Entwicklung vor allem die Lohn- und Lohnzusatzkosten, die

Überregulierung am Standort Deutschland sowie die Misere bei den öffent-

lichen Finanzen aus.Wenn ein Unternehmer sich entscheiden solle, durch

Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen,dann müsse diese Entscheidung

nach ökonomischen Kriterien sinnvoll sein, und diese Voraussetzung sei für

zu viele Investitionen in Deutschland derzeit nicht erfüllt.

Zusammenfassung der D iskuss ion

64D e u t s c h e F ra g e n

Page 60: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

In Deutschland gebe es zu viel Staat, nicht zu wenig. Dies gelte auch für den

Bereich der Sozialpolitik. Zur Beseitigung des Mangels an Arbeitsplätzen sei

eine Senkung der Rekordabgabenbelastung der Arbeitsplätze und der Unter-

nehmen erforderlich, eine Reform des Steuersystems und die Reduzierung

der Lohnzusatzkosten. Eine größere Flexibilität der Wirtschaft sei das vor-

rangige Ziel, damit eine Verringerung der Arbeitslosigkeit erreicht werden

könne. In dieser Hinsicht hätten die neuen Bundesländer schon heute eine

Vorbildfunktion für die alte Bundesrepublik.

Professor Dr. Sinn wies zum Ende der Diskussion noch einmal

darauf hin, daß an dem politischen Ziel, einheitliche Lebensverhältnisse in

Ost und West zu schaffen, kein Zweifel bestehe. Es komme aber entschei-

dend auf den Weg dahin an. Die Märkte würden die Einheitlichkeit von

Löhnen und Produktivitäten auf Dauer selbst herstellen, denn niedrige Löhne

seien für Unternehmer ein Signal, Arbeitsplätze zu schaffen und zu inve-

stieren. Die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften kurbele dann auch die

Löhne an und beseitige so das Lohngefälle zwischen Ost und West. Damit

dieser Anpassungsprozeß gelinge, müsse man der Marktwirtschaft aber die

dafür notwendige Zeit geben.Wenn man versuche, die Löhne in Erwartung

dieses Prozesses schon im Vorgriff künstlich anzuheben, dann bleibe die

Nachfrage nach Arbeitskräften aus. Denn auch die Investitionen, die erfor-

derlich seien, um den marktwirtschaftlichen Anpassungsprozeß in Gang zu

setzen, und die höhere Löhne dann auch rechtfertigen würden, kämen ja

letztlich nicht zustande. Die Folge: Der Anpassungsprozeß könne sich nur

noch am Tropf staatlicher Subventionen vollziehen. Dieser Fehler der ver-

gangenen Jahre müßte künftig vermieden werden.

65D e u t s c h e F ra g e n

Page 61: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital, die insbesondere in

Thüringen praktiziert wird, wurde von Professor Sinn und Ministerpräsident

Dr.Vogel als wichtiger Schritt in die richtige Richtung und als Schlüssel zur

Lösung des vermeintlichen Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital inter-

pretiert – als Schritt auch zu mehr sozialer Gerechtigkeit.

Zusammenfassung der D iskuss ion

66D e u t s c h e F ra g e n

Page 62: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Kurzbiographien der Redner

Peter Glotz, geboren 1939 in Eger, ist seit 1996 Dr. phil. o.

Professor für Kommunikationswissenschaft und Rektor der Universität

Erfurt.1993 wurde er Honorarprofessor für Kommunikationskultur und

Medienökologie an der Universität München. In den 60er Jahren war er

wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kommunikationswissenschaft

der Universität München, 1969/70 Konrektor der Universität München und

1970–72 Geschäftsführer einer Firma für Kommunikationsforschung.Danach

folgten 26 Jahre politische Tätigkeit: als Staatssekretär im Bundesbildungs-

ministerium (1974–77), als Senator für Wissenschaft und Forschung Berlin

(1977–81) sowie als Bundesgeschäftsführer der SPD (1981–87).

Hans-Werner Sinn, geboren 1948 in Brake/Westfalen, ist seit

1984 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig Maximilians-

Universität München. Seit 1991 ist er Vorstand des Center for Economic

Studies (CES), eines Instituts der Volkswirtschaftlichen Fakultät, und seit

1997 Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, München.

Bernhard Vogel, geboren 1933 in Göttingen, ist seit 1992

Ministerpräsident des Landes Thüringen. Nach dem Studium der Politischen

Wissenschaft, Geschichte, Soziologie und Volkswirtschaft in Heidelberg

und München war er in den 60er Jahren Lehrbeauftragter am Institut für

Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg, später Mitglied des

Heidelberger Stadtrats, des Deutschen Bundestages sowie des Landtags

Rheinland-Pfalz.Weitere Positionen waren: 1967 bis 1976 Kultusminister,

67D e u t s c h e F ra g e n

Page 63: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 1989 bis 1995

Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 1993 Landesvorsitzender

der CDU Thüringen sowie seit 1994 Mitglied des Thüringer Landtags.

Joachim Wanke, geboren 1941 in Breslau, ist seit 1994 Bischof

der Diözese Erfurt. Nach dem Schulbesuch in Thüringen absolvierte er in

den 60er Jahren Theologiestudium und Priesterweihe in Erfurt. 1969 nahm

er die Lehrtätigkeit am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt auf.

1980 wurde er Professor für neutestamentliche Exegese und Weihbischof in

Erfurt, Domprobst, und 1981 Bischof und Apostolischer Administrator in

Erfurt und Meiningen.

Manfred Weber, geboren 1950 in Altenkofen/Bayern, ist seit 1992

Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken und seit März

1997 Mitglied des Vorstandes. Nach seinem Studium der Nationalökonomie

und der Promotion an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt

am Main war er 1980–85 in der Hauptabteilung Volkswirtschaft der Deut-

schen Bundesbank, 1986–91 als Leiter des Büros des Vizepräsidenten der

Deutschen Bundesbank sowie 1991–92 bei der Bank für Internationalen

Zahlungsausgleich in Basel tätig.

Kur zb iograph ien

68D e u t s c h e F ra g e n

Page 64: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Teilnehmer des Symposiums

Dr. Waldemar Abel Mitglied der Geschäftsleitung,Commerzbank AG, Erfurt

Dr. Konrad Adam Frankfurter Allgemeine Zeitung,Frankfurt am Main

Dr. Günter Andres Architekt, Bund Deutscher Architekten,Erfurt

Maria Andres Referatsleiterin, Öffentlicher Gesundheits-dienst,Thüringer Ministerium für Sozialesund Gesundheit, Erfurt

Johanna Arenhövel Stellv. Fraktionsvorsitzende,CDU-Fraktion, Erfurt

Almut Auerswald Vizepräsidentin, Landesmusikrat Thüringene.V. und Vorsitzende des Landesausschusses„Jugend musiziert“,Weimar

Dr. Birgit Bauer Staatssekretärin, Frauenbeauftragte,Thüringer Staatskanzlei, Erfurt

Bernhard Becher Justitiar, Universität Erfurt

Rosemarie Bechthum Mitglied des Landtages, Erfurt

Dr. Klaus Beck Wissenschaftlicher Mitarbeiter,Fachbereich Kommunikations-wissenschaften, Universität Erfurt

Ulf Becker Referatsleiter,Thüringer Ministerium fürWissenschaft, Forschung und Kultur, Erfurt

Hans-Michael Besig Direktor, Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, München

Dr. Heinz-Dieter Bosch Geschäftsführer, Bundesverband deutscherBanken, Köln

Bernd Brabänder Bundesverband deutscher Banken, Köln

Gangolf Brabant Wissenschaftlicher Mitarbeiter,Universität Erfurt

69D e u t s c h e F ra g e n

Page 65: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Prof. Dr. Wilhelm Bürklin Geschäftsführer,Gesellschaft für Bankpublizität, Köln

Gerda Dominicus- Bundesbankdirektorin, LandeszentralbankSchleutermann in den Freistaaten Sachsen und Thüringen,

Hauptstelle Erfurt

Wolfgang Dunkel Erfurt

Anette Elsner Thüringer Landeszeitung, Erfurt

Prof. Dr. Wilhelm Ernst Mitglied des Gründungssenats,Universität Erfurt

Dr. Florian Fischer Vizepräsident,Thüringer Oberlandesgericht Jena

Marianna Franzen Erfurt

Prof. Dr. Winfried Franzen Prorektor, Praktische Philosophie/Ethik,Pädagogische Hochschule Erfurt

Dr. Peter Fritsche Referatsleiter,Thüringer Ministerium fürLandwirtschaft, Naturschutz und Umwelt,Erfurt

Matthias Gehler Hörfunkchef, MDR 1 Radio Thüringen,Weimar

Prof. Claudius Geller t Lehrstuhl für Soziologie, Faculty of Education, University of Reading

Dr. Eckart Gerstner Stellv. Leiter, Universitätsbibliothek Erfurt

Franz Gerstner Generalbevollmächtigter, MittelständischeBeteiligungsgesellschaft, Erfurt

Prof. Dr. Peter Glotz Rektor, Universität Erfurt

Eva Großkinsky Focus, Redaktion Politik, München

Horst Grzywatz Bundesbankdirektor, Landeszentralbank inden Staaten Sachsen und Thüringen,Meiningen

Tei lnehmer

70D e u t s c h e F ra g e n

Page 66: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Heinz Gunkel Offizial, Interdiözesanes Offizialat, Erfurt

Peter Hanske Wissenschaftlicher Sekretär,Universität Erfurt

Bernhard Haug Direktor, Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, Erfurt

Wolfgang Hauptmann Regierungsdirektor,Thüringer Staatskanz-lei, Finanzen und Wirtschaft, Erfurt

Jutta Heidemann „J. H. Stiftung“, Universität Erfurt

Almut Hielscher Der Spiegel, Erfurt

Dr. Bettina Hollstein Wissenschaftliche Kollegsekretärin,Universität Erfurt

Prof. Dr. Udo B. Hoyme Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe,Klinikum Erfurt

Thomas Janda Redakteur, Benno Verlag Hörfunk, Leipzig

Siegfried Benno Jaschke Mitglied des Landtages, Erfurt

Nina Jeglinski Thüringer Allgemeine, Erfurt

Christian Jung Gesellschaft für Bankpublizität, Köln

Karl-Heinz Kindervater Geschäftsführer, Fa. Kaisersaal, Erfurt

Antje Koch Referentin für Öffentlichkeitsarbeit,Commerzbank AG, Erfurt

Dr. Ruth Kölblin Vorsitzende des Personalrates,Friedrich-Schiller-Universität Jena

Dr. Gerhardt Köhler Leiter der Filialbetreuung,Commerzbank AG, Erfurt

Klaus Udo Krah Abteilungsleiter Finanzen und Controlling,Deutsche Telekom AG, Erfurt

Erhard Krause Mitglied der Regionalleitung Südost,Dresdner Bank AG, Leipzig

71D e u t s c h e F ra g e n

WHaass
Rechteck
Page 67: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Gisela Krause Leipzig

Hans-Peter Kuhr Referatsleiter,Thüringer Ministerium fürWissenschaft, Forschung und Kultur, Erfurt

Rudolf Lass Präsident,Amtsgericht Erfurt

Karin Letsch Hauptgeschäftsführerin,Verband ThüringerKaufleute, Erfurt

Dirk Löhr Redakteur,Thüringer Allgemeine, Erfurt

Wolfgang Lukassek Ordinariatsrat, Bischöfliches Ordinariat,Erfurt

Bernd Martin Moderator, MDR 1 Radio Thüringen, Erfurt

Sybille Martin Geschäftsführerin, Classic Concert Thürin-gen, Erfurt

Prof. Dr. Egon Matzner Max-Weber-Kolleg, Erfurt

Michael Maulhardt Finanzreferent, Bistum Erfurt

Gabriele Meloch Mitglied der Geschäftsleitung, DeutscheBank AG, Leipzig

Andreas Menke Institut für Mittelstandsforschung, Bonn

Dr. Christian Milow Vizepräsident, Landeszentralbank in denFreistaaten Sachsen und Thüringen, Leipzig

Dr. Birgitta Mogge-Stubbe Ressortleiterin, Hochschule und Bildung,Rheinischer Merkur, Bonn

Peter Moos Prokurist, LandesentwicklungsgesellschaftThüringen, Erfurt

Kurt Moses Niederlassungsleiter, BHF-Bank AG, Leipzig

Dr. Gottfried Müller Landtagspräsident a. D., Erfurt

Hans Musch Fachreferent, Universitätsbibliothek Erfurt

Inge Niebergall Bundesverband deutscher Banken, Köln

Rainer K. Otto Geschäftsführer, Stadtwerke Erfurt

Tei lnehmer

72D e u t s c h e F ra g e n

Page 68: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Jens Panse Pressesprecher, Universität Erfurt

Hans-Christian Piossek Hochschulbeauftragter des Oberbürger-meisters, Erfurt

Peter Pragal Politischer Korrespondent,Berliner Zeitung, Berlin

Dr. Anselm Räder Präsident, Universitätsgesellschaft Erfurt

Günther Richter Landesgeschäftsführer Thüringen desBundesverbandes mittelständische Wirtschaft e.V., BVMW, Erfurt

Karola Rompf Stellv. Hauptgeschäftsführerin,Industrie- und Handelskammer, Erfurt

Wilfried Rosenkranz Geschäftsführer, Kommunaler Arbeit-geberverband Thüringen, Erfurt

Jürgen Sager Geschäftsführer, Rothmann Immobilien,Lüdenscheid

Manfred Scherer Präsident, Oberlandesgericht Erfurt

Christiane Schmiedeknecht Direktorin, Universitätsbibliothek Erfurt

Rolf Schneider Kriminaldirektor, Landeskriminalamt Thüringen, Erfurt

Prof. Dr. Michael Schramm Fachbereich Sozialethik, Philosophisch-Theologisches Studium, Erfurt

Jörg Schwäblein Mitglied des Landtages,Vorsitzender desAusschusses für Wissenschaft, Forschungund Kultur, Erfurt

Prof. Dr. Olaf Sievert Präsident, Landeszentralbank in den Frei-staaten Sachsen und Thüringen, Leipzig

Prof. Dr. Hans-Werner Sinn Center for Economic Studies, UniversitätMünchen,Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, München

73D e u t s c h e F ra g e n

Page 69: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Franz Sommerfeld Stellv. Chefredakteur, Berliner Zeitung,Berlin

Heinz Stade Journalist, Erfurt

Hubertus Staudacher Geschäftsführer, Katholisches Forum Thüringen, Erfurt

Mathias Striepecke Vorsitzender,Verband Thüringer Kaufleute,Erfurt

Hartmut Strube Präsident,Architektenkammer Thüringen,Erfurt

Heinrich Stubbe Journalist, Bonn

Prof. Dr. Eberhard Tiefensee Philosophisch-Theologisches Studium,Erfurt

Dr. Bernhard Vogel Ministerpräsident von Thüringen, Erfurt

Birgit Vogt Kontakt in Krisen e.V.,Redaktion „Brücke“, Erfurt

Udo Vorstius Vorstandsvorsitzender,Thüringer Aufbaubank, Erfurt

Jens Walter Bundesverband deutscher Banken, Köln

Dr. Joachim Wanke Bischof von Erfurt

Dr. Manfred Weber Hauptgeschäftsführer und Mitglied desVorstandes, Bundesverband deutscher Banken, Köln

Jürgen Wehlisch Verwaltungsdirektor, Stiftung St. JohannNepomuk, Katholisches Krankenhaus,Erfurt

Winfried Weinrich Leiter, Katholisches Büro Thüringen, Erfurt

Helga Weiß Vorstand, Katholisches Bildungswerk,Bistum Erfurt

Jens Wenzel „Freies Wort“, Büro Erfurt

Tei lnehmer

74D e u t s c h e F ra g e n

Page 70: Was ist soziale Gerechtigkeit? · Gerechtigkeit bringen:Der amerikanische Philosoph John Rawls hat eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, die versucht, demokratische Grundsätze

Peter Werner Geschäftsführer, LandesarbeitsgemeinschaftKinder- und Jugendschutz Thüringen e.V.,Erfurt

Ursula Werner Büroleiterin, Universitätsbibliothek Erfurt,Mitglied des Gründungssenats der Universität Erfurt, Bad Langensalza

Matthias Wierlacher Direktor, Bayerische Hypo- undVereinsbank AG, Erfurt

Prof. Dr. Jörg M. Winterberg Fachbereich Wirtschaft, FachhochschuleBraunschweig-Wolfenbüttel,Wolfsburg

Manfred Wohlgefahrt Vorsitzender, CDU-Fraktion im Stadtrat Erfurt

Alois Wolf Abteilungsleiter, Caritasverband, Erfurt

Dr. Klaus Zeh Mitglied des Landtages, Erfurt

Dr. Rudolf Zewell Rheinischer Merkur, Bonn

Impressum

Herausgeber: Bundesverband deutscher BankenTelefon (02 21) 91 27 91-0

Redaktionelle Betreuung: Prof. Dr. Jörg Winterberg

Gestaltung: Scholz & Friends Berlin

Illustrationen: Janusz Kapusta

Lithografie: Appel Grafik Berlin

75D e u t s c h e F ra g e n