Wilhelm Füßl: Friedrich Julius Stahl (1988)

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  • 7/26/2019 Wilhelm Fl: Friedrich Julius Stahl (1988)

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    WILHELM FSSL

    PROFESSOR IN DER POLITIK:FRIEDRICH JULIUS STAHL (1802-1861)

    DAS MONARCHISCHE PRINZIP UND SEINEUMSETZUNG IN DIE

    PARLAMENTARISCHE PRAXIS

    VANDENHOECK & RUPRECHTIN GTTINGEN

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    BayerischeStaatsbibliothek

    Mnchen

    ClP-KurztiteUufnhme der Deutschen Bibliothek

    Fssl, Wilhelm:

    Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802- 1861) : d. monarch. Prinzip

    u. seine Umsetzung in d. Parlamentr. Praxis / Wilhelm Fssl. - Gttingen :

    Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988

    (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der

    Wissenschaften; Bd. 33)

    ISBN 3-525-35932-2

    NF: Bayerische Akademie der Wissenschaften / Historischen Kom

    mission: Schriftenreihe der Historischen ...

    D 19

    Gedruckt mit Untersttzung der Franz-Schnabel-Stiftung

    1988, Vandenhoeck & Ruprecht in Gttingen. Printed in Germany. -

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschlielich seiner Teile ist urheberrechtlich

    geschtzt. Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgeset

    zes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbeson

    dere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei

    cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Gesetzt aus der 10/11 Punkt Garamond auf der V-I-P

    Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei E. Rieder, Schrobenhausen

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    INHALT

    Vorwort 7

    A. Einleitung 9

    B. Grundzge der Theorie Stahls 13

    I. Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei

    Stahl 16

    1.Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff 16

    2. Stahls Methode von Idealitt und Realitt 21

    3. Das sittlicheReich" 25

    II. Die Staatsauffassung Stahls 31

    1. Der Staat und seine Verfassung 31

    2. Strukturelemente des monarchischen Prinzips bei Stahl 42

    a) Aufri der Problematik 42

    b) Stahls Monarchisches Princip" als Idealtypus 44

    C. Stahls politischer Werdegang in Bayern 51

    I. Stahl als Redakteur des Thron-und Volksfreunds" 52

    1. Die Grndungsgeschichte des Blattes 52

    2. Der Thron-und Volksfreund" und das Bayerische Volksblatt" 61

    3. Ursachen fr das Scheitern des Blattes 64

    II . Stahl als Reprsentant der protestantischen Professorenschaft in Er

    langen 69

    1. Das Verhltnis zur Erlanger Theologie" 69

    2. Stahl als Abgeordneter im Bayerischen Landtag 1837 82

    a) Die Zusammensetzung der Kammer der Abgeordneten 83

    b) Thematische Schwerpunkte Stahls 86

    c) Die protestantische Fraktionsbildung um Stahl 93

    D. Stahl als konservativer Parteifhrer in Preuen 108

    I. Stahls Stellung an der Universitt Berlin 110

    II. Der Aufbau einer konservativen Parteiorganisation 121

    1. Die Grndung der Neuen Preuischen Zeitung" 123

    a) Das Berliner Politische Wochenblatt" und der Janus" 123

    b) Die Neue Preuische Zeitung" als Kristallisationspunkt der Konservativen 127

    c) Stahl als Mitarbeiter der Kreuzzeitung" 131

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    6 Inhalt

    2. Stahls Sicht des Verhltnisses von Kirche und Politik 137

    3. Der Verein fr Knig und Vaterland" 142

    4. Die Wahlen im Frhjahr 1849 152

    a) Der Verfassungsoktroi 153

    b) Der Wahlkampf der Konservativen 162

    c) Die Bildung der Fraktion Stahl" 180

    III. Die Auseinandersetzung um die deutsche Frage 192

    1. Die Stellung Stahls zur Frankfurter Nationalversammlung 193

    2. Die Opposition gegen die preuische Unionspolit ik 208

    a) Das Dreiknigsbndnis" und seine Bewertung durch Stahl 208

    b) Stahl und die Revision des Reichsgerichts 215

    c) Die politische Diskussion um die En-bloc-Annahme 224

    d) Das Erfurter Unionsparlament 238

    e) Die Politik der Kreuzzeitungspartei" bis zur Reaktivierung des Deutschen

    Bundes 255

    IV. Stahl und die Umgestaltung der oktroyierten Verfassung 266

    1.Der Artikel108der Verfassungsurkunde 267

    2. Der Verfassungseid 275

    3. Die Verantwortlichkeit der Minister 284

    4. Die Umbildung der Ersten Kammer 298

    a) Die Annahme der Kniglichen Propositionen . 299

    b) Die parlamentarische Diskussion um die Oberhausfrage im Jahre 1852 315

    c) Die endgltige Umgestaltung der Ersten Kammer 336

    E. Der, politische Professor" Stahl 356

    Tabellen 359

    Quellen- und Literaturverzeichnis 363

    A. Archivalische Quellen 363

    B. Gedruckte Quellen 369C. Sekundrliteratur 376

    Abkrzungsverzeichnis 393

    Personenregister 394

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    VORWORT

    Die vorliegende Untersuchung ist die leicht berarbeitete Fassung der Dis

    sertation, die im Wintersemester 1985/86 von der Philosophischen Fakultt

    der Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen angenommen wurde. Der

    Druck der Schrift bietet die Gelegenheit, all denen zu danken, die mit ihrer

    Untersttzung und Hilfe ihr Entstehen gefrdert haben.

    In besonderem Mae schulde ich Dank meinem geschtzten Doktorvater,

    Herrn Professor Dr. Eberhard Weis, der mir stets freundlichen Beistand ge

    whrt und die Dissertation bis zur Drucklegung begleitet hat. Fr ihre Mithilfe danke ich allen Mitarbeitern der von mir besuchten Archive und Biblio

    theken, die mit viel Geduld meine Forschungen frderten, besonders der

    Herzog August Bibliothek Wolfenbttel und dem Zentralen Staatsarchiv der

    Deutschen Demokratischen Republik in Merseburg. Viel schulde ich mei

    nem Freundeskreis, der mit Rat und Tat den Abschlu der Dissertation vor

    angetrieben hat.

    Mein Dank gilt nicht zuletzt der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., die

    durch ein grozgiges Promotionsstipendium die Grundlage fr meine Forschungen geschaffen hat. Fr die Aufnahme der Arbeit in ihre Schriftenreihe

    danke ich der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der

    Wissenschaften ganz herzlich.

    Widmen mchte ich die Schrift in aufrichtiger Dankbarkeit meinen Eltern,

    ohne deren Untersttzung die vorliegende Untersuchung nicht entstanden

    wre.

    Mnchen, im Mai 1988 Wilhelm Fl

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    A. EINLEITUNG

    Der Beginn des 19. Jahrhunderts brachte fr die deutschen Universitten einen bedeutsamen Aufschwung, der den Ruf und den Ruhm der deutschenGeistesgeschichte mitbegrnden sollte. Verbunden mit den Namen Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel undFriedrich Wilhelm Joseph Schelling ragte dabei vor allem die Philosophiehervor, die im Geistesleben unbersehbare Akzente setzte. Viele Professorenbegngten sich jedoch nicht mit der theoretischen Reflexion, sondern nah

    men teil an der sich verstrkenden Politisierung des Brgertums; einige vonihnen traten sogar in den Parlamenten der deutschen Einzelstaaten als Abgeordnete hervor. Diese Erscheinung, welche mit der Typisierung politischesProfessorentum" gekennzeichnet werden kann, hatte einen wesentlichenEinflu auf die konstitutionelle und nationale Bewegung. Die Gelehrtenwurden zum Sprachrohr des Brgertums mit seiner Forderung nach einemverfassungsmig verankerten Mitwirkungsrecht in den Kammern und seinem Wunsch nach einer deutschen Einigung. Seinen Hhepunkt erreichtedas politische Professorentum" und mit ihm die national-konstitutionellenBestrebungen in der Frankfurter Nationalversammlung.

    Es wre aber eine unzulssige Einschrnkung, nur solche Hochschullehrerals politische Professoren" zu bezeichnen, die liberalen oder demokratischen Tendenzen nahestanden. Wenngleich ein Groteil der Gelehrten, wieKarl v. Rotteck, Robert v. Mohl, Friedrich Christoph Dahlmann, JohannGustav Droysen oder Friedrich List, liberal gesinnt war und somit diesenTypus prgte, kann das politische Professorentum" nicht allein mit einereinseitigen Parteienkennzeichnung erfat werden. Auch im konservativen

    Lager gab es eine Reihe von Hochschullehrern, die sowohl durch wissenschaftliche und publizistische Arbeiten als auch in der praktischen Politikhervortraten. Zu nennen sind an erster Stelle Victor Aime Huber, HeinrichLeo, Friedrich Ludwig Keller v. Steinbock oder Ludwig Wilhelm AntonPernice, die in Preuen Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Spitzen der konservativen Partei gehrten, weiterhin Johann Joseph v. Grres, Ignazv.Dl-linger und Johann Nepomuk Ringseis, die sich im katholisch-konservativenGrreskreis in Mnchen zusammenfanden. Allein mit einer Parteizuord

    nung kann das Phnomen des politischen Professors" also nicht erklrtwerden. ber das parteiliche Bekenntnis hinaus ist fr sein Erscheinungsbilddas publizistische und politische Wirken kennzeichnend; beide Komponenten sind gleichzeitig mit einer intensiven Ttigkeit an der Universitt verknpft. Erst die enge Verbindung von Lehre, theoretischer Reflexion, publizistischer Ttigkeit und parlamentarischem Engagement charakterisiert das

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    10 Einleitung

    politische Professorentum" des 19.Jahrhunderts und wirft ein Streiflichtauf sein Selbst- und Wissenschaftsverhltnis.

    Mit Friedrich Julius Stahl soll in dieser Arbeit einer der bedeutendstenpolitischen Professoren" des letzten Jahrhunderts untersucht werden, derzugleich den Gegentypus zu den liberalen Professoren seiner Zeit verkr

    pert. Stahl kann als Paradigma fr den Typus des politischen Professors"gelten, da er es verstand, sein Wirken an der Universitt mit verschiedenenpolitischen, kirchlichen und publizistischen Ttigkeiten zu verbinden. AlsLehrer wurde Stahl wegen seiner przisen Formulierungen und seines kmpferischen Eintretens fr das monarchische Prinzip geschtzt; seine ffentlichen Vorlesungen galten als gesellschaftliche Ereignisse, an denen Beamte,Generle und sogar Minister teilnahmen.

    ber den Universittsbetrieb hinaus ergriff Stahl Partei innerhalb der

    evangelischen Kirche, in der er unter anderem als Prsident des DeutschenEvangelischen Kirchentages hervortrat. Sein Engagement fr kirchliche Belange verweist auf die besondere Bedeutung der christlichen Religion frFriedrich Julius Stahl, was sowohl in seinen rechtsphilosophischen undstaatsrechtlichen Schriften als auch in seinen parlamentarischen Reden zumAusdruck kommt. Dieses explizite Bekenntnis zum Christentum gilt es ein-zubeziehen, wenn Stahls Wirken adquat beurteilt werden soll, da es zumFundament seiner Weltanschauung und seines gesamten theoretischen Werkes wurde. Mit seinem Selbstverstndnis als Christ war seine eigene politische Wirksamkeit vorgeprgt, da Stahl aus dem Glauben sittliche Inhalte ableitete, die zum Mastab seines Handelns in der Politik wurden. Diese engeKorrelation von Theorie und Praxis ist ein wesentlicher Grundzug der Persnlichkeit Stahls und mu bei einer Untersuchung seiner politischen Ttigkeit entsprechend verdeutlicht werden. Demzufolge ist es auch in der vorliegenden Arbeit notwendig, dieser Verbindung nachzugehen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Stahls methodischem Vorgehen innerhalb seinerTheorie liegen soll. Dabei wird zu zeigen sein, da seine Philosophie als

    praktische Philosophie" konzipiert war, aus der unmittelbar Normen frdie Realitt abgeleitet werden konnten. Von der Annahme einer Einheit vonTheorie und Praxis ausgehend werden in einem einleitenden Kapitel der Arbeit vor allem die Thematiken angesprochen, die fr Stahls eigenes politischesWirken von Bedeutung waren, d. h. in erster Linie die Darstellung und Beurteilung seiner Sicht des monarchischen Prinzips.

    Im Kern der Untersuchung steht allerdings die politische WirksamkeitStahls, die in der bisherigen Stahl-Forschung kaum Beachtung gefunden hat.

    Im Gegensatz zu einer Reihe von Arbeiten ber Stahls philosophische undstaatsrechtliche Schriften* gibt es bisher keine umfassende Darstellung zu

    * Auf einen ausfhrlichen Literaturbericht kann an dieser Stelle verzichtet werden. Verwiesen sei aufH.J. Wiegand, Vermchtnis, 3-36, undNabrings, Stahl, 15-39, die den Forschungsstand zu Stahl resmieren.

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    Einleitung 11

    diesem Komplex. Ansatzweise wurde Stahls parlamentarische Ttigkeit von

    Voigt (1919), Masur (1930), Roos (1957) und Wiegand (1976) angesprochen,

    wobei Roos lediglich Stahls politische Aktivitten in Preuen in die Betrach

    tung einbezog, whrend sich die anderen Autoren auf seine bayerische Zeit

    beschrnkten. Allerdings kam Roos ber eine Untersuchung der Stellung

    nahmen Stahls in der I. Kammer nicht hinaus; daher blieb dessen auerparlamentarisches Wirken in der Publizistik und vor allem im Rahmen der kon

    servativen Partei unklar.

    Die vorliegende Arbeit versucht - anders als die bisherige Stahl-For

    schung,die enge Verknpfung von theoretischer Aussage und politischem

    Engagement bei Stahl einerseits und die Kontinuitt seines politischen Den

    kens und Handelns in Bayern und Preuen andererseits aufzuzeigen. Aus der

    bisher praktizierten, isolierten Untersuchung der Bereiche Theorie oder Pra

    xis - bayerische oder preuische Zeit ergab sich die hufig wiederholte Thesevon Brchen" innerhalb Stahls theoretischem und praktischem Wirken, der

    entgegenzutreten ist. Wenn dabei berwiegend Stahls politischer Werdegang

    in Preuen behandelt wird, so geschieht dies aus dem Grund, da Stahl dort

    den unbestrittenen Hhepunkt seiner Laufbahn als politischer Professor"

    erreichte.

    Eine Untersuchung der politischen Ttigkeit Stahls in Preuen mu in en

    gem Zusammenhang mit der Genese der konservativen Partei sowie der

    preuischen Parlamentarismusgeschichte erfolgen. Stahl war mit demAuf-

    bau einer konservativen Parteiorganisation nach 1848 eng verknpft, ein

    Aspekt, der in der bisherigen Forschung nur peripher angeklungen ist. Dabei

    avancierte Stahl nicht nur zum Vordenker der nach ihm benannten Frak

    tion Stahl", sondern hatte wesentlichen Anteil an der organisatorischen Ver

    festigung der konservativen Partei, was an Hand der Frhjahrswahlen 1849

    und den nachfolgenden Fraktionsgrndungen exemplarisch aufgezeigt wer

    den soll.

    Im Rahmen des Aufbaus der Partei kam der Programmatik eine besondere

    Bedeutung zu, da nur durch sie breite Whlerschichten angesprochen werden

    konnten. In diesem Zusammenhang war Stahls Konzeption des monarchi

    schen Prinzips das entscheidende Bindeglied zwischen der traditionellen alt

    stndischen Staatsdoktrin und dem liberalen Gedankengut, da Stahl es ver

    stand, beide Positionen zu verbinden und diesem Kompromi innerhalb der

    konservativen Partei Geltung zu verschaffen. Insofern war Stahl, das sei

    vorweg thesenartig formuliert, im theoretischen Denken und in der prakti

    schen Politik nicht der Verfechter einer starren Lehre, schon gar nicht einer

    restaurativen oder reaktionren Politik, sondern Vermittlungsphilosoph undAusgleichspolitiker.

    In den Anmerkungen wird hier wie im folgenden lediglich der Autor und ein Kurztitel zitiert.

    Die genaue bibliographische Angabe findet sich im Quellen- und Literaturverzeichnis,

    S. 363-392.

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    12 Einleitung

    Um der Bedeutung Stahls whrend seiner preuischen Jahre gerecht zuwerden, ist es notwendig, seinem Einflu nachzuspren. Gerade dieses Vorhaben erweist sich als sehr problematisch, da Einflunahme und nachweisbarer Erfolg nicht unbedingt zusammenhngende Gren sind. Nur in seltenenFllen lt sich Stahls Einwirken auf bestimmte Personen und deren Ent

    scheidungen direkt erkennen, was seine Einflunahme in anderen Fllen jedoch nicht ausschliet. Aus Tagebchern, Memoiren, Briefen, Gesprchsprotokollen, Flugschriften, Zeitungsmeldungen und nicht zuletzt aus denMinisterialakten der preuischen Regierung lt sich ersehen, da FriedrichJulius Stahl ein geschtzter Ansprechpartner des Knigs, der Regierung, derKamarilla und der fhrenden Konservativen in Preuen war und da er durchdiese Beziehungen den Entscheidungstrgern seine persnlichen Vorstellungen nahebringen konnte. Stahls Einflumglichkeiten unterlagen dabei

    durchaus Schwankungen; je nach der politischen Konstellation waren siestrker oder geringer. Gerade in den Jahren 1848 bis 1852 finden sich in denMinisterialakten auffllig viele Denkschriften und Entwrfe Stahls, eine Tatsache, die nicht zuletzt dahingehend gedeutet werden mu, da Stahl in diesen Jahren anerkanntermaen der Fhrer der konservativen Partei Preuenswar.

    Mit dem Verweis auf die Einflunahme Stahls in Preuen wurde bereits dieQuellenlage angesprochen. Von Stahls Nachla (Herzog-August-Bibliothek

    Wolfenbttel) existieren lediglich die wichtigsten Vorlesungsmanuskriptesowie eine Anzahl zum Teil fragmentarischer Denkschriften und Aufstze imKonzept; der Rest, darunter sein Briefwechsel, wurde auf Anordnung Stahlsvernichtet. Stahls eigene Briefe und politische Schriften sind in vielen Archiven und Bibliotheken verstreut. Whrend Stahls professorale Ttigkeit anHand der Akten in den Universittsarchiven von Mnchen, Nrnberg-Er-langen und Wrzburg sowie der Ministerialakten des Zentralen StaatsarchivsMerseburg erarbeitet werden konnte, waren fr sein politisches Wirken diestenographischen Berichte der Kammerverhandlungen und die Bestnde desZentralen Staatsarchivs Merseburg besonders wichtig. Gerade in den Merseburger Akten, in denen sich eine Vielzahl von Denkschriften und Gesetzentwrfen Stahls fanden, spiegelt sich das politische Gewicht Friedrich JuliusStahls deutlich wider. ber die Ministerialakten hinaus bieten verschiedeneNachlsse von Zeitgenossen und Freunden Stahls ein Spektrum seiner vielfltigen Aktivitten. Ein interessanter Aspekt, der sich bei der Durchsicht dieser Nachlsse ergab, ist die schwankende Einschtzung, die Stahl von denZeitgenossen erfuhr. Sie mu in Abhngigkeit von der vorgefaten politi

    schen berzeugung des jeweiligen Autors gesehen und dementsprechendquellenkritisch interpretiert werden. Whrend Stahl zu Lebzeiten von denKonservativen nahezu enthusiastisch gefeiert und mit vielen Ehrungen bedacht worden war, setzte schon bald nach seinem Tod eine Distanzierungein, die bis zu einer vlligen Verleugnung Stahls reichte.

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    B.GRUNDZGE DER THEORIE STAHLS

    Um der schillernden und umstrittenen Person Friedrich Julius Stahls gerechtzu werden, ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen seiner Theorieund seiner aktiven politischen Ttigkeit herzustellen. Theorie und Praxis gehrenwie zu zeigen sein wird - enger zusammen, als dies bisher in den Arbeiten ber Stahl gezeigt wurde. Es gengt nicht, seine Rechts- und Staatsphilosophie isoliert zu untersuchen1, da dadurch der Eindruck erwecktwird, als sei der Rechtsphilosoph Stahl unabhngig von den Zeitereignissen.

    Wohl nur fr seine ersten Jahre als Privatdozent2

    lt sich die Beurteilungseines Studienkollegen Lautenbacher3besttigen: ,,Es fehlt ihm durchaus anWelt- und Menschenkenntni, er ist ber seine vier Studierstube-Wndenicht hinausgekommen"4. Ab 18305nahm Stahl regen Anteil am politischenTagesgeschehen, was zu vielfltigen Rckwirkungen und nderungen in seinem Hauptwerk Die Philosophie des Rechts"6fhrte. Vor allem die Revolutionen von 1830 und 1848 zogen weitgehende Umgestaltungen des Buchesnach sich7. Sie waren ein Grund dafr, da sich Stahl in der Folge zunehmend

    als politischer Philosoph verstand. Er selbst betonte im Jahr 1854, durch dieErfahrungen meiner parlamentarischen Wirksamkeit und durch die mchtigen Ereignisse der Zeit und ihre Lehren sowohl in wissenschaftlicher Begrndung und Auffassung, als in praktischer Einsicht gefrdert zu seyn" 8.

    1 Vgl. die Arbeiten vonKaufmann, Studien;Meisner, Lehre;Stegmann, Knigtum;Poppel-baum, Weltanschauung;Arnim, Studien;Drucker, Stahl;A. Mller, Beitrge;Volz, Christentum;Heinrichs, Rechtslehre; ders ., Menschenbild; C. Wiegand, Stahl.

    2 Stahl hatte sich 1827 in Mnchen mit der Arbeit ber das ltere rmische Klagenrecht"

    habilitiert und im gleichen Jahr die knigliche Erlaubnis erhalten, als Privatdozent an derMnchner Universitt zu lehren; vgl. Ministerialreskript vom 9. 7.1827, BayHStA, MInn 23589(Auszug). Vgl. Voigt, Werdegang, 177;G.Masur, Stahl, 93;H.J. Wiegand, Frhwerk, 96f.

    3 Ignatz Lautenbacher (1799-1833) hatte wie Stahl Jura studiert und war wie dieser Mitgliedder Burschenschaft; vgl.Hhne, Bubenreuther, 20f. Beide wurden deshalb 1824 gemaregelt;UA Erlangen, Th. III, Pos. 14, Nr. 26 (Abschrift). Seit 1829 arbeitete er an dem neugegrndetenBlatt Das Inland" mit. Er lste im Mrz Georg Friedrich Puchta als leitenden Redakteur derZeitung ab. Vgl.Steuer, Cotta, 41 ff.

    4 Lautenbacher an Cotta vom 11.4. 1830; Cotta-Archiv Marbach, Cotta-Briefe, Lautenba-cher/Cotta, Nr. 31.

    5

    Ab Mai 1830 war Stahl verantwortlicher Redakteur des offizisen Blattes Der Thron- undVolksfreund"; vgl. Kapitel C. I.6 Bd .I : 1830; Bd. H/1: 1833; Bd .I I/ 2: 1837. Im folgenden wird nach der heute blichen

    6. Auflage (Darmstadt 1963) zitiert (Phil. d. R.), die mit der dritten, von Stahl 1854-1856 nochselbst herausgegebenen Auflage identisch ist. Frhere Ausgaben werden durch in Klammern gesetzte Erscheinungsjahre gesondert angegeben.

    7 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II /l , VIII.8 Ebd., VII.

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    14 Grundzge der Theorie Stahls

    Diese Selbsteinschtzung deutet das Ineinandergreifen von Theorie und Pra

    xis bei Stahl an. Sie kann darber hinaus ein Hinweis darauf sein, da seine

    Rechts- und Staatslehre mit der Erstausgabe der Philosophie des Rechts"

    keineswegs ein geschlossenes System war, das fr Stahl unverrckbar blieb.

    Trotzdem gibt es eine Grundkonzeption Stahls, welche die unvernderli

    che Basis seines Denkens bildet. Sie zu kennen ist notwendig, um Stahls Fhig- oder Unfhigkeit zur Aufnahme neuer und weiterfhrender Gedanken

    beurteilen zu knnen. Damit hngt auch Stahls Positionsbestimmung als

    Konservativer" oder als Reaktionr" zusammen. .

    Somit ist eine Untersuchung der politischen Ttigkeit Stahls nicht von sei

    nem theoretischen Ansatz zu lsen. Schon Stahls Bild des christlichen Staates

    ist geprgt von der Persnlichkeit Gottes"9, sein Eintreten fr das monar

    chische Prinzip setzt seine christliche Weltanschauung voraus. Im Kern hatte

    sich das System Stahls bereits in den dreiiger Jahren des 19.Jahrhundertsherausgebildet. Um die Grundp^sition Stahls herauskristallisieren zu kn

    nen, ist es erforderlich, die verschiedenen Ausgaben der Philosophie des

    Rechts" vergleichend nebeneinander zu stellen. Dabei kommt es im Rahmen

    dieser Arbeit nicht darauf an, das philosophische System und die Rechtslehre

    Stahls in ihren Einzelheiten zu errtern10

    , sondern es soll an Hand einiger

    entscheidender Prinzipien Stahls methodisches Vorgehen im theoretischen

    Bereich aufgezeigt werden11 . Solche sind die Begriffe Persnlichkeit" und

    sittliches Reich".Die Schrift Das monarchische Princip" bedeutet im Werk Stahls eine ent

    scheidende Wende12

    . Standen seine bisherigen Abhandlungen nahezu aus

    schlielich im Zeichen theoretischer Errterungen, stellt sie ein Eingreifen in

    die Auseinandersetzungen um die verfassungsmige Ausgestaltung Preu

    ens, die in diesen Jahren diskutiert wurde, dar. Von dem Wissen getragen,

    da eine bedeutende Vernderung in der Verfassung dieses Knigreiches

    bevorstehe"13

    , sah Stahl in seiner Schrift die Mglichkeit, in seinem Sinne auf

    die preuische Verfassungsgebung einwirken zu knnen. Trotz des hohenAbstraktionsgrades, mittels dessen Stahl das monarchische" von dem par

    lamentarischen" Prinzip schied, funktionalisierte Stahl seine Theorie in Hin

    blick auf real Erreichenswertes" und stellte sie in den Dienst aktiver politi

    scher Gestaltung. Wenn Stahl in den folgenden Jahren ffentlich das Wort

    ergriff, wollte er auf das politische Geschehen Einflu nehmen. Daher kann

    Vgl. ebd., 7 ff.10 Vgl. dazu die Arbeiten vonGrosser, Grundlagen;/ / . / . Wiegand, Frhwerk;C. Wiegand,

    Stahl.11

    Stahls eigener Methodik wurde trotz seiner Angaben dazu (vgl. Phil. d. R. H/1, 141 f.) in

    der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt.'Nur Drucker, Stahl, 11,erwhnt die Polari

    tt, wie wir seine Methode nennen mchten", ohne diesen Gedanken weiterzuverfolgen.12

    Heidelberg 1845 (zitiert: Mo. Pr.).13

    Stahl, Mo. Pr., III.

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    Grundzge der Theorie Stahls 15

    nicht mehr davon gesprochen werden, da Stahls theoretische Schriften aus-

    schlielich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung dienten.

    Diese politische Publizist ik14ist daher von den rein theoretischen Schriften

    zu trennen, solange es darum geht, Stahls Grundberzeugung und seine wis-

    senschaftliche Argumentation herauszuarbeiten. Sie wrde den Aussagen

    Stahls eine Programmatik verleihen, die einer adquaten Bestimmung seinerPosition die Sicht versperren wrde.

    14 Sie reicht von Stahls Artikeln in verschiedenen Zeitungen bis zu seinen posthum verffent-

    lichten Vorlesungen ber Die gegenwrtigen Parteien in Staat und Kirche".

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    I. Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die

    Zentralbegriffe bei Stahl

    1. Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff

    Mit den Worten Jede philosophische Wissenschaft mu mit dem obersten

    Princip der Dinge, dem ,Absoluten', beginnen"1 leitet Stahl seine Philoso

    phie des Rechts" ein. Dabei ist sich Stahl bewut, da das, was als das oberste

    Prinzip anzusehen ist, letztlich auf einer Glaubenshaltung beruht2. Fr Stahl

    stellen sich dabei im Grunde nur zwei Alternativen: der absolute Weltgeist imSinne Hegels

    3oder der persnliche Gott. Diese beiden Positionen beinhalten

    nach Stahl das Bekenntnis entweder zum Rationalismus oder zum Theismus,

    die als Extrempole mglicher Weltanschauung"4 gelten. Vom Einzelnen

    verlangt Stahl eine Entscheidung zugunsten einer dieser Positionen; er selbst

    spricht sich fr die christliche Offenbarung" aus5, wodurch der persnli

    che, berweltliche, offenbarungsfhige Gott"6 das oberste Prinzip fr Stahl

    wird.

    Stahls Prmisse seiner wissenschaftstheoretischen Anschauung ist also eindezidiertes Bekenntnis zum Christentum. Stahl, ursprnglich mosaischen

    Glaubens, war am 6. November 1819 zum Protestantismus bergetreten,

    nachdem er durch Friedrich Wilhelm Thiersch und Friedrich Immanuel Niet

    hammer whrend seiner Schulzeit in Mnchen dem Christentum nahege

    bracht worden war7. Fr den in spteren Jahren engagierten Christen8wurde

    1 Stahl, Phil. d. R. H/1 , 7.2 Vgl. ebd., 5.

    3 Vgl. Hirschberger, Geschichte II, 407ff.4 Stahl, Phil. d. R. II / l , 4; vgl.C. Wiegand, Stahl, 191.5 Stahl, Phil. d. R. II / l , 5; hnlich Phil. d. R. II/ l (1833), X.6 Stahl, Phil. d. R. II / l , 7; ebenso Phil. d. R. II /l (1833), 18.7 Vgl.Voigt,Werdegang, 59; G.Masur,Stahl, 37. Stahl beschreibt in einem Brief an Thiersch

    vom 20.1.1820 den Ablauf der Tauffeierlichkeiten; gedruckt beiKoglin, Briefe, 44-46. Die Da

    tierung Koglins (20.1.1819) ist offensichtlich falsch.

    Ober Stahls frheren Namen herrscht besonders in der lteren Forschung einige Verwirrung.

    Fr die frher vorgebrachte These, Stahl habe ursprnglich Schlesinger" geheien (Tannen-

    wald,Art. Stahl", Sp. 623) finden sich in den Akten keine Belege. Hier taucht der Name Jol-

    son" oder Golson" auf. In den Judenmatrikeln von 1815 wurde Stahls Vater in Mnchen mitdem Namen Valentin Golson" als Nachfolger von Abraham Uhlfelder mit der Schutznummer

    34 eingetragen; StA Mnchen, RA 33908; hnlich die Matrikel von 1819, StA Mnchen, RA

    33909; vgl. auch den Bericht der Polizeidirektion Mnchen an das Generalkommissariat vom

    6.12. 1816, StA Mnchen, RA 33891.

    Andererseits finden sich zahlreiche Belege fr den Namen Jolson", so in einem Schreiben

    von MarcusFelshof, Hofmeister bey Jolson Uhlfelder", datiert vom 29.3 . 1813; StA Mn-

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    Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff 17

    der Glaube zum Grundzug seiner Philosophie, der ihn zur Ablehnung allerrationalistisch-naturrechtlich geprgten Ideen bestimmte, durch welcheStahl die christliche Weltordnung in Frage gestellt glaubte.

    So setzt am Begriff der Persnlichkeit", den Stahl zum Princip derWelt" erhebt9, seine Kritik am Pantheismus an, den er von Spinoza bis Hegel

    in der Philosophie vertreten sieht10

    . Stahl knpft mit diesem Begriff an Schel-ling an, der in seinen Philosophischen Untersuchungen ber das Wesen dermenschlichen Freiheit und die damit zusammenhngenden Gegenstnde"(1809) die Persnlichkeit Gottes besonders hervorgehoben hatte11. Stahl betont die Persnlichkeit, da in ihr allein die Einheit grnde, die der Mannigfaltigkeit der Schpfung einen umschlieenden Sinn gebe: Die Persnlichkeitaber ist absolute Einheit"12 , die Verbindung von Konkretem und Abstraktem, die Potenz aller Denkmglichkeiten. Schon Kaufmann hat die Bedeu

    tung der Einheit hervorgehoben, die Stahl durch den Persnlichkeitsbegriffzur Geltung bringen wollte13. Durch diese Gleichsetzung von Einheit undPersnlichkeit versucht Stahl, die innere Widersprchlichkeit der Welt zuberwinden. Auch Geist und Materie sind demzufolge keine antagonistischen Begriffe, sondern in der Einheit der Person verschmolzen. AbsoluteEinheit kann nach Stahls christlichem Verstndnis letztlich nur in Gott begrndet sein. Aus einer empirischen Vielfalt induziert Stahl methodisch aufdie Notwendigkeit einer Ganzheit. Totalitt ist aber gleichbedeutend mitGott. Die umstndliche Argumentation Stahls, mit der er aus der Vielheit aufdie Einheit folgert, dient im wesentlichen dazu, einen mglichst zwingenden, vernunftmigen Beweis fr die Existenz eines frei waltenden, persnlichen Gottes" zu liefern14.

    chcn, RA 33877. Auch in den Jahresberichten des Wilhelms-Gymnasiums, das Stahl besuchte,taucht immer der Name Julius Jolson" auf; vgl. Berichte von der Kniglichen Studien-Anstaltzu Mnchen, Jg. 1815-1818.

    ber die Herkunft des Namens Stahl" ist nichts bekannt; vgl.Voigt,Werdegang,57;G. Ma-sur,Stahl, 37 Anm. 2. Denkbar wre die Wahl des Namens wegen seines metaphorischen Cha

    rakters, hnlich der Namenswahl seines Onkels Mayer-Uhlfelder, der am28.11.1816 zum katholischen Glauben bergetreten war und den Namen Kraft" angenommen hatte; vgl. StAMnchen, RA 33908 und RA 33891.

    8 1848 Berufung in das neugeschaffene Oberkonsistorium, 1852 Mitglied des EvangelischenOberkirchenrats; vgl. Ministerialreskript Raumers an Uechtritz, Berlin 10.3.1852, EZA Berlin,EOK Prs. 11, Bd. I. Seit 1848 war Stahl Vorsitzender der Berliner Pastoralkonferenz sowie Prsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags; vgl.Landsberg, Art. Stahl", ADB XXXV,397;H. ]. Wiegand, Bild, 47. Eine umfassende Darstellung von Stahls kirchenpolitischen Aktivitten bietetNabrings, Stahl, 120-148.

    Stahl, Phil. d. R. II/l, 7.10 Vgl. ebd., 8.11 Abgedruckt in:Schelling, Werke IV, 223-308. Zum Einflu Schellings auf Stahl vgl.Gros

    ser, Grundlagen, 30-37; C. Wiegand, Stahl, 93-104. DagegenNabrings, Stahl,47ff., der Stahlnur sehr eingeschrnkt als Schler Schellings" beurteilt; vgl. ebd., 54.

    12 Stahl, Phil. d. R. II / l , 15; vgl. Phil. d. R. II/ l (1833), 18f.13 Vgl.Kaufmann, Studien, 71 ff.; hnlich C.Wiegand, Stahl, 201.14

    Volz, Christentum, 42.

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    18 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    In Gott verbinden sich die mannigfaltigsten Krfte und Eigenschaften:

    Selbstbewutseyn, Wille, Verstand, Macht, oder, wie wir die gttlichen Ei

    genschaften bezeichnen, Allwissenheit, Allmacht, Unvernderlichkeit, Ge

    rechtigkeit, Heiligkeit, Treue, Liebe, Barmherzigkeit, Seligkeit, Ewigkeit

    [.. . ] "1 S

    . Entscheidende und wichtigste Attribution der Persnlichkeit ist fr

    Stahl der Wille, durch den eine Tat initiiert wird16

    . Gottes Persnlichkeitzeigt sich dem Menschen in der Schpfung, die aus dem Willen zur Tat ent

    sprungen ist. Die Begriffe Persnlichkeit", Wille" und Tat" gehren bei

    Stahl eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Ohne den Willen gibt es

    keine Persnlichkeit, ohne Tat ist der Wille ein Absurdum.

    Etwas zu wollen setzt voraus, sich das Gewollte gedanklich vorstellen zu

    knnen. Das Unvorstellbare kann der Mensch nicht in die Tat umsetzen.

    Anders dagegen Gott. Fr ihn ist das menschlich Unvorstellbare mglich

    und realisierbar.Stahl spricht mit diesem Gedanken die Freiheit Gottes an. Freiheit" all

    gemein bedeutet in Stahls Vorstellung die Mglichkeit der Wahl, die Freiheit

    Gottes ist - dementsprechend erhht - unendliche Wahl" oder Ur-

    wahl"17

    . Die unendliche Wahl" ist wie die Persnlichkeit" ein zentraler

    Gedanke Stahls und taucht bereits in der Erstauflage der Philosophie des

    Rechts"auf18.Freiheit meint in beiden Fllen eine schpferische Freiheit",

    die ber die empirische Wahl, d.i. Auswahl aus Vorhandenem" 19 hinaus

    geht. Vielmehr beinhaltet die schpferische Freiheit" die Mglichkeit,

    Nichtexistentes zu schaffen, eine Richtung, ein telos", zu bestimmen20 .

    Nun sind die Dinge aber nicht planlos. Sie sind nach Zweck und Absicht

    geschaffen"21, d.h. sie besitzen eine Providenz"22, einen innersten Zu

    sammenhang, der fr den Menschen empirisch nicht mehr erfahrbar ist. Da

    die Schpfung nicht ziellos und zufllig ist, liegt in der Persnlichkeit Gottes

    begrndet. Daher ist nach Stahl auch die Weltgeschichte auf ein Ziel ausge

    richtet, das in einem ewigen Zustand sittlicher und natrlicher Vollendung"

    besteht23. Die Aufgabe der Geschichte liegt in einem vorbereitenden Charak

    ter, in der Entfaltung auf dieses Ziel hin24. Der Mensch kann aber von sichaus den Zustand hchster Vollendung nicht erreichen, dazu bentigt er das

    15 Stahl, Phil. d. R. II/l, 15.

    16 Vgl. ebd., 16: Das Seyn der Persnlichkeit ist aber That, unausgesetzt innere That, denn

    nur als Wille ist sie [...]."17

    Ebd. , 27; vgl. Phil. d. R. II /l (1833). 21.18 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/ l (1833), 26f.19

    Stahl, Phil. d. R. II / l , 28. Stahl wehrt sich hiergegen eine Besprechung der Erstauflage der

    Phil. d. R., Bd. II/l durchLudwig Feuerbach, Jahrbcher fr wissenschaftliche Kritik 1835, Bd.II, Sp. 1-20, besonders 3ff.

    20 Vgl. Grosser, Grundlagen, 47.

    21 Stahl, Phil. d. R. II /l , 40.

    " Ebd.

    " Ebd. , 48; vgl. ebd., 45.24

    Vgl. ebd., 51 und 151; ebenso Phil. d. R. II /l (1833), 101.

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    Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff 19

    ttige Eingreifen Gottes in die Welt. Da Stahl aber im Rahmen seiner christli

    chen Geschichtsphilosophie die aktive Lenkung der Welt durch Gott ab

    lehnt, kann die Geschichte letztlich nur in einer Annherung an das telos"

    bestehen25.

    In der Schpfung Gottes nimmt der Mensch einen besonderen Rang ein, da

    er Ebenbild Gottes ist26. Als solches hat der Mensch ebenfalls Personhaftig-keit, d. h. er ist mit Freiheit und Willen ausgestattet27. Allerdings besteht fr

    Stahl ein essentieller Unterschied zwischen der Persnlichkeit Gottes und des

    Menschen. Fr Gott gibt es keinerlei Schranken; er allein hat die Mglichkeit

    der Urwahl, er ist es auch, der den Menschen geschaffen hat. Fr den Men

    schen bedeutet seine kreatrliche Stellung", wie Stahl es nennt28

    , da er

    trotz einer gewissen Selbstndigkeit einer zweifachen Bedingtheit unterliegt.

    Zum einen ist er Teil im gttlichen Weltplane"29

    und hat damit als Einzel

    wesen oder in der Gemeinschaft bewut oder unbewut die Aufgabe, GottesWeltordnung auszufllen. Dies geschieht im Rahmen von Religion und Sitt

    lichkeit: Sittlichkeit ist die Vollendung des Menschen in ihm selbst [...] Re

    ligion dagegen ist das Band des Menschen zu Gott, da er sich immer nur in

    Gott wisse und wolle, sich berall auf ihn beziehe - also die vllige Hinge

    bung, die persnliche Einigung mit Gott"30. Dieser Doppelung von Religion

    und Sittlichkeit auf ethischem Gebiet entspricht die Duplizitt der organisa

    torischen Einbindung des Menschen einmal in die Gottesgemeinde", zum

    anderen in die sittliche Welt"

    31

    , wie sie durch die Kirche bzw. durch diebrgerliche Ordnung"32 verwirklicht ist.

    Die zweite strukturelle Bedingtheit liegt in der Sndhaftigkeit des Men

    schen. Durch den Sndenfall Adams wurde die Persnlichkeit des Men

    schen, die ursprnglich in der engen Verbindung zu Gott bestand33

    , defor

    miert und in ihrem Wesensgehalt - dem Willen zum Guten - zerstrt. Seither

    hat der Mensch das Doppelvermgen des Guten und Bsen"34

    . Gerade das

    hindert ihn, seine frhere sittliche Qualitt wiederzuerlangen. Sein Bemhen

    nach Vollkommenheit ist daher von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

    Das Streben nach Sittlichkeit stellt in der christlichen Philosophie Stahls

    ein wesentliches Kennzeichen dar, das mit seinem Persnlichkeitsbegriff

    korrespondiert. Wie bei der Persnlichkeit trennt Stahl auf sittlichem Gebiet

    25 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I I / l , 151; Phil. d. R. II /l (1833), 104.

    26 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I I / l , 71 und 313; Phil. d. R. II/ l (1833), 57.

    27 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/l, 92ff. und 114.

    28 Ebd., 92.

    29 Ebd., 76; vgl. Phil. d. R. II/ l (1833), 98.

    30 Stahl, Phil. d. R. I I/ l , 71.

    31 Ebd., 79.

    32 Ebd., 82.

    33 Vgl. ebd., 123f. Die einschneidende Bedeutung des Sndenfalls wird von Stahl in der ersten

    Auflage strker betont als in spteren Ausgaben; vgl. Phil. d. R. II/l (1833), 61-68.

    Sj* Stahl, Phil. d. R. II / l , 119; Phil. d. R. II /l (1833), 68.

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    20 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    zwischen der hchsten innerlichen Sphre" und der niedrigem uerli

    chen Sphre"35

    . Erstere ist eine Emanation Gottes, whrend die zweite der

    brgerlichen Ordnung zugeschrieben wird. Prinzipiell gehren beide Sph

    ren zusammen: [...] die sittliche Welt aber besteht darin, da in den eignen

    Lebensverhltnissen der menschlichen Gemeinschaft die gttlichen (sittli

    chen) Ideen sich realisiren, und diese in Gestaltung derselben ihren eignensittlich verstndigen Willen offenbare [.. . ] " 3 6 .Aus diesem Zitat lt sich ab

    lesen, da Stahl Sittlichkeit" im Grunde als ein Prinzip Gottes und seiner

    Personalitt versteht37

    , die in ihrer hchsten Form fr den Menschen nicht

    erreichbar ist. Er hat lediglich Gestaltungsmglichkeiten innerhalb dieses

    ideellen Rahmens, der vereinfacht durch die Gleichung Sittlichkeit = das

    Gute" ausgedrckt werden kann38. Wrde man das Verhltnis des Menschen

    zu der Forderung bzw. Verpflichtung nach Sittlichkeit weiterverfolgen,

    mte man eine starke Diskrepanz zwischen Sollen und Wollen, zwischenVerpflichtung und Verhalten, zwischen Idee und Wirklichkeit konstatieren.

    Das System Stahls birgt hier die Gefahr in sich, in zwei Extreme- das Prinzip

    des Guten einerseits und das Prinzip des Bsen andererseits - auseinanderzu-

    driften, zwischen denen es keine Vermittlung zu geben scheint. Stahl hat

    diese Gefahr fraglos erkannt und als das verbindende Glied zwischen Idee

    und Wirklichkeit die Persnlichkeit des Menschen gesetzt39

    . Durch sie wird

    das Verhltnis Gott - Mensch zu einer Beziehung zwischen zwei Persnlich

    keiten. Durch seine eigene Persnlichkeit kann sich der Mensch an die Idee

    Gottes annhern, da er aber gleichzeitig mit der Erbsnde belastet ist, wird

    die Annherung nicht endgltig gelingen. Dabei hat der Mensch potentiell

    die Mglichkeit, sich an der Sittlichkeit Gottes zu orientieren. Ob er sie in

    Anspruch nimmt, ist seiner menschlichen Freiheit berlassen. Diese Kon

    struktion Stahls versucht also, einen Ausgleich zwischen zwei Polen zu

    schaffen, die sich ansonsten zunehmend voneinander isolieren wrden.

    Das gleiche Vorgehen wendet Stahl in dem Bereich seiner Philosophie an,

    in dem es um die Freiheit und Selbstndigkeit des Menschen geht. Es wurde

    bereits angesprochen, da der Mensch als ein Teil der Schpfung mehrfachen

    Bedingtheiten unterliegt. Die Frage ist aber, wo die Freiheit des Menschen in

    der Schpfung, vor allem wo seine Willensfreiheit bleibt. Stahl versucht, die

    ses Problem zu neutralisieren, indem er hchste Freiheit nur dann gegeben

    sieht, sobald Willensfreiheit und Sittlichkeit zusammenfallen40. Indem der

    Mensch die Mglichkeit hat, auch Bses, Unsittliches zu wollen, erfllt er

    den Freiheitsbegriff Stahls nicht mehr. Es ist nicht Freiheit, argumentiert

    Stahl, was der Mensch zu haben glaubt, sondern lediglich sittliche Will-

    35 Stab!, Phil. d. R. II/l, 161

    36 Ebd., 79.

    37 Vgl. ebd., 83f.38

    Vgl. ebd., 84.39

    Vgl. ebd.40

    Vgl. ebd., 117f.

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    Stahls Methode von Idealitt und Realitt 21

    kr"41 . Durch die Kanalisation des Freiheitsbegriffes zur Sittlichkeit wendetsich Stahl gegen eine rationalistische Interpretation des Terminus, die aufFreiheit von etwas" hinausluft. Vielmehr versteht Stahl den Begriff imSinne von Freiheit fr etwas". Willensfreiheit meint dann die Kraft, auchbei allen entgegengesetzten Antrieben sich zum Guten zu entscheiden"42,

    d. h. sittlich vollkommen im Sinne Gottes zu handeln. Unklar bleibt, ob dieFreiheit im Sinne Stahls berhaupt noch als solche bezeichnet werden kannoder ob sie im Grunde nur im Rahmen einer gttlichen Prdestination derWelt abluft. Gerade die Verbindung der Sittlichkeit als eines Attributs Gottes und der Freiheit erzeugt diese Frage. Auch Stahl kann dieses Problemnicht klren; sehr oberflchlich merkt er an: Wir mssen nun des scheinbaren Widerspruchs ungeachtet an beiden festhalten, der Einheit des Weltplanes und der menschlichen Freiheit. Wir knnen nicht annehmen, da die

    Weltgeschichte blo Folge der menschlichen Entschlsse, aber auch nichtumgekehrt, da die menschlichen Entschlsse blo Folge der Konceptionder Weltgeschichte seyen"43 . Erklrbar ist dieser Widerspruch nur dann,wenn gem dem Verstndnis Stahls die Freiheit des Menschen als idealerWert interpretiert wird, der anstrebbar, aber nicht erreichbar ist. Freiheit hatso einen Soll-Charakter. Der Mensch soll versuchen, in bereinstimmungmit dem gttlichen Weltplan zu handeln, auch wenn er das Bewutsein hat,die Zielorientierung nur andeutungsweise - aus dem Glauben heraus - zu

    kennen. Erkenntnistheoretisch

    44

    greift Stahl hier auf den Glauben als Lsungder Diskrepanz von Idealitt und Realitt zurck. Nur der Glaube an die Existenz eines persnlichen Gottes, d.h. auch an einen gttlichen Weltplan,kann der Realitt einen Sinn geben.

    2. Stahls Methode von Idealitt und Realitt

    In der Geschichte steht der Mensch nicht als Einzelner, sondern er hatgemeinschaftlich mit anderen den Plan Gottes fr das menschlicheGeschlecht" zu erfllen45. Daher ist fr Stahl die Untersuchung dermenschlichen Ordnung wesentlicher als die subjektive Form der Sittlichkeitdes Individuums. Bevor jedoch auf die damit zusammenhngenden Begriffe

    41 Ebd., 119; Phil. d. R. 11/1 (1833), 70.42

    Stahl, Phil. d. R. H/1, 122.43 Ebd., 126f.; hnlich Stahl, Protestantismus, 9. Grosser, Grundlagen, 50f., stellt diesen

    Zwiespalt ebenfalls dar und untersucht damit zusammenhngend das schwierige Problem, inwieweit Stahl mit der Rechtfertigungslehre Luthers noch bereinstimmt.Heinrichs, Rechtslehre,12-19, ist zu sehr der Darstellung Stahls verhaftet, um der Problematik von Freiheit und Pro-videnz gerecht werden zu knnen.

    44 Zur Erkenntnistheorie Stahls vgl. Volz, Christentum, 27-41;Poppelhaum, Weltanschauung, 70 ff.

    45 Stahl, Phil. d. R. U/1, 76.

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    22 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    sittliche Welt" und sittliches Reich" eingegangen wird, erscheint es

    notwendig, das methodische Vorgehen Stahls zu erlutern, das seine gesamte

    Philosophie durchzieht und sich schon in der Untersuchung des Persnlich

    keitsbegriffes gezeigt hat.

    Stahl geht von einer grundstzlichen Gegenberstellung von Vollkom

    menheit und Unvollkommenheit aus. Diese Trennung erklrt sich aus seinerchristlichen Weltanschauung, in der Gott axiomatisch der Erhabene, Wr

    dige und Vollkommene ist. Dieses Axiom steht am Anfang und im Kern sei

    ner Betrachtung. Da seine Anerkennung letztlich Glaubenssache ist, mu es

    nach Stahl nicht bewiesen werden46. Gegenber dieser Absolutheit kann

    nichts Ebenbrtiges existieren; alles ist ihr gegenber unvollkommen und

    mangelhaft. Diese Schematik kann mit dem Gegensatzpaar Idee und Realitt

    beschrieben werden.

    Zwischen die Pole Idee und Realitt schaltet Stahl in seinem methodischenVorgehen einen dritten Bereich, der die Funktion hat, zwischen beiden zu

    vermitteln. Dieser Vermittlungsfaktor" orientiert sich an der Idee, indem

    aus der Idee Prinzipien abgeleitet werden, die dazu dienen sollen, da sich die

    Realitt positiv an die Idee annhern kann47 . Dabei trgt der Vermittlungs

    faktor selbst hohe Idealzge, die allerdings nicht so fremd und unerreichbar

    wirken wie die Idee selbst.

    Die Schwierigkeit besteht bei Stahl darin, da dem Vermittlungsbereich

    des Idealen" zwei verschiedene philosophische Vorstellungen zugeordnetwerden, die Stahl in seinem Werk nicht klar getrennt hat: der Inhalt des Ideals

    und der Inhalt der Idee.

    Zum einen verbindet Stahl mit dem Ideal etwas Erstrebenswertes, Voll

    kommenes und Vorbildliches. Diesem vorphilosophisch-umgangssprach

    lichen Verstndnis"48geht der Gedanke voraus, da dem Ideal die Wirklich

    keit fundamental gegenbersteht. Es meint aber auch, da Idealitt und Rea

    litt divergieren, d. h. es wird, je angestrengter die Realisierung des Idealen

    angestrebt wird, desto deutlicher, da sich die gelebte Wirklichkeit nicht dem

    Bilde fgen will, welches die Vorstellung dem Handeln zum Mastab

    setzt"49. Gerade dieses Auseinanderbrechen will Stahl verhindern. Er betont

    den Gedanken der Einheit besonders50. Sein immanenter Ideal"-Begriff ist

    daher auf einer Verflechtung der beiden Termini Idealitt" und Realitt"

    aufgebaut. Nimmt man dagegen einen unpersnlichen Weltgeist an, wie He

    gel das tut51, trennen sich beide Bereiche, da sie lediglich in einer rationalen

    Vorstellung knstlich vereint sind. Das Ideal wird dann unerreichbar, weil es

    46 Trotzdem versucht Stahl, Gott auch mittels der Vernunft zu beweisen. Vgl. ebd., 14ff.47 Ein ahnlicher Ansatz - die Vermittlung" zwischen zwei Polen - findet sich auch bei He

    gel; vgl.Hirschberger, Geschichte II, 414.48 Malter, Art. Ideal", 701.

    49 Ebd., 702.

    50 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I, 493, 496 und 519, sowie II / l , 12 und 15.

    51 Vgl.Hirschberger, Geschichte II, 407ff.

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    Stahls Methode von Idealitt und Realitt 23

    nicht mehr fabar ist. Die Konsequenz wre fr Stahl, da im menschlichen

    Zusammenleben keine wirklichen ethischen Mastbe mehr gefunden wer

    den knnten, die von den Menschen als Verpflichtung angenommen wrden.

    Daher ist fr Stahl der Rationalismus eine Auflsung auf religisem, sittli

    chem und politischem Gebiet52, weswegen er ihn in der Folge energisch be

    kmpft.Mit seinem ,,Ideal"-Verstndnis steht Stahl ganz in der Tradition des

    ,,Ideal-Realismus"53

    , wie sie sich seit der Antike bei Piaton, Aristoteles, Au

    gustinus, Anselm, Bonaventura, Thomas und nicht zuletzt bei Schelling aus

    gebildet hatte54

    . Vor allem Schelling mit seiner Identittsphilosophie hatte

    groen Einflu auf Stahl. Von Schelling bernimmt Stahl den Gedanken der

    Identitt von Objekt und Subjekt, von Natur und Geist, von Realitt und

    Idealitt, ebenso den dahinterstehenden Gedanken, da diese Unterschei

    dungsgren durch ein Absolutes eben zu dieser Einheit verbunden sind55

    .Da also Ideal und Realitt nicht nebeneinander existieren, sondern in einer

    hheren Einheit - der Idee Gottes - verknpft sind, mu aus dem Ideal eine

    praktische Relevanz gefolgert werden; sonst wrde das Ideal seinen hohen

    Anspruch verlieren. Die Relation von Idealitt und Realitt ist daher von ei

    nem Soll-Charakter geprgt; dieser meint, da sich die Realitt an dem Ma

    stab des Ideals zu orientieren habe. Das Ideal" erhlt dadurch einen prag

    matisch-regulativen Charakter. Dies zeigt sich beispielsweise an Hand der

    angesprochenen Funktion der Sittlichkeit, die - in ihrer hchsten Form inGott verwirklicht- die Vollendung des Menschen" beinhalten soll56. De

    mentsprechend ist das Ideal geformt; es ist dem inneren und ueren An

    schauen so weit voraus, da es selbst nie real werden kann"57. Dieser Ge

    danke findet sich bei Stahl in der Erwartung, da erst durch das Eingreifen

    Gottes die Vollkommenheit der Schpfung erreicht werden wird58.

    Whrend Stahl mit dieser Interpretation des Real-Ideal-Denkens ganz in

    der Tradition des ethischen Idealismus steht, verkompliziert sich sein Ideal-

    Begriff, indem er hufig die Nuance von Idee" hat. Stahl verwendet die

    Vorstellung des Idealen" auch dann, wenn definitorisch eigentlich von

    Idee" gesprochen werden mte. Idee" im philosophischen Sinne heit

    der im Geist gefate und festgehaltene Umri eines Sachgehaltes in seiner

    52 Vgl. Stahl, Phil. d. R. H/1, XVII. Wenn Stahl den Prototyp des Rationalisten in Hegel ver

    krpert sieht, beruht dies auf einer Verkennung von Hegels Subjekt-Objekt-Identitt", die

    Stahl ganz unter dem Aspekt seiner eigenen Prmisse Persnlichkeit" untersucht. Zu der pro

    blematischen Hegelinterpretation Stahls vgl.Eswein, Stellung;C. Wiegand, Stahl, 104 ff.; He-

    gel, Vorlesungen I, 561 f.; Nabrings, Einflu, 53-87.53 Hirschberger, Geschichte II, 387.54

    Vgl. ebd.55

    Vgl.Stahl, Phil. d. R. I (1830), VI und 242-269; Phil. d. R. I, XVII; Grosser, Grundlagen,

    30-37.56

    Stahl, Phil. d. R. H/1., 71.57

    Malter, Art. Ideal", 708.58

    Vgl. oben S.18f.

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    24 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    Allgemeinheit, d.h. in seiner Reinheit von empirisch-materiellen Besonde-rungen"59. Der Idee-Begriff ist bei Stahl in seiner deutlichsten Form in derIdee des persnlichen Gottes vorhanden60 . Die Idee der Persnlichkeit Gottes galt fr Stahl als der entscheidende Beitrag der christlichen Kultur zurabendlndischen Philosophie.

    Indem die Persnlichkeit Gottes empirisch nicht erfahrbar ist, trotzdemaber gedanklich notwendig erscheint (sonst wrde die Schpfung nicht ausdem Willen, der Attribution Gottes, ableitbar sein), ist sie keiner zeitlichenEinschrnkung unterworfen. Die Idee umfat also die Dinge und gibt ihnenihren innersten Zusammenhang.

    Schematisiert wrde Idealitt" bei Stahl bedeuten, da hinter dem Be-griffspaar Ideal" und Realitt" die hhere Einheit der Idee" steckt, wobei das Ideal" ein Ausflu der Idee" ist. Idee" und Ideal" sind bei Stahl

    somit nicht identisch, wenngleich sie des fteren vermischt werden. Ideal"meint die Vorstellung von etwas Vollkommenen, die Idee" selbst ist nichtmehr vorstellbar. Auch wenn die Idee" gedanklich nicht mehr fabar ist,heit das nicht, da sie nicht vorhanden ist. Sie uert sich im Ideal. Idealittund Realitt wrden auseinanderbrechen, wenn sie keinen Bezug zur Idee"htten. Also mu es ein vermittelndes Glied geben, das sie miteinander verbindet. Auf das Beispiel des Verhltnisses von Gott zum Menschen bertragen ist der Vermittlungsfaktor die Persnlichkeit, die sowohl ein Attribut

    Gottes wie des Menschen ist. Wenngleich die Persnlichkeit des Menschenund Gottes nur analog (in der Fhigkeit zu Wille und Tat), nicht jedoch identisch sind, werden Idealitt" und Realitt" auf einer hheren Ebene verbunden61.

    Bei Stahl steht der Bereich Idealitt - Realitt" im Vordergrund seinesphilosophischen Denkens. Die Idee an sich wird nur knapp behandelt. Auchan dem Bezugspaar der beiden Begriffe interessiert Stahl primr das Machbare", d.h. der Bereich zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das Machbare"trgt selbst ideale Zge, ist aber nicht identisch mit dem Ideal62. Vielmehr istes eine aus dem Ideal abgeleitete Stufe. Es ist fr Stahl das - erreichbare - Ziel,das er den Menschen setzt. So verstanden ist seine Philosophie eine Philosophie der Vermittlung, die trotz hoher Normierung durch idealhnliche Zgeeinen ausgesprochen pragmatischen Charakter hat.

    Resmierend zu dem Komplex Idealitt und Realitt" mu auf die teilweise offensichtliche Parallelitt zwischen Stahl und Hegel hingewiesen werden. Die hnlichkeit wurde in der bisherigen Stahlforschung durchaus gese-

    59 Hirsch, Art. Idee", 709.60 So spricht Stahl von der Idee der vollendeten Persnlichkeit"-.Stahl, Phil. d. R. II/l, 92

    und 94.61 Die Verwandtschaft Stahls zu Thomas von Aquin ist unverkennbar. Den Einflu Thomas'

    hatHeinrichs, Menschenbild, herausgearbeitet; vgl.Nahrings, Stahl,24ff. Zum Einflu Thomas' auf die Staatslehre des 19. Jahrhunderts vgl.Raab, Wiederentdeckung.

    Vgl.Stahl, Phil. d. R. H/1 , 141.

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    Das sittliche Reich" 25

    hen, wenngleich man sich nicht klar darber war, welchen Stellenwert sie

    einnahm. Fast durchgngig wurden die Differenzen zwischen beiden Den

    kern hervorgehoben, sei es hinsichtlich verschiedener Begrifflichkeit63 oder

    sachlicher Unterschiede64. Mit Drucker und Mller wurde Stahl in die Nhe

    Hegels gerckt65

    . Trotz der vielfltigen Anstze, das Verhltnis von Stahl zu

    Hegel zu klren, konnte bisher kein allgemeiner Konsens gefunden werden;auch Grossers berechtigter Hinweis auf die Nhe zu Schelling

    66 hat daran

    bisher wenig ndern knnen. Nabrings hat in seiner jngst erschienenen Dis

    sertation das Problem erneut aufgegriffen67

    und eine neue Variante angebo

    ten, indem er Stahl als unglcklichen Hegelianer" interpretiert68

    . Demzu

    folge sei Stahls Philosophie hinsichtlich ihrer Intention und ihrer Leistung

    auf der Folie von Hegels Anschauungen zu interpretieren69. Nabrings' These

    bleibt jedoch problematisch, da er der Methodik beider Denker nur sekun

    dre Bedeutung beimit und bei der Deutung des Persnlichkeitsbegriffesihre gemeinsame Wurzel im deutschen Idealismus bersieht. Nur durch die

    Betonung beider Faktoren kann ein adquates Bild der Korrelation zwischen

    Stahl und Hegel gezeichnet werden. Wie Hegel dachte Stahl in methodisch

    streng abgetrennten Gegenstzen, die beide in einer Synthese zu verbinden

    suchten. Bei Stahl war dies der dialektisch begrndete Vermittlungsbereich,

    der fr ihn besondere Bedeutung hatte. Wesentlich fr die Beurteilung des

    Verhltnisses von Stahl und Hegel drfte Esweins These von Stahls Intention

    einer praktischen Rechts- und Staatsphilosophie sein70

    , die Stahls Antipo

    denschaft zu Hegel in der Akzentuierung der Tat" gegenber dem Hegel-

    schen Denken" sowie die Autonomie der Persnlichkeit" gegenber He

    gels Universalismus geistiger Prozesse betont71.

    Der von Stahl entwickelten Philosophie der Vermittlung" gilt es auch in

    anderen Bereichen nachzuspren. Exemplarisch wird im folgenden daher

    noch ein zweiter wesentlicher Begriff Stahls, der des sittlichen Reiches",

    untersucht.

    3. Das ,,sittliche Reich"

    In der Ethik unterscheidet Stahl zwei Sphren, die Moral (= Sittlichkeit) und

    die Religion72, die sich gegenseitig durchdringen und die an sich untrennbar

    63 Vgl. Landsberg, Geschichte, 371 f.

    64 Vgl.Kaufmann, Stahl, 32f.; G.Masur, Stahl, 123.

    65 Vgl.Drucker, Stahl, bi.; A. Mller, Beitrge, 20f.

    66 Vgl. Grosser, Grundlagen (besonders 30ff.).67 Vgl.Nabrings, Stahl, 55-90; hnlich ders., Einflu.68 Nabrings, Stahl, 15.69 Vgl. ebd., 55.70 Vgl.Eswetn, Stellung, 2.71 Vgl. ebd., 8.72 Vgl.Stahl, Phil. d. R. H/1, 71; Phil. d. R. II/ l (1833), 57-61.

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    26 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    sind. Religion wird verstanden als das Band des Menschen zu Gott. Als Ein

    zelner hat der Mensch sein Urbild an der Idee der vollendeten Persnlich

    keit"73

    , d. h. er besitzt unabhngig von anderen ein subjektives Ethos, das er

    in einer besonderen Beziehung zu Gott durch seinen Glauben zu vervoll

    kommnen sucht. Mit anderen Glubigen zusammen bildet er die Gottesge

    meinde74 , deren institutionalisierte Form die Kirche ist.Auer im Glaubensbereich steht der Mensch als Gemeinschaftswesen in

    einer anderen sittlichen Sphre, die einen spezifischen sittlichen Gedanken

    verwirklichen will. Stahl nennt sie das Ethos der menschlichen Gemeinexi

    stenz"75

    . Als Gemeinschaft kann die Menschheit einmal Gottesgemeinde76

    sein, zu anderen ist sie die sittliche Welt", die darin besteht, da in den

    eignen Lebensverhltnissen der menschlichen Gemeinschaft die gttlichen

    (sittlichen) Ideen sich realisiren, und diese in Gestaltung derselben ihren eig

    nen sittlich verstndigen Willen offenbare"77

    . Die sittliche Welt" findetihre Organisation in der brgerlichen Ordnung, die eine Verbindung von

    Recht und Staat beinhaltet78

    .

    In seiner Philosophie des Rechts" behandelt Stahl vorwiegend die br

    gerliche Ordnung, whrend er in seiner Schrift Die Kirchenverfassung nach

    Lehre und Recht der Protestanten"79

    und in dem Buch Der Protestantismus

    als politisches Prinzip"80

    primr den Menschen im Rahmen der kirchlichen

    Gemeinschaft untersucht. Fr die brgerliche Ordnung" oder die sittli

    che Welt", wie Stahl sie auch bezeichnet, konstatiert er eine Inkongruenzzwischen ihrem ideellen Gehalt und den tatschlich herrschenden Bedingun

    gen81

    .

    Auch im Bereich der sittlichen Welt lt sich Stahls Trennung von Idee und

    Wirklichkeit deutlich beobachten. Whrend im Verhltnis Gott-Mensch die

    Persnlichkeit das vermittelnde Glied ist, ist ein solches im Rahmen einer

    Weltordnung an der Oberflche nicht oder nur bedingt vorhanden: Dage

    gen fr den Gemeinzustand der Menschen - die sittliche Welt - besitzen wir

    schon kein vollstndiges und sicheres Ideal, und auch soweit wir es besitzen,

    ist es nicht unbedingte, ja nicht unmittelbare Norm des Handelns"82 . So be

    findet sich die Welt in einem Zwischenzustand von Regellosigkeit und natur

    haftem Verhalten auf der einen und dem Reich Gottes auf der anderen Seite83

    .

    73 Stahl, Phil. d. R. II / l , 92.

    74 Vgl. ebd., 79.75 Ebd., 78.76

    Die Gemeinschaftsform der Gottesgemeinde mu im Rahmen dieser Arbeit nicht nher

    untersucht werden. Vgl. dazu Srocka, Kirchenbegriff; Fagerberg, Bekenntnis, 179-225.77 Stahl, Phil. d. R. II / l , 79.

    78 Vgl. ebd., 82.79

    Erlangen 1840; M862.80 Berlin 1853.

    81 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/l, 141.

    82 Ebd.83 Vgl. ebd., 148; Phil. d. R. II/2 (1837), 12.

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    Das sittliche Reich" 27

    Mit diesem Zustand kann sich Stahl als Christ nicht zufrieden geben. Falls die

    Welt durch die Existenz Gottes das Ideal der Vollkommenheit in sich trgt,

    mu sie immanent nach einem mglichen idealen Zustand streben, damit die

    Idee Gottes nicht ad absurdum gefhrt wird. Fr Stahl mu daher das

    Christentum die Funktion einer Normierung der sittlichen Welt berneh

    men, d. h. Werte vorgeben, die der Annherung an das Ideal einer mglichstsittlichen Welt frderlich sind. Das Christentum wird also von Stahl nicht

    nur als Religion, sondern als gestaltende Weltanschauung gesehen84

    . Diese

    Forderung nach Gestaltung setzt ein aktives Verhltnis des Christen zur

    sittlichen Welt", eben zu Staat und Recht, voraus; im Sinne Stahls mu der

    Christ Anteil nehmen an der weltlichen Ordnung, um gegen das Bse eine

    positive Richtung zu stellen. Das Christentum wird so zum Vermittlungsfak

    tor zwischen Gott und der Schpfung, zwischen Idee und Wirklichkeit.

    Die Norm des menschlichen Handelns ist die Sittlichkeit. So wie das sittliche Handeln das Ziel des einzelnen Menschen ist, mu auch der Inhalt der

    Sittlichkeit das bestimmende Element der menschlichen Gemeinschaft sein.

    Ihre politische Organisation findet die weltliche Ordnung im Staat, der schon

    in der ersten Auflage des Werkes Die Philosophie des Rechts" als Trger

    der menschlichen Sittlichkeit"85

    gesehen wird. Sein Inhalt ist die Gerechtig

    keit86. In derselben Auflage wird auch das Verhltnis Gott - Staat strker be

    tont als in den spteren Ausgaben: Darum hat Gott auf wunderbare Weise

    diese Anstalt (d. h. den Staat; Anm. d. Verf.) ber die Menschen gesetzt- ausihnen selbst gebildet aber mit Seinem Ansehen bekleidet und Seinem Ein

    flsse zugnglich - da sie in Seinem Namen ihren ganzen ussern Zustand

    beherrsche durch ussere Macht und Gewalt". Und weiter: So ist der Staat

    der Leiter der gttlichen Einflsse auf den ussern Zustand der Menschen. Er

    soll ihn an Gottes Statt ordnen, frdern, Verletzung der Ordnung strafen,

    eben damit aber auch den sittlich vernnftigen Willen der menschlichen Ge

    meinschaft bewhren, d.i. ihren Gehorsam, Gottes Ordnung aufzurichten

    und zu handhaben"87

    . Diese extrem starke Begrndung des Staates in Gott

    hat Stahl in spteren Ausgaben zwar nicht zurckgenommen, aber doch et

    was in den Hintergrund gedrngt. Die metaphysische Grundlage des Staates

    beruht dann lediglich auf einer ideellen Vorgabe durch die Personalitt Got

    tes88

    . Durch eine Kongruenz des Persnlichkeitsbegriffes, der neben Gott

    und dem Menschen nun auch dem Staat zugeordnet wird, erhlt der Staat eine

    84 Vgl.Stahl, Phil. d. R. H/1, 151.

    85 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 4.

    86 Vgl.StaM, Phil. d. R. II/ l (1833), 81. In spteren Auflagen konkretisierte Stahl diesen Be

    griff nher: Die Gerechtigkeit ist die Idee der sittlichen Welt als solcher, d. i. die Idee, auf der

    ihr Bestand und ihre Erhaltung beruhen. Sie bezeichnet das Verhalten der sittlichen Macht und

    Autoritt (Gottes und bez. des Staates) selbst zu den freien Persnlichkeiten (Menschen), die un

    ter ihrem Gebote stehen." Stahl, Phil. d. R. II/2, 160.87 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 2f.

    88 Vgl.A.Mller, Beitrge, 22.

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    28 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    ethische Begrndung und Funktion. So gelangt Stahl zu seiner oft zitierten

    Definition des Staates: Dieser ist bewute in sich einige Herrschaft nach

    sittlich-intellektuellen Motiven ber bewute frei gehorchende Wesen, da

    mit auch diese geistig einigend - er ist demnach Herrschaft von persnlichem

    Charakter nach jeder Beziehung, ein Reich der Persnlichkeit"89. Damit ist

    der Staat als sittliches Reich"90 charakterisiert. Diese Festlegung verdeutlicht die Parallelisierung von Staat und Individuum im Sinne Stahls: Sowohl

    der Mensch als auch der Staat besitzen Persnlichkeit und damit per defini-

    tionem die Tendenz zum sittlichen Handeln. Persnlichkeit" meint in die

    sem Zusammenhang vorwiegend die Fhigkeit, etwas zu wollen und tun zu

    knnen91. Da Personalitt immer von Gott stammt, liegt die Konsequenz

    nahe, da die Herrschaft im sittlichen Reich/Staat von Gott gegeben sein

    mu. Dies beinhaltet eine Annherung an die traditionelle Lehre des Got-

    tesgnadentums" hinsichtlich der monarchischen Stellung. Stahl vollzieht diesen Schritt, indem er den Staat und die Monarchie als gttliche Institutionen

    legitimiert92. Im Anschlu an den Rmerbrief 13,1 - Jedermann sey vnter-

    than der Oberkeit / die gewalt vber jn hat. Denn es ist keine Oberkeit / als von

    Gott. / Wo aber Oberkeit ist / die ist von Gott verordnet"93

    , - und an Lu

    thers Sicht von Obrigkeit94

    leugnet Stahl jede andere Mglichkeit staatsbe

    grndender Theorie. Stahl wendet sich explizit gegen Jean-Jacques Rousseau

    und dessen Vertragstheorie, nach der die Menschen von sich aus befhigt

    sind, durch Vertrag herrschaftliche Gewalt zu schaffen

    95

    .Der Gedanke des sittlichen Reiches bedeutet eine klare Absetzung zu dem

    Organismus-Gedanken der romantischen Staatslehre, wie er sich am ausge

    prgtesten bei Adam Mller findet96. Zwar trifft sich Stahl mit den Romanti

    kern in der Ablehnung des Rationalismus und der Aussage, da der Staat ein

    durchkonstruierter Mechanismus sei, wie sie betont er den Staat als perso

    nale Gemeinschaft"97

    , doch sieht er in dem Organismus-Gedanken der Ro

    mantiker die Selbstndigkeit der Einzelpersnlichkeiten nicht gewahrt. In

    einem Organismus sind die einzelnen Teile aufeinander bezogen und wirken

    aufeinander. Die Funktionsuntchtigkeit eines Teils fhrt zu einem Fehlver

    halten des gesamten Organismus. Gegen diese Ansicht stellt Stahl den Staat

    als sittliches Reich" dar und setzt ihn in Analogie zum Pflanzenreich, in

    89 Stahl, Phil. d. R. H/2, 1.

    90 Vgl. ebd.

    91 Zu der Thematik Wille" und Tat " siehe oben S. 18.

    92 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 , 196.93 Luther, Heilige Schrift III , 2290.

    94 Zur Rezeption Luthers bei Stahl nach wie vor am prgnantesten: Grosser, Grundlagen,

    37-45 und 55.95 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I, 299-316; II/2, 176 und 216.96 Vgl.Kluckhohn, Ideengut, 81 ff.; Grosser,Grundlagen, 5ff.; C.Schmitt, Romantik, lehnt

    die These einer eigenen politischen Theorie der Romantik ab; dagegenScheuner,Beitrag, 18, mit

    weiteren Literaturhinweisen. Zum Organismusgedanken bei Adam Mller vgl. Busse, Lehre.97 Scheuner, Beitrag, 30.

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    Das sittliche Reich" 29

    dem ebenfalls eine Vielzahl selbstndiger Existenzen vorhanden sind, ohnesich aber gegenseitig zu bedingen; selbst wenn ein Glied oder mehrere Teilefehlen, bleibt die Substanz erhalten. In hnlicher Weise sieht Stahl das Funktionieren des Staates98.

    Die scharfe Trennung des Organismus-Gedankens von der Vorstellung

    des Staates als eines sittlichen Reiches findet sich in der ersten Auflage derPhilosophie des Rechts" noch nicht, auch fehlt die explizite Formulierungdes sittlichen Reiches", wenngleich schon 1837 das Wesen des Staates in einem hnlichen Sinn beschrieben wurde". Der Staat wird in dieser Auflagenoch mehrfach als organische Anstalt bezeichnet100. Hier zeigt sich der Einflu Schellings, dem Stahl damals noch nahezu unkritisch gegenberstand101.Fr den frhen Schelling waren die Dinge also nicht Principien des Organismus, sondern umgekehrt, der Organismus ist das Principuum der Din

    ge"102

    .In dieser organischen Auffassung aber konnte die Persnlichkeit undihre Selbstndigkeit keinen Platz finden; daher verwundert es nicht, da sichStahl zunehmend von Schelling entfernte, ohne dessen positive Philosophieaufzugeben103. Bereits in der Ausgabe der Philosophie des Rechts" von1845 trennt Stahl exakt zwischen sittlichem Reich und sittlichem Organismus104, in der dritten Auflage schlielich werden beide Gedanken scharf einander gegenbergesetzt105. Allerdings ist auch Stahls Ansicht des sittlichenReiches nicht in sich geschlossen. Einmal bezeichnet er die brgerlicheOrdnung" als sittliches Reich", wodurch die Vermutung naheliegt, da erstaatliche und rechtliche Institutionen darunter versteht106. Einige Seitenweiter verwendet er den Terminus nur fr den Staat allein107.

    Eigentlich transzendiert das sittliche Reich mit seinen Ansprchen das reinReale, da es eine ethische Forderung an die Mitglieder dieses Reiches beinhaltet10 8. hnlich dem Persnlichkeitsbegriff ist das sittliche Reich ein Zwi-

    98 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2, 9f. Zur Auseinandersetzung Stahls mit dem Organismus-Gedanken vgl.Kaufmann, Begriff, 10ff.; Grosser,Grundlagen, 60 ff. Zum Organismus-Begriff allgemein:Scheuner, Beitrag,69ff.;Busse,Lehre, 13ff.;Kluckhohn, Ideengut, 81 ff.; Brinkmann,Romantik (v. a. die Aufstze von Birtsch, Faber, Scheuner, Stanslowski).

    99 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 2ff.; II /l (1833), 96.10 0 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 17, 19 und 40. Hier spricht Stahl noch strker den Ge

    danken des Organismus an.101 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I (1830), Vif.102

    Schelling, Werke I, 568. Zu Schelling vgl.Grosser,Grundlagen (besonders 30ff.);Stans-lowski, Gesellschaft; Zu Schellings Wirksamkeit in Bayern vgl.H. Thiersch, Leben I, 346 und349;Kantzenhach, Schelling; ders., Rezeption; Bosl, Schelling;Rall, Knig.

    103 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I, XVIIff. und Anm.;Grosser, Grundlagen, 5-8.104 Vgl.Stahl, Phil. d. R., Bd. I: 1847, Bd. I I / l : 1845, Bd. 11/2: 1846.105 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I I/2, 9 f.106 Vgl. ebd., 2 und 8;Grosser, Grundlagen, 54 Anm. 345 mit weiteren Textbelegen.107 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II /2, 12.108 Vgl. C.Wiegand, Stahl, 244.

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    30 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl

    schenglied zwischen der Idee und der Wirklichkeit109

    , das selbst einen eige-

    nen hohen Idealwert hat. Ein Staat kann nach Stahls Vorstellung nur dann de

    Funktion ethischer Normierung besitzen und beanspruchen, wenn er eh

    christlicher Staat" ist, der sich im Gegensatz zum aufklrerischen Staat zun

    christlichen Glauben bekennt.

    109 Vgl.Ellwein, Erbe, 82. Ellwein sieht das sittliche Reich als eine Art Mittelstufe zwiscien

    dem Reiche der Natur und dem Reiche Gottes". Vgl.Heinrichs, Rechtslehre, 172, der von eirerr.

    Kombinationsbegriff" spricht.

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    II. Die Staatsauffassung Stahls

    / . Der Staat und seine Verfassung

    Ein richtiges Verstndnis des Stahlschen Gedankens vom sittlichen Reich

    setzt voraus, da es nicht identifiziert wird mit bestehenden politischen, ge

    sellschaftlichen oder sozialen Verhltnissen. Es ist keine Zustandsbeschrei-

    bung, sondern vielmehr Mastab der Wirklichkeit. Stahl will mit diesem

    Begriff des sittlichen Reiches bewut ein Idealbild menschlichen Zu

    sammenschlusses projizieren, um so dessen Entwicklung positiv zubeeinflussen1. Diese Intention wird bereits aus der Begriffsbestimmung des

    sittlichen Reiches erkennbar 2 :

    Dieser Begriff des sittlichen Reiches gibt die tiefere (philosophische) Grundlage und

    Brgschaft politischer Ordnung und politischer Freiheit. Denn er enthlt als diese

    seine Charaktere die Notwendigkeit einer ber den Menschen schlechthin erhabe

    nen Autoritt, d. i. eines Anspruchs auf Gehorsam und Ehrfurcht, welche nicht blo

    dem Gesetze, sondern einer realen Macht auer ihnen, der Obrigkeit (Staatsgewalt)

    zukommt (Princip der Legitimitt im Gegensatze zur Volkssouvernitt), und zu

    gleich die Nothwendigkeit eines sittlich verstndigen Inhaltes, welcher das unwan

    delbare Wollen, daher auch die Schranke der Autoritt ist, d. i. die Nothwendigkeit

    des Gesetzes des Staates, das durch die Geschichte berkommen ber Frst und Volk

    steht und nur nach seinen eignen Bedingungen abgendert werden kann (konstitutio

    nelles Princip im wahrhaften Sinn), und endlich die Anerkennung der Nation (der

    Gehorchenden) als einer sittlichen Gemeinschaft, dehalb selbstndig, frei gehor

    chend, dem Gesetze nur als Ausdruck und Forderung ihres eignen sittlichen Wesens

    unterworfen [...], aus dem es ursprnglich durch Sitte und Herkommen hervorgeht,

    und an dem es bei spterer Fortbildung mittels der Zustimmung der Landesvertretung

    erprobt wird (Reprsentativprincip im wahrhaften Sinn)."

    Aus diesem umfangreichen Zitat wird deutlich, worauf es Stahl in seiner

    Staatslehre ankommt: Es geht um eine Legitimierung der Staatsgewalt aus ei

    ner sittlichen Idee heraus, um das Problem einer Konstitution und schlielich

    um die Frage nach den Kompetenzen der Kammern. Die genannten Kriterien

    sind nicht nur in der Philosophie Stahls anzutreffen, sondern stellen im

    staatsrechtliche n De nk en des Vo rm r z die entsc heide nden Kristallisations

    punkte dar3 .

    1 Auf diesem Hintergrund wird die Kritik Heinrichs', Rechtslehre, 174, hinfllig, der die

    Verbindung von Realem und Idealem im sittlichen Reich als widersinnige Konsequenz" be

    zeichnet.2 Stahl, Phil. d. R. 11/2 ,3 f.

    3 Zur Staatslehre des Vormrz gibt es eine Flle von Arbeiten. In diesem Zusammenhang sei

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    32 Die Staatsauffassung Stahls

    Fr Stahl ist der Staat nach Art und Form seines Bestandes der Verband

    eines Volkes unter einer Herrschaft (Obrigkeit). Nach Gehalt und Bedeu

    tung ist er ein sittliches Reich"4. Diese Formulierung zeigt, da Stahl zwi

    schen dem formalen Charakter, d.h. der Herrschaftsorganisation, einerseits

    und der hheren Aufgabe, der Realisierung sittlicher Werte, andererseitsdif-

    ferenziert. Rechtliche und ideale Werte gehren unter dem Aspekt derWeltordnung Gottes" zusammen5und bedingen sich dadurch gegenseitig,

    doch kann der Staat erst dann fr sich in Anspruch nehmen, ein sittliches

    Reich zu sein, wenn er sittliche Inhalte durch materielles Recht zu konkreti

    sieren versucht6. Der Staat hat demzufolge fr den Einzelnen wie fr die Ge

    meinschaft rechtliche Bedingungen zu schaffen, die einem solchen Ziel die

    nen. Dazu gehren fr Stahl die Erhaltung der individuellen Existenz" 7als

    Sammelbegriff fr Integritt der Person, persnliche Freiheit und Eigen

    tumsschutz, der Schutz der Familie, die staatliche Gliederung in Gemeinden,Stnde und Korporationen sowie die Klrung der rechtlichen Beziehungen

    zwischen Staat und Kirche8. Die rechtliche Fixierung der genannten Punkte,

    die genau in dieser Form bereits in der Erstauf lge der Philosophie des

    Rechts" erscheinen9, bilden einen wichtigen Bestandteil im Denken Stahls.

    Der Staat mu seinem Wesen nach primr Rechtsstaat sein, das sei die

    Losung" und der Entwickelungstrieb der neueren Zeit"10 . Nur durch die

    Gewhrleistung des Rechtsstaatsprinzips knne die Persnlichkeit des Ein

    zelnen in ihrem Kern gewahrt werden. Am Rechtsstaatsdenken Stahls wird

    erneut deutlich, welch tiefe Auswirkungen seine Philosophie der Persnlich

    keit auch auf die Staatstheorie hat.

    Auf der anderen Seite meint Stahls Bekenntnis zum Rechtsstaat eine klare

    Absetzung zum Absolutismus, dem bloen Polizey-Staate", wie er ihn

    nennt11

    . Schon mit seinem Rechtsbegriff lst sich Stahl in einer fr die Zeit

    vor 1848 nahezu einzigartiger Weise von der traditionellen Staatslehre, indem

    er die liberale Forderung nach Rechtsgarantien in sein System integriert.

    Damit ist Stahl neben Karl Theodor Welcker und Robert von Mohl einer

    der Begrnder der modernen deutschen Rechtsstaatsidee"12. Allerdings mu

    kritisch angemerkt werden, da Stahl die rechtliche Verankerung nur auf die

    v. a. auf die Untersuchungen von Boldt, Staatslehre,Brandt, Reprsentation, und Hartmann,

    Reprsentation, verwiesen, die fr die vorliegende Arbeit eine wesentliche Grundlage bildeten.4 Stahl, Phil. d. R. II/2,131.

    5 Ebd., 132.6 Vgl. ebd., 135.7 Ebd. II/l, 197.

    8 Vgl. ebd., 197f.9 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/l (1833), 110 f.10 Stahl, Phil. d. R. II/2, 137; hnlich Phil. d. R. II/2 (1837), 37.

    11 Stahl, Phil. d. R. II/2 , 138. Stahl trennt zwischen dem Absolutismus des Staates und dem

    Absolutismus des Frsten; vgl. ebd., 157. Im obigen Zusammenhang ist der Begriff im letzteren

    Sinne gebraucht.12 Crosser, Grundlagen, 83.

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    Der Staat und seine Verfassung 33

    uere Ordnung des Staates bezieht. Dadurch bleibt sein Rechtsbegriff uerlich13und formal. ,,In der starken Betonung der uerlichkeit des Rechtsliegt somit eine der bedeutsamsten Wurzeln des Stahl'schen Rechtspositivismus"14.Sittliche Inhalte oder positive Vorstellungen impliziert Stahl mit seinem Rechtsgedanken nicht; sie sind nur das Ziel, aber nicht die Grundlage

    des Rechts. So neu Stahls rechtsphilosophischer Ansatz um 1830/35 war, sonachteilig wirkte sich die rein formale Rechtsansicht im Kaiserreich undselbst bis 1945 aus. Mit dem formalen Charakter des Rechts bestand immerdie Mglichkeit, da Recht und Gerechtigkeit auseinanderfielen.

    Auf dieser formalrechtlichen Basis baut Stahl seine Staatsauffassung auf.Im Gegensatz zum Recht und dessen uerlichen Charakter ist der Staatmehr von einem Idealbild geprgt: Er ist ein Reich realisirter und zu realisi-render sittlicher Ideen und verstndiger Zwecke [. . .] "15 . Der Staat kann aber

    nicht von sich aus allein sittliche Inhalte schaffen; sie mssen in der Persnlichkeit Gottes vorgebildet sein. Auch dadurch entsteht eine enge Verbindung des Staates zu Gott in dem Sinne, da der Staat seine Wurzel in Gotthabe. Er ruht auf der Verordnung (Ermchtigung, Einsetzung), Gottes[...] Seine ganze legitime Ordnung - Gesetz, Verfassung, Obrigkeit - hatdaraus ihre bindende Macht"16. Mit dieser christlichen Begrndung des Staates wird der Gedanke der Vertragstheoretiker zurckgewiesen, nach derenAnsicht durch einen Konstitutionsakt ein Staat entstehen knne. Vielmehr

    bedrfe der Staat eines organischen Wachstums

    17

    .Unter diesem Aspekt ist auch Stahls Stellung zur Verfassung zu sehen.Stahl versteht Verfassung" nicht im Sinne einer Staatsurkunde, sondern als,,Gliederung der menschlichen Gemeinschaft, durch welche der Staat als Anstalt besteht - also der Einrichtungen, die Austheilung der Berufstellung[. . . ] " 1 8 . Verfassung" meint die Beschreibung eines politisch-rechtlichenZustandes, der sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildethat. Anscheinend hat Stahl hier die Verfassungswirklichkeit Englands vorAugen19 , wo keine geschriebene Verfassung existiert. Jeder Staat habe seine

    13 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2, 136. Stahl sieht die Nhe zu Kant, setzt sich jedoch bewut vonihm ab; vgl. ebd., 152.

    14 Heinrichs, Rechtslehre, 220.

    15 Stahl, Phil. d. R. II/2, 140f. An dieser Stelle findet sich erneut die Doppelschichtigkeit des

    ,,Idee"-Begriffs bei Stahl.16 Ebd., 176. Der gleiche Gedanke taucht bereits in der 1. Auflage auf; Phil. d. R. II/2 (1837),

    67.17 Vgl.Stahl, Phil. d. R. 11/2 (1837), 67. Organisch" wird hier im Sinne von kontinuier

    lich" verstanden.18 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 30.

    19 Seit der dritten Auflage der Philosophie des Rechts" von 1856, also nach dem Erscheinender Schrift Das monarchische Princip" von 1845, die von einer tiefgreifenden Analyse der englischen Verfassungswirklichkeit geprgt ist, finden sich auch in seinem Hauptwerk Hinweise aufEngland. Vgl. Phil. d. R. II/2, 267, 270, 287, 297 etc. Inwieweit sich Stahl schon vor 1837 aufEngland sttzte, ist unklar; vgl.Klenk, Beurteilung,86ff. Wahrscheinlich war Stahl vor 1837 in

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    34 Die Staatsauffassung Stahls

    eigentmlichen Bedingungen"20 und seine eigene Individualitt; daherknne es keine einheitliche, fr alle Staaten gltige Verfassungsform geben.Es sei lediglich mglich, da sich die Verfassungen an einem Idealbild orientierten. Diese vollkommene Verfassung"21bestehe darin, da sie einen sittlich vollkommenen Zustand eines Volkes in sich trage. In Stahls christliches

    Staatsverstndnis umgesetzt heit das, da die vollkommene Verfassung anGottes Ordnung"22 geknpft ist. Erneut findet sich hier eine metaphysische Transzendierung realer Zustnde in einen nur vage erfabaren Bereichdes Guten" und Sittlichen". Indem die Verfassung realpolitische undreligis-sittliche Elemente verbinden soll, erhlt sie einen normativenCharakter, der ber Rekrutierungsverfahren, Struktur und Zustndigkeitder Staatsorgane hinausgeht. Der formale Charakter der Verfassung -Regierungsform, Thronfolge, Rechte des Regenten und der Stnde sowie der

    Staatsbrger23

    - wird ergnzt durch eine irrationale Zielsetzung.Auch wenn Stahl Verfassung" als ungeschriebenes Staatsgrundgesetz

    versteht, schliet er die Mglichkeit einer Kodifikation nicht aus. Die Verfassung wird dann zur Konstitution. Voraussetzung fr eine Kodifikation sindschriftliche Rechtsaufzeichnung und die Existenz einer Vertretung aus demVolke24 . Allerdings will Stahl die Funktion der Volksvertretung auf dieberwachung der erlassenen Konstitution beschrnken; wie weit dieseKompetenz reichen soll, lt Stahl offen. Weiterhin fordert Stahl, da die

    Konstitution vom Knig oktroyiert werde; eine Mitwirkung der Stnde inForm einer zwischen dem Knig und der Volksvertretung vereinbarten Konstitution oder gar eine von der Volksvertretung allein beschlossene Verfassung schliet Stahl ausdrcklich aus25 .

    Nach Stahl gibt es historische" und reflektirte" Verfassungen26. Whrend die historischen Verfassungen kontinuierlich im Laufe der Geschichteentstanden sind und sich unter Umstnden an die gewandelten politischrechtlichen Gegebenheiten angepat haben, bilden sich reflektierte Verfassungen dort, wo trotz vieler uerer Wandlungen die Verfassung ber einelange Zeit unverndert geblieben ist. Als Folge davon werde der Staat durch

    der Beurteilung parlamentarischer Formen mehr an der Regierungsform Frankreichs orientiert.Der Brief Stahls an Linck, Berlin, 19.3.1842, zeigt die wachsende Beschftigung mit den englischen Verhltnissen; abgedruckt in:Koglin, Briefe, 264. Zum Einflu Englands auf die politische Theorie in Deutschland vgl.Eyck, Influences; Wilhelm, Verfassung;Scheuner, Volksherrschaft. Ein kurzes Resmee findet sich beiHartmann, Reprsentation, 33 f.

    20 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 62; vgl. Phil. d. R. U/2, 221.21 Stahl, Phil. d. R. U/2 (1837), 62.

    22 Ebd., 66.23 Vgl.Stahl, Phil. d. R. U/2, 101.24 Vgl.Stahl, Phil. d. R. U/2 (1837), 102.25 Vgl. ebd., 107. Interessant ist, da Stahl diese Bemerkungen niederschrieb, als er 1837 Ab

    geordneter am Bayerischen Landtag war.26 Ebd., 105f.; in spteren Jahren fgte Stahl noch die Kategorie der revolutionren" Ver

    fassung hinzu; vgl.Stahl, Phil. d. R. U/2, 275.

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    Der Staat und seine Verfassung 35

    eine Konstitution auf eine neue Grundlage gestellt, ohne da dabei die Struktur des Staates als Ganzes verndert werde. Diese reflektierten Verfassungensind dann nur umfassendere tiefer greifende Reformen"27 .

    Inhaltlich deduziert Stahl vier Bereiche, welche durch eine Verfassung geregelt werden mssen: den herrschaftlichen, den individuellen, den korpora

    tiven und den religisen Aspekt28 . Die Herrschaft soll im allgemeinen diestaatliche Gemeinschaft als solche konstituieren, d. h. es mssen Regelungenber die Regierungsform, das Staatsgebiet, Gericht und Behrden getroffensein. Der individuelle Bereich soll das Verhltnis des Einzelnen zum Staatklren, soweit es das Staatsbrgerrecht, die Garantien persnlicher Freiheiten und Rechte oder das Auswanderungsrecht betrifft. Das korporative oderstndische Element schafft Bedingungen ber die Bildung der Gemeindenund Korporationen und ihre Stellung zum Staate, ber Adel, Brger-, Bau

    ernstand"29

    . In einem letzten Punkt wird schlielich das Verhltnis der Religionsgemeinschaften zum Staat festgesetzt (z.B. Staatsreligion, Anerkennung der Kirchen durch die Verfassung).

    Der religise und der individuelle Bereich mssen in unserem Zusammenhang nur kurz gestreift werden, da sie fr Stahls Staatsrecht von sekundrerBedeutung sind. Mit seinen Forderungen auf diesem Gebiet bewegt sich Stahldurchaus im Rahmen der Verfassungsbestrebungen in der ersten Hlfte des19. Jahrhunderts. Die grundstzliche Bereitschaft Stahls, neben der christli

    chen Religion auch andere Religionsgemeinschaften wie das Judentum anzuerkennen30 , ist wohl auf seine prinzipielle Konzilianz in dieser Frage zurckzufhren. Immerhin war Stahl selbst konvertierter Jude und daher mit denProblemen vertraut, mit denen die Angehrigen des mosaischen Glaubenskonfrontiert waren31.

    Gleich der Religionsfreiheit tritt Stahl fr die persnliche Freiheit ein. DieVerfassung soll sich seiner Meinung nach darauf beschrnken, die Bedingungen festzulegen, unter denen der Mensch sittlich handeln knne. Stahls Freiheitsbegriff zielt also nicht auf einen modernen Grundrechtskatalog ab, auchnicht auf die Freiheit des Individuums vom Staat; es geht ihm nicht um einepositive Auflistung von Freiheitsrechten, sondern um eine Beschrnkung desStaates in seiner Einflunahme auf das Individuum. Persnliche Freiheitmeint im Sinne von Stahl nur die private Sphre des Individuums. Wirkliche

    27 Stahl, Phil. d. R. 11/2 (1837), 106.

    28 Zum folgenden vgl. ebd., 30ff. und Phil. d. R. H/2, 205ff.29

    Stahl, Phil. d. R. II /2, 206 und Phil. d. R. 11/2 (1837), 31.30 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 283 ff.31 Die Behauptung von Hermann Seligsohn (abgedruckt in:Richarz, Leben, 150), Stahl habe

    die Juden gehat, geht vollstndig an der Wirklichkeit vorbei. SchonStahls Buch Der christliche Staat und sein Verhltnis zu Deismus und Judentum" beweist die offene und zugleich kritische Haltung Stahls zu seinen frheren Glaubensgenossen.Vg\. Arnsberg, Stahl, 515. Trotz seines bertritts zum evangelischen Glauben blieb Stahl tief in der jdischen Tradition verwurzelt;vgl. Brief von Bertha Held, abgedruckt beiArnsberg, Notizen, 2. Zur AuseinandersetzungStahls mit dem Judentum vgl. Kapitel D.I.I., S. 114-117.

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    36 Die Staatsauffassung Stahls

    Freiheit sei die Realisierung eines subjektiven Ethos, der Moral, whrend der

    Staat die Aufgabe habe, das objektive Ethos, das Recht, zu gewhrleisten32.

    Entscheidend ist fr Stahl der herrschaftliche und korporative Bereich der

    Verfassung. Es wurde bereits angefhrt, da die brgerliche Ordnung, d.h.

    der Staat und das Recht, ein sittliches Reich" bilde. Da die Staatsgewalt den

    Charakter persnlicher Herrschaft" habe33, mu sie ihrem Wesen nach unteilbar sein, das heit, sie kann nicht in voneinander unabhngige Bereiche

    wie Exekutive, Legislative und Jurisdiktion zerlegt werden. Nur die Einheit

    der Gewalten verleiht der Staatsgewalt Souvernitt"34

    im Sinne einer

    Staatshoheit und Machtvollkommenheit. Je nach der Art des Souvernitts

    trgers unterscheidet Stahl die Monarchie, die Aristokratie und die Demo

    kratie als unterschiedliche Verfassungsformen35. Allein in der Monarchie ist

    fr Stahl die persnliche Herrschaft am natrlichsten gegeben, da in ihr die

    Staatsgewalt ungeteilt sei.Legitimittsprobleme und die Frage nach einem Konstitutionalismus ste

    hen bei Stahl in einem engen Zusammenhang. Durch die Ablehnung des ra

    tionalistischen Vertragsmodells und seiner eigenen Begrndung des Staates in

    Gott sieht sich Stahl in Gefahr, einen theokratischen Staat zu errichten. Wh

    rend Stahl in der Erstauflage seines Werkes Die Philosophie des Rechts"

    diesem Problem nicht weiter nachgegangen ist, betont er in spteren Aufla

    gen ausdrcklich, da sich die gttliche Institution des Staates auf Gottes

    Gebot und Ordnung, nicht aber auf Gottes unmittelbare (d